Tod am Everest - Odd Harald Hauge - E-Book

Tod am Everest E-Book

Odd Harald Hauge

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Beschreibung

Ein Höllenritt in eisigen Höhen: wenn Bergkameraden zu Gegnern werden Eine ungleiche Seilschaft, die den Mount Everest auf der schwierigen Nordroute bezwingen will. Gefährliche Geheimnisse, die allen zum Verhängnis werden können. Und ein Achttausender, der keine Fehler verzeiht ... Je näher die Bergsteigergruppe der Todeszone kommt, desto mehr gerät das soziale Gefüge ins Wanken. Zwischen Fels, Eis und gähnender Leere beginnt für die Frauen und Männer ein erbitterter Kampf ums Überleben. - Der Mount-Everest-Thriller des norwegischen Erfolgsautors Odd Harald Hauge - Drei Männer und zwei Frauen: fünf verschiedene Beweggründe, den Berg herauszufordern - Extremsportler unter Erfolgsdruck: schwindelerregendes Abenteuer am Berg der Berge - Wer schafft es auf den Gipfel? Wer überlebt die Todeszone des Mount Everest? Überleben am Mount Everest: der Expeditionsthriller von Extremabenteurer Odd Harald Hauge Der norwegische Autor weiß, wovon er schreibt: 2007 bestieg er selbst den Mount Everest. Nun hat er einen spannenden Roman vorgelegt, dessen Handlung sich rund um den Gipfel des Achttausenders zuspitzt. Die Leser begleiten den Protagonisten Martin Moltzau, einen Abenteurer mit lukrativen Sponsorenverträgen, durch schwierige Wetterverhältnisse und gefährliche Konflikte. Alles dreht sich nur noch um eine Frage: Wer von ihnen schafft es auf den Berggipfel? Oder vielmehr: Wer schafft es lebend wieder nach unten?

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Seitenzahl: 459

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ODD HARALD HAUGE

TOD AM EVEREST

THRILLER

Aus dem Norwegischen übersetzt vonJustus Carl

Diese Übersetzung wurde mit der finanziellen Unterstützung von NORLA veröffentlicht. Der Verlag dankt NORLA für die Gewährung der Übersetzungsförderung.

Diese Geschichte ist frei erfunden. Tatsächlich existierende Personen und Firmen wurden verändert und/oder vom Autor ausgedacht, Geschehnisse anderen und/oder fiktiven Personen zugeordnet. Verbleibende Übereinstimmungen mit etwaigen realen Personen wären somit rein zufällig und sind nicht gewollt.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2022

Copyright © Odd Harald Hauge 2016

Copyright der deutschen Ausgabe © 2022 Benevento Verlag bei Benevento PublishingSalzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei SalzburgPublished in agreement with Stilton Literary Agency

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus Minion Pro, Verlag Compressed

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München, unter Verwendung eines Motivs von FinePic®, München

Karte Innenklappe: © Nina Andritzky

Autorenillustration: © Claudia Meitert

ISBN: 978-3-7109-0152-2

eISBN: 978-3-7109-5143-5

Angst ist echt. Angst setzt alles andere außer Kraft.

Martin Moltzau lenkte den gemieteten Sportwagen auf dem Parkplatz zwischen zwei dort stehende Limousinen vom Typ Geschäftswagen und griff nach der Reisetasche auf dem Beifahrersitz. Einen Moment blieb er mit der Tasche auf dem Schoß sitzen und sammelte sich. Nachdem er die knapp siebzig Kilometer vom Münchner Franz-Josef-Strauß-Flughafen hierher rasend zurückgelegt hatte, brauchte er einen Moment, um anzukommen. Vierundzwanzig Minuten von Tür zu Tür, neue persönliche Bestzeit.

Er schaute auf den modernen, quaderförmigen Glasbau vor sich, auf dessen Vorderseite das Konzernlogo prangte. Der Hauptsitz einer der bekanntesten Marken der Welt. Zum letzten Mal war er vor eineinhalb Jahren hier gewesen. Martin holte tief Luft. Es gab nichts, wovor er sich fürchten musste. Hier war er ein Held. Präsentierte er die Idee auf die richtige Art, würde es laufen wie geschmiert. Er blickte auf die Uhr, noch drei Minuten bis zum vereinbarten Termin. In Deutschland legte man Wert auf Pünktlichkeit. Er manövrierte seinen langen Körper aus dem Sportwagen und verfluchte sich selbst für die Eitelkeit, unbedingt ein Auto mieten zu müssen, für das er eigentlich viel zu groß war.

Als er sich am Empfang meldete, bemerkte er zu seiner Freude, dass der Mitarbeiter seine Ankunft exakt zur vereinbarten Uhrzeit telefonisch durchgab. Martin trug seinen Namen in das digitale Besucherregister ein und nahm einen Hauch von Anerkennung von dem jungen Kerl hinter dem Tresen wahr. Offenbar hatte er seinen Namen wiedererkannt. Nachdenklich schlenderte Martin durch die Empfangshalle.

Ein freudiger Ruf riss ihn aus seinen Gedanken, als Franz Mendler, der zuständige Leiter für die Sponsoringverträge des Konzerns, mit ausgebreiteten Armen auf ihn zulief. Sie umarmten sich wie die alten Freunde, die sie tatsächlich waren. Martin hatte dem zehn Jahre älteren Deutschen viel zu verdanken.

Mendler hatte den gesamten sechsköpfigen Stab im Besprechungsraum seiner Abteilung im obersten Stockwerk zusammengerufen. Martin kannte die Mitarbeiter von früheren Treffen. Als er eintrat, sahen sie ihn alle mit offener Bewunderung an, was in ihm ein gewisses Unbehagen auslöste, aber er lächelte mechanisch und plauderte in beinahe fehlerfreiem Deutsch drauflos. An einer Längsseite des Raumes hingen zwei große Werbeplakate, bei denen Martin sich fragte, ob sie eigens für das heutige Treffen dort platziert worden waren. Eines zeigte das Foto eines einsamen Skiläufers in einer öden und weißen Unendlichkeit. Hinter dem Mann verlief eine Skispur, die sich in der flachen, baumlosen Weite verlor. Ein beeindruckendes Bild, das einen Bruchteil des hoffnungslosen Ehrgeizes dieses Vorhabens einfing. Martin hatte Sibirien durchquert, auf Skiern, von der finnischen Grenze bis an die Beringstraße, 6000 Kilometer in zweihundertfünf Tagen, die längste Skitour der Welt. »Explorer of the Year« stand unter dem Bild zu lesen.

Das andere Plakat bestand aus einer Collage verschiedener Fotos, die ihn auf Skiern, im Kajak, auf einem Fahrrad und auf einem Segelschiff zeigten. Vom Nord- zum Südpol innerhalb von zehn Monaten, ohne andere Hilfsmittel als den Wind und seine eigenen Kräfte. Auch unter dem zweiten Plakat stand »Explorer of the Year«.

Eigentlich hätte er Stolz empfinden sollen, nur bestand das Problem darin, dass sein letztes Abenteuer drei Jahre zurücklag. Drei Jahre, seit er am Südpol die Flagge mit dem Konzernlogo über seinen Kopf gereckt hatte. Was er seitdem geleistet hatte? Vorträge in der ganzen Welt gehalten und ansonsten versucht, ein normales Leben zu führen. Die Auftritte waren zentral für das Unternehmen, aber das mit dem normalen Leben bereitete seinen Sponsoren vermutlich ein wenig Sorgen.

Während Franz Mendler den übrigen Anwesenden eine kurze Zusammenfassung seiner bisherigen Abenteurerlaufbahn gab, bereitete Martin sich auf die Präsentation seiner neuesten Idee vor. Doch gerade als er loslegen wollte, öffnete sich die Tür, und ein Mann, kaum älter als er selbst, rauschte selbstbewusst in den Raum. Mendler sprang auf und schien kurz davor, dem Mann zu salutieren.

»Lass mich dir unseren neuen Gesamtchef vorstellen, Horst Hegeler«, sagte Mendler mit einer Verbeugung in Richtung seines Vorgesetzten, ehe er mit der Hand auf Martin wies. »Und das hier ist Martin Moltzau in Person.«

»Sie sind also Moltzau«, sagte Hegeler und drückte Martins ausgestreckte Hand. »Ich bin neu im Konzern, daher kenne ich Sie bisher nur vom Hören. Soweit ich verstanden habe, sind Sie ein Mann, der immer liefert. Das ist gut. Ich brauche Leute, die liefern.«

Hegeler blickte auf eine Stelle neben Martin, während er mit ihm redete, und richtete seine bereits akkurate Frisur. Als Martin sich kurz zur Seite drehte, wurde ihm klar, dass sich der Mann im Glasrahmen der Werbeplakate spiegelte. Diesem eitlen Schnösel fällt garantiert auf, dass mein Hemd nicht gebügelt ist, dachte er. Und noch bevor er etwas auf Hegelers Worte erwidern konnte, nickte dieser den anderen kurz zu und verschwand wieder.

Martin nahm Platz. Mach dich locker, atme mit dem Bauch, ermahnte er sich selbst. Dann räusperte er sich, bis die anderen ihm ihre Aufmerksamkeit schenkten. Er hatte sich gut vorbereitet. Das Konzept und die tatsächliche Machbarkeit des Projekts, aber auch der Zeitplan und das Budget waren genauestens durchdacht. Bei einem Konzern wie diesem war das allerdings auch nötig.

Seine Idee war leicht zu erklären. Martin wollte die Erde auf dem Äquator umrunden, von Osten nach Westen. Etwas Derartiges hatte bisher noch niemand unternommen, selbstverständlich nicht, sonst stünde er jetzt nicht hier, um den Vorschlag zu präsentieren. Der größte Teil der Route führte über Meeresgewässer, fast die Hälfte davon verlief durch den Pazifik. Auf diesem Teil gab es keine speziellen Schwierigkeiten, dagegen stellten die Landstrecken eine Herausforderung dar, um es zurückhaltend auszudrücken. In Afrika bestand die Route teils aus Hochebenen und teils aus Dschungelgebieten, was Martin für machbar hielt. Sich durch den Regenwald auf den indonesischen Inseln und Borneo zu schlagen, würde um einiges schlimmer werden, von der Durchquerung des Amazonas ganz zu schweigen.

Er würde allein losziehen. Über das Meer und durch den Dschungel. Vier Jahre peilte er dafür an, aufgeteilt in Etappen. Zwischen den Etappen wollte er nach Hause zurückkehren, sodass er im Lauf dieser Jahre weiterhin Vorträge halten konnte. Auf diese Weise wäre er nicht ganz von der Bildfläche verschwunden und bliebe im Gedächtnis.

Als er seine Präsentation beendet hatte, wurde es still.

»Das schaffen Sie nicht«, bemerkte eine junge Dame am Tischende. An ihren Namen erinnerte er sich nicht mehr.

»Danke«, sagte Martin und lächelte. »Genau aus diesem Grund werde ich dieses Projekt durchführen. Ich mache es nicht, weil es einfach ist, sondern gerade weil es schwierig ist.«

»Wie viel Erfahrung haben Sie denn mit dem Überleben im Dschungel?«, fragte ein anderer.

Martin war versucht, nicht viel zu antworten.

»Ausreichend«, sagte er.

In der Runde brach eine hitzige Debatte darüber los, ob das Projekt machbar war oder nicht. Martin lehnte sich zurück und hörte zu. Wollte er sich diese Expedition tatsächlich antun, oder hatte er sie nur vorgeschlagen, weil er ihnen ein spektakuläres Vorhaben bieten musste? So ganz wusste er es selbst nicht.

Franz Mendler brachte die Diskussion zu einem Ende. »Ich halte diese Idee für ein sehr großes und langfristiges Projekt mit vielen guten Punkten, ohne Zweifel. Aber wenn du nächstes Jahr startest und die Expedition vier Jahre dauert, liegen zwischen dem Abschluss des großen Vom-Nordpol-zum-Südpol-Projekts und dem Ende deiner Äquator-Idee fast acht Jahre. Acht Jahre zwischen zwei Kampagnen sind zu viel Zeit für einen Sponsor. Wir können dich schon jetzt nicht mehr zu Werbezwecken nutzen, du bist nicht mehr aktuell.«

Martin starrte Mendler an. Er ahnte, worauf es hinauslief.

»Um den Vertrag mit dir um weitere fünf Jahre zu verlängern, brauchen wir einen schnellen Erfolg. Nur so können wir zeigen, dass man dich immer noch auf dem Zettel haben muss.«

Martin wusste nur zu gut, was Mendler meinte. In der letzten Zeit hatten ihm alle dieselbe Frage gestellt, Freunde, die Presse, sogar seine Familie: Hatte er keine neuen Pläne? Wollte er nicht bald wieder etwas machen? Er antwortete stets ausweichend, parierte die Frage mit einem Scherz. »Ich habe doch wohl schon genug Zeit an der frischen Luft verbracht, meint ihr nicht auch?«

Was Mendler unter einem schnellen Erfolg verstand, begriff er hingegen nicht. Schnelle Erfolge gab es nicht.

»Alles, worum wir dich bitten, ist, dass du uns eine Expedition vorschlägst, die du innerhalb des nächsten Jahres durchführen kannst«, sagte Mendler. »Wir haben im Rahmen einer internen Strategiebesprechung unsere derzeit laufenden Sponsorings bewertet und sind, was dich betrifft, zu einem positiven Ergebnis gekommen. Allerdings sehen wir die Notwendigkeit eines schnellen Erfolgs, wie ich gerade schon erklärt habe. Also etwas, das die Führung davon überzeugt, deinen Vertrag zu verlängern.«

»Die Äquator-Expedition startet nächstes Jahr«, sagte Martin.

»Äquator, Äquator«, seufzte Mendler. »Im Pazifik oder im Dschungel verkaufen wir keine Autos. Eis, Schnee und Kälte sind die Parameter, die wir für unser Marketing in den wichtigsten Märkten nutzen, und gerade deshalb hat der Extremabenteurer Martin Moltzau so hervorragend zu uns gepasst. Sollen wir uns jetzt auf einer Segeljolle vermarkten, oder was? Oder mit einem Kerl werben, der sich monatelang durch irgendwelche tropischen Urwälder schlägt?«

»Ich kann ja kurz am Mount Everest vorbeischauen und dort die Konzernflagge schwenken«, meinte Martin scherzhaft.

»Eine fantastische Idee!« Mendler war halb vom Stuhl aufgesprungen.

Martin meinte beinahe, sich verhört zu haben. »Das war ein Scherz!«, rief er.

»Das passt perfekt zu deinem Image«, entgegnete Mendler und setzte sich wieder.

»Ganz und gar nicht. Ich bin kein Kletterer.« Martin konnte fast nicht glauben, was er da hörte.

»Wen juckt das schon?«

»Außerdem wäre der Mount Everest wohl kaum ein Erfolg für diesen Konzern. Gott und die Welt waren schon dort oben, bestimmt auch ein Mitarbeiter von euch.«

»Aber nur die allerwenigsten dürften an beiden Polen gewesen sein, auf die schwierige Tour, und auf dem höchsten Gipfel der Welt«, hielt Mendler dagegen. »Mit diesem Triple können wir die Marke Martin Moltzau noch einige Jahre am Leben halten, während du deine nächsten Abenteuer planst und durchziehst.«

Martin schüttelte den Kopf, aber Mendler war nicht mehr aufzuhalten. »Für uns ist es sogar besser, wenn du auf den Gipfel des Mount Everest steigst und nicht dem Äquator folgst. Das wäre zwar lebensgefährlich, teuer und extrem schwierig, nur wäre es den Leuten egal. Die meisten wissen ja nicht mal, wo der Äquator verläuft. Vom Mount Everest hat dagegen jeder schon gehört.«

»Den Everest zu besteigen, ist inzwischen doch keine besondere Sache mehr«, sagte Martin.

»Da irrst du dich. Der Everest ist eine Todesfalle, sieh dir nur die Statistiken an. Und trotzdem ist die Besteigung des Everest laut einer Umfrage für viele Menschen das Top-1-Ereignis, von dem sie träumen, es einmal erlebt zu haben. Außerdem, wenn es wirklich so leicht ist, dann kannst du es doch auch einfach machen, oder?« Selbstzufrieden lehnte Mendler sich zurück.

Martin spürte, dass er sich selbst in die Ecke gedrängt hatte. Wie war er in dieser Situation gelandet? Eigentlich hatte er doch nur irgendein lächerliches Beispiel für etwas geben wollen, das er auf keinen Fall tun würde. Den Gesichtern am Tisch nach zu urteilen, war er allerdings der Einzige, der diese Idee lächerlich fand. Langsam dämmerte Martin, dass seine wichtigste Einnahmequelle wegzubrechen drohte. Vor seinem inneren Auge erschien ein Bild von ihm selbst, wie er eine Treppe hinauftrottete, auf dem Weg in ein Büro, in einem dunklen Anzug, der Schlips schnürte ihm den Hals zu. Konnte er mit seinem alten Freund Mendler verhandeln? Mit dem Mann, der seit einem Jahrzehnt eine schützende Hand über ihn hielt?

»Lass uns doch vielleicht noch andere Projekte, die mit Schnee und Eis zu tun haben, ins Auge fassen«, schlug er vor, diesmal mit einem Lächeln, von dem er hoffte, dass es nicht aufgesetzt aussah.

»Mhmm … da du den Everest selbst ins Spiel gebracht hast, will ich dir nicht verheimlichen, dass viele Leute mit spektakulären Ideen zu Projekten im Himalaya zu uns kommen. Die meisten der weltbesten Bergsteiger waren schon hier. Dein Vorteil ist, dass wir dich kennen, wir haben bereits viel in dich investiert, und eine Kampagne mit dir, nachdem du den Südpol, den Nordpol und den Mount Everest bezwungen hast, wird die Leute ansprechen.«

Als Martin in lauter nickende Gesichter blickte, fiel ihm auf, dass es wohl alle als gegeben ansahen, dass er den Everest ohne Weiteres erklimmen würde, dass er nur hinzufahren und es hinter sich zu bringen brauchte.

»Warum waren Sie bisher eigentlich noch nie auf einem Berggipfel?«, wollte einer der Anwesenden wissen.

Martin beließ es bei einem Grinsen und zuckte mit den Schultern.

»Ich finde, du solltest darüber nachdenken«, schloss Mendler. »Aber melde dich bald. Wir zurren das Sponsoring-Budget innerhalb der nächsten Wochen fest, und wir müssen wissen, ob wir mit dir rechnen können.«

Martin klemmte sich in den Sportwagen und schob die Reisetasche sowie eine große Plastiktüte voller Merchandising-Artikel auf den Beifahrersitz. Mendler hatte ihm einen Stapel T-Shirts, vier Exemplare der aktuellen Sonnenbrille und die brandneue Smart Watch als Sonderedition in drei verschiedenen Farbausführungen mitgegeben.

Als sie vor dem Eingang neben dem Empfang standen, hatte Mendler ihn an beiden Schultern gepackt und ihm tief in die Augen gesehen. »Mein Freund, ich setze große Hoffnung in dieses Projekt, für dich und für mich. Viel Glück!«

Jetzt hielt sich Martin mit beiden Händen am Lenkrad fest und schloss die Augen. Der Mount Everest, 8850 Meter über dem Meer. Lawinengefahr, Todeszone, messerscharfe Bergkämme, schwindelerregende Abgründe.

All die Dinge, vor denen er sich bisher immer erfolgreich gedrückt hatte.

Was für ein Mist.

Schon auf der ersten Stufe der Gangway schlug ihm die Hitze entgegen. Überrascht blieb er für einen Moment stehen. Es waren sicher an die vierzig Grad. Er streifte die Jacke ab, trotzdem war er innerhalb von Sekunden durchgeschwitzt. Verwirrt stieg er die Treppe nach unten und betrat kurz darauf die Ankunftshalle, wo der Schatten wenigstens etwas Abkühlung bot.

Die ältere Dame, die während der fünf Stunden seit Doha im Flugzeug neben ihm gesessen hatte, stellte sich am Gepäckband direkt vor ihn. Sie hatten auf dem Flug kein Wort miteinander gewechselt, aber jetzt drehte sie sich zu ihm um und zwinkerte ihm zu. »Sie haben wohl nicht damit gerechnet, dass es hier so heiß ist, was?«

Martin schüttelte den Kopf und wischte sich mit beiden Händen den Schweiß aus der Stirn.

»Das geht allen so, die im Frühjahr hierherkommen. Kathmandu liegt nur auf 1300 Metern und viel weiter südlich als Neu-Delhi. Kaum vorstellbar, aber geschneit hat es hier noch nie. Die Leute kommen hier in Nepal an und glauben, sie befinden sich direkt in der Bergwelt des Himalaya«, sagte sie.

Er versuchte, eine überraschte Miene aufzusetzen, lächelte und zwinkerte zurück. »Es wird noch kalt werden. Ich steige auf den Everest.«

»Von der Nord- oder von der Südseite?«, fragte sie.

»Von Norden, aus Tibet.«

Die Dame nickte und zog die Mundwinkel nach unten. »Interessante Wahl.«

Er widerstand dem Drang, nachzufragen, was sie damit meinte. Was wusste eine alte Frau schon über die Routen am Everest? Stattdessen nahm er die beiden bleischweren Reisetaschen und schaffte es gerade so, sie bis zu einem Gepäckwagen zu schleifen.

Als er erneut in die Nachmittagshitze trat, erwartete ihn eine weitere Überraschung. Überall wuselten Menschen durcheinander, überdeckt von einer wahren Kakophonie aus Rufen und Geschrei. Mit dem Gepäckwagen kam er hier keinen Zentimeter vorwärts.

»Hey!«, rief er laut, ohne dass jemand Notiz von ihm nahm. Eine Gruppe Gepäckträger entdeckte ihn und stürzte sich sofort auf seine beiden Reisetaschen. Er scheuchte sie weg, während er glücklos versuchte, sich weiter durch die Menge zu schieben. Die Gepäckgeier schlurften widerwillig davon, als ein grinsender Mann mit Kurzhaarschnitt auftauchte und ihnen mit klaren Worten zu verstehen gab, sich aus dem Staub zu machen. Der Kerl trug zerschlissene Jeans und ein hellblaues T-Shirt.

»Mister Moltzau, nehme ich an?«, sagte er und streckte ihm die Hand entgegen.

»Stimmt«, antwortete Martin und drückte sie.

Entschlossen packte der Mann eine Tasche vom Wagen, schwang sie sich auf den Rücken und ging voran. Martin nahm die andere und folgte ihm zum Ende des Parkplatzes zu einem Minibus. Eifrige Helfer luden die Taschen auf das Dach, während Martin einstieg und seine ein Meter dreiundneunzig in einen Sitz presste. Er musste sich zur Seite drehen, damit seine Beine genügend Platz fanden. Sein Wohltäter setzte sich auf den Einzelsitz neben ihn und hielt ihm erneut die Hand hin.

»Dawa Chiri Sherpa.«

Martin ergriff die Hand und wiederholte seinen eigenen Namen, ehe er einsah, dass das unnötig war. Der Bus begann sich durch das Chaos vor dem Flughafen zu schlängeln, und Martin sah aus dem Fenster. Überall eingestürzte Gebäude, es hatte den Anschein, als sei das Erdbeben nur wenige Tage her. Der Wiederaufbau würde viel Zeit in Anspruch nehmen.

Er verharrte in dieser Haltung, bis sie an einem Fluss vorbeikamen, an dessen Uferterrasse Rauch von mehreren Podesten aufstieg. In regelmäßigen Abständen erhoben sich solche Steinpodeste aus der Uferterrasse, auf denen Scheiterhaufen aufgeschichtet waren. Martin erspähte zwei Füße, die aus einem der Haufen herausschauten, und er drehte den Kopf nach hinten, um sich zu vergewissern, ob er tatsächlich richtig gesehen hatte.

»Hier werden die Toten verbrannt, das ist so Tradition bei uns«, erklärte Dawa neben ihm.

»Mitten in der Hauptstadt?«

»Letzte Woche wurde der Premierminister hier eingeäschert, es waren viele Leute vor Ort.«

Martin starrte auf die Scheiterhaufen, bis sie schließlich hinter einigen Bäumen verschwanden. Die Vorstellung, ein norwegischer Ministerpräsident würde am Akerselva mitten in Oslo verbrannt, fiel ihm schwer.

Sie waren allein im Bus, und Martin fand die Stille unbehaglich. »Sind Sie bei der Expedition dabei?«, fragte er und sah dem Sherpa in die Augen.

»Ich bin der Bergführer«, antwortete Dawa.

Martin lagen viele Fragen auf der Zunge. Ist es steil?, war eine davon, aber er hielt sich zurück. Natürlich war es steil, was für eine dumme Frage. »Ihr Sherpas macht die vielen Everest-Expeditionen überhaupt erst möglich«, sagte er stattdessen.

Dawa nickte und schaute aus dem Fenster.

»Ihr habt solche Touristen wie uns sicher satt.«

Der Sherpa erwiderte Martins Blick, aber sein Lächeln war verschwunden. »Es ist unser Job.«

»Jeder kann seine Arbeit leid sein. Befehle von Ausländern entgegenzunehmen, die keine Ahnung haben, ist bestimmt nicht leicht.«

Wieder wandte Dawa seinen Blick auf die vorüberziehende Landschaft. »Die Zeiten ändern sich«, sagte er.

Martin beschlich das Gefühl, dass er lieber nicht weiter nachhakte. Zum ersten Mal begegnete er einem der legendären Sherpas, den wahren Superhelden des Himalaya. Man hatte ihm zugesichert, dass die Expedition von fünf der besten Sherpas begleitet werden würde, die für Geld zu haben waren.

»Ist Ihr Team schon vor Ort?«, fragte Martin, um das Gespräch am Laufen zu halten.

Noch immer starrte Dawa aus dem Fenster. »Wird schon gut gehen«, sagte er nach einer Weile.

Sie verbrachten die Busfahrt schweigend, bis sie am Ende einer engen Straße durch ein Tor fuhren und dann vor einem Hotel hielten. »Radisson« stand dort zu lesen, unter dem Schriftzug leuchteten fünf Sterne.

»Das nenne ich mal Expedition«, murmelte Martin.

In das Briefpapier war ein Monogramm geprägt, die Einladung selbst war handgeschrieben. Man bat ihn um 19:30 Uhr zu einem Willkommensdinner, das Erscheinen war um 19:00 Uhr in der Lobby gewünscht. Unterzeichnet hatte die Einladung Sir Richard Lawrence.

Martin hatte keine Kleidung dabei, die einer adeligen Einladung angemessen wäre, daher befand er Jeans, ein weit geschnittenes blaues Hemd und grüne Trekkingschuhe für das passendste Outfit. Die T-Shirts seines Sponsors ließ er in der Tasche, schließlich arbeitete er nicht. Noch nicht.

Nachdem er geduscht hatte, stieg er auf die Waage im Badezimmer. Vor seinen Expeditionen legte er immer an Gewicht zu, damit er von etwas zehren konnte. Das Minimum lag eigentlich bei fünfundneunzig Kilo, aber die Nadel stoppte bereits bei siebenundachtzig, trotz der Kleider. Er hoffte, dass ihm das geringe Gewicht einen Vorteil verschaffte, wenn es bergauf ging.

»Entspann dich, du bist gut vorbereitet«, murmelte er sich selbst zu und fuhr mit beiden Händen durch das kurze, grau melierte Haar. Bevor er das Zimmer verließ, schnallte er den Gürtel ein Loch enger und atmete zweimal tief ein und aus.

In der Lobby war bereits eine Gruppe versammelt, als Martin aus dem Lift trat. Zögernd ging er auf sie zu, bis der Älteste in der Gruppe ihn entdeckte und ihm entgegenkam. »Mr Moltzau«, sagte der Mann freudestrahlend und ergriff Martins Hand. Es fühlte sich an, als berührte Martin die Klaue eines gigantischen Vogels, knochig, spitz und mit einer straffen, schuppigen Haut. Er erstarrte und versuchte, seine Hand wieder an sich zu ziehen.

»Sir Richard Lawrence, zu Ihren Diensten«, stellte der Mann sich vor, ohne den Griff zu lösen.

Für einen Moment vergaß Martin die Vogelklaue. Sir Richard Lawrence höchstpersönlich, eine britische Legende, es lag nur an seinem furchtbaren Gedächtnis für Gesichter, dass er ihn nicht erkannt hatte.

»Ich betrachte Sie als eine Art Kollegen«, fuhr Sir Richard lebhaft fort. »Wir haben viel gemeinsam.«

»Zu viel der Ehre, ich bin kein Bergsteiger«, erwiderte Martin. Erneut verspürte er ein stechendes Unbehagen.

Sir Richard ließ es sich nicht anmerken, hielt Martins Hand aber immer noch umklammert und schüttelte sie einige Male. »Wir beide haben ein Leben als Abenteurer gewählt, wir verstehen uns. Ich freue mich schon darauf, von Ihren Erfahrungen zu hören.«

Martin zog die Hand an sich. »Sir Richard, hier bin ich der Lehrling.«

»Richard, darauf bestehe ich. Im Gebirge sind wir alle gleich, hier sind wir aufeinander angewiesen. Wir haben schon auf dich gewartet, gerade machen wir uns miteinander bekannt.«

Damit führte ihn der Adelsmann zu den anderen und präsentierte ihn in einigen eleganten Sätzen. Sie waren lediglich zu fünft, er selbst und Sir Richard eingeschlossen. Zuletzt stellte der Brite einen dunkelhäutigen Mann in Jeans und T-Shirt vor, der sich im Hintergrund gehalten hatte und den Martin bereits kannte. »Dawa Chiri Sherpa«, sagte Sir Richard. »Der weltbeste Sherpa und Bergsteiger. Er ist der wichtigste Mann unserer Expedition.«

»Jedermanns Helfer, niemandes Diener«, sagte der Sherpa und verneigte sich leicht.

Martin schenkte ihm einen überraschten Blick. Ein kluger Spruch. Er nickte dem Sherpa zu und erhielt ein halbherziges Lächeln zur Antwort. Dawa schien durch ihn hindurchzusehen. Sir Richard kehrte zu der Himalaya-Anekdote zurück, die er vor Martins Ankunft begonnen hatte. Martin hörte jedoch nicht zu, sondern musterte seine baldigen Kletterkameraden. Dass zwei von ihnen Frauen waren, war ungewöhnlich, obwohl Frauen auf dem Everest längst keine Seltenheit mehr darstellten. Beide waren auffallend schön, aber damit endeten ihre Gemeinsamkeiten. Die kleinere mit den langen dunklen Haaren musste Manuela aus Italien sein. Ihren Nachnamen hatte er vergessen. Entweder eine Meteorologin oder eine Bankerin, jedenfalls waren das die zwei Möglichkeiten, die Google ihm angeboten hatte. Die andere Frau hingegen trug hellblondes, kurzes Haar und arbeitete als Bergführerin, dessen war er sich absolut sicher. Sie hieß Celine Blanc, kam aus der Schweiz und überragte Manuela um einen ganzen Kopf. Wie die Italienerin war auch sie Anfang dreißig. Beim Reden gestikulierte Manuela wild und schob sich ständig die Haare hinter die Ohren, so wie es Frauen mit langen Haaren oft zu tun pflegen. Jedes Mal, wenn sie die Haare zurückstrich, kam eine kleine, aber deutlich hervortretende Narbe an ihrer linken Schläfe zum Vorschein. Celine hielt die Arme verschränkt. Sie redete wenig und lächelte noch weniger. Martin musste unwillkürlich an das chinesische Schriftzeichen für Streit oder Krach denken, das aussah wie zwei Frauen unter einem Dach. Gegenüber von Martin stand ein groß gewachsener, dunkelhaariger Mann, der etwas jünger als er zu sein schien. Wenn er lächelte, entblößte er eine makellose Zahnreihe in dem gebräunten Gesicht. Da in den USA mehrere Tausend Personen namens Mark Simmons lebten, war Martin nach seiner Google-Suche genauso schlau wie davor.

In der Zwischenzeit hatte Sir Richard seine kleine Anekdote beendet, und bis auf Martin brachen alle in heiteres Gelächter aus.

»Heute Abend habe ich für uns ein Abendessen im Stadtteil Thamel reserviert, dem Viertel der Rucksacktouristen und Hippies. Erwartet keine Sterneküche, aber es wird gemütlich«, kündigte Sir Richard an.

Das Restaurant hatte Plastikstühle, und Martin spürte die Feuchtigkeit selbst durch die robuste Hose. An der Decke hingen große Holzventilatoren, aber sie standen alle still. Die Schweißringe unter seinen Armen wuchsen immer weiter, auf dem blauen Hemd würden sie bald nicht mehr zu übersehen sein. Martin war neidisch auf die leichten Sommerkleider der anderen.

Ein Kellner stellte drei offene Flaschen Rotwein auf den Tisch, von denen Martin gleich eine nahm und reihum ausschenkte. Er spürte, dass er den Wein jetzt brauchte. Celine zwinkerte ihm dankbar zu.

»Es bringt einer Bergführerin sicher größeres Prestige und mehr Geld ein, wenn sie auf dem Everest war, oder?«, meinte er.

Celine wirkte nicht überrascht darüber, dass er mit ihrem Hintergrund vertraut war. Vielmehr schien sie über seine direkte Frage nachzugrübeln. »Daran habe ich nicht gedacht.«

»Was führt dich dann hierher?«, wollte Martin wissen.

»Warum reisen Menschen zum höchsten Berg der Welt? Vielleicht weißt du ja, was George Mallory auf diese Frage geantwortet hat?«

Martin nickte. »Because it’s there.«

»Warum bist du hier?«, konterte Celine.

Er wollte schon sagen: Weil ich muss, stattdessen antwortete er: »Ich bin Abenteurer.« Eigentlich versuchte er ansonsten, diese Bezeichnung zu vermeiden, in diesem Moment fühlte sie sich jedoch richtig an.

»Stimmt, du lebst davon«, sagte Celine. Anscheinend wusste auch sie, wer er war.

»So wie du?«

»Ich bin ausgebildete Bergführerin und mehr oder weniger das ganze Jahr über in den Schweizer Alpen unterwegs.«

»Wenn man Blanc heißt und mit Bergen zu tun hat, dann ist das wohl kaum ein Zufall.«

Celine lächelte und lehnte sich auf dem Plastikstuhl zurück. »Ich stamme von einem Bauernhof namens Blanc, der auf einem Bergrücken westlich von Chamonix liegt. Man hat dort einen direkten Blick auf den Mont Blanc, ein Zufall ist es also tatsächlich nicht.«

»Dann wirst du also irgendwann einmal einen Bergbauernhof führen?«

»Nicht, wenn ich nicht muss.«

»Warst du schon mal im Himalaya?«, fragte er und hob das Glas.

Sie setzte sich wieder auf und nahm ihr halb volles Glas in die Hand. »Nein, ich bin schon gespannt, wie ich in den wirklich hohen Lagen zurechtkomme. Höher als fünftausend Meter war ich noch nie, und allein das Everest Base Camp liegt schon deutlich darüber.«

In diesem Moment wurde eine riesige Pranke über den Tisch gestreckt. Martin stellte sein Glas ab und schüttelte sie.

»Mark Simmons, New York City. Bei der Einführungsrunde hast du das wahrscheinlich nicht mitbekommen. Du bist Norweger, wie ich verstehe.« Er ließ ein merkwürdig spitzes Lachen hören. »Allein in Manhattan wohnen doch mehr Leute als in eurem ganzen Land, oder? Kannst du mir einen Norweger nennen, den ich kennen muss?«

»Edvard Munch«, kam es sofort von Martin.

»Der ist Norweger? Ich dachte, er wäre Spanier oder irgend so was. Und das passiert ausgerechnet mir, der einen Munch an der Wand hängen hat. Zwei sogar. Ölgemälde.« Martins skeptische Miene entging Mark nicht. »Ist das so besonders? Leg genug Geld auf den Tisch, und du kannst sie bei einer Auktion kaufen. Sotheby’s oder Christie’s. Ein Handy reicht.«

Martin trank einen großen Schluck Wein und musterte den Amerikaner über den Rand des Glases hinweg. Es war verlockend, ihn nach den Titeln der beiden Gemälde zu fragen, aber er hielt sich im Zaum.

Sir Richard klopfte vorsichtig an sein Glas und stand von seinem Platz auf. »Meine lieben neuen Freunde. Obwohl wir uns gerade erst getroffen haben, werden wir die nächsten zwei Monate miteinander verbringen, unter Verhältnissen, die uns das Äußerste abverlangen werden. Keiner von euch kennt einen der anderen, aber wir verfolgen ein gemeinsames Ziel, einen gemeinsamen Traum, der uns vereint, unabhängig davon, wer wir sind oder woher wir kommen. Durch Teamwork und gute Kameradschaft, wenn es am meisten darauf ankommt, werden wir alle hier etwas erleben, um das uns die meisten Menschen beneiden werden.«

Er beendete seine kleine Rede, indem er das Glas hob. Daraufhin standen auch Martin und die anderen auf und prosteten sich zu.

Nachdem sie sich wieder gesetzt hatten, betrachtete Martin den Expeditionsleiter. Seit seiner Everest-Zusage an Mendler hatte er getrödelt. Seine Expedition selbst zu planen, wie er es sonst immer getan hatte, war keine Option gewesen. Er hatte sich für den Weg des geringsten Widerstands entschieden und eine kommerzielle Expedition finden wollen, die ihm alles auf einem Silbertablett präsentierte. Zuerst hatte er in Betracht gezogen, Ron Hunter zu kontaktieren, den König des Everest. Gegen eine erkleckliche Bezahlung brachte seine Firma »Everest Dreams« seit Jahren Bergsteiger auf den Gipfel, und das ohne ernsthafte Zwischenfälle. An einem Berg, an dem in jeder Saison eine zweistellige Anzahl Menschen ihr Leben verlor, war das keine geringe Leistung. Als Martin jedoch davon gelesen hatte, dass Sir Richard Lawrence eine Rückkehr auf den höchsten Berg der Welt plante, hatte er es sich anders überlegt. In diesem Jahr feierte der Brite das zwanzigjährige Jubiläum seiner Erstbesteigung des Everest, außerdem war es zehn Jahre her, dass er für seine Bergsteigererfolge von der Queen in den Adelsstand erhoben worden war. Er hatte zehn Achttausender bestiegen und galt unter Abenteurern als lebende Legende. Warum er sich für Sir Richard entschieden hatte, konnte Martin nicht erklären. Die Briten waren nicht unbedingt für ihre Fähigkeit bekannt, Expeditionen zu organisieren. Aber vielleicht rief Sir Richards Leben voller Abenteuer und Expeditionen in ihm das Gefühl hervor, dass sie etwas gemeinsam hatten.

Vor Celine lag eine professionell wirkende Spiegelreflexkamera auf dem Tisch, bei der sie gerade das Weitwinkeldurch ein Zoomobjektiv austauschte. Während sich die anderen unterhielten, richtete Celine die Kamera auf sie und knipste drauflos. Den Blitz nutzte sie nicht, also musste das Objektiv extrem lichtstark sein. Als sie sich in Martins Richtung drehte, hob er abwehrend die Hände. »Wollen wir hoffen, dass du noch bessere Gelegenheiten dazu hast.«

Sie verstand den Hinweis und legte die Kamera beiseite. »Ich mache ständig Fotos. Im Gebirge werden es jedes Jahr mehrere Tausend, manche verkaufe ich an Magazine. Für diese Expedition habe ich einen Vertrag mit dem National Geographic.«

Martin nahm die Kamera und wog sie in der Hand. Mit dem speziellen Zoomobjektiv war sie bleischwer. Gewicht war für ihn immer der wichtigste Faktor, nie nahm er etwas anderes mit auf seine Touren als die beste Kompaktkamera, die die Branche zu bieten hatte. Im Grunde interessierte er sich aber nicht fürs Fotografieren, er schoss nur Bilder, weil er musste, weil die Sponsoren es von ihm verlangten.

»Die würde ich nicht mit bis zum Gipfel schleppen wollen.«

Mit einem Lächeln nahm Celine die Kamera aus seinen Händen. »Wenn ich auf den höchsten Berg der Welt steige, nehme ich natürlich die beste Ausrüstung mit. Machst du Witze?«

Du hast ja keine Ahnung, dachte Martin, ehe Manuela ihn am Ärmel zupfte.

»Kommst du aus Norwegen?«

»So wie Lachs, Fjorde und Trolle.«

»Bergsteiger?«

Martin zuckte nur mit den Schultern. »Wie eine typische Bergsteigerin siehst du auch nicht unbedingt aus.«

»Wie sehe ich denn aus?«

»Wie die Tochter eines reichen Vaters«, war das Erstbeste, das ihm einfiel.

»Ich bin Meteorologin.«

Hätte ich wissen müssen, dachte Martin. Im Fernsehen, ohne Zweifel. »Bei welchem Sender?«

»RAI.«

Er erkannte den Vorteil, eine Meteorologin mit im Team zu haben, das Wetter konnte alles entscheiden. Doch bevor er sie nach den Langzeitaussichten fragen konnte, wandte sie sich an die gesamte Runde. »Ist hier Selbstbedienung, oder wen muss man bestechen, um hier etwas zu essen zu bekommen?«

Im nächsten Moment servierten Kellner ihnen Teller mit riesigen Steaks und massenweise Pommes frites. Das einzige Grüne an ihrem Essen war das Muster am Tellerrand. Sir Richard, Manuela und Mark griffen sofort zum Besteck, während Celine und Martin den halben Ochsen auf den Tellern vor ihnen erstaunt ansahen.

»Greift zu. Bis wir wieder ein ordentliches Steak zu futtern bekommen, kann es ein Weilchen dauern«, sagte Mark.

»Ich kann mich nicht daran erinnern, ein Steak bestellt zu haben«, entfuhr es Celine.

Auf Sir Richards Gabel steckte bereits ein großes Stück Fleisch. Er legte es langsam wieder auf seinen Teller und schaute sie eindringlich an. »Auf dieser Expedition wird es kein à la carte geben. Wir essen, was wir bekommen.«

Mark deutete mit der Gabel auf Celine, Soße tropfte herab. »Mit gekochtem Gemüse schaffst du es nicht auf den Everest.«

»Sir«, entgegnete Celine. »Da wir uns gegenwärtig in einem Restaurant befinden, ziehe ich es vor, mein Essen selbst zu bestellen. Auf Ihre Rechnung.«

Sie winkte einen Kellner heran und reichte ihm ihren Teller. Sir Richard verfolgte die Szene, legte aber keinen Protest ein. Martin verbarg sein Grinsen hinter dem Rotweinglas.

»Holy Shit!« Es war ihm einfach herausgerutscht. Martin deutete auf zwei Lastwagen weit oben, vielleicht tausend Meter über ihnen, die sich Stoßstange an Stoßstange gegenüberstanden. Es sah so aus, als wären die beiden Fahrzeuge auf die glatte, senkrechte Bergwand aufgeklebt.

»Shit!«, wiederholte Mark.

Mit der schläfrigen Stimmung im Auto war es nun vorbei. Stumm starrten alle auf die Felswand über ihnen und das graue Band, das sich quer darüber nach oben zog. Die schmale Straße war in den Berg gehauen. Martin saß auf der Rückbank eines Toyota Land Cruisers, links neben ihm Celine und Mark, Manuela auf dem Beifahrersitz vor ihm. Nur wenig sprach dafür, dass ihr Fahrer schon länger im Besitz des Führerscheins war. Falls er denn überhaupt einen besaß. Er schaltete zur falschen Zeit und an den falschen Stellen, außerdem schien er sich unsicher zu sein, wie lang und wie breit sein Auto war. Kamen ihm andere Fahrzeuge entgegen, blieb er einfach stehen.

Seit sie das heruntergekommene Hotel in Zhangmu verlassen hatten, lehnte Mark den Kopf an die Fensterscheibe. Offenbar hatte er am Vorabend noch einen Ort gefunden, an dem er seinen Durst stillen konnte, vielleicht in einer der vielen Spelunken an der Straße hinunter zur Friendship Bridge, der Brücke, die Nepal von Tibet trennte. Jedenfalls war er auf der Suche nach seinem Bett mit lautem Getöse durch das dunkle Sechsmannzimmer gestolpert. Martin hielt es für keine gute Idee, sich in diesen Höhenlagen zu betrinken. Man konnte sich leicht davon täuschen lassen, dass sich Zhangmu in einer Schlucht befand, umgeben von steilen Felswänden, aber die Stadt lag trotzdem 2400 Meter über dem Meeresspiegel.

Trotz der vielen kurzen Stopps wegen des entgegenkommenden Verkehrs gewannen sie rasch an Höhe. Über ihnen verschwand die Felswand senkrecht in den Wolken, während unter ihnen ein bodenloser Abgrund lauerte, aus dem ab und zu ein Wolkenkissen nach oben schwebte und das Auto umschloss. Niemand sagte etwas, während der Fahrer den Geländewagen mühselig weiter bergauf steuerte. Die Straße wurde immer schmaler und war nur selten breit genug, dass zwei Autos aneinander vorbei passten, trotzdem herrschte reger Verkehr. Hohe, aber schmale chinesische Lastwagen wechselten sich mit ausrangierten Geländewagen und vereinzelten Minibussen ab. Manche Fahrzeuge warteten, wo es genügend Platz gab, andere fuhren auf gut Glück. Ein überladener uralter Lkw schlingerte an ihnen vorbei und kam ihnen dabei so nahe, dass er ihren Seitenspiegel einklappte.

Martin war heilfroh, dass sie auf der Innenseite direkt an der Bergwand fuhren und nicht außen am Abgrund. Er wagte nicht einmal, es sich vorzustellen. Doch gerade, als er sich an den tröstenden Gedanken gewöhnt hatte, auf der sicheren Seite unterwegs zu sein, kamen sie an eine Haarnadelkurve, und die Strecke machte einen Knick um einhundertachtzig Grad. Plötzlich befanden sie sich ganz außen, und er selbst saß quasi direkt über dem Abgrund. Er verkrampfte.

»Du hättest nicht herkommen sollen«, flüsterte Celine ihm zu.

Martin schaute sie an, ohne etwas zu erwidern. Als ihnen ein Lkw entgegenkam, hielt er den Atem an. Der Lastwagen wartete dicht an der Felswand, während ihr Fahrer versuchte, den Land Cruiser an der Außenseite daran vorbeizubugsieren. Martin hätte schwören können, dass der Platz nicht reichte. Der Untergrund bestand aus nichts als Erde und Schotter, und zum Abhang hin gab es keine Sicherung. Celine stieß ihn an und hielt ihm die Kamera hin. Er schüttelte nur den Kopf, worauf sie sich auf die Rückbank kniete, über Martin beugte und das Fenster herunterkurbelte. Den Oberkörper aus dem Auto gestreckt richtete sie den Fotoapparat zuerst auf die beiden Fahrzeuge und danach auf die Räder, die nur wenige Zentimeter von der Kante entfernt waren. Noch immer hielt Martin die Luft an. Er wollte Celine anschreien, dass sie auf keinen Fall die Gewichtsverteilung im Auto verändern durfte, aber kein Laut kam über seine Lippen.

Als sie den Lkw passiert hatten, zog Mark eine halbe Flasche Wodka aus seiner Jackentasche. Er füllte den Deckel und leerte ihn, ehe er den anderen ebenfalls davon anbot. Nicht einmal Celine lehnte ab.

Vor der nächsten Kurve kam der Verkehr völlig zum Erliegen. Zwei Lastwagen versuchten sich an einer Stelle aneinander vorbeizuschieben, wo ein solches Manöver vollkommen unmöglich schien. Das halbe rechte Vorderrad des außen fahrenden Lasters ragte bereits über die Straße hinaus. Kleinere Steine und etwas Erde rieselten in die vernebelte Tiefe. Martin schloss die Augen. In diesem Moment klopfte Sir Richard von außen an die Scheibe. Alle stiegen aus und vertraten sich die Beine, während die beiden Lkws weiter vorn eine Lösung zu finden versuchten. Martin nahm eine angespannte Heiterkeit in der Gruppe wahr, niemand wollte zugeben, wie unwohl sie sich fühlten. Inzwischen hatte Mark die Wodkaflasche wieder in der Hand, was Sir Richard zu einem Stirnrunzeln veranlasste.

Ein Stück abseits stand Dawa, und Martin ging zu ihm. »Kommt es hier oft zu Unglücken?«

»Ständig. Busse, Lastwagen, Autos. Sie verschwinden einfach. Die Fahrer sind sehr schlecht. Im Winter, bei Schnee und Eis, würde ich hier niemals fahren. Viel zu gefährlich.«

Mehrere Rufe und Applaus kündigten an, dass es dem Lastwagen vor ihnen gelungen war, die Engstelle zu passieren. Jetzt waren sie an der Reihe, doch sie ließen den Land Cruiser leer fahren und gingen ihm stattdessen zu Fuß hinterher. Nur äußerst widerwillig setzte sich Martin anschließend wieder in den Geländewagen. Jedes Mal, wenn die Straße eine Kurve machte und sie an der Felswand entlangfuhren, atmete Martin erleichtert auf. Saß er dann wieder ganz außen, verkrampften sich seine Hände um die Oberschenkel. Jetzt hingen sie hinter einem alten, überladenen Lastwagen, der aussah, als müsste er auf den steilsten Passagen in den ersten Gang schalten. Ihr Fahrer trommelte ungeduldig aufs Lenkrad und hielt Ausschau nach einer Überholmöglichkeit. Denk nicht mal dran, etwas in der Richtung zu probieren, dachte Martin. Im selben Augenblick scherte der Land Cruiser aus. Als ihr Fahrer aufs Gaspedal trat, kam der Wagen auf der matschigen Fahrbahn ins Schlingern. Auf gleicher Höhe mit dem Lkw war es so eng, dass Martin nur auf das Geräusch von aufeinandertreffendem Blech wartete. Dennoch lehnte er sich nach innen, in Richtung des Lasters, weg vom Abhang. Vor ihnen bog die Straße leicht nach rechts ab. Aus der Kurve kam ein weiterer Lkw und fuhr direkt auf sie zu.

»Bremsen!«, brüllte Martin.

»Scheiße!«, schrie Mark und schlug die Hände vors Gesicht.

Der Land Cruiser geriet erneut ins Schleudern, und sie spürten das Fahrzeugheck zum Abgrund hin ausbrechen. Wie in Zeitlupe sah Martin den ungeübten Fahrer das Lenkrad falsch herum reißen, genau in die entgegensetzte Richtung, die nötig gewesen wäre, um das Übersteuern auszugleichen. Der Motor jaulte laut auf. Er tritt vor Panik aufs Gas, schoss es Martin durch den Kopf. Aus dem Augenwinkel nahm er die schwindelerregende Schlucht neben dem Auto wahr, und als er seinen Blick in die Tiefe richtete, sah er einen Fluss, der sich wie ein Silberband durch den grünen Dschungel wand. Die Motorengeräusche steigerten sich zu einem Heulen, und der Wagen schleuderte herum. In der nächsten Sekunde befand sich Martin wieder dicht neben der Felswand, während das Auto langsam rückwärts schlitterte und dann zum Stehen kam. Sie hatten sich um einhundertachtzig Grad gedreht, und die Motorhaube zeigte nun direkt auf den Lastwagen, den sie gerade eben auf wundersame Weise überholt hatten. Auch der Fahrer des Lkws hatte angehalten, sie alle saßen wie gelähmt da.

Martin stieß die Tür auf seiner Seite auf, es war gerade genug Platz zwischen dem Fels und dem Auto, und wankte hinaus. Mark folgte ihm, schob ihn zur Seite und umrundete das Wagenheck. Mit einem lauten Schrei riss Mark die Fahrertür auf, packte den Fahrer am Kragen und zerrte ihn aus dem Auto. Er hob den schmächtigen Mann so weit nach oben, dass der den Boden nur noch mit den Zehen berührte. Mark überhäufte den hilflosen Fahrer mit einer Flut aus Flüchen und Beschimpfungen, wobei er ihn so heftig schüttelte, dass sein Kopf vor- und zurückschleuderte. Lauthals brüllend stieß er den Kerl von sich, und der Fahrer landete rücklings auf der schlammigen Straße. Dort holte Mark mit dem Fuß nach ihm aus und trat ihm in die Seite. Als der Fahrer sich auf die Seite rollte und davonzukrabbeln versuchte, setzte Mark ihm nach.

Inzwischen hatte Martin sich wieder gefangen und ging um das Auto herum. In zwei großen Schritten erreichte er die beiden und schloss von hinten die Arme um Mark. »Es reicht! Willst du ihn umbringen?«

Er spürte, dass Mark sich etwas beruhigte, hielt ihn aber trotzdem so lange umklammert, bis der Fahrer aufgestanden war und sich ein Stück entfernt hatte.

Auch Manuela und Celine waren in der Zwischenzeit ausgestiegen. Manuela bückte sich und warf eine Handvoll Dreck in Richtung des Fahrers, der sich schützend die Hände vors Gesicht hielt und nach hinten stolperte.

»Du solltest deine eigene Angst besser im Griff haben als eben«, meinte Celine und zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Mark.

»Ich hätte ihn die Böschung hinunterstoßen sollen.« Mark verlieh seinem Satz Nachdruck, indem er einen losen Stein über die Kante kickte. Martin blickte dem Stein nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Dann wich er einige Schritte zurück.

Mitten im Zimmer saß eine riesige Ratte von der Größe einer Katze und starrte Martin mit ihren stechend gelben Augen an. Sie wirkte kein bisschen ängstlich, fauchte nicht und machte keinerlei Anstalten davonzurennen. Vielleicht fühlt sie sich mehr zu Hause in diesem Hotelzimmer, als ich es tue, dachte Martin. Er machte einen Schritt nach vorn und stampfte mit dem Fuß fest auf den Steinboden. Das entschied das Duell, die Ratte machte kehrt und verschwand hinter dem Bett. Martin ging einen weiteren Schritt vor und sah nach, wo das Tier abgeblieben war. Alles in dem Zimmer bestand aus Stein, der Boden, die Wände, selbst das Bett. Versteckmöglichkeiten gab es keine.

»Was ist los?«, fragte Mark hinter ihm.

»Eine Ratte.« Mit den Händen demonstrierte Martin, wie groß sie gewesen war.

Mark musste den Kopf leicht zur Seite neigen, um nicht gegen die niedrige Zimmerdecke zu stoßen. »Die Ratten, mit denen ich tagtäglich zu tun habe, sind größer und gefährlicher.«

Martin warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Wall Street.« Mark setzte sich auf sein Bett und verzog dabei das Gesicht zu einer gequälten Grimasse. Garantiert war auch die Liegefläche aus Stein. »Wie sieht es mit den Ratten in deiner Branche aus?«, wollte er wissen.

Was weißt du denn schon von meiner Branche?, dachte Martin und blieb eine Antwort schuldig.

»Viel Plackerei und wenig Kohle, aber immerhin bist du berühmt, das ist doch was. Auch wenn du dich mit Ratten wie Sir Richard umgeben musst«, meinte Mark.

»Das gilt wohl für uns beide.«

»Er ist dein Held, nicht meiner.« Mark stand auf und nahm sich zwei der mottenzerfressenen und ausgeblichenen Decken, die am Bettende lagen. Eine große Staubwolke wirbelte auf. »Was für ein Loch, wir brauchen frische Luft.« An der hinteren Zimmerwand zog Mark den Vorhang zur Seite, doch statt eines Fensters kam lediglich eine Steinwand zum Vorschein.

»Das da ist unsere Belüftung«, sagte Martin und deutete auf die halb offene Holztür hinter ihnen. »Willkommen im ›Snow Land Hotel‹.«

»Lange bleibe ich nicht hier«, erklärte Mark und schob sich an Martin aus dem Zimmer, der ihm folgte. Draußen auf dem Flur konnten sie wenigstens ihren Rücken wieder durchstrecken, dafür schlug ihnen aus der an ihr Zimmer grenzenden Gemeinschaftstoilette der säuerliche Gestank von Urin entgegen.

»Ob die hier Suiten haben?«, witzelte Mark.

Noch bevor Martin etwas darauf erwidern konnte, stolperte Sir Richard von draußen aus dem grellen Licht der Straßenlaternen in den schummrig beleuchteten Flur. Mit einer Hand stützte er sich an Martins Schulter ab. Martin konnte die Klaue selbst durch seine Gore-Tex-Jacke spüren.

»Willkommen in Nyalam. Direkt übersetzt bedeutet das ›the road to hell‹.« Der Expeditionsleiter lachte in sich hinein.

»Fragt sich nur, in welcher Richtung die Reisenden auf dem Friendship Highway unterwegs waren, die diesem Ort seinen Namen gegeben haben«, merkte Martin an.

»Gute Frage. Habt ihr euer Zimmer schon bezogen?«

Mark trat dicht an Sir Richard heran und hielt sein Gesicht direkt vor das des Briten. »Ist das die beste Unterkunft, die du gefunden hast?« Seine Hand beschrieb eine Geste, die das gesamte Dorf zu umfassen schien. »Selbst in der Hölle dürfte das hier als kümmerliche Absteige gelten.«

Sir Richard presste ein Lächeln hervor. »Seht das Positive an der Situation. Nach einer Nacht hier werden euch die sechs Wochen im Zelt wie purer Luxus vorkommen.«

»Ich werde herausfinden, ob es in diesem gottverlassenen Kaff wirklich keine bessere Bleibe gibt. Und du weißt, wer die Rechnung zahlt«, kündigte Mark an, während er einen Zeigefinger auf den Briten richtete und auf die Straße trat.

»Bitte lächeln«, hörten sie hinter sich, wo Celine auf der Treppe hockte und das Weitwinkelobjektiv ihrer Kamera justierte.

»Das ist nun wirklich kein besonders fotogenes Motiv«, meinte Sir Richard und deutete mit dem Kopf auf die feuchten Holzwände. Auf der einen Seite hing ein zerbrochener Spiegel mit Schimmelflecken, die andere Wand zierte eine ausgeblichene Fotografie der Verbotenen Stadt in Peking. Sowohl der Spiegel als auch das Bild hingen schief.

»Gerade für solche Dinge interessieren sich die Leute. Wie man unterwegs wohnt«, sagte Celine, ohne die Kamera zu senken.

»Ich habe vierzehn Expeditionsbücher geschrieben, aber in keinem davon war Platz für das Bild eines schmutzigen Hotelzimmers in irgendeinem langweiligen Dorf«, widersprach Sir Richard.

»Dann kannst du im fünfzehnten ja sicher eins unterbringen«, hielt Celine dagegen und schoss weiter Fotos.

Hinter ihr stieg Manuela die Treppe hinab. Sie hielt eine Hand in die Hüfte gestemmt und zog die Mundwinkel zu einer ungeduldigen Grimasse nach unten, während Celine zusammenpackte.

»Lasst uns etwas zu essen finden«, schlug Martin vor.

»Wir essen direkt auf der anderen Straßenseite«, sagte Sir Richard. »Chinesisch«, fügte er erklärend hinzu.

»Was du nicht sagst«, kommentierte Manuela ironisch.

Gemeinsam mit seinen beiden Expeditionskameradinnen überquerte Martin die Straße und ging die fast senkrechte Treppe zu einer Glastür hinauf, auf der in schwarzer Tusche chinesische Schriftzeichen zu lesen waren. Der einzige Gast in dem Restaurant war Mark, vor sich eine Flasche chinesisches Bier.

»Wie ich sehe, hat die Suche nach einem besseren Hotel bereits ein Ende gefunden«, sagte Martin. Mark zeigte nur auf die Bierflasche und reckte einen Daumen in die Luft. Die anderen zogen ihre Jacken aus und hängten sie über die Stuhllehnen.

»Englisch versteht der Kerl nicht. Und Speisekarten haben sie hier auch keine, glaube ich«, sagte Mark mit einem kurzen Blick in Richtung des Mannes hinter der kleinen schiefen Bar.

»Doch«, erwiderte Martin und nahm einen klebrigen laminierten Zettel vom Nachbartisch, den er vor Mark legte. »Sogar auf Englisch.«

Mark hielt die Speisekarte zwischen Daumen und Zeigefinger, als könne er sich mit irgendetwas anstecken, und studierte sie von beiden Seiten. »Wir sind offenbar nicht die ersten Touristen hier.«

»Natürlich nicht«, sagte Manuela. »Es ist die einzige befahrbare Verbindung zwischen Nepal und China, hier sind alle Rucksacktouristen unterwegs.«

»Zwischen Nepal und Tibet«, korrigierte Martin sie, was ihm eine nach oben gezogene Augenbraue einbrachte. Abgesehen davon blieb Manuela stumm.

»Bestell ein Bier und beweise, dass du ein Wikinger bist«, forderte Mark ihn auf.

»Ich warte mit dem Trinken lieber, bis wir zurück sind. Dafür trinke ich dich in Kathmandu unter jeden Tisch, das verspreche ich dir.«

Von seinem Platz am Fenster aus sah Martin, wie Sir Richard die Treppe erklomm. Auf halber Strecke blieb der Expeditionsleiter stehen, stützte sich mit einer Hand am Geländer und mit der anderen auf seinem Knie ab. Vor der gläsernen Eingangstür wartete er einige Sekunden mit der Hand auf der Klinke, ehe er sie hinunterdrückte. Sir Richard sah aus, als müsse er wieder zu Atem kommen. Sein Gesicht war noch ganz bleich, als er sich zu ihnen setzte.

Mark zeigte auf seine Bierflasche und hielt zwei Finger in die Luft, als der Kellner vorbeikam.

»Außer dir will wohl keiner Bier trinken?«, fragte Sir Richard an Mark gerichtet.

»Ich hoffe nicht«, antwortete er.

»Höhe und Alkohol sind eine schlechte Kombination. Du solltest dich besser auf die Mission konzentrieren, die vor uns liegt«, ermahnte ihn der Brite.

»Danke für den Ratschlag.«

Obwohl niemand etwas bestellt hatte, wurden ihnen mehrere Schüsseln mit Nudeln und Gemüse serviert, das in einer hellgelben Soße schwamm. Celine runzelte die Stirn, als sie sich schnuppernd über eine der Schüsseln beugte.

»Das hier ist nicht der Ort, um wählerisch zu sein«, meinte Sir Richard.

Mark blieb noch sitzen, als die anderen sich zum Gehen bereit machten. Er hatte sich noch weitere zwei Flaschen Bier bestellt. »Moment mal«, rief er und deutete auf Sir Richard, der schon auf die Tür zusteuerte. »Du denkst doch wohl nicht ernsthaft, dass ich hier auf der Rechnung sitzen bleiben soll, nachdem ich schon ein Vermögen für diese Tour gezahlt habe?«

»Das Essen ist bereits bezahlt, trinken kannst du auf deine eigene Rechnung.«

Jetzt zog sich ein strahlendes Lächeln in Marks Gesicht. »No problemo, Rickie Boy. Manche ziehen Ratten und Flöhe vor, andere genießen pisswarmes Chinabier.«

Für einige Sekunden starrte Sir Richard den Amerikaner ungläubig an, er schien nach Worten zu suchen. Dann drehte er sich abrupt um und schlüpfte aus der Tür, die Martin ihm aufhielt. Marks Gelächter war noch auf der Treppe zu hören.

»Ist das langsam genug?« Martin wandte sich zu Manuela um. »Sir Richard hat mehrfach betont, dass wir laaaangsam gehen sollen.«

Sie stützte sich auf ihre Stöcke. »Wenn wir noch langsamer laufen, schlafe ich ein. Völlig egal, was Sir Richard damit meint.«

Mit kleinen Schritten stieg Martin weiter den Kamm hinauf. Für jemanden in Topform fühlte es sich komplett unnatürlich an, sich auf diese Weise fortzubewegen. Drei Tage lang sollten sie auf den Bergkämmen rund um Nyalam herumwandern, um sich an die Höhenverhältnisse zu gewöhnen. In den letzten Monaten hatte Martin alles gelesen, was er zu Akklimatisierung und Höhenkrankheit hatte finden können. Die Botschaft war unmissverständlich: Es war nahezu unmöglich, zu langsam zu gehen.

Er blieb erneut stehen und deutete auf zwei bunte Gestalten in der grau-braunen Landschaft. Celine und Mark waren weit vor ihnen. »Manche haben wohl Schwierigkeiten damit, Anweisungen zu befolgen«, meinte er.

»Manche müssen sich eben in den Vordergrund spielen, sobald sie die Gelegenheit dazu bekommen«, antwortete Manuela. »Wieso ist Sir Richard eigentlich nicht mitgekommen?«

Dasselbe hatte sich Martin auch schon gefragt. Sir Richard war mit Abstand der Älteste der Gruppe. Zwar besaß er eine unvergleichbare Erfahrung, was den Aufenthalt in dieser Höhe betraf, aber auch er würde sich akklimatisieren müssen. Beim Frühstück hatte er gesagt, er habe noch Papierarbeit zu erledigen.

Martin schaute an Manuela vorbei und blickte über die Ansammlung von Gebäuden, die Nyalam darstellten. Rund um diese deprimierenden Beispiele chinesischer kommunistischer Architektur stiegen die Berghänge zu allen Seiten in die Höhe, teilweise noch immer mit schmutzigem Frühjahrsschnee bedeckt. Darüber erstreckte sich eine Reihe weißer, spitzer Gipfel, wie Zähne im Maul eines Hais. Manche von ihnen lagen vielleicht schon auf siebentausend Meter. Sie sahen unerklimmbar aus. Martin kam in den Sinn, dass er sogar noch zwei Kilometer weiter hinaufsteigen sollte, ein erschreckend unwirklicher Gedanke. Schnell schüttelte er ihn wieder ab.

»Von hier sieht der Ort besser aus«, sagte Martin und deutete ringsum.

Manuela sah kaum in die Richtung, in die er zeigte. »Die italienischen Alpen sind mir lieber«, meinte sie, ging an Martin vorbei und stieg weiter bergauf, mit kleinen und ein wenig zu schnellen Schritten. Er sah ihr nach, mit Sicherheit hatte sie viel Zeit darauf verwendet, die richtige Kleidung für die Expedition zusammenzustellen: Ihr Schneeanzug saß perfekt, die Farben passten zu den Stiefeln und zum Stirnband. Sogar ihr Rucksack war farblich darauf abgestimmt.

Er legte einen Zahn zu und folgte ihr. In regelmäßigen Abständen überprüfte er die Anzeige des Höhenmessers auf seiner Uhr. Als sie den ersten von mehreren kleinen Gipfeln auf dem Bergkamm erreichten, zeigte sie 4380 Meter an. Das musste reichen. »Ich setze mich kurz hin«, sagte er und wartete nicht auf eine Antwort, ehe er seinen Rucksack abnahm, auf einen Felsen stellte und es sich bequem machte. Manuela zögerte recht lange, bevor sie sich auf einen Felsen weiter weg setzte. Sie schwiegen. Die Sonne schien so warm, dass Martin seine Jacke auszog und nur im T-Shirt dasaß. Er döste im Sonnenschein und öffnete gerade die Augen, als Dawa mit den Händen in den Hosentaschen von weiter unten angetrottet kam, als wolle er seine Überlegenheit zur Schau stellen. Ohne ein Wort setzte sich auch Dawa auf einen Felsen.

Manuela fragte den Sherpa, wie oft er schon auf dem Everest gewesen sei.

»Acht Mal«, sagte Dawa.

Martin sah zu ihm. »Welche anderen Achttausender hast du schon bestiegen?«

»Sechsmal den Cho Oyu, dreimal den Manaslu, zweimal den Kangchendzönga und je einmal den Shishapangma, den Makalu und den Lhotse.«

Martin zählte im Kopf nach. Sieben verschiedene Gipfel, die Hälfte aller Berge auf dieser Welt, die über achttausend Meter lagen. Noch beeindruckender war allerdings die bloße Anzahl an Besteigungen über der Achttausend-Meter-Marke, zweiundzwanzig Mal. »Wie alt bist du?«, fragte Martin.

»Neununddreißig.«

Zehn Jahre älter, als Martin geschätzt hatte. Und trotzdem musste Dawa seit seiner Jugend jedes Jahr mindestens einen Achttausender erklommen haben. »Weißt du irgendwas über die Verhältnisse am Everest dieses Jahr?«

»Die Berge behalten ihre Geheimnisse für sich.«

»Aber was denkst du?«

»Es kommt nie so, wie wir denken.«

Martin merkte, dass er die vagen Antworten als eine Art Bedrohung wahrnahm. Aber noch lagen viele Wochen vor ihnen, ehe sie sich dem Gipfel des Bergs näherten. Zwischen Anfang April und Ende Mai konnte viel geschehen. »Ab wann ist es denn realistisch, dass wir einen Versuch auf den Gipfel wagen können?«

»Der dreizehnte Mai ist der beste Tag«, sagte Dawa.

»So exakt meinte ich das gar nicht. Wieso ausgerechnet an diesem Datum?«, fragte Martin lachend.

Dawa drehte sich zu ihm und blickte ihm direkt in die Augen. »Es steht im Lamakalender. Der weiß alles.«

Von einem Lamakalender hatte Martin noch nie gehört, aber es musste wohl eine Art Weisheitssammlung der tibetischen Mönche sein. Er ließ es auf sich beruhen.

»Willst du den Rekord für die meisten Everest-Besteigungen brechen?«, fragte Manuela.

»Nein, das hier wird meine letzte Expedition über achttausend Meter.«

Martin und Manuela sahen ihn überrascht an.

»Sind die Berge denn nicht dein Leben?« Manuela klang ungläubig.