Tod am Ringkøbing Fjord - Karsten Oberbeck - E-Book

Tod am Ringkøbing Fjord E-Book

Karsten Oberbeck

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Beschreibung

Jo sah jetzt auf und grinste ebenfalls. Es machte zweimal Plopp. Glatze riss die Augen auf, sah Jo noch einen Augenblick fassungslos an und sackte dann wie ein nasser Sack zusammen. Der mit dem Zopf sah ungläubig abwechselnd von Glatze zu Jo. Er kapierte gar nichts. Sein dümmlicher Gesichtsausdruck änderte sich allerdings auch nicht wesentlich in intelligentere Züge, als es wieder zweimal Plopp machte. Er fiel direkt um. Beide lagen jetzt auf der Folie, so wie geplant und beide waren tot, da war Jo ganz sicher. Das war bei ihm immer ganz sicher. * Bjarne Jacobsen ist spurlos verschwunden. Seine gute Freundin Mette bittet ihren Patenonkel Hallgrim, einen pensionierten Offizier, ihn zu suchen. Der findet schnell heraus, dass Bjarne im kriminellen Milieu ein gefährliches Doppelleben führt und nicht nur von ihm gesucht wird. Neben dem Verbrechersyndikat interessiert sich auch der dänische Geheimdienst für Bjarne, der vor seinem Verschwinden brisante Informationen über das organisierte Verbrechen an sich gebracht hat. Zeitgleich wird ein unbekannter Toter am Ufer des Ringkøbing Fjords gefunden, der Bjarnes Papiere bei sich trägt. Was verbirgt sich hinter Bjarnes Verschwinden? Und wieso trägt der Tote dessen Papiere bei sich? Je näher Hallgrim der Lösung kommt, desto gefährlicher wird es für ihn selbst. Denn die Leute, mit denen Bjarne sich eingelassen hat, sind absolut skrupellos.

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Seitenzahl: 305

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Karsten Oberbeck

Tod am RingkøbingFjord

UUID: c99f840a-b53a-46e6-b11b-60aee9483e01
Dieses eBook wurde mit StreetLib Write (https://writeapp.io) erstellt.

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Titel

Karsten Oberbeck

Tod am Ringkøbing Fjord

Jylland-Krimi

Impressum

Copyright: vss-verlag

Jahr: 2024

Lektorat / Korrektorat: Simon Schemp

Covergestaltung: Karsten Oberbeck

Verlagsportal: www.vss-verlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie .

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Prolog

Sein Puls stieg in dem Moment an, als er das Geräusch der vorfahrenden Motorräder hörte. Sehen konnte man nichts, denn alle Fenster waren zugehängt. Er saß als einziger Gast der Bar am Tresen, seitlich zum Eingang, ließ seinen Blick jedoch starr auf sein Bier gerichtet. Thore, der Besitzer, stand näher zum Eingang hinter seiner Theke und blickte fragend zu ihm.

Mit einem kraftvollen Stoß wurde die Tür geöffnet und im Augenwinkel sah er, dass es heute nur zwei waren. Zwei Riesenkerle, so breit wie groß in typischer Rockerkluft mit fiesen, vernarbten Gesichtern. Den mit der Glatze hatte er schon mal gesehen. Der andere, mit Zopf und Piercing in der Nase, war bisher noch nicht in Erscheinung getreten. Vielleicht ein Prospect, der angelernt werden sollte, wie man Schutzgeld eintreibt. Sie blieben vor Thore stehen und Glatze fragte ohne erkennbare Gesichtsregung: »Wer ist denn der Vogel da?«

Natürlich war er gemeint. Er spürte den leichten Druck von dem Ding unter seiner Jacke, und das beruhigte ihn. Noch immer hob er nicht den Kopf, so als ginge ihn das alles nichts an.

»Nennt sich Jo, hilft mir bei der Renovierung«, antwortete Thore, so wie es besprochen war.

Scheinbar erst jetzt bemerkten die beiden Rocker, dass der Tresen, alle Hocker und der Fliesenboden davor mit Folie belegt waren und Glatze sagte wieder zu Thore, diesmal anerkennend nickend: »Das ist brav von dir. Hältst deine Bude gut in Schuss. Dann kommen mehr Gäste und dein Umsatz steigt. Da können wir doch gleich mal über einen höheren Anteil plaudern. Damit das alles auch so schön ordentlich bleibt, wie es ist.«

Ohne auf Thores Antwort zu warten, setzte er sich direkt neben Jo und starrte ihn provokant an. Der mit dem Zopf stellte sich neben Glatze und sah ihn mit einem ziemlich dümmlichen Gesichtsausdruck ebenfalls an.

Jo hatte längst die rechte Hand unter seiner Jacke und richtete jetzt ganz langsam die Sig Sauer in Richtung Glatze. Das war nicht einfach zu bewerkstelligen, ohne dass es auffiel, weil auch noch ein Schalldämpfer montiert war. Er musste die Hand gleichzeitig etwas seitwärts in die andere Richtung bewegen, damit Glatze nicht bemerkte, was unter Jos Jacke vor sich ging. Mit der linken Hand hielt er das Bierglas so, dass der Arm seine linke Seite verdeckte. Der Schalldämpfer drückte jetzt gegen seine Jacke und beulte sie etwas aus, aber das konnten die beiden nicht sehen.

Wieder war es Glatze, der das Wort ergriff: »Jo also? Na gut Jo, deine Nase passt mir nicht, ganz und gar nicht. Deshalb wirst du jetzt die Flatter machen, damit sich die Erwachsenen in Ruhe unterhalten können.«

Jo rührte sich nicht. Er hatte den Blick immer noch auf sein Bier gerichtet und wartete.

Jetzt sprang Glatze vom Barhocker und baute sich in voller Größe neben ihm auf. Der mit dem Zopf kam ebenfalls noch einen Schritt näher.

Glatze wurde jetzt lauter: »Hast du was mit den Ohren? Wir können auch ein bisschen nachhelfen, wenn dir das lieber ist. Mein Kumpel hier freut sich schon, mal wieder richtig draufzuhauen. Der macht dich platt.«

Der mit dem Zopf nickte grinsend.

Jo sah jetzt auf und grinste ebenfalls. Es machte zweimal Plopp. Glatze riss die Augen auf, sah Jo noch einen Augen- blick fassungslos an und sackte dann wie ein nasser Sack zu sammen.

Der mit dem Zopf sah ungläubig abwechselnd von Glatze zu Jo. Er kapierte gar nichts. Sein dümmlicher Gesichtsausdruck änderte sich allerdings auch nicht wesentlich in intelligentere Züge, als es wieder zweimal Plopp machte. Er fiel direkt um. Beide lagen jetzt auf der Folie, so wie geplant und beide waren tot, da war Jo ganz sicher. Das war bei ihm immer ganz sicher. Denn wie immer stand am Ende der Parabel, die von den Projektilen beschrieben wurde, der Tod.

Jedes Mal hatte er sich die Flugbahn der Kugeln vorgestellt und was an ihrem Ende lauerte. Diese hier war nur sehr kurz, aber bei anderen Jobs hatten sie auf weite Entfernung den Tod gebracht. Er wusste nicht wie oft, und eigentlich hatte er sich immer dagegen gesträubt, denn er war doch einer von den Guten. Doch am Ende jeder Parabel war es immer gleich, immer brachten sie den Tod.

Aber es musste sein, weil die Guten es so wollten und um an Informationen zu kommen. Er musste ein Teil der Organisation werden, um die Strukturen besser zu verstehen. Eigentlich hatte er in der Hierarchie aufsteigen sollen, um weitergehende Informationen beschaffen zu können, aber das hatte nicht geklappt. So war er wider seinen Willen ein Auftragskiller geblieben, alles für die Guten, alles um das Verbrechen zu bekämpfen. Und doch war er ein Teil davon geworden, manchmal ekelte es ihn vor sich selbst. Aber das hier musste noch erledigt werden, dann würde er von der Bildfläche verschwinden. Alles war vorbereitet, hoffentlich hielten sie Wort.

Alles was jetzt kam, war genau besprochen. Nachdem sie die toten Rocker in die ausgelegte Folie eingewickelt hatten, schleppten sie die beiden durch die Hintertür in den Innenhof. Dort wartete der gestohlene Pickup mit der Plane auf der Ladefläche. Danach würden sie sich nie wiedersehen. Thore war seine Schutzgelderpresser los und alles andere interessierte ihn nicht. Ihm war von Anfang an klar, dass er besser keine Fragen stellte.

Der Mann, der sich als Jo ausgab, würde jetzt genau nach den Anweisungen seiner Auftraggeber vorgehen. Die Toten mussten vor dem Clubhaus ihrer Gang mit einem vorbereiteten, aber natürlich gefälschten Gruß der Libanesen abgeladen werden. Das würde aller Voraussicht nach genau die Wirkung erzielen, die seine Auftraggeber beabsichtigten, nämlich einen Krieg zwischen den Rockern und dem Clan.

Er hatte entschieden, dass dies definitiv sein letzter Auftrag war, danach würde er aussteigen. Raus aus dem Sumpf der organisierten Kriminalität. Sie hatten versprochen, ihn dort rauszuholen, ihm eine neue Identität zu geben, ein anderes Land, ein neues Ich. Nicht seine Auftraggeber, nein, die wür-den ihn sofort liquidieren lassen, wenn sie von seinen Plänen wüssten. Die anderen würden ihm dabei helfen. Und wenn nicht, dann hatte er immer noch eine weitere Option. Der Mann, der sich Jo nannte, spielte nämlich ein doppeltes Spiel und die Gefahr aufzufliegen, wurde mit jedem Tag größer. Nach seinem Ausstieg musste er sich verdammt in Acht nehmen, die Arme seiner Auftraggeber reichten weit, sehr weit. Wie die Fangarme einer Riesenkrake. Sie hatten inzwischen überall ihre Leute infiltriert, in allen Ebenen, auch bis ganz nach oben. In Wirtschaft, Politik, Justiz und der Polizei hatten sie alles unterwandert. In der Wirtschaft gehörten ihnen große Unternehmen komplett, oder sie hatten Leute in den wichtigen Positionen. Ihr Motiv? Geld, Macht, Einfluss und Kontrolle.

Sein Job war nur ein kleines Rädchen in diesem Gefüge, denn sie wollten auch die Kontrolle über die Straße. Sie sorgten für Chaos und dafür, dass die bestehenden Verbrechergruppierungen sich gegenseitig umbrachten. Anschließend übernahmen ihre Leute die vorhandenen Strukturen. Im Prinzip gingen sie in allen Bereichen so vor. Nur wurde dort selten jemand ermordet. Meistens reichte Erpres-sung, Rufmord oder Drohungen gegen die Familie, um die für sie wichtigen Positionen zu übernehmen.

Er konnte niemandem trauen. Bei den anderen hatte er nur zwei Kontakte und die mussten ebenfalls extrem vorsichtig vorgehen, denn auch bei ihnen hatte das Syndikat seine Leute. Deshalb hatten sie ihm auch noch keine Details zu seiner neuen Identität verraten. Nach diesem letzten Auftrag würde er sofort aus Kopenhagen verschwinden. Sie hatten lange überlegt wohin. Schließlich hatte er einen Ort vorgeschlagen, den niemand sonst kannte. Es war sein Zufluchtsort, an den er immer dann flüchtete, wenn der Sumpf, in dem er lebte, zu tief wurde und ihn zu verschlingen drohte. Das kleine Haus am Ringkøbing Fjord kannte niemand, dort fühlte er sich sicher. Es war eine andere Welt, aber auch dort konnte er leider nicht bleiben. Die wenigen Kontakte, die er außerhalb seiner Schattenwelt hatte, würde er ebenfalls aufgeben müssen. Vielleicht könnte er sich wenigstens noch verabschieden, aber wahrscheinlich war es besser, einfach

Kapitel 1

Starr vor Schreck blickte er auf den toten Körper vor seinen Füßen. Noch nie hatte er eine echte Leiche gesehen und dass dieser Mann vor ihm auf dem Boden tot war, daran gab es keinen Zweifel. Mit weit aufgerissenen, leblosen Augen und aschfahler Gesichtsfarbe lag er lang ausgestreckt im Schilf.

Unfähig zu jeder Bewegung stand Jeppe wie gelähmt einfach nur da, obwohl sein erster Gedanke war, möglichst schnell zu verschwinden. Sein zweiter Gedanke war, dass so ein Fund auf jeden Fall mit Ärger verbunden sein würde, die Art von Ärger, die er gerade gar nicht gebrauchen konnte. Trotzdem blieb er wie angewurzelt stehen und konnte immer noch nicht fassen, dass vor ihm ein toter Mann lag. In seinem Kopf fing es an zu arbeiten, aber es war unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie ein Karussell drehten sich wirre Gedankenfetzen, ohne jede Chance einen von ihnen einzufangen. Nur sehr langsam beruhigte sich Jeppe nach ein paar endlos wirkenden Minuten etwas.

Plötzlich kam ihm eine erschreckende Idee. War der unbekannte Tote etwa ermordet worden? Sofort fing sein Puls an zu rasen. Wenn das so war, könnte der Mörder noch in der Nähe sein. Hektisch drehte Jeppe sich um, aus Angst, es könnte plötzlich jemand hinter ihm stehen. Erleichtert stellte er fest, dass er allein war. Trotzdem lauschte Jeppe ange- strengt in alle Richtungen, aber außer dem leichten Rauschen des Windes, der durch das Schilf wehte, war überhaupt nichts zu hören. Kurz dachte er daran, den Toten anzufassen, um zu fühlen, ob er eventuell noch warm war. So hätte er zumindest grob einschätzen können, ob der Mann erst kurze Zeit tot oder bereits kalt und starr war. Allerdings verwarf er diese Idee sofort wieder, da ihm allein schon der Gedanke daran eine Leiche zu berühren, einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ.

Besonders lange konnte der Mann jedenfalls hier noch nicht liegen, da er noch völlig unversehrt zu sein schien und auch noch kein Verwesungsgeruch wahrnehmbar war. Mit einem zunehmend mulmigen Gefühl in der Magengegend, wandte Jeppe den Blick ab und zwang sich, an etwas anderes zu denken.

Seltsamerweise kam ihm dabei seine Kindheit in den Sinn, die er in dieser Gegend verbracht hatte. Er erinnerte sich an ein Erlebnis hier ganz in der Nähe des Ringkøbing Fjords, als er und seine beiden Freunde Lars und Søren sich in dem weitverzweigten, von hohem Schilf umgebenen Naturreservat verlaufen hatten und panisch diskutierten, was sie tun sollten. Weil jedoch keiner von ihnen eine zündende Idee hatte, kam er sich damals ähnlich hilflos vor wie jetzt. Damals waren sie schließlich nur durch Zufall wieder auf den richtigen Weg nach Hause gelangt.

Inzwischen lebte er längst in Kopenhagen und war nur hierher zurückgekehrt, weil – ja warum eigentlich? Einerseits war er seinem Bauchgefühl gefolgt, andererseits war es jedoch eher eine überhastete Flucht vor dem sicher bevorstehenden Ärger, den er sich mal wieder selbst eingebrockt hatte. Etwas Besseres als abzuhauen war ihm so schnell nicht eingefallen. Darum hatte er sich kurzentschlossen in seinen alten, klapprigen Golf gesetzt und mit seinem letzten Geld in Haurvig ein kleines Ferienhaus gemietet. Jetzt, Anfang Mai, war das noch ohne Reservierung möglich, weil der große Touristenansturm erst später einsetzen würde. Hierher, an den Ort seiner Kindheit, war er in der Hoffnung gekommen, Klarheit zu finden, wie er sein verpfuschtes Leben in den Griff bekommen könnte. Die letzten Wochen und Monate waren so deprimierend und ohne eine realistische Aussicht auf echte Verbesserung verlaufen, dass er in ganz schlechten Momenten sogar schon in Erwägung gezogen hatte, seinem armseligen Dasein selbst ein Ende zu setzen. So weit war es also schon mit ihm gekommen.

Die immer häufiger auftretenden, depressiven Phasen, in denen sich alle Probleme zu riesigen, dunklen Türmen aufbauten, raubten ihm immer mehr die Energie, einen Ausweg aus seinem Dilemma zu finden. Angefangen hatte das mit seiner dau-erhaften, beruflichen Erfolglosigkeit und führte schließlich dazu, dass er aus Geldnot nach und nach in ein kriminelles Milieu hineinrutschte, das für ihn plötzlich sehr gefährlich geworden war.

Fast als logische Folge kam dazu, dass er in seinem Privatleben auch nichts auf die Reihe bekam. Seine letzte Freundin hatte ihn schon vor acht Monaten verlassen, und die danach folgenden Dates waren alle sehr ähnlich verlaufen. Sie endeten meistens mit dem vielversprechenden Satz: »Ich ruf dich mal an.«

Was natürlich nie geschah. Er vermutete, dass Frauen grundsätzlich einen siebten Sinn für Verlierer hatten, und er benahm sich wahrscheinlich inzwischen ganz unbewusst genau so. Im Internet waren alle noch ganz begeistert, wenn er als Beruf Schauspieler angab. Jeppe Holm, bekannt aus Film und Fernsehen. So war jedenfalls sein Datingprofil angelegt - selbstverständlich alles erfunden.

In Wirklichkeit war er inzwischen ein Kleinkrimineller geworden und hauste in einem winzigen Apartment in dem als Problemviertel bekannten Stadtteil Nørrebro. Aber selbst die für Kopenhagener Verhältnisse relativ geringe Miete konnte er sich schon längst nicht mehr leisten. Eine noch günstigere Unterkunft zu finden war mittlerweile unmöglich, nicht zuletzt deshalb, weil Nørrebro sich in vielen Bereichen langsam vom Problemviertel zu einem coolen Szeneviertel ent wickelte.

Da das Angebot, an illegalen Möglichkeiten Geld zu machen, in dieser Gegend recht groß war, fing er irgendwann an, mit Koks und bunten Pillen zu dealen, um sich über Wasser zu halten. Den Kontakt zu den „richtigen“ Leuten vermittelte ihm ein ehemaliger Mitschüler, den er zufällig in einem Schnellimbiss getroffen hatte. Der wurde dann auch gleich sein erster Kunde, und innerhalb kürzester Zeit steckte Jeppe mitten in der Kopenhagener Drogenszene. Leicht verdientes Geld, und ganz offensichtlich steckte auch die notwendige Menge krimineller Energie in ihm. Selbst rührte er sein Verkaufsgut allerdings nie an. Zu abstoßend waren die Schick- sale, die er täglich zu sehen bekam. Der komplette Absturz in die Drogenabhängigkeit, häufig verbunden mit Obdachlosigkeit und Prostitution. Darum begnügte er sich mit Alkohol, denn ganz ohne Betäubung konnte er seine Situation nicht ertragen.

Als nächstes überredeten ihn seine neuen „Freunde“ zum Mitmachen bei einem Einbruch in eine Villa. Zwar musste er nur Schmiere stehen, aber das machte es nicht besser. Zu viel Alkohol und Schlägereien machten ihn sehr schnell zu einem alten Bekannten der Kopenhagener Polizei. Mit jedem Schritt näher an das untere Ende der sozialen Pyramide, lernte man automatisch Leute kennen, die man eigentlich besser meiden sollte. Er hatte eindeutig den falschen Umgang und war auf dem besten Wege, richtig und dauerhaft kriminell zu werden.

Außerdem tummelten sich in seinem Umfeld echt gefährliche Typen, skrupellose Gangster, brutale Schläger und sogar einer, der schon zehn Jahre wegen Totschlags gesessen hatte, Bengt Knudsen. Ausgerechnet von dem bezog Jeppe die Drogen, die er dann an irgendwelche Junkies weiterverkaufte. Dabei war er gezwungen, ständig auf der Hut zu sein, weil eine auswärtige Rockergang immer größere Gebiete in seinem Kiez beanspruchte, um ein weiteres Stück vom Drogenmarkt abzuschöpfen. Immer häufiger tauchten einige von denen im Revier seines Lieferanten auf und bedrohten kleine Dealer wie ihn. Zur Einschüchterung wurde hin und wieder einer in die Mangel genommen und fand sich anschließend übel zugerichtet im Krankenhaus wieder.

Dieses ständige Leben am unteren Limit ging nun schon fast zwei Jahre, ohne jede Aussicht auf eine Besserung, und inzwischen war Jeppe immerhin schon 38. Das durfte nicht mehr so weitergehen, er musste seinem Leben jetzt eine Wendung geben. Nicht nächste Woche, nicht nächstes Jahr und auch nicht irgendwann, sondern jetzt.

Der eigentliche Grund, der ihn allerdings zum sofortigen Handeln gezwungen hatte, war ein massives Problem mit seinem Drogenlieferanten, eben diesem Totschläger. Dummerweise hatte Jeppe ein paar Pillen auf eigene Rechnung vertickt und war sofort aufgeflogen. Obwohl die Natur diese ganzen Typen nicht unbedingt mit überdurchschnittlicher Intelligenz ausgestattet hatte, war fast allen eine gewisse Bauernschläue zu eigen und der sichere Instinkt, wenn etwas faul war.

So hatte der Typ ziemlich schnell spitzgekriegt, dass Jeppe ein paar Mal nicht ganz korrekt abgerechnet hatte. So etwas führte immer und ohne Ausnahme zu einer übertrieben brutalen Strafe, um allen zu zeigen, dass man so etwas mit dem „Boss“ nicht machen durfte. Also musste Jeppe schnellstens aus Kopenhagen verschwinden.

»Und nun auch noch das«, dachte er, als ihm wieder bewusst wurde, dass er im Moment ein weiteres, ganz anderes Problem hatte. Zögernd wandte er sich wieder dem Toten zu und diesmal fand er den Anblick schon nicht mehr so erschreckend. Wer das wohl sein mochte? Und woran war er gestorben? Wieder stellte er sich die Frage, ob er vielleicht sogar ermordet worden war? Wie vorhin erschreckte ihn diese Möglichkeit, und er fühlte sich zunehmend unwohl damit. Denn wenn das so war, würde hier ein Mörder herumlaufen. Dieser Gedanke behagte ihm ganz und gar nicht, deshalb vermied er es, sich da weiter hineinzusteigern.

Äußere Verletzungen waren jedenfalls nicht erkennbar, also war ein Mord eher unwahrscheinlich, machte er sich Mut. Vielleicht ein Herzinfarkt. Das soll ja auch schon in jüngeren Jahren vorkommen. Der Tote musste in einem ähnlichen Alter sein wie Jeppe selbst, und bei genauerer Betrachtung war sogar eine entfernte Ähnlichkeit zu erkennen. Die Augenfarbe stimmte jedenfalls überein. Wenn Jeppe sich seine Matte abschneiden ließ und seinen ungepflegten Vollbart in einen hippen Dreitagebart ändern würde, könnte die Ähnlichkeit sogar recht groß sein. Das erschreckte ihn, weil er sich plötzlich selbst dort unten liegen sah und sich vorstellte, ein Fremder würde ihn als Leiche betrachten. Ein eis- kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Nein, an Stelle des Toten wollte er auf keinen Fall sein, nicht jetzt und auch nicht in nächster Zukunft. Wie konnte er nur wegen seiner paar Probleme so etwas in Erwägung gezogen haben? Angesichts des realen Todes kamen ihm seine Suizidgedanken ziemlich kindisch vor.

Durch die inzwischen hochstehende Sonne stieg ihm nun doch ein leichter Hauch von beginnender Verwesung aufdringlich in die Nase. Das brachte ihn erneut in die Realität zurück und machte ihm deutlich bewusst, dass er etwas unternehmen musste. Die Polizei! Natürlich, er musste selbst- verständlich die Bullen verständigen. Ein paar Fragen beant-worten, vielleicht auch ein Protokoll aufnehmen und das war es dann. Keine große Sache und anschließend …, anschließend was? Die Leere der letzten Wochen kehrte mit voller Wucht in seinen Kopf zurück. Dann würde er wieder Jeppe sein, der arbeitslose, kleinkriminelle Möchtegernschauspieler, ohne die geringste Idee, wie es mit seinem armseligen Dasein weitergehen sollte.

Außerdem war er aktenkundig, also würden ihm die Bullen sowieso erst einmal nichts glauben, und das bedeutete so oder so Ärger. Auf die Beantwortung unangenehmer Fragen konnte er im Augenblick gut verzichten.

Vielleicht sollte er einfach weitergehen und gar nichts unternehmen. Irgendwann würde dann jemand anderes den Toten finden. Sollte der sich doch damit herumplagen.

Er hatte sich schon aufgerichtet, um möglichst schnell von hier zu verschwinden, als ein kurzer Gedankenfetzen seinen Kopf durchkreuzte. Ein Gedanke …, nein das wollte er nicht zu Ende denken, das war einfach zu abartig. Auf keinen Fall wollte er das weiterdenken, schließlich war er doch kein Lei-chenfledderer! Aber ohne Gnade und mit immer weiter schwindender Gegenwehr schlich sich dieser perfide Gedanke wie ein kleiner Mr. Hyde immer wieder in seinen Kopf. Die Vernunft und auch sein Gewissen sprachen eindeutig dagegen. So was machte man einfach nicht, weil es vollkommen den Grundwerten einer zivilisierten Gesellschaft widersprach.

Trotz dieser logischen und auch im Allgemeinsinn normalen Gedankengänge, bückte er sich wie in Trance, um die Innentaschen der Jacke des Toten nach Papieren und Geld zu durchsuchen.

Was interessierte ihn die zivilisierte Gesellschaft, in der er nur ein Looser war, um den sich auch niemand scherte.

Außerdem war er völlig pleite und der Tote brauchte nichts mehr. Obwohl ihm bewusst war, dass er es sich mit dieser wenig intelligenten Argumentation sehr leicht machte, verabschiedete sich der vernünftige Teil seines Gehirns nun endgültig und mit ihm die letzten Skrupel.

Ganz automatisch fühlte er in alle Taschen des Toten und brachte ein Portemonnaie, einen Schlüssel mit dem Adressschild der Ferienhausvermietung in Bjerregaard und einen Autoschlüssel zutage, aber merkwürdigerweise kein Handy. Auf dem Auto-schlüssel prangte ein silberner Mercedesstern. Mit seinen Kontakten konnte er so ein Auto in Kopenhagen sicher gut verkaufen. Einen Tag später wäre der Wagen dann in Richtung Osteuropa unterwegs und Jeppe wäre für einige Zeit die größten Geldsorgen los.

In der Geldbörse befanden sich lediglich ein paar hundert Kronen, eine dänische EC Karte, eine Visakarte, Ausweis, Führerschein und die gelbe Versicherungskarte. Kein Hin- weis darauf, ob der Tote verheiratet war. Einen Ring trug er jedenfalls nicht. Trotzdem bestand die Möglichkeit, dass er nicht allein hier war. Eine weitere Person könnte im Ferien- haus geblieben sein, oder sogar mehrere. Das ließ sich aber ohne ein größeres Risiko einzugehen, leicht feststellen. Jeppe hatte nämlich längst beschlossen, auch das Ferienhaus nach Geld zu durchsuchen. Falls er jemanden antreffen würde, könnte er immer noch einen Rückzieher machen und so tun, als hätte er sich im Haus geirrt. Jeppe war jetzt voll in seinem kriminellen Element, das ihn die letzten zwei Jahre bereits geprägt hatte.

Ein plötzliches Gefühl, das ihn überkam, ließ ihn erneut hochschrecken. Wenn ihn nun zufällig jemand sah und vielleicht auf die Idee käme, er hätte was mit dem Tod des Mannes zu tun. Hektisch blickte er sich um. Er befand sich auf einem kleinen Pfad, der beidseitig dicht mit Schilf und einigen Büschen bewachsen war und normalerweise auch nicht von Wanderern benutzt wurde, da er für Auswärtige keinen klaren Verlauf nahm oder eine Abkürzung zu einem attraktiven Ziel war. Obwohl er niemanden sah, pochte sein Herz bis zum Hals. Adrenalin durchströmte seinen Körper. Er war den ersten Schritt gegangen, jetzt würde er weitermachen, das gestand er sich ein.

Jeppe lernte gerade eine Seite an sich kennen, die er bisher noch nicht wahrgenommen hatte. War das eine weiter eskalierende kriminelle Energie? Oder vielleicht eine latent vorhandene Perversion? Er konnte es selbst nicht fassen, was er da gerade tat. Trotzdem zog er den Ausweis und den Führer- schein des Toten aus zwei Fächern der Geldbörse.

Birger Jebsen stand da. Jetzt hatte der Tote einen Namen. Und auch eine Adresse. Kopenhagen, Islands Brygge 32. Das lag in Vest Amager, gar nicht so weit von seiner eigenen Behausung entfernt und wenn er sich richtig erinnerte, direkt am Ufer des Südhafens. Auf jeden Fall eine teure Adresse. Egal, ob Birger Eigentümer oder Mieter war, er führte offen- sichtlich ein gutes Leben, wenn er sich dort eine Wohnung leisten konnte. Jedenfalls deutlich besser als das, was Jeppe zu bieten hatte.

Obwohl sich sein Gewissen immer noch auflehnte, hatte er längst einen Entschluss gefasst. Er musste einfach herausbekommen, was für ein Leben der Tote geführt hatte, wie seine Lebensumstände waren. Ob er Frau und Kinder hatte oder allein lebte, was für sein Vorhaben selbstverständlich eine Voraussetzung wäre. Wenn er mehr als nur ein bisschen Bargeld haben wollte, musste er nicht nur in das Ferienhaus, sondern auch in Birgers Wohnung, falls er wirklich allein lebte. Dort konnten sich Wertgegenstände befinden, vielleicht würde er sogar mit dem PC an Bankdaten oder in das Homebankingprogramm des Toten kommen.

Jeppe wurde immer aufgeregter und alle anfänglichen Bedenken waren längst beiseite gedrängt. Die Wahrscheinlichkeit, dass alle Umstände so passten, dass er seine eigentlich völlig utopische Idee in die Tat umsetzen könnte, war realistisch betrachtet sehr gering. Trotzdem oder gerade deshalb wich seine innere Anspannung einer unbändigen Neugier, fast einer Art Abenteuerlust. Auf jeden Fall hatte er nun die minimale Chance, seinem faden Leben ohne jede Aussicht auf Besserung, auf extrem spannende Art für den Moment zu entfliehen. Wie lange, das hing ganz davon ab, was er im Leben des Birger Jebsen vorfand. Dazu brauchte er natürlich einen gut überlegten Plan, wie er vorgehen wollte, und was in welcher Reihenfolge zu tun wäre. Doch zuerst musste er die Leiche besser verstecken, damit sie nicht zu schnell ge- funden wurde. Andererseits, wenn man bei dem Toten keine Papiere finden würde, könnte man ihn sowieso nicht so schnell identifizieren. Jeppe würde also ausreichend Zeit bleiben, seine perfide Idee zu realisieren. Er redete sich ein, dass sein Vorhaben bis zu diesem Punkt eigentlich gar nicht so schlimm war, denn er konnte ja immer noch einen anonymen Hinweis auf die Fundstelle geben, falls nach dem Toten gesucht wurde oder er Familie hatte.

Ein Wanderlied riss ihn aus seinen Gedanken. Bis er realisierte, dass er die Stimmen wirklich hörte, vergingen einige Sekunden. Sein Herz fing wie verrückt an zu pochen. Die Leiche musste hier weg, sofort. Ohne über sein pietätloses Handeln nachzudenken, packte der den Toten ganz oben an den Jackenärmeln und fing an zu ziehen. Doch Birger be- wegte sich keinen Zentimeter. Am Oberkörper war das viel zu schwer, wurde Jeppe schnell klar. Hektisch griff er an die Beine und zerrte ihn mit ganzer Kraft in Richtung der am dichtesten bewachsenen Seite des Pfads. Tatsächlich kam er langsam, aber nur unter größter Anstrengung, ein wenig vor- wärts.

Der Gesang wurde lauter, bis er plötzlich verstummte. Stattdessen waren jetzt Stimmen von mehreren Menschen zu hören, die laut durcheinanderredeten. Es gab keinen Zweifel

- eine fröhliche Wandergruppe, und sie waren auf direktem Weg zu der Stelle, an der Jeppe den Toten gefunden hatte. Würden sie ihn jetzt entdecken, wäre nicht nur sein Plan zunichte gemacht, sondern er wäre auch in größter Erklärungsnot, angesichts des grotesken Anblicks mit den Beinen einer Leiche in seinen Händen.

Er zerrte weiter und zog seine Last mit den Füßen voran hinter das nächste Gebüsch. Obwohl der teilweise dornige Bewuchs zunehmend dichter wurde, zerrte er den leblosen Körper ohne Rücksicht auf Kratzer immer weiter, denn er wollte möglichst weit weg vom Pfad sein, sobald die fröhliche Gruppe an die Stelle gelangte, an der er sich eben noch über die Leiche gebeugt hatte.

Da von dem Weg inzwischen nichts mehr zu erkennen und er von dichtem Schilf umgeben war, ließ er die leblosen Beine fallen und wunderte sich über seine nassen Füße. Er stand bis zu den Knöcheln im Wasser und bemerkte erst jetzt, dass er sich ganz dicht am Uferrand des Fjords befand. Er ignorierte seine durchnässten Schuhe und ging in die Hocke, um zu horchen, wie nah die Stimmen inzwischen gekommen waren. Sein keuchender Atem kam ihm so laut vor, dass ereine Hand an seinen Mund presste und die Luft anhielt. Gleichzeitig versuchte er zur Ruhe zu kommen.

Viel länger hätte er mit seiner Aktion nicht zögern dürfen, denn genau in diesem Augenblick waren die Wanderer auf seiner Höhe angekommen. Zwar konnte er sie nicht sehen, aber sie mussten jetzt genau an der Fundstelle angelangt sein. Hoffentlich zeigten sie kein Interesse an den Schleifspuren und hoffentlich hatte er in der Eile nichts verloren, was ihre Aufmerksamkeit erregen könnte. Angestrengt lauschte er in ihre Richtung. Verstehen konnte er nichts, aber das sonore Brabbeln der Stimmen gehörte eindeutig zu mindestens fünf oder sechs Erwachsenen.

Verdammt,warumbliebendieausgerechnetdortstehen?Die Anspannung war jetzt kaum zu ertragen. Was, wenn sie doch unerwartetdenSpurenfolgenwürden.Krampfhaftüberlegteer, waserindiesemFalltunwürde.Abhauen?Hinterihmwarnur nochWasser.EinefadenscheinigeErklärungsuchen? Daswar wohlkaummöglich.ErschlossdieAugenundhoffteinständig,dasssieendlichweitergehenwürden.Vielleichträtselten sieüberdieseltsameSchneiseimSchilfundwürdenneugie- rignachsehen,wohinsieführte.Jetztwareindeutigein

Kapitel 2

Gluck, gluck, gluck …. und schon wieder ging er unter. Gerade rechtzeitig rettete ihn der neu heruntergeladene James Bond Klingelton seines Smartphones vor dem sicheren Ertrinkungstod in seinem Albtraum.

»Ja? Hallgrim Nygaard«, meldete er sich noch leicht schlaftrunken.

»Hej, hier ist Mette.«

Sofort war Hallgrim hellwach und setze sich auf. Anscheinend war er auf dem Sofa eingenickt. Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass es erst Nachmittag war.

Mette war sein Patenkind und gegen den Willen ihrer Eltern in den Polizeidienst gegangen. Hallgrim fand allerdings, dass sie damals die richtige Berufswahl getroffen hatte, da sie mit aller Leidenschaft Polizistin war. Doch statt eine durchaus mögliche Karriere bei der Kopenhagener Kripo zu machen, hatte sie es vorgezogen, sich in die Polizeistation in Hvide Sande versetzen zu lassen. Wahrscheinlich war das Leben hier, wo sie aufgewachsen war, doch um einiges angenehmer als in der Hauptstadt. Vielleicht hing es aber auch mit ihrer gescheiterten Ehe zusammen, da war sich Hallgrim nicht ganz sicher. Abstand zu vergangenen Problemen, konnte man hier an der Westküste jedenfalls bestens gewin nen.

Das Außergewöhnliche an ihrem Job war, dass diese Polizeistation lediglich aus ihr bestand und wahrscheinlich auch nur wegen der sommerlichen Touristenscharen existierte. Erwähnenswerte Kriminalität gab es in dieser Gegend jeden- falls nicht.

»Hej Mette, das ist ja eine schöne Überraschung. Wir haben ja schon länger nicht miteinander telefoniert«, begrüßte er sie erfreut.

Genau genommen hatten sie seit der Beerdigung von Mettes Vater Eik und seiner Frau Tine vor gut einem Jahr nichts mehr voneinander gehört. Beide waren bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Eik war Hallgrims bester Freund gewesen. Sie hatten viele Jahre gemeinsam in der Dänischen Armee verbracht. Beide waren sie Berufssoldaten und seit ihrer Grundausbildung eng befreundet. Die lag allerdings schon sehr lange zurück und inzwischen war Hallgrim seit über einem Jahr pensioniert. Mit 57 Jahren war die Dienstzeit eines Berufssoldaten beendet, ob man wollte oder nicht. Hallgrim wäre gern noch ein paar Jahre geblieben. Sein Job war mehr als interessant. Er war für sein Alter ziemlich fit und hielt sich mit viel Sport auch immer noch in Form, nicht zuletzt, um die viele Freizeit sinnvoll auszufül len.

»Wie geht es dir«, fragte Mette. Ohne seine Antwort abzuwarten, redete sie etwas überhastet weiter: »Ich dachte, es wäre mal wieder an der Zeit, etwas von mir hören zu lassen. Aber um ehrlich zu sein, ist das nicht der einzige Grund meines Anrufs. Ich, … ich wollte dich um Hilfe bitten.«

In den letzten Worten konnte Hallgrim eine unterdrückte Aufregung in ihrer Stimme spüren.

»Ist etwas passiert? Was ist los? Hast du irgendwelche Probleme?«

»Nein, mit mir ist alles bestens. Es geht um Bjarne Jacobsen. Mit dem war ich früher in einer Klasse und wir sind seitdem ganz gut befreundet. Ich denke, du kennst ja seine Eltern von früher. Ich glaube, er hat mir mal erzählt, dass du mit seinem Vater zusammen in einer Klasse warst. Der ist allerdings vor ein paar Jahren verstorben und seine Mutter lebt inzwischen in England.«

Hallgrim konnte sich an Thorben erinnern, allerdings waren sie nie wirklich befreundet gewesen. Seinen Sohn Bjarne kannte er vom Sehen und war ihm auch einmal bei Mette be gegnet.

»Ja, und weiter«, fragte Hallgrim nach. »Was ist mit ihm?«

»Seine Mutter hat mich vorhin angerufen und mir erzählt, dass sie ihn seit letztem Samstag nicht mehr erreicht. Sie macht sich große Sorgen, weil sie ohne Ausnahme jeden Samstag telefonieren, auch wenn sie verreist sind. Sie klang am Telefon völlig aufgelöst und neigt eigentlich nicht zu Übertreibungen oder gar zu Hysterie. Außerdem kenne ich Bjarne auch ganz gut. Er wohnt zwar in Malmö, ist aber öfter in Ringkøbing. Er mietet sich dann für ein paar Tage ein Ferienhaus, und ab und zu haben wir uns getroffen. Aber rein freundschaftlich«, fügte sie schnell hinzu. »Deshalb glaube ich auch, dass da etwas nicht stimmt. Natürlich habe ich ebenfalls schon versucht, ihn anzurufen, aber ohne Erfolg.«

»Ok, verstehe, aber so richtig weiß ich nicht, was ich da tun kann. Du bist doch die Polizei?!«

»Ich muss solche Vorkommnisse meinem Chef in Ringkøbing melden und sein Okay einholen, um Ermittlungen anzustellen. Aber wenn ein erwachsener Mensch nur ein paar Tage nicht erreichbar ist, und es auch keinen konkreten Gefährdungshinweis gibt, unternimmt die Polizei erstmal gar nichts. Das wird erst ernst genommen, wenn jemand längere Zeit nicht auffindbar ist. Und solange Bjarnes Firma behauptet, sie hätte Kontakt zu ihm, wird die Polizei nichts unternehmen. Eigentlich finde ich das auch richtig, denn solche Vermisstenanzeigen gehen in größeren Polizeistationen fast täglich ein, und die meisten erweisen sich am Ende als harmlos. Kurzum, mein Chef hat mir die Anweisung gegeben, mich an diese Vorschriften zu halten. Das heißt, ich kann hier natürlich nicht weg. Ich habe allerdings ein ungutes Gefühl und möchte lieber nicht warten. Darum wollte ich dich bitten, ob du nicht vielleicht ein paar Erkundigungen einziehen kannst. Zumindest mal zu seiner Wohnung fahren, oder auch zu seiner Firma. Telefonisch habe ich dort keine Auskunft bekommen.«

»VielleichthatereinenwichtigenberuflichenTermin,oder ist mit Freunden unterwegs und die Party hat vielleicht etwas länger gedauert. Da kann man andere Dinge auch mal unabsichtlich vergessen.«

»Nein, das ist sehr unwahrscheinlich«, entgegnete Mette entschieden. »Davon hätte er seiner Mutter vorher erzählt, das hat er wohl immer getan. Außerdem pflegt er meines Wissens keine engen Freundschaften.«

»Hat er vielleicht eine Freundin? Die müsste doch wissen, wo er steckt.«

»Tja weißt du, das kann ich dir leider nicht beantworten. Über solche Themen haben wir nie gesprochen. Ich hatte das Gefühl, dass ihm das eher unangenehm war. Und unsere Freundschaft ist auch eher etwas oberflächlicher Natur.«

Ohne weiter darauf einzugehen fragte er: »Hast du es schon in den Krankenhäusern versucht? Er könnte ja einen Unfall gehabt haben.«

»Ja, die habe ich bereits alle abtelefoniert. Auch bei seiner Firma habe ich, wie gesagt, bereits angerufen, aber die waren ziemlich merkwürdig und kurz angebunden. Angeblich hätten sie erst gestern mit ihm Kontakt gehabt. Er wäre im Ausland bei einem wichtigen Kunden. Mehr war da nicht heraus-zubekommen. Den Namen des Kunden, oder in welchem Land der sich befinden soll, wollten sie nicht herausrücken. Wegen Datenschutz und so.«

»Nun, das könnte durchaus stimmen. Was ist das für eine Firma und als was arbeitet Bjarne da?«

Mette überlegte kurz und antwortete etwas zögerlich:

»Das weiß ich eigentlich gar nicht so genau. Bjarne hat darüber nie viel gesprochen. Da war auch immer ein bisschen Geheimniskrämerei dabei. Die verkaufen Sicherheitssysteme und auch Sicherheitsdienstleistungen. Bjarne ist als Berater ständig bei den Kunden unterwegs, die wohl in ganz Nordeuropa sitzen, glaube ich.«

Jetzt war Hallgrim hellhörig geworden. Wenn Mettes Information einigermaßen zutraf, konnte es sich hierbei um ein Unternehmen handeln, dass zumindest nicht nur mit völlig harmlosen Waren handelte. Sollte es sich als richtig erweisen, dass Bjarne tatsächlich verschwunden war, könnte es durchaus einen Zusammenhang geben. Aus seiner Armeezeit wusste er, dass private Sicherheitsdienstleistungen auch einen heiklen Hintergrund haben konnten. Er musste sich hin und wieder mit solchen Leuten beschäftigen und von denen waren nur wenige als seriös zu bezeichnen. Aber vielleicht verkaufte Bjanes Firma ja auch nur Software oder Alarmanlagen. Bei Mettes Beschreibung war das Spektrum der Möglichkeiten ziemlich groß. Außerdem neigte Hallgrim im Augenblick noch dazu, an einen harmlosen Grund zu glauben, aus dem Bjarne nicht erreichbar war. Doch wollte er Mettes Sorgen ihr gegenüber auch nicht verharmlosen.

Um ihr etwas Mut zu machen sagte er: »Na klar helfe ich dir. Ich kann morgen nach Malmö fahren, schließlich habe ich genug Freizeit und etwas Abwechslung tut mir vielleicht auch ganz gut. Aber du wirst sehen, am Ende wird es für alles eine harmlose Erklärung geben.«

Erleichtert entgegnete sie: »Danke, das hatte ich gehofft. Und außerdem bin ich sicher, dass du vielleicht noch etwas mehr herausbekommen kannst, besonders bei seinem Arbeitgeber. Schließlich waren Papa und du doch beim FE, und da habt ihr euch doch täglich mit der Beschaffung von Informationen beschäftigt. So hat es jedenfalls Papa immer ausgedrückt. Das war ja auch jedes Mal so eine Geheiniskrämerei. Ich glaube selbst Mama wusste bis zuletzt nicht, was er da eigentlich genau gemacht hat. Ich habe aber genug Phantasie, um mir vorstellen zu können, was die Aufgaben eines militärischen Geheimdienstes sind. Vielleicht hast du ja noch alte Kontakte, die du eventuell nutzen kannst?«

Ohne weiter auf Mettes Vermutungen einzugehen, antwortete er: »Nein, da gibt es keine Kontakte mehr.«

Das war zwar gelogen, aber er wollte bei Mette auch keine falschen Hoffnungen wecken. Außerdem fand er es zum jetzigen Zeitpunkt auch vollkommen übertrieben, über diesen Weg Informationen zu beschaffen. Selbstverständlich würde er Mette helfen, aber zunächst, ohne Außenstehende damit zu behelligen.

»Ich brauche den Namen und die Adresse der Firma und natürlich auch Bjarnes Anschrift in Malmö. Ach ja, falls du hast, könnte auch ein Foto von ihm hilfreich sein. Hast du alle diese Infos?" fragte Hallgrim.

Jetzt war deutlich die Polizistin in Mettes Stimme zu erkennen: »Die Firma heißt Security Systems und hat ihren Sitz in Malmö. Bjarnes Adresse, Telefonnummer und ein Foto schicke ich dir auf dein Handy.«

»Gut, dann werde ich gleich morgen früh loslegen. Du wirst sehen, dass sich alles ganz schnell aufklären wird und alle Sorgen umsonst waren.«

Sicher war es nicht verkehrt, etwas Zweckoptimismus zu verbreiten, auch für sich selbst. Im Moment fehlte ihm auch noch die Vorstellungskraft, dass tatsächlich etwas Ernsthaftes passiert sein könnte. Möglicherweise ein Unfall, aber auch das musste nicht immer gleich das Schlimmste bedeu- ten.

»Nochmal danke Hallgrim«, seufzte Mette hörbar erleichtert ins Telefon. »Das hilft mir sehr, um mich und besonders Bjarnes Mutter ein wenig zu beruhigen.

Und … bitte melde dich, sobald du etwas weißt.«

»Aber ja, ich werde dich selbstverständlich auf dem Laufenden halten. Mach dir nicht zu viel Sorgen. Und lass bitte immer dein privates Handy an, es könnte ja auch sein, dass er sich bei dir meldet. Ich rufe dich spätestens morgen wieder an. Bis dahin mach es erst einmal gut.«

»Ok, dann bis morgen.«

Nachdem sie das Telefonat beendet hatten, streckte Hallgrim sich wieder lang auf seinem Sofa aus, um zu überlegen, in welcher Reihenfolge er vorgehen sollte. In diesem Augenblick gab sein Handy ein leises Pling von sich. Das würde sicher Mettes Nachricht mit den Adressen und dem Foto sein. Er speicherte alles ab und gab beide Adressen bei Google Maps ein. Bjarnes Firma lag in Hafennähe, seine Wohnadresse weiter im Süden Malmös. Trotzdem würde Hallgrim erst zu Bjarnes Privatadresse fahren und erst, wenn er ihn dort tatsächlich nicht antraf, zu seiner Firma. Persönliches Erscheinen war dort ganz sicher erfolgversprechender, als ein weiterer Anruf. Stand man erst mal seinem Ge- sprächspartner gegenüber, war es viel schwieriger, abgewimmelt zu werden. Er betrachtete Bjarnes Foto, das Mette anscheinend bei einem seiner Besuche gemacht hatte, denn im Hintergrund war ihr Haus zu sehen.

Obwohl er nicht vorhatte in Malmö zu übernachten, packte er ein paar Wechselsachen, Rasierer und Zahnbürste in eine Tasche. Man konnte ja nie wissen, was sich ergab. Von seinem Wohnort Bork, am südöstlichen Ufer des Ringkøbing Fjords, waren es nur gut drei Stunden bis nach Malmö, wenn es keinen Stau gab.