Tod am See - Max van Berque - E-Book

Tod am See E-Book

Max van Berque

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Beschreibung

In seinem Kriminalroman "Tod am See" schickt Max van Berque seinen Ermittler Hardy Sylvester zum allerersten Mal los, um dem Verbrechen auf die Spur zu kommen. Der Journalist Sylvester freut sich auf seinen Urlaub. Nach monatelanger Arbeit für eine Reportage hat er ihn verdient. Da klingelt sein Handy. Der Anrufer, ein Bekannter aus Studientagen. So richtig gemocht, hat er ihn schon damals nicht. Jetzt bittet er ihn um Hilfe. Er und seine Familie werden erpresst. Hardy lässt sich überreden. Er macht sich auf den Weg nach Waren an der Müritz. Zurück lässt er seine Nachbarin Clara. Sie lebt auf dem Hausboot nebenan. Noch weiß er nicht, ob er seine Gefühle zulassen darf. Oder, ob er sie damit in die Flucht schlägt und sie sich einen neuen Liegeplatz sucht. Auf der Reise nach Waren trifft er auf Leo, mit dem ihn mehr, als nur eine staubige Pinkelpause im brandenburgischen Maisfeld verbindet. Auf Hardy Sylvester wartet alles andere als Urlaub. Er stößt auf erschreckende Verbrechen, die bis weit in die Vergangenheit reichen. Und es bleibt nicht bei einer Erpressung. "Tod am See" ist Hardy Sylvesters erster Fall. Krimikomödie, Reisekrimi, Thriller? Die Frage nach dem Genre dieses Kriminalromans ist nicht ganz leicht zu beantworten. Der Ermittler kann sich nicht sicher fühlen, denn er steht selbst unter Beobachtung. Max Berque zeichnet Charaktere, die mitunter an Karikaturen erinnern, komisch sind und sich selbst mit ihrer Art das Leben schwer machen. Am Ende überrascht die Story mit Finten und falschem Spiel. Der Krimi empfiehlt sich nicht nur als Reiselektüre durch Berlin, Mecklenburg-Vorpommern oder Waren an der Müritz. Es ist ein Kriminalroman, der an Originalschauplätzen spielt. Die Geschichte gibt es als Buch und als Hörbuch.

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Seitenzahl: 439

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ähnliche


1 Ein Wort vorab
2 Zu dritt
3 Die Karte
4 Alter Freund
5 Sein Film
6 Nachbarn
7 Polizeifragen
8 Weg nach Waren
9 Fund
10 Einsames Plätzchen?
11 Strauß Mais
12 Stadthafen
13 Noch mehr Polizeifragen
14 Maiskolben
15 Recherche
16 Falle?
17 Keller
18 Besuch in Waren
19 Reitunterricht
20 Geldsachen
21 In der Reiterstube
22 Wochenendbesuch
23 Am Steg
24 Der Freundschaftsdienst
25 Auf eine Latte
26 Die Entführung
27 Rosi Bulli!
28 Dich schickt der Himmel
29 Und gieß die Blumen
30 Leiche im Stadthafen aufgetaucht
31 Blinder Alarm
32 Lucia
33 Vitamin B
34 Im Atlantic
35 Wieder zuhause
36 Besondere Gäste
37 Segeln
38 Am Kamin
39 Zwei plus eins
40 Auf ein Glas
41 Einmal skypen bitte
42 Das Team
43 Alles auf Premium
44 Der Transfer
45 Die Konfrontation
46 Der Wind frischt auf
47 Ein neuer Brief
48 In Frankfurt
49 Perfide
50 Das Tagebuch
51 Das Geständnis
52 Ab auf die Insel
53 Lebensversicherung
54 Ein Fehler der Verwaltung
55 Nicht einmal gefeilscht
56 Hast du den gesehen?
57 Aber bitte mit Stil

Tod am See

Hardy Sylvesters erster Fall

Ein Roman von Max van Berque

www.ebook-thriller.de

Telefon: 03 32 32 - 23 71 75

[email protected]

Gestaltung Titelbild: Niklas Heinzmann, Wien

247 Seite(n)

87568 Wörter

460332 Zeichen

1 Ein Wort vorab

Die Orte in diesem Buch gibt es, mache hat der Autor geringfügig der Handlung angepasst. Sonst war es der Zahn der Zeit oder der Geschäftssinn der Menschen, der sie verändert hat.

Die Menschen in diesem Buch sind frei erfunden. Alle. Gleiches gilt für Namen und Handlung. Seien Sie also vorsichtig in Ihrem Urteil über Reitlehrer, Bürgermeister oder Journalistinnen. Sie müssen nicht zwingend schlechter oder besser sein, nur weil sie Ihnen nach der Lektüre irgendwie bekannt vorkommen. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist zufällig.

2 Zu dritt

Die Stufen knarzten unter den hohen Absätzen ihrer dunkelblauen Pumps. Gemeinsam verließen Sie das ehrwürdige Gebäude des Notars. Die schwere polierte Holztür fiel polternd ins Schloss. Sie schüttelte den Kopf. »Du bist verrückt.« Er lächelte, wie er es immer tat, wenn sie ihn als verrückt bezeichnete.

Adam und Jelena gingen Arm in Arm. Sie fielen auf, zwischen den Flip-Flop tragenden Touristen. Die in Gruppen durch die Altstadt Palmas flanierten. Sie in einem dunkelblauen Kostüm, deren Ausschnitt die blaue Spitze ihres BHs ahnen ließ. Er in seinem anthrazitfarbenen Anzug. Auf die Krawatte hatte er verzichtet. Sie gaben ein wunderschönes Paar ab und niemand hätte vermutet, dass er ihr alles, was sie heute auf dem Leib trug, vor wenigen Tagen erst gekauft hatte. Schon das war eine Überraschung, die ihm gelungen war. Dann hatte sie die Tickets nach Palma in ihrem neuen Trenchcoat entdeckt und jetzt hatte er ihr gezeigt, wie ernst er es mit ihr meinte. »Was machen wir jetzt?«, in ihrer Stimme lag ein anzüglicher Ton.

»Wir kaufen Perlwein.«, er lachte verschmitzt. Adam spielte mit seiner ostdeutschen Vergangenheit. Perlwein sagte längst niemand mehr. Und das süße Getränk, das damals damit gemeint war, daran dachte er nicht im Traum. Trocken, spanisch und kalt sollte der Cava sein. Er steuerte zielsicher das nächste Restaurant im Schatten der Kathedrale an.

»Im Supermarkt kostet der die Hälfte.«, gab Jelena zu bedenken.

»Wir brauchen ihn aber eiskalt und jetzt.«

Sie nickte gewichtig. Ihr Blick wechselte in einen gequälten Ausdruck. »Diese Strümpfe jucken.«

»Ja ich gebe es zu, für Strapse und das passende Strumpfwerk ist es ein wenig warm geworden. «

Sie legte ihren Kopf schräg. »Du musst sie ja nicht tragen.«

»Das gehört alles zu meinem Plan.« Damit zog er sie in das Restaurant. Mit einer Flasche spanischem Sekt kletterten sie kurze Zeit später in einen uralten eckigen Panda. Der klang bei jedem Startversuch, als wäre es sein letzter.

»Es ist wunderschön hier.« Jelena trommelte auf das Lenkrad des alten Fiat. Adams Blick schweifte über die Postkartenlandschaft. Vorbei an uralten Bäumen. Die Ausläufer der Inselhauptstadt hatten sie hinter sich gelassen. Jetzt verließen sie auch die ausgebaute Landstraße. Der staubige Weg führte durch riesige Artischockenfelder. Deren distelartige Delikatesse noch ein paar Wochen brauchte, bis zur Ernte. Vorbei an einer alten Mühle, deren Flügel irgendwer längst abgeschraubt hatte.

Der Garten des alten Landhauses quittierte die Arbeit der letzten Wochen mit einem Duft nach frischen Kräutern. Das Haus versteckte sich hinter der Farbexplosion einer rot leuchtenden Bougainvillea, die bis über die Dachrinne auf die verwitterten Dachziegel reichte.

Jelena Schloss die Augen. Es kam ihr vor, wie ein Traum. Jahrelang hatte sie sein Haus geputzt. Bis zu diesem Tag, an dem es wie aus Kübeln schüttete, und er sie nach Hause fuhr. Bis zu diesem Tag hatte sie ihn nicht wahrgenommen. Ein freundliches Grüßen wenn sie sich begegneten. Mehr gab es nicht.

Sie hätte sich niemals erlaubt, ihn anzusprechen. Er hatte es getan. Und er erzählte von seinem Leben. Weil er nicht ging, sie ihn nicht rausschmeißen wollte, begann sie zu kochen. Für ihre Freunde. Damals in der dunklen Kellerwohnung mit alten Möbeln. Irgendwann stand er neben ihr, wusste nicht, wie man Gemüse putzt oder Kartoffeln schält. Er war nicht einmal gegangen, als ihre Freunde eintrafen. Von da an, war er gar nicht mehr gegangen. Nicht so richtig.

Sie gingen Schwimmen. Nicht im teuren Spa wo er vorher schwamm, sondern im See. Sie trafen sich zum Essen, aber nicht in den angesagten Restaurants, sondern zuhause. Er kaufte ein, sie kochten gemeinsam. Es war, als lebte sie ihr Leben weiter und der Platz neben ihr, war endlich besetzt. Von ihm. Sie hatte keinen Partner gesucht, weil sie nicht wusste, wie leicht Glück sein konnte.

»Lass uns nach einem Weg suchen dieses Glück zu teilen.« Das gefiel ihr so an ihm. Er dachte nie nur an sich. Er wollte, dass es den Menschen um ihn herum gut ging. Und dieses um ihn herum fasste er sehr weit.

»Ja. Aber jetzt gerade geht das nicht.« Sie setzte sich auf seinen Schoß und küsste ihn. Er öffnete den Reißverschluss. Lautlos glitt ihr Kostüm von den Schultern. Es legte den Blick auf ihre blasse Haut und die dunkelblaue Spitze frei. Immer stärker hob sich ihr Brustkorb. Die geleerten Sektgläser ließen sie auf der Terrasse zurück. Sie zog ihn aus dem Stuhl ins Schlafzimmer.

Die Sonne malte immer längere schwarze Schatten der Olivenbäume auf den Boden der roten Erde. Jelena und Adam prosteten sich zu. Sie saßen auf der Terrasse. Die Tapas waren die erste Speise, die seit dem Frühstück zu sich nahmen. Dazu gab es einen Wein aus der Gegend, den ein Freund zu ihrer Ankunft gleich im Ballon dagelassen hatte.

»Das Paradies hat Risse.« Er sah sie überrascht an. »Nicht unseres. Aber das hier um uns herum. Jeden Sommer kommt wieder dieselbe Katastrophe auf diese wunderschöne Insel zu. Käme nicht laufend riesige Tankschiffe vom Festland, gäbe es keinen grünen Strauch mehr auf der Insel. Geschweige den einen Wasserhahn aus dem auch nur ein Tropfen käme.«

»Der Wassermangel. Ich weiß. Und das alles nur aus Gier. Jeden Sommer kommen die Touristen duschen die Insel leer und was dann noch nicht weg ist, landet in den Pools der Last-Minute-Hotels.«

»Dabei sind die billigen Hotels nur noch ein Problem.«, warf er ein. »Ein weiteres sind die Ferienanlagen mit Wohnungen und Häusern. Der Tourismus soll hochwertiger werden. Das hat zur Folge, dass sie hier immer mehr gebaut haben. Bauland verteuert sich, die Mieten steigen. Immer mehr Menschen können diese Preise nicht mehr bezahlen.«

Jelena nickte nachdenklich.

»Und weil die Ferienhäuser den größten Teil des Jahres leerstehen, haben sich die ersten Menschen das zurückgenommen, was sie nicht bezahlen können, was aber nicht genutzt wird. Blöd ist nur, wenn die Besitzer kommen.«

»Verstehe ich nicht.«

»Immer mehr Menschen auf der Insel besetzten Häuser. Das passiert bevorzugt in Wohnanlagen oder Villen, die lange Zeit Leerstehen.«

»Oha, dass das gibt Ärger.«

»Aber ohne Folgen. Nach spanischem Recht können die Hausbesetzer nicht aus den Häusern vertrieben werden. Das geht nur, wenn es innerhalb der ersten 48 Stunden angezeigt wird.«

»Leider sind diese armen Menschen oft äußerst aggressiv. Sie nehmen sich alles, was sich zu Geld machen lässt und verkaufen es. Die Besitzer selbst, können nur zusehen, wie ihre Stereoanlagen, Küchengeräte und Flachbildschirme weggeschleppt und verkauft werden.«

»Wenn du dir die Miete nicht mehr leisten kannst, droht dir die Obdachlosigkeit im Paradies. Das ist bitter.«

»Zum Glück ist hier nichts zu holen.« Adam sah sich um. »Nur das Nötigste und alles ganz einfach.«

Jelena schüttelte ihren Kopf. »Da wo ich her komme, ist nichts zu holen. Hier hast du schöne Möbel, eine tolle Küche, Fenster, eine Heizung, sogar einen Holzofen. Außerdem steht hier ein Fernseher. Du vergisst, wie gut es dir geht.«

»Wie gut es dir geht.«, korrigierte er sie lächelnd.

»Ich habe es nicht vergessen.« Sie griff nach seiner Hand. »Wann sagst du es ihr?«

»Wenn wir eine Wohnung haben.«

Sie horchte auf. Damit war er weiter, als er es bisher immer behauptet hatte. »Sie kann die Villa behalten. Ich glaube, sie bedeutet ihr mehr als mir.«

Jelenas Augen folgten ihm. Das gefiel ihr auch an ihm. Er wollte keinen Krieg. Alle sollten zufrieden sein. Und wenn alle so handelten wie er, wären auch alle zufrieden, davon war sie überzeugt.

»Es wird sie nicht schockieren. Sie ahnt es längst.«

»Glaubst du?«

3 Die Karte

Sie hatten ihm eine Million überwiesen. Auf dem Esstisch vor ihm lag der Kontoauszug. Zweimal im Jahr stand diese Summe dort. Als das Geld zum allerersten Mal dort landete, folgten zwei duzend Visitenkarten mit Empfehlungen von Anlageberatern und Consultants.

Steuervermeidung war ihr Stichwort. Jeder Einzelne wollte, ihm professionell helfen, seine Steuern nicht an den Staat zu zahlen. Nebenbei strichen sie dafür einen ordentlichen Teil des übriggebliebenen Geldes ein.

Die Krawatte hatte er gelockert, das Jackett über die Stuhllehne gehängt. Heute musste er erst spät ins Unternehmen. Solche Tage waren selten. Er genoss sie. Er nutzte die Zeit für die Zeitungslektüre und studierte die Wohnungsanzeigen bei einer Tasse Tee. Er saß am Esstisch, des großzügig geschnittenen Esszimmers, das von der Küche nur durch einen Tresen getrennt war und offen in das Wohnzimmer überging.

Er suchte nach einem Klebezettel, es war kein Tee mehr da. Er musste welchen kaufen. Einen Moment überlegte er, ob er Jelena bitten sollte, dies zu erledigen. Sonst regelte seine Frau solche Dinge, aber sie war für ein paar Tage verreist.

Von den Visitenkarten hatte er nicht eine der Nummern gewählt. Er hatte sogar Termine abgesagt, um diesen Menschen nicht zu begegnen. Deshalb überwies er Jahr für Jahr über die Hälfte dieses Geldes, an das Finanzamt. Den größeren Teil des Geldes, was ihm noch blieb, spendete er. Er tat das nicht öffentlichkeitswirksam vor Kameras, sondern still. Er ließ diese Zahlungen nicht quittieren, konnte sie also auch nicht beim Finanzamt absetzen. Zum Unverständnis der Kollegen, die davon Wind bekamen. Er hatte sich oft gefragt, wie sie davon erfahren hatten. Bis ihm eine Idee kam.

Vor ihm auf dem Tisch lag eine Visitenkarte. Noch eine. Wolfgang Labhaus hatte sie da gelassen. Mit dieser Visitenkarte war es anders. Er hatte die Nummer gewählt und eine Verabredung getroffen. Heute. Die Ereignisse und was er erfahren hatte, konnte er noch nicht einsortieren. Er griff nach seinem Handy. Er musst mit Jelena sprechen. Sie hatte auf alles einen unverstellten Blick. Er fragte sich, ob sie nicht sowieso heute käme?

Sie hielt das Infomaterial dieses Beraters Labhaus in den Händen und stellte fest, das Ihr Freund Adam recht hatte. Es klang gruselig. In den dem Prospekt gab er sich nachhaltig. Deshalb war er wohl auch nicht auf Hochglanzpapier, sondern betont umweltfreundlich auf mattem, grau schimmernden Papier gedruckt. Es klang ein bisschen nach: Wir lösen jeden Fall. Das war es aber nicht. Immerhin war der Mensch Finanzexperte und versprach bei diversen Großprojekten Erfolg. Sie verstand nicht wirklich, was er sagen wollte. Aber sie ahnte, dass er gefährlich war.

Vielleicht wäre Adam noch am Leben, wenn sie ihr Handy eingeschaltet hätte? So hatte sie seinen Anruf verpasst. Auf der Mailbox hatte er irgendwas von gruselig gesprochen und, dass er unbedingt mit ihr reden müsste. Das alles hatte sie erst einen ganzen Tag später gehört. Im Trubel mit der Polizei war es schlicht untergegangen.

Vor dem Fenster folgte sein Blick einer Biene. Er zweifelte einen Moment an seinen Sinnen. Im Hals spürte er ein Kribbeln. Er stutzte. Sollte ihn eine Biene gestochen haben? Das unangenehme Gefühl nahm zu. Das Atmen fiel ihm schwerer. Er schmunzelte. Zur Hypochondrie neigte er schon immer. Jetzt reichte der Anblick eines Insekts und sein Gehirn löste Alarm aus. Er wandte sich seiner Lektüre zu.

Das Zeitungspapier raschelte unter seiner krampfenden Hand. Schweiß trat auf seine Stirn. Er verstand nicht gleich. Seine Atemnot begleitete ein fieses Kribbeln und Jucken im Rachen das sich pulsierend in seinem Körper auszubreiten schien. Irritiert sah er zu der Biene hinüber. Sie war verschwunden. Er suchte nach Einstichen an seinen Unterarmen und den Händen.

Er wusste immer noch nicht, was mit ihm geschah. Sah auf den Tee. Daneben stand nur eine Schale Nüsse auf dem Tisch. Er schüttelte seinen Kopf.

Das wäre ihm nicht passiert. Plötzlich spürte er diese Angst in ihm aufsteigen. Die Angst, verwundbar zu sein, begleitete ihn seit Jahren. Das man mit Eiern und Tomaten nach ihm schmiss, brachte sein Job mit sich. Schon diese Angriffe hatte bei ihm ein Gefühl der Ohnmacht und, was er als noch schlimmer empfand, der Ungerechtigkeit hinterlassen.

Dieses Gefühl hatte den tiefen Wunsch in ihm genähert, rauszukommen aus seiner Rolle als Manager. Die Zwänge abzulegen und Menschen einfach so zu begegnen wie sie waren. Er selbst war stets um Fairness und um Harmonie bemüht. Ja er hatte auch diese durchsetzungsstarke Seite, aber der Biss war ihm mit den Jahren abhandengekommen. Nie hatte er diesen Wunsch nach Frieden stärker gespürt als jetzt.

Wer konnte so einen Zorn auf ihn haben, dass er ihn bedrohte? Oder gab es jemanden, der ihn und seine unsichtbare Schwäche kannte, und ihm schaden wollte? Seine Stimmung schlug um. Er schrie. Noch wusste er nicht, dass sein Schrei ein Fehler war. Die Gefahr sah er noch nicht.

Er war es gewohnt Entscheidungen zu treffen, Verantwortung zu tragen und das Unternehmen, zu repräsentieren. Er achtete er auf ein gepflegtes Äußeres. Seine silbernen Schläfen verrieten seine fünfzig Jahre. Der maßgeschneiderte Anzug, seinen gediegenen Geschmack. Auf Reisen und bei öffentlichen Auftritten verlangte die Versicherung Personenschutz.

Jetzt verfiel er in Hektik. Sprang er auf. Sein Verstand verriet ihm, während die erste Welle dieses Kribbelns im Rachen nachließ, dass er nicht aufgepasst hatte. Und das eine zweite Welle folgen würde. Er hatte Angst. Er bewegte sich in seiner vertrauten Umgebung, hier passte er nie auf. Nicht mehr, als die Routine es von ihm verlangte. Er lebte ein Gefühl der Sicherheit, dass vielleicht jemand ausgenutzt hatte. Sein Stuhl schlug hinter ihm auf das Parkett aus den siebziger Jahren. Er starrte auf die Tasse vor ihm und auf die Teebeutel, die noch in der gläsernen Kanne hingen. Seine Augen aufgerissen, stürzte er aus dem Wohnzimmer. Er hatte keinen Blick für den englischen Rasen, der sich hinter den Panoramascheiben in sattem Grün bis zu den hochgewachsenen Buchen am Ende des Grundstücks erstreckte. Er lief vorbei an der verspiegelten Wand im Eingangsbereich, nahm zwei Stufen auf einmal. Fast oben, nahm er drei Stufen. Zuviel. Die Spitze seines polierten Schuhs blieb an der obersten Stufe hängen. Die zweite Welle traf ihn härter. Pfeifen und Röcheln verrieten, dass auch mit seiner Lunge etwas nicht stimmt. Er spürte, dass es eiliger war, als er angenommen hatte.

Er strauchelte, schlug auf den Boden. Sein Blick war starr auf die Badezimmertür gerichtet. Dort befand sich sein Notfall-Stick. Er spielte die Griffe mit dem Adrenalinstick vor seinem inneren Auge durch. In wenigen Sekunden sollte er den handlichen Stift mit der rettenden Flüssigkeit in seinen Oberschenkel rammen. Seine Knie schmerzten vom Sturz. Die Stimme seiner Ärztin im Ohr: »Stoßen Sie den Stick in Ihren Oberschenkel. Wenn Sie ihn in den Finger rammen, platzt er.« Dabei hatte sie nicht gelächelt, wie sie es sonst bei Scherzen tat. Er schloss daraus, dass es kein Scherz war, und hatte Nachfragen unterlassen.

Seine Lunge pfiff. Unmengen Luft musste er in beide Lungenflügel saugen, damit ein bisschen Sauerstoff seine Blutbahn erreichte. Er musste sich beeilen, das wusste er. Es war ein Wettlauf zwischen ihm und der Ohnmacht. Ein Rennen zwischen Leben und Tod. Blieb seine Lunge zu lange ohne Sauerstoff, stieg das Kohlendioxid in seiner Blutbahn. Bewusstlosigkeit wäre die Folge. Soviel wusste er. Dieses Rennen musste er gewinnen. Längst dachte er an nichts anderes mehr. Die Anstrengung, am Leben zu bleiben, verdrängte seine Wut. Die nächste Aufgabe war wichtiger, als die Frage, wer ihm das angetan hatte. Wer wollte ihn umbringen? Es musste ein Mordversuch sein. Jetzt interessierte es ihn nicht. Sein Wutschrei, hatte ihn zu viel Kraft gekostet. Schwankend stand er auf. Seine Hände suchten an der Wand nach Halt. Die teuren Drucke in den edlen Rahmen, von seiner Frau ausgesucht, von ihm bezahlt, schlugen auf den Boden. Ihr Glas zerbarst. Sein Brustkorb hob und senkte sich unter lautem Pfeifen. Mit zitternden Händen wühlte er in den Schubladen neben dem Badezimmerspiegel. Da lag der Stick. Eigentlich lag er da. Jetzt war der Notfall-Stick weg. Schweiß trat auf seine Stirn. Was er im Spiegel sah, war nur noch verschwommen. Sein Gesicht war rot angelaufen. Er stürzte raus auf den Flur. Rutsche die Treppe auf seinen glatten Ledersohlen mehr runter, als dass er sie lief. Das Telefon lag in der Küche. Sein Blick war starr, seine Pupillen lieferten nur noch undeutliche Bilder. Er wusste, dass dieses Signal echte Gefahr bedeutete. Er hatte die 112 gewählt. Versuchte zu sprechen. Da senkte sich ein tiefes Schwarz vor seine Augen. Den Aufschlag auf die Küchenfliesen spürte er nicht mehr. Genauso wenig bekam er mit, dass er die grüne Taste an seinem Telefon nicht gedrückt hatte.

Seinen Schrei hatte niemand gehört. Ihn konnte niemand hören. Die Fenster und Türen der gepflegten Villa waren, entgegen der Gewohnheit, säuberlich verschlossen. Wer an diesem Tage in das Haus käme, steckte erst in einer Stunde seinen Schlüssel in das Schloss der Haustür.

4 Alter Freund

Tropfen rannen am beschlagenen Weißweinglas langsam und ungleichmäßig zu Boden. Hardy liebte solche warmen Frühsommerabende und er liebte diesen Wein. Für solche Momente hatte er lange nicht die Zeit und das Wetter gehabt. Heute passte beides. Hier auf seinem Hausboot verströmten sie den Duft von Urlaub und Freiheit. Sein Blick schweifte über die Spree. Ihr Wasser glitzerte in der Abendsonne. Der Trubel der Hauptstadt schien kilometerweit entfernt. Dabei lag sein Boot in einem Seitenarm des Stadtflusses mittendrin in der pulsierenden Hauptstadt. Noch war alles ruhig. Er ahnte nicht, dass er heute noch eine stressbringende Entscheidung treffen sollte.

Hardy genoss den Blick auf das gekräuselte Wasser, das mit der leichten Brise des warmen Frühsommerwindes zu spielen schien. Er tippte, wer von seinen Gästen zuerst eintraf. Sein Boot lag versteckt. Der Weg war schwer zu finden. Für Hausboote gab es nur selten Hausnummern und zu diesem Liegeplatz gab es unterschiedliche Ansichten, über den besten Weg. Der eine führte direkt eine steile Böschung von der Straße hinunter. Damit war er weder für Ledersohlenträger noch für hochhackige Pumps geeignet. Der andere war länger. Ein unscheinbarer Pfad, jenseits der Straße. Er führte unter der Brücke hindurch, zu seinem und den anderen Booten. Staubig waren bei dem trockenen Sommerwetter beide. Auf diesen Tag hatte er wochenlang hingearbeitet. Es war der Sendetermin seiner Reportage.

Cutter, Kameraleute und die Kollegen aus dem Büro hatten sich angesagt, das ganze Team samt Praktikanten. Der Holztisch auf dem Dach seines Hausbootes ächzte unter Fingerfood und Salaten. Grillen fiel aus. Er wollte sich heute keinen Tadel für verkohlte Würstchen einhandeln. Er genoss nach Wochen der Anspannung einen merkwürdig relaxten Zustand. Die Vorbereitung in der Küche war Erholung für ihn. Salate und Gemüsestreifen schnippeln, Pflaumen im Speckmantel braten, Schafskäses überbacken. Nach wochenlangem Döner- und Pizzakonsum genoss er die Zeit in seiner Küche.

Nach Recherche, Dreh und Schnitt verfiel er regelmäßig in einen Zustand, in dem er von außen auf sich herab sah. Ein Blanc de Noir, feinherber Spätburgunder vom Weingut Schüler-Katz aus Kiedrich, tat sein übriges. Die Melodie von Pink Panther holte ihn ins Hier und jetzt. Das müssten seine ersten Gäste sein, die den Zugang zum Liegeplatz nicht fanden, dachte er. Er stutzte, als er den Anruf mit unterdrückter Nummer entgegennahm.

»Frank hier, hallo Hardy«, hörte er eine leise matte Stimme. Hardy musterte das türkisfarbene Etikett des Weines. Er musste lachen. Um den Anrufer nicht zu verschrecken, drückte er seinen Daumen auf das Mikrofon. Wer um Himmelswillen war Frank und hörte sich an, als wollte er auf ein Bier vorbeikommen? Hatte er seine Nummer und die Feier aus Versehen bei in seinen Social Media Kanälen veröffentlicht? Mit starrem Blick auf das Etikett, kramte in den Windungen seines Gehirns.

»Frank!«, rief er zu laut und zu gut gelaunt in sein Telefon. Seine Stimme gaukelte Vertrautheit vor. Er hoffte, dass sein Gegenüber mehr von sich preisgab. Seine Mobilnummer hatte 25 Jahre und zahlreiche Anbieterwechsel überlebt. Daher kam es vor, dass sich Menschen bei ihm meldeten, die er vor Jahren bei der Arbeit oder auf Reisen getroffen hatte.

»Es tut mir leid, dass ich dich überfalle. Mir ist kein anderer eingefallen.« Schmeichelhaft dachte Hardy in einem Anflug von Selbstironie. Jetzt müsste er nur noch wissen, wofür. »Bin nach dem Studium in der Politik gelandet, lebe jetzt in Waren an der Müritz. Wir haben quasi an der Uni die Grundlage für meine Zukunft gelegt.«

Soll vorkommen, dachte Hardy. Ihm schwante langsam, wer ihm da einen Abriss seines Lebens gab. Die Stimme hatte sich, trotz der Jahre, nur wenig verändert. Etwas, reifer klang sie. Er schmunzelte. Das war eine Beobachtung, die er nur bei anderen machte. Seine Vermutung, hob seine Laune nicht.

»Party-Frank, na das ist aber eine Überraschung.«, platze es aus Hardy heraus. ›Verdammt‹, dachte er, einen Wimpernschlag später. Sei vorsichtig, du weißt nicht, was der Menschen am Telefon heute macht. Vielleicht ist er Rechtsanwalt und auf Beleidigungen am Telefon spezialisiert. Und betrachtet seinen ehemaligen Spitznamen heute als solche. Schöne Grundlagen waren das. Party-Frank konnte er beim besten Willen mit nichts anderem als Bier und Partys in Verbindung bringen.

Er erinnerte sich sonst an fast nichts mehr von ihm. Zu Uni-Zeiten schmiss er eine Feier nach der nächsten. Da hatte es schon damals, nur Bier aus der Zapfanlage gegeben. Für Studenten war das der Mega-Luxus gewesen. Er sah schulterzuckend auf die schwarze Mörtelwanne hinter sich. Im Wasser kühlte er dort seit dem Morgen die Flaschen aus diversen Bierkisten.

Der Jungpolitiker verkaufte seine Partys schon damals immer als große Politik. Er nannte das Netzwerken und war damit seiner Zeit voraus. Zumindest in der Wortwahl. Er verlor an der Uni, nie den eigenen Vorteil aus den Augen. Das war es, woran Hardy bei Frank dachte.

»Ich bin verheiratet.« Tönte es etwas heiser aus dem Telefon. Das war sein dritter Satz nach etwa 15 Jahren der Gesprächsabstinenz, dachte Hardy. Muss wichtig sein.

»Und ich habe ein Problem.«, Satz Nummer vier, dachte Hardy.

»Ach«, konterte er trocken. »Probleme, mit deiner Frau? Frank, nimm es mir nicht übel, ich bin Journalist, kein Psychologe. Ich kann dir da nicht helfen. Wenn du meine Beziehungsbilanz kennst, legst du auf.« Dieser Wein macht mich fertig, ich hätte was essen sollen, dachte Hardy. Dieses Mal, ohne es auszusprechen.

»Ich werde bedroht«, flüsterte die Stimme aus dem Telefon.

»Ich brauche Hilfe. Man erpresst mich und meine Familie.«

»Erpressung? Ist das in der Politik nicht der Normalfall?«, frotzelte Hardy.

»Man hat mir eine Warnung geschickt.« Seine Stimme brach ab. Hardy steckte seinen Finger ins freie Ohr, um noch was zu verstehen.

»Es geht um ein Millionenprojekt und jetzt geht es um das Leben meiner Tochter.« Er atmete schwer.

»Sie haben mir die Fahrradklingel von meiner Kleinen ins Büro geschickt, per Kurier.«

»Das klingt nicht gut«, murmelte Hardy. »Einfach nur die Klingel?«

»Nein. Wir kennen ihren Schulweg. Stand auf einem Zettel.«

»Okay, aber woher weißt du, um was es geht, ich meine, haben sie sonst was gesagt? Und wer sind die? Ich meine, hast du Feinde. Haben die Erpresser sich zu erkennen gegeben?« Hardy schüttelte den Kopf. Er mochte den Typen nicht sonderlich. Noch weniger mochte er, dass der soeben dabei war seine Urlaubsplanung über den Haufen zu schießen. Er durfte jetzt nichts Falsches sagen und sich auf nichts einlassen. Ungerechtigkeit konnte er nur schwer ertragen. Da musste es irgendwas in seiner Vergangenheit geben, weshalb es bei solchen Dingen kein Nein in seinem Wortschatz gab.

Heute hatte er seinen, Discus aus dem Abstellraum geholt. Seinen geliebten Gleitschirm von Swing. Das Gerät war für ihn die Rakete ins Nirwana. Der schnellste Weg abzuschalten. Schon beim Auspacken war es, als hätte er das Piepen seines Höhenmessers in den Ohren. Paragliding war für ihn immer noch der beste Weg, runter zu kommen. Abstand zu den Dingen und zur Arbeit aufzubauen. Sein Plan war eine Reise in die Alpen. Ein paar Tage in der Luft abhängen. Dieses Vorhaben wollte er auf gar keinen Fall streichen.

»Pass auf Frank. Erpressung ist kein Kavaliersdelikt. Ich bin da der Falsche. Ich kann dir nicht helfen. Du musst zur Polizei gehen. Ich meine, ich habe überhaupt nicht die Möglichkeiten, wie die Kollegen von der Behörde.«

»Hardy bitte. Ich kann nicht zur Polizei gehen.«, unterbrach ihn Frank. »Ich bin Politiker. Ich lebe in einer Kleinstadt. Hier kennt jeder jeden. Die Sache darf nicht an die Öffentlichkeit kommen. Dann bin ich tot oder jemand aus meiner Familie.«

»Frank. Genau da steckt unser zweites Problem. Ich bin Journalist. Ich lebe von der Öffentlichkeit.« Sein Gegenüber schien ihn, gar nicht gehört zu haben. Diese Eigenschaft hatte Hardy schon im Studium beeindruckt.

»Ich brauche jemanden der intelligent und diskret arbeitet und den hier keiner kennt.«

So ein Arsch, dachte Hardy, jetzt versucht der es auf die nette Tour. Franks Stimme klang immer noch gepresst.

»Es geht um eine Abstimmung im Stadtrat, dahinter stecken Millionen aus der öffentlichen Hand und jetzt ...« Seine Stimme brach wieder ab. Holte er Luft oder schluchzte er? Hardy hörte ein Knacken aus dem Telefon.

»Ich habe Angst um mein Leben und das meiner Kinder.«

In Hardys Leitung klopfte der nächste Anrufer. Wahrscheinlich waren das die erwarteten Gäste, die nach dem Weg fragten. Er musste diesen Typen loswerden.

»Pass auf Frank,« Hardy sah auf seine Uhr, »wir treffen uns morgen Abend um acht bei dir«. Er hörte ein Rumpeln unten im Hausboot.

»Gut«, sagte Hardy abwesend und dachte Scheiße. Die freien Tage hatte er sich anders vorgestellt.

Den Wunsch, Party-Frank in Waren an der Müritz zu besuchen, verspürte er nicht. Konnte man da überhaupt fliegen? Berge kannte er in der Gegend keine. Windenschlepp müsste gehen. Er verwarf die Idee. Dann eben, Urlaub an der Seenplatte. Ohne Alpen und ohne Gleitschirm.

Hardys Blick wanderte über das hölzerne Deck seines Schiffes. Der übervolle Tisch ächzte. War ein bisschen viel, dachte er. Ihm wirbelten die Bilder der zurückliegenden Produktionswochen durch den Kopf. Hintergrundgespräche mit den Protagonisten, Drehtage bis in die Nacht mit seinem Kamerateam. Tagelanges Sichten des Materials. Verdammt, dachte Hardy, ich hatte mich auf ein paar freie Tage gefreut. Schlaf nachholen, Fliegen, Bücher lesen und an seinen Fahrrädern schrauben. Er beschloss, noch einen Schluck zu trinken und sich über die Details morgen den Kopf zu zerbrechen.

Seine Stirn in Falten, sein Blick wanderte ziellos über das Wasser. Er hatte gelernt, auf seinen Bauch zu hören. Irgendetwas störte ihn an dem Gespräch. Davon abgesehen, dass er Frank schon früher nicht mochte. Und dass er in die entgegengesetzte Richtung zum Fliegen wollte, gab es noch etwas. Sein Bauch spürte es schon. Jetzt musste nur noch sein Kopf dahinter kommen.

5 Sein Film

Sie kam aus der Dusche. Auf ihrer Haut spürte sie noch die letzten Tropfen. Am Schrank hing ihr Kleid. Sie zweifelte nicht, ob es zum Anlass passte. Zu selten boten sich ihr Gelegenheiten, zu denen sie das Lange, schwarze anzog, und sie kannte seine Wirkung. Sie überlegte, noch einen Schritt weiterzugehen.

Schmunzelnd wanderte ihr Blick aus dem Fenster. Den String aus schwarzer Spitze, legte sie nicht zurück. Nur mit dem Handtuch über den Schultern suchte sie nach den passenden Schuhen. Farbig durften sie sein, Absatz war Pflicht bei diesem Kleid. Sie wähle ein Paar in glänzendem Hellblau.

Ihr metallischer Schimmer bot einen reizvollen Farbklecks unter dem leichten Stoff. Wenn die Spaghettiträger und das Dekolletee ihre Wirkung verfehlten, sollten die hohen Absätze ihr Ziel erreichen, das hoffte sie.

Er war oft unterwegs, wahrscheinlich wegen seiner Arbeit. Wenn er auf seinem Boot war, gab er ihr Rätsel auf. Freundlich, verschmitzt, aber immer vorsichtig, zurückhaltend. Sie wollte nicht glauben, dass es Arroganz war. Falls doch, könnte sie ihm heute zeigen, dass sie nicht das Landei war, für das er sie vielleicht hielt. Dabei wusste sie nicht, für was er sie hielt. Heute war sein Abend und er war etwas größer als das schnelle Bier beim Nachbarn. Dabei hatten sie noch nicht einmal dafür Zeit gefunden.

Wenn sie Lust hätte, fände er das total Klasse, wenn sie rüberkäme. So hatte er sie eingeladen. Sie konnte ja schlecht sagen, dass sie ihn von ihrem Schreibtisch aus sah, wenn er auf dem Deck seines Schiffes arbeitet und sie sich dabei ertappte, dass sie ihm dabei verträumt zusah. Er saß oft stundenlang an diesem alten Tisch, machte sich Notizen in einer Kladde und las oder schrieb in seinem Laptop. Sie vermutete, dass er für das Fernsehen arbeitete. Dafür sprachen die Kamerateams, die ab und zu für Besprechungen hierher kamen. Aber was er machte und wozu er sie genau eingeladen hatte, war ihr nicht klar. Ein paar Freunde und Kollegen kämen auch. Er sprach davon, dass es ein dickes Ding gäbe. Für sie hieß das: festliche Premiere, sexy Kleid und schicke Klamotten.

Ihre Hausboote lagen noch nicht lange hintereinander. Er hatte schon länger hier festgemacht, sie war erst vor kurzem dazu gestoßen. Heute fand sie, war es Zeit, in seinen Scheinwerfer zu treten. Er sollte endlich merken, dass es da noch eine schicke Nachbarin gab. Sie wollte nicht noch einmal die Erfahrung machen, dass der Mensch für den sie sich interessierte, sie überhaupt nicht wahrnahm. Bei dieser Erfahrung schwang nicht einmal Verbitterung mit. Ihr selbst war es schon so gegangen, dass sie nach Jahren erfuhr, wer sich für sie interessiert hatte. Sie mochte ihn zu sehr, um nicht herausfinden zu wollen, wer er war.

Sie schmunzelte. Von allen Optionen, die ihr Kleiderschrank hergab, wählte sie jedes Mal die gewagteste. Mehr, als die Leinen losmachen und einen anderen Platz zu suchen, konnte ihr nicht passieren.

»Acht Uhr morgens? Was glaubst du, wie lange wir bleiben?«, fragte Rosi zu laut. Sein nachwachsender 17 Uhr Bart kratze ihre Wange. »Aua.« Mit uns meinte Rosi sich und die anderen Gäste. Hardy standen die Schweißperlen auf der Stirn. Er blickte sie aus großen Augen und mit offenem Mund an. Die beiden kannten sich eine gefühlte Ewigkeit und wussten, dass Rosi seine Achillesferse erwischt hatte. Sie musste ihm auf die Sprünge helfen.

»Hast du nicht gesagt, du hättest dich breitschlagen lassen, nach Waren zu kommen?«

»Ja, aber erst um acht Uhr abends.«

»Weißt du, wo Waren liegt?«

»Nee, also doch, an den Seen da oben im Norden.«

»Hast du dir ein Auto gekauft?«, in ihrer Frage lag ein hinterhältig, verschlagener Unterton.

»Sag mal was, haben sie dir denn gegeben? Warum sollte ich mir ...?« Er brach im Satz ab. Außer Atem stoppte er auf der steilen Treppe. Er hatte kein Auto und sie wusste das. Weil sie das meiste, über ihn und alles über seine Finanzen wusste. Seit er ihr seinen Teil der gemeinsamen Firma überschrieben hatte, gab es auch in diesem Bereich höchstens noch die eine oder andere Überraschung für ihn. Üblicherweise, wenn die Steuer fällig war. Nicht dass er auf sein Mitspracherecht verzichtet hätte, aber seine Ex machte ihm zu schaffen, wollte das Letzte aus ihrer Scheidung herausholen. Er hatte kurzerhand, alles Rosi überschreiben. Die damit nicht nur die alleinige Besitzerin ihrer Medienproduktion war, sondern offiziell Zugang zu allen Konten hatte. Er müsste sie zu jeder Ausgabe befragen. Wo er im Traum nicht dran dachte.

Dieses Mal hätte er sie fragen sollen. Sein Zeitplan und die Entfernung passten nicht. Nicht wenn er, wie üblich, seine privaten Wege mit dem Rad erledigte. Er schüttelte seinen Kopf. Sagte aber nichts. Er hatte diesen Frank schon an der Uni nicht leiden können.

Rosi drückte er gegen seinen Oberkörper, seine Füße tasteten, auf der steilen Außentreppe seines Hausbootes nach der nächsten Stufe. Den Weg aufs Oberdeck hatten sie noch nicht hinter sich gebracht, da spürten beide das Vibrieren seines Handys in der Brusttasche. Sie sah ihn mit finsterer Miene an. »Wehe«.

Tief unter ihnen glitzerte die Spree. Hardy geriet ins Schwanken. Für einen Moment drohte er das Gleichgewicht zu verlieren. Fing sich aber wieder. Rosis Rollstuhl stand an Land. Er lächelte verlegen.

»Lass die Termine übers Büro laufen, dann passiert dir so ein Quatsch nicht.«, antwortete Rosi auf seine zerknirschte Miene. »Der Typ hat mich gerade eben angerufen. Und es ist eilig. Außerdem kann ich dich nicht meine Privattermine machen lassen.«, wehrte er ab.

»Wenn ich deine Unruhe richtig deute, vermutest du in Waren eine Geschichte. Damit ist das kein privater Termin«, erklärte sie spitzfindig.

»Setz mich zu den Getränken, aber nicht zum Prosecco ich brauche ein Bier.«, kommandierte sie. Hardy sah der rothaarigen Frau in ihre blauen Augen, die ihm aus ihrem sommersprossigen Gesicht entgegen funkelten. Er wusste, er konnte sich auf sie verlassen. Ihre Struktur rettete ihn aus seinem Schlamassel. Auch wenn er das nie öffentlich zugegeben hätte, war er ihr dankbar.

»Musst du nicht noch fahren?«, kalauerte er mit einem Blick auf ihren Rollstuhl. »Und wolltest du nicht bei diesem Fitnessstudio ...?«

»Ganz kalt!«, schnitt er Rosi, die immer noch auf seinen Armen saß, das Wort ab. Sie quittierte sein fragendes Gesicht mit samtweicher Stimme. »Das Bier. Ich hätte es gerne gut gekühlt«.

Er setzte sie sanft auf einen Stuhl, am Buffet, trat einen Schritt zurück und deutete eine Verneigung an. Auf dem Weg zur Treppe fingerte er endlich nach seinem Smartphone.

Er sah zu den schwarzen Plastikwannen, in denen die Bierflaschen in mehr oder weniger kaltem Wasser ihre Etiketten verloren. »Denk nicht mal dran!« Rosi wusste, dass er einen gut gefüllten Getränkekühlschrank an Bord hatte.

Sie betrieben mit ein paar Kollegen eine Medienproduktion. Die meisten Aufträge waren TV-Produktionen. Deren Organisation brach jedes Jahr einmal zusammen. Wenn Rosi im Sommer Urlaub machte.

Sie musterte anerkennend seinen Po in der eng sitzenden Jeans. »Aus dem Glas ...«, rief Rosi ihm hinterher.

»Sehr wohl, die Dame, aus dem Glas. Wie auch sonst? Bei einer Stehparty.« Wer die beiden nicht kannte, konnte diese Anspielung angesichts ihrer gelähmten Beine falsch verstehen. Der derbe Ton drückte eher Vertrauen aus. Das ging weit über ein kollegiales Verhältnis hinaus.

Er hörte die Wahlwiederholung, die Nummer war in seinem Gerät nicht gespeichert, zeigte keinen Namen an.

»Hallo, ähm, eine Sache. Ich habe hier heute ...« Frank erkannte ihn und plapperte los, als hätte er seinen Anruf erwartet. »Super, das du dich nochmal meldest. Das geht nicht. Nicht bei mir und nicht morgen. Ich bringe meine Familie in Sicherheit. Dafür brauche ich zwei Tage. Übermorgen um acht am Stadthafen. Ich schicke dir die Adresse«.

Hardy fühlte sich überrumpelt und erleichtert. Genau das wollte er vorschlagen. »Siehst du«, hörte er aus dem Telefon. »Wir verstehen uns blind. Mann Alter, wie ich mich freue. Du ich muss!« Dann war die Leitung tot. Hardy stand verdutzt in seiner Kombüse. Wenigstens einer, dachte er.

Kaum aufgelegt, klingelte sein Telefon wieder. Nach zwei Navigationshilfen für seine Gäste kehrte Hardy auf das sonnige Oberdeck zurück. Auf der steilen Treppe balancierte er ein riesiges Tablett. Es hätte gut und gerne einem üppigen Frühstück für zwei Personen Platz geboten. Jetzt diente es einigen Gläsern und drei kühlen Flaschen Bier und einer angebrochenen Tüte Twix. Die fehlte weder auf seinem Schreibtisch noch in den Produktionswagen.

»Warum drei Flaschen? Mir reicht eine.«

»Weil es so schön bunt ist. Stammen alle direkt aus der Braumanufaktur Potsdam. Du hast die Wahl zwischen dem Hellen, der Weissen und der Potsdamer Stange.« Rosi sah ihn fragend an. »Nimm das Babyblaue. Ist die Weiße aus dieser Biobrauerei und erfrischt. Ich sag nur, Sauer macht lustig.«

»Diese Kiste da ...«, sie zeigte auf seinen Röhrenfernseher. Er hatte ihn extra für den heutigen Abend aus seinem Wohnzimmer auf das Oberdeck geschafft. »Was ist das?«, vollendete sie ihre Frage, ohne sich einen kämpferischen Unterton zu verkneifen.

»Rosi, dein Weg hierher war anstrengend. Trink erstmal was, dann erkläre ich dir die Welt.« Sie schwieg, was ihn überraschte. Er schenkte ihr ein. Erst als er ihr das Glas reichte, bemerkte er, dass sie in ihrem Telefon nach einer Nummer suchte.

»Mein Lieber wir werden heute über 20 Leute sein. Mit dieser Kiste aus dem historischen Museum kann nicht mal die Hälfte irgendwas sehen. Die Jungs wollten sich den Bulli für das Wochenende leihen. Die sollen in der Redaktion vorbeifahren und den Beamer und eine Leinwand mitbringen.« Die Jungs, das waren ihre jüngeren Kollegen. Hoch engagiert, jedenfalls die meisten und alle zählten zur Generation irgendwas mit Medien. Auf unterschiedlichen Wegen waren sie in ihrer Produktionsfirma gelandet und verdienten ihren Unterhalt zum Leben oder machten Praktika. Die Hierarchien waren flach. Beide Chefs saßen auf dem Dach des Hausbootes und die Stimmung war gut. Wer im richtigen Moment danach fragte, konnte das Arbeitsequipment, zu dem auch Autos zählten, ausleihen.

»Bevor ich es vergesse,« hob Rosi an. Diese Worte lösten bei Hardy einen natürlichen Fluchtreflex aus, denn er ahnte, was folgte.

»Wo ist deine aktuelle GEMA-Liste oder wolltest du denen die Liedtitel, die du in deinem Stück verwendet hast, vorsingen?« Hardys Empörung war gespielt, beide wussten, was er über solche Formalia dachte.

»Was denn? Hat Robert dir die Liste nicht geschickt?«

»Robert war bis vor ein paar Wochen noch Praktikant. Du kannst nicht alles, was nach Formular aussieht, von den Praktikanten ausfüllen lassen.« Hardy sah sie verständnislos an.

»Warum? Das Erste was ich im Job lernen musste, war Ordnung.«

»Ich vermute, dass du in dieser Zeit durch Abwesenheit geglänzt hast.«

»Lange her.«

»Chaot«.

Jetzt wo auch der große Flatscreen aus der Redaktion organisiert, und klar war, an wen Rosi sich wegen fehlender Listen wenden konnte, setzte sich Hardy auf den Stuhl neben sie. Er prostete ihr zu.

»Schön, dass du da bist.« Hardys Stimme klang echt und müde.

»Du solltest jetzt ein paar Tage frei machen. Habe ich unten deinen Gleitschirm gesehen?« Er nickte.

»Ich sehe zu, dass ich das in Waren schnell über die Bühne kriege und dann bin ich weg, versprochen.«

»Kann es sein, dass du vor was wegläufst?«

Fast hätte er die Leiher von einer alten Freundschaft abgelassen. Aber dafür kannte Rosi ihn zu gut. Den Typen, der ihn angerufen hatte, kannte er kaum noch. Ja er wollte weglaufen. Das, was er in den zurückliegenden Monaten durchgemacht hatte, begriff er immer noch nicht. Es war eine Art Blitzscheidung gewesen, die ihm einer Gewissheit beraubt hatte.

Dass Menschen sich ändern, konnte er verstehen. Dass sie sich trennen auch. Aber warum aus Partnern bittere Feinde werden sollten, widersprach seinem Menschenbild. Dass er selbst nicht obdachlos geworden war, verdankte er nur Rosi, die weitsichtig genug war, ihn zu schützten.

Vielleicht war die Angst, dass es jeden treffen konnte, die Motivation für seine Reportage geworden. Auf einmal stehst du ohne da. Ohne Dach, ohne Familie ohne Freunde. Das hatte ihm einer der Menschen gesagt, die er für seine Reportage gesprochen hatte. Es stimmte, dass auch Arbeitsabbrecher dabei waren, solche die keine Ausbildung hatten, aber oft waren es Menschen, die mitten im Leben gestanden hatten. Menschen, die dann mit einer Sache nicht mehr klar kamen. Entweder war es der Alkohol, Job oder Beziehung. Diese drei Punkte kamen in allen Reihenfolgen vor. Was den Anfang machte, war bei jedem, dieser Obdachlosen unterschiedlich. Entweder machte der Alkohol ein Leben unmöglich oder der Job war weg oder die Beziehung zerbrach. Egal, was am Anfang stand, wenn alle drei Punkte erfüllt waren, saßen die meisten auf der Straße. Und da wieder wegzukommen war für die Berber, wie sie sich nannten verdammt schwer. Er hatte diese Menschen begleitet und er hatte Menschen zum Interview getroffen, die sich tagtäglich um sie kümmerten. Eine Frau war dabei, die ihm sagte, dass keiner dauerhaft auf der Straße lebte, der psychisch gesund war. Bei einigen Menschen war ihm die Reihenfolge dieser Ereignisse nicht klar geworden. Er wusste nicht, ob sie auf der Straße lebten, weil sie krank waren oder ob sie die Straße krank gemacht hatte. Mit Romantik hatte das alles nicht zu tun. Persönlich mitgenommen hatten ihn die Gespräche mit einem amerikanischen Pärchen. Beide über 50. Sie lebten als Akademiker in ihren Kombis, weil sie sich trotz Arbeit keine Wohnung mehr leisten konnten. Das Märchen vom Tellerwäscher hatte Kratzer bekommen und war ihm bei der Recherche zur Obdachlosigkeit vor die Füße gekracht.

Unten am Ufer glänzte der Rollstuhl immer noch in der abendlichen Sonne. Freunde und Kollegen hatten den Weg zum Seitenarm der Spree gefunden. Das Boot lag im Tiergarten auf der Rückseite der Zoos. Wie die anderen Hausboote an dieser Stelle, von der Straße aus schwer zu sehen. Wer die Liegeplätze kannte, fand den sandigen Pfad. Alle, die den Einstieg direkt hinter der Bushaltestelle nicht kannten, liefen vorbei. Die wackelige Holzbohle zum Hausboot blieb keinem Gast erspart. Dahinter öffnete sich für die Städter eine neue Welt. Schwankender und weiter, als sie es aus ihren Wohnungen kannten. Sie genossen die relaxte Location, wie es die jüngeren Kollegen nannten. Wasserbettfeeling nicht nur im Bett, sondern überall auf dem Boot. Ständig war eine sanfte Bewegung zu spüren. Das war nicht jedermanns Sache.

6 Nachbarn

Wenige Minuten nach dem Intro der Reportage wich die Anspannung aus Hardys Gliedern. Einen Augenblick fühlte er sich müde. Seine Augen fielen zu, die Arme hingen wie Blei an seinem Körper. Hätte er sich bewegt, wäre er vom Stuhl gefallen. Jede Spannung hatte seinen Körper verlassen. Er musste aufpassen, dass er nicht einschlief.

»Hey Hardy altes Haus. Wir mühen uns mit deinem Streifen ab und du unterbrichst uns durch lautes Schnarchen.« Scheiße dachte er, um ein Haar wäre er vom Stuhl gekippt. Er war eingeschlafen. Er brauchte Kaffee, lächelte müde. Wenn er nach vier Uhr die Kaffeemaschine auch nur aus der Nähe sah, war es das mit seinem nächtlichen Schlaf. Heute, wo er das Boot voller Gäste hatte, blieb ihm keine andere Wahl. Er trottete benommen zwischen den Kollegen durch und rutschte die Treppe mehr hinunter, als dass er sie ging. Im Bad hielt er seinen Kopf unter den eiskalten Wasserstrahl, bis es schmerzte. In der Küchenschublade kramte er nach einem Kaffeefilter. Da knackte es hinter ihm.

Es war die Bootstür. Ohne sich umzudrehen, spürte er ihre Gegenwart. Ein leichter Windstoß hatte den Duft ihres Parfüms zu ihm getragen. Es war eine angenehm feminine Mischung aus frischen, fruchtigen Noten und einem Hauch Vanille. Er schmunzelte. Seine Hand suchte halt an der Arbeitsplatte seiner Pantry, der Bootsküche. Clara seine Nachbarin war hereingekommen. Nach wenigen Wochen hatte er eine Vertrautheit gespürt, für die er sonst Jahre brauchte. Nur gesagt hatte er es ihr nicht. Zu viel Arbeit oder Flucht, das wusste er selbst nicht so genau. Wollte sie zu ihm oder suchte sie die Toilette? Er hatte keine Lust, den Entertainer zu geben. Wer weiß, vielleicht plante sie für morgen schon ihre Abreise. Bei Bootsmenschen war das so eine Sache. Leinen los und weg waren sie.

»Eine gute Idee.«

Er sah sie irritiert an. Also doch, dachte er. Sie plant ihre Abreise und er hatte ihr noch nicht einmal gesagt, was er von ihr hielt. Hardy schluckte. Ihm fiel erste jetzt auf, dass sie die einzige Frau an Bord war, die sich richtig schick gemacht hatte. Er fragte sich, ob sie sich von dem Abend mehr erhofft hatte. Immerhin war ihr Look operntauglich.

Sie deutet auf den Kaffeefilter in seiner Hand. Im Hausboot war es schummrig. Durch die Fenster schien lediglich das Licht, was die Stadt noch übrig hatte. Hardy schaltete auf Angriff. Nichts war blöder, als sich zu verstellen. Dafür war er zu alt. Er wollte sie kennenlernen und er wollte, dass sie das wusste. Sollte er was zu ihrem umwerfenden Kleid sagen? Dazu, dass sie hinreißend duftete und das er sie am liebsten direkt in den Arm nehmen wollte? Das war alles so ein Zeug, was der verschlagene Typ vom Boot hinter seinem auch sagen konnte. Er konnte sich nicht erinnern, ob sie beide zusammen gekommen waren. Vielleicht waren die beiden ein Paar? Scheiße, dachte er. Er brauchte einen Kaffee und er musste was sagen. Er kannte das nicht von sich. Üblicherweise sagte er, was er dachte, aber sie wollte er nicht verschrecken. Er wollte nicht als der Draufgänger dastehen. Sonst war ihm das egal, was sein Gegenüber von ihm dachte, aber sie war anders und das wollte er ihr zeigen.

»Wir gehen zu dir.«, hörte er sich sagen.

»Wieso, geht dir der Kaffee aus?« Sie war gut, dachte er. Ironisch, witzig. Ihre Worte konnten aber auch etwas ganz anderes bedeuten. Er sah ihr schon viel zu lange in die Augen. Es schien sie nicht zu stören. Sie hielt seinem Blick stand. Ihm gefiel das und er hatte den Eindruck, dass es ihr auch gefiel. Das war gut.

»Nee aber ich könnte Ruhe gebrauchen.«

Sie lachten beide.

»Hast du noch einen Termin?« Er hob an, ihr zu sagen, dass er sie in ihrem Kleid atemberaubend fand. An ihrem Augenaufschlag erkannte er ihre Verunsicherung. Er wollte sie nicht wegstoßen. Genau das Gegenteil wollte er.

»Du bist doof.«

Er durfte auf keinen Fall in Ironie verfallen. Das war zu leicht. Und Ironie konnte sie zu leicht missverstehen. Sie könnte Schaden anrichten. Es gelang ihm nicht, offen mit ihr sprechen. Vielleicht war es die Angst vor einer Verletzung. Eine Empfindlichkeit, die ihm die meisten Menschen nicht zutrauten. Er wirkte selbstbewusst, verlor selten die Nerven. Am meisten kratze, seine Unfähigkeit, Dinge zu organisieren, am Supermann Image.

Im Gespräch öffnete er Menschen. Er bewegte sie, über ihre Gefühle zu sprechen. Das gelang ihm mit und ohne Kamera. Nur er selbst hatte Schwierigkeiten mit ihr so weit zu gehen. Früher war es noch schlimmer. Er hatte gestottert und war rot geworden. Diese Zeiten hoffte er, hinter sich zu haben.

Sie hätte ihm am liebsten einen Klaps auf seinen Po gegeben. Er wirkte offen, nicht so in Eile, beschäftigt und abweisend wie im Kreise seiner Kollegen, wenn er umgeben von Kameraleuten und Tonassistenten Besprechungen auf seinem Boot abhielt.

»Los, raus zu deinen Gästen« Er gab den guten Gastgeber, smaltalkte mit jedem. Seine Gedanken waren auf dem Nachbarboot oder eher, bei dessen Eignerin.

Er freute sich schon vor diesem Abend auf sie. Hatte gehofft, dass sie käme. Clara und Sten stammten jeweils von den Hausbooten, die vor und hinter seinem lagen. Er kannte beide erst seit ein paar Monaten.

Nach seinem Film standen sie achtern an der Reling und schauten in die untergehende Sonne. Er schmunzelte, vielleicht war es den Bewohnern der Hausboote gemein, dieser Sinn für die Natur. Für andere wäre es Kitsch.

Sten brachte er ein Bier mit, für Clara hatte Hardy ein Glas Weißwein dabei, als er sich zu den beiden gesellte. »Auf die schönste Terrasse in ganz Berlin.«

»Bleibt sie denn in Berlin?«, fragte Clara, ohne ihren Blick vom Wasser abzuwenden. Hardy hätte sich um ein Haar an seinem Wasser verschluckt. Die Melodie ihrer Stimme hatte etwas Intimes. Sie schien Sten auszublenden. Vor Sten war ihm die Frage unangenehm. Auch wenn sie unter Hausbootbesitzern berechtigt war.

Sie sah Hardy einen Augenblick zu lang an. Er wusste nicht, was er in dieser Situation sagen konnte. Ihm fiel wieder ihr Kleid auf und dass er sie noch nie so festlich, geschweige denn mit so einem Dekolleté gesehen hatte. Er kannte sie nur in Jeans. Und was die beiden machten, womit sie ihr Geld verdienten und wie sie zu ihren Hausbooten gekommen waren, wusste er auch nicht.

Ihre Augen ruhten auf seiner Hand, mit der er die hölzerne Reling umfasste. Es war eine große schlanke Hand. Auf deren Rücken fielen ihr die Adern auf, die sich abzeichneten. Die Finger waren lang und gepflegt. Ein paar dunkle Härchen hatten es von seinen behaarten Unterarmen bis auf den Handrücken geschafft. Das seine Hände warm und die Handinnenfläche weich war, wusste sie von der Begrüßung. Er hatte ihr seine Hand behutsam auf die Schulter gelegt.

Hardy hatte nie Männerbesuch bei ihr bemerkt. Es waren immer dieselben Frauen gewesen, die sie besuchten. Vielleicht waren es Freundinnen, Schwestern, Kolleginnen. Er musste schmunzeln, weil er auf sowas sonst nicht achtete. Er sah Clara in die Augen. Auch wenn der Nachbar ihn störte, wollte er die Chance nicht vergeben, ihr auf die Frage zu antworten. »Das hängt ein bisschen davon ab, aber wenn du mich heute fragst, sage ich ja.«

Sten hob seine leere Flasche. »Darauf stoßen wir an.«.

Lieber hätte er das von ihr gehört. Da vernahm er ein albernes Glucksen von Clara. Dies Antwort gefiel ihm.

Nach Diskussionen um das Fernsehgeschäft war er glücklich, dass er Abstand zwischen sich und seinen Kollegen hatte. Bei seinen Nachbarn fühlte er sich wohl. Endlich abschalten, endlich mienenfreies Terrain, dachte er. Sten schien sich nicht mit solchen Zwischentönen zu belastete. Er betrachtete das Leben von einer funktionalen Seite. Augen waren für ihn zum Sehen da, wofür er seine Hände gebrauchte, wusste Hardy nicht. Dass Kommunikation auch ohne Worte, funktionierte, schien er nicht zu bemerken. Oder, er war stur oder scharf auf Clara.

»Netter Film, biste weit für gereist, nee?«, polterte Sten in die Stille. Er klopfte Hardy wild nickend auf seine Schultern. Der lachte verlegen, ihm fiel nichts Passendes ein. Außer einem kräftigen »Jau«. Was nicht weiter auffiel, da sein Nachbar keine Antwort erwartete. Jedenfalls nicht auf diese Frage. »Haste noch nen Bier?« Erst jetzt fiel Hardy auf, dass er immer noch die Getränke in der Hand hielt. »Hier für euch. Prost«

Clara verdrehte die Augen. »Jau«, grinste Hardy. Er hatte die Antwort, für seinen Nachbarn gefunden.

»Ähh«, mit einem Blick auf seine leeren Hände. »Wartet hier«. Er verschwand er unter Deck. Vielleicht, dachte Hardy, war das Stens Art, sich aus der Affäre zu ziehen und den beiden Raum zu lassen. Vielleicht war er gar nicht der Unsensibele, für den er ihn hielt.

Als er mit einem Bier zurückkehrte, stieß er mit den Nachbarn an. Sten machte immer noch keine Anstalten, sich zurückzuziehen. Von Clara meinte er, ein Aufatmen zu bemerkten, als sie ihn an ihrer Seite spürte.

»Und jetzt erzähl mal. Ich hab da die amerikanischen Pickups gesehen.«, polterte Sten. Noch einer, der eingeschlafen ist, schmunzelte Hardy. Und hartnäckig war er auch noch. Da blieb ihm nichts anderes übrig, als auf seine Frage einzugehen. Auch wenn er nicht das Gefühl hatte, dass es seinen Nachbarn interessierte.

»In Kalifornien habe ich das Paar besucht, dass in seinen Autos schlafen muss, weil sie im reichen San Francisco keine Wohnung mehr bezahlen können. Der Mann ist eigentlich Rentner. Er hatte Tränen in den Augen, als ich mit ihm gesprochen habe. Seine Frau unterrichtet jeden Tag und muss sich ständig nach neuen Plätzen umsehen, von denen Sie nicht vertrieben wird. Sie macht ihre Unterrichtsvorbereitung im Kofferraum ihres Volvo Kombis.«

Clara folge seinen Worten aufmerksam. Hardy fühlte sich in diesem Augenblick sehr wohl. Nicht weil er von seiner Arbeit sprach, sondern weil sie da war. Die kleinen Fältchen, die sich in um ihre blauen Augen zeigten, gefielen ihm.

7 Polizeifragen

Ihre Hände klammerten sich um das Wasserglas, dass eine freundliche Beamtin in blauer Polizeiuniform ihr gegeben hatte. Sie saß im Wohnzimmer der Villa im Taunus auf dem Sofa und versuchte, sich zu erinnern. Was war geschehen und wie lange hatte sie hier gelegen? Neben der Beamtin hockte ein anderer Mann vor ihr und musterte sie.

»Wie geht es Ihnen?« Sie öffnete ihren Mund. Er war staubtrocken, ihr gelang es kaum, zu schlucken. Kein Ton kam ihr über die Lippen. Sie sah ihr Gegenüber an. Der Mann strahlte eine angenehme Ruhe aus. Unter seinen freundlichen, blauen Augen erkannte sie dunkle Ränder. Er nickte, als hätte sie bereits etwas gesagt. »Lassen Sie sich Zeit. Haben Sie Schmerzen?« Sie sah die Stoppeln seines Drei-Tage-Bartes verschwimmen. Schloss die Augen und atmete tief ein. »Trinken Sie einen Schluck. Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen etwas zur Beruhigung.«

Wer hockte da vor ihr? Die Frau in der Uniform war selbsterklärend. Stand ja Polizeidrauf. Und er? War er Arzt? Sie musterte ihn. Blaue Jeans, weiß kariertes Hemd mit hochgeschlagenen Ärmeln. Da wo sie her kam, trugen Ärzte weiße Kittel. Der konnte alles sein. Aber direkt neben einer Uniform, schien in Ordnung zu gehen, was er ihr anbot. Ihr waren die Augen zugefallen. Irgendwas musste passiert sein, sie fühlte sich hundemüde. Und dann dieses Chaos.