Tod auf dem Titisee - Sanne Aswald - E-Book

Tod auf dem Titisee E-Book

Sanne Aswald

4,3

Beschreibung

Eigentlich will sich Clarissa entspannt für ihr nächstes Buch zum Thema Wellness und Genuss inspirieren lassen. Doch die Ruhe findet ein jähes Ende, als sie einen Toten an Bord eines Bootes auf dem Titisee entdeckt - und ins Visier des Ermittlers gerät. Um sich zu entlasten, begibt sich Clarissa höchstpersönlich auf Spurensuche. Dabei stößt sie hinter der trügerisch heilen Welt auf ausgesprochen unschönen Bodensatz.

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Sanne Aswald lebt in der Nähe von Freiburg. Seit 2009 arbeitet sie hauptberuflich als Schriftstellerin mit etlichen Veröffentlichungen im Kinder- und Jugendbuchbereich und zwei Romanen für Erwachsene. Nebenbei führt sie gemeinsam mit ihrem Mann die familieneigene Senfmanufaktur »Senferia« und verarbeitet ihr Fachwissen in Sachbüchern.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Lediglich Alexander und Sonja Danner und ihren phantastischen Wein gibt es wirklich.

© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv:photocase.com/chrischpisch Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Christine Derrer eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-849-6 Der Badische Krimi Originalausgabe

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Für meine wunderbare Freundin Alexandra.

Durch dich wird die Welt heller.

EINS

30.April

Der Kies knirschte unter meinen Füßen, während ich zügig voranschritt. Genau so hatte ich es mir erhofft. Keine Menschenseele weit und breit. Nur ich und die Natur– von Angesicht zu Angesicht. Eigentlich unglaublich. Tagsüber konnte man hier kaum zehn Schritte gehen, ohne über Touristen oder Enten zu stolpern. Doch jetzt hatte ich freie Bahn. Ich zog die Jacke etwas enger und vergrub die Hände in den Taschen. Es war immer noch kühl, obwohl es Ende April war. Das nächtliche Absinken der Temperatur in dieser Höhenlage hatte ich eindeutig unterschätzt, ein warmer Schal wäre jetzt nicht zu verachten gewesen. Leider hatte ich nicht mal ein Tuch um. Das hatte ich bei meinem Treffen mit der Kräuterfrau im Café Heck vergessen und nicht damit gerechnet, dass ich es so schmerzlich vermissen würde. Sicherlich wäre ich sonst gestern noch mal los, um es zu holen.

Aber das Vergnügen, hier so unbehelligt von anderen Menschen und deren Fotoapparaten entlanglaufen zu können, machte das Frieren wieder wett. Schritt für Schritt marschierte ich durch die Dunkelheit der Dämmerung entgegen. Dabei atmete ich tief durch und versuchte, den Ärger loszulassen. Ich konzentrierte mich nur auf mein Mantra und wiederholte es ohne Pause, sodass in meinem Kopf eine Art Dauerschleife entstand. Diese Art der Entspannung – und noch einige weitere Techniken– hatte ich in einem Anti-Stress-Seminar gelernt.

Schritt – durchatmen– loslassen – Schritt– durchatmen – loslassen– Schritt – durchatmen–…

Schwarz breitete der Titisee sich vor mir aus. Der Morgennebel, der über dem Wasser lag, verbreitete eine geheimnisvolle Stimmung, als wollte er etwas vor der Welt verbergen. Ein sanfter Wind hauchte über die Wasseroberfläche, schien sie zu liebkosen und ließ die dicken Nebelschwaden wabern und sich neu formieren.

Der Großteil der Welt um mich herum schlief noch, als ich in dieser frühen Morgenstunde an das Ufer trat. Ich blieb stehen und sog den Moment in mich ein. Schwarzwaldluft. Kindheit. Vergangenheit. Zukunft? Vielleicht. Ich musste abwarten, es auf mich zukommen lassen. Nicht ganz einfach für jemanden, der Klarheit und Ordnung schätzt. Aber was blieb mir anderes übrig? Erst einmal musste ich Pascal loswerden. Verdammt.

Vereinzelt begrüßten die ersten Vögel den Tag, dazu das leise Schwappen des Wassers, wenn es auf dem flachen Ufer auslief und immer wieder neuen Anlauf nahm. Ansonsten war es still.

Nur in mir drin war von dieser Stille nichts zu spüren. Da tobten die Gedanken so laut, dass ich fürchtete, taub zu werden. Kaum hielt ich mich nicht mehr an meinem Mantra fest, fing das Gezeter wieder an.

Dieser Idiot! Er soll verschwinden. Er soll aufhören, an meinen Nerven zu zerren. Ich will meine Ruhe. Irgendwie läuft es nicht rund. Nichts klappt, und alles ist so zäh. Bäh! Ich will das nicht.

Ein Streit mit Pascal war der letzte Stoß gewesen, dadurch hatte ich mein inneres Gleichgewicht verloren, und plötzlich war nichts mehr im Lot.

Ich hatte mich nach der Auseinandersetzung mit meinem Ex, der leider nicht begreifen wollte, dass er mein Ex war, stundenlang hin- und hergewälzt und konnte nicht zur Ruhe kommen. Dazu kam die ungewohnte Atmosphäre im Hotel mit dem fremden Bett. Ich brauchte immer ein paar Nächte, mich mit neuen Betten anzufreunden. Um nicht vor lauter Dreherei das Laken durchzuscheuern, war ich aufgestanden und hatte es mit Arbeit versucht. Aber meine Gedanken waren nicht bereit, sich mit Buchstruktur, Kapitelaufbau und Schwarzwaldgenüssen zu beschäftigen. Sie gebärdeten sich wie eine wild gewordene Herde Ziegen, hüpften von einem Thema zum anderen und ließen sich nicht zur Ordnung rufen. Dabei wusste ich aus Erfahrung, dass Ordnung das einzig Verlässliche war. Mit der richtigen Struktur trotzte man im Leben jedem Sturm. Doch davon konnte ich in meinem Chaos gerade nichts mehr erkennen. Es war zum Verrücktwerden!

Um halb fünf hatte ich die Nase voll. Nicht schlafen und langsam, aber sicher durchdrehen konnte ich auch woanders. Also schlich ich mich aus dem Hotel. Die gedämpften Geräusche hinter der Küchentür verrieten mir, dass der Betrieb bereits mit den Frühstücksvorbereitungen beschäftigt war. Kurz überlegte ich, ob ich nach etwas Obst fragen sollte, entschied mich dann aber doch dagegen. Mir war nicht danach, mit jemandem zu sprechen. Ich würde mir unterwegs etwas besorgen, falls ich Hunger bekäme.

Während ich so dastand, über die letzten Stunden nachdachte und die Natur auf mich wirken ließ, kehrte zögerlich meine verlorene Gelassenheit zurück. Meine strapazierten Nerven beruhigten sich, und die Bilder nahmen eine Ordnung an, die mir guttat. Ordnung war mein Zauberwort! Ich musste das Chaos strukturieren und die Themen trennen. Was genau lag denn eigentlich an? Gedankenverloren bückte ich mich und hob eine Handvoll Kiesel auf. Einen nahm ich in die rechte Hand.

Buchanfangskoller. Nichts Neues. Wir waren alte Bekannte, und so überraschte es mich nicht, dass sich ausgerechnet jetzt, wo ich mit Freude und Elan in das nächste Projekt gestartet war, ein Knoten in mir bildete.

Schon meldete sich Stimmchen zu Wort. Wie ein kleines fieses Monster ploppte sie in mir auf und zeigte mir mit gefletschten Zähnen eine lange Nase.

Kriegst du eh nicht hin. Wird nichts, lass es lieber gleich sein.

Natürlich hatte ich im Laufe der Jahre Strategien gegen solche anfallartigen Gefühlswallungen entwickelt. Ich hielt dagegen.

Meine Bücher sind gefragt. Mein letztes ist sogar zurzeit auf der Bestsellerliste. Ich kann das!

Aber kaum hatte ich Stimmchen diesen positiven Gedanken entgegengesetzt, griff sie zu neuen Waffen.

Das war ein Glücksgriff. Bilde dir nur nichts ein. So viel Glück hat man nicht immer. Dieses Mal wird es nichts. Du hast doch keinen Schimmer vom Schwarzwald! Und schreiben kannst du auch nicht. Ätsch!

RUHE! Ich bin im Schwarzwald geboren. Habe ihn sozusagen im Blut. Und ich bin ein Profi. Ich kann schreiben. Ich schaffe das. Abgesehen davon hat Karl May es ja wohl allen erfolgreich gezeigt, dass ein Schriftsteller nicht vor Ort gewesen sein muss, um eine Region in seinen Geschichten lebendig werden zu lassen. Im Gegensatz zu ihm bin ich aber vor Ort. Wo also sollte das Problem sein?

Ich holte aus und warf mehrere Kiesel mit viel Schwung, in dem meine ganze Wut lag, auf die Wasseroberfläche. Sie landeten mit einem Prasseln und versanken. Nur die kleinen Wellenkreise auf dem Wasser zeigten an, dass hier gerade in die natürliche Ruhe eingegriffen worden war.

Und jetzt bleibst du gefälligst still. Ich will nichts mehr hören und ohne Störungen durch dich meine Arbeit machen!

Stimmchen war gezähmt, für den Moment zumindest.

Ich ging zum nächsten Thema. Der Makler. War es ein Zeichen, dass ausgerechnet meine ersten Schritte ins neue Leben sich so holprig gestalteten? Ich hatte mich gestern mit einem Makler verabredet, um meine Überlegungen – meinen künftigen Lebensmittelpunkt in den Schwarzwald zu verlegen– auf Machbarkeit abzuklopfen. Zumindest wollte ich die Lage sondieren und hatte deshalb einen Termin ausgemacht. Und der Kerl kam einfach nicht. Männer!

Fünf Nachrichten hatte ich ihm auf der Mailbox hinterlassen. Keine Reaktion. Hatte er es nicht nötig? War ihm was dazwischengekommen? Aber wieso sagte er dann nicht wenigstens ab? Ich würde ihn mir heute vorknöpfen– und falls ich ihn nicht erwischen sollte, würde ich seine Frau darauf ansprechen. Ellen, meine Expertin für Kräuterfragen, hatte mir ihren Ehegatten schließlich wärmstens empfohlen.

Wie auch immer, wir klären das heute noch, auf keinen Fall lasse ich mich noch mal von dir versetzen.

Platsch. Der nächste Kiesel fand seinen Weg auf den Seegrund. Ich betrachtete den letzten Stein in meiner Hand. Es war ein besonders schweres Exemplar. Das passte. Beim Gedanken an Pascal fühlte mein Bauch sich so an, als läge mindestens so ein großer Stein in meinem Magen. Eher noch größer.

Du bist Pascal. Was willst du hier? Du bringst alles durcheinander. Du störst. Verschwinde!

Jaa! Genau so. Gut gebrüllt, Clarissa. Stimmchen überschlug sich vor Begeisterung und machte Purzelbäume.

Ich holte aus und warf den Brocken mit aller Kraft und Entschlossenheit ins Wasser. Ein dumpfes Platschen erklang, dann war der Stein verschwunden.

Gut so. Und genau so wollte ich bitte, dass der echte Pascal verschwand. Platsch und weg. Er sollte abtauchen und am besten für immer abgetaucht bleiben. Die Frage war nur, wie ich ihn dazu bringen konnte. Bislang zeigte er sich gegen jegliche Aufforderung, zu gehen, immun. Er tat so, als hörte er es einfach nicht, wenn ich ihm sagte, dass er unerwünscht sei. Im Gegenteil– ich hatte sogar das Gefühl, er machte sich zu meinem Schatten. Er benahm sich so, als wären wir nach wie vor ein Paar, schlimmer noch– als wären wir verlobt. Die Schutzheilige aller Brünetten bewahre mich!

In diesem Moment hörte ich hinter mir ein leises Scharren. Ich zuckte zusammen, hielt den Atem an und lauschte in die Dunkelheit. Es hatte sich ein bisschen so angehört, als versuchte jemand, ein Husten zu unterdrücken. Pascal? War er mir gefolgt? Trotz meiner Vorsicht? Ich hatte mich, seit dem Verlassen meines Hotelzimmers, immer wieder umgesehen, war mehrfach in der Bewegung herumgefahren und hatte das Dunkel mit Blicken abgescannt. Der Kiesweg vom Hotel zum Parkplatz war beleuchtet. Er konnte mir nicht unbemerkt gefolgt sein. Auf dem Weg zum See hatte ich absichtlich einen Umweg eingebaut, den Rückspiegel nie aus den Augen gelassen.

Mein Verstand sagte: Er ist dir nicht hinterhergekommen.

Mein Herz hämmerte heftig gegen meine Rippen und klopfte ängstlich: Vielleicht doch? Was, wenn er endgültig den Verstand verloren hat?

Vielleicht war er jetzt auf dem Trip: Wenn ich dich nicht haben kann, kriegt dich keiner! Das war eines der häufigsten Mordmotive, las man doch immer wieder in diversen Zeitschriften. Vor meinem inneren Auge tauchte ein Bild auf, das ich nicht sehen wollte. Mit vor Panik aufgerissenen Augen schwamm ich unter Wasser, kämpfte verzweifelt, rang nach Luft, wollte schreien, kratzte, zerrte an Händen, die mich unerbittlich unter die Wasseroberfläche drückten. Mühsam sog ich kalte Morgenluft in meine Lungen, zwang mich in die Gegenwart zurück und schüttelte diese schreckliche Phantasie ab.

»Und wenn schon«, rief ich in die menschenleere Umgebung hinein. »Du machst mir keine Angst!«

Gut gebrüllt, Löwin! Gut, und voll gelogen. Du hast mehr Angst als die Maus vor der Katz! Die Stimme in meinem Kopf kicherte.

Ich lauschte noch eine Weile, aber es regte sich nichts mehr, nur mein Puls raste noch. Voller Anspannung setzte ich meinen Weg fort. Ich spitzte meine Ohren, aber da war nichts. Mit jedem Meter schwächte sich das Gefühl des Verfolgtwerdens ab.

Dummes, ängstliches Huhn. Du bist mitten in der Nacht aus dem Hotel raus. Pascal hat geschlafen. Der hat das gar nicht mitgekriegt.

Stimmchen hatte recht. Ich schob den letzten Rest Unsicherheit weg und beschloss, die Atmosphäre des erwachenden Tages zu genießen. Diese Stimmung musste ich einfangen, das wollte ich für meine Leser in das Buch bannen– den Zauber des Schwarzwalds, die Ursprünglichkeit, die Schönheit und die Kraft.

Und selbst wenn Pascal mir gefolgt wäre, wovor hatte ich eigentlich Angst? Die Vorstellung, dass er zum durchgeknallten Psychopathen mutiert sein könnte, war doch lediglich eine Frucht meiner überschießenden Phantasie. Es gab keinen vernünftigen Anhaltspunkt dafür. Schließlich war Pascal nicht der Kerl aus »Das Parfum«, der Frauen auflauerte und ihnen die Haut abzog. Wenn er hier wäre, gäbe es eben den nächsten Krach, ein ordentliches Donnerwetter und fertig.

Das rituelle Probleme-ins-Wasser-Pfeffern hatte mir gutgetan. Ich fühlte mich tatsächlich schon ein bisschen leichter, und die Zuversicht, die sich in den letzten Stunden in ihrem Kämmerchen verkrochen hatte, wagte sich wieder hervor. In Gedanken machte ich eine Liste.

Ich würde das Buch schreiben und garantiert ebenso gute Arbeit abliefern wie bei den Vorgängerbüchern.

Mit dem Makler würde ich ein Schwarzwaldhuhn rupfen, und wenn er mir blöd kam, würde ich mir eben einen anderen suchen. Es gab sicher mehr als einen.

Pascal würde irgendwann aufgeben, wenn er merkte, dass ich es wirklich ernst meinte. Keine Freundlichkeit, keine Gespräche, ich würde ihm die eiskalte Schulter zeigen, dann würde er früher oder später abreisen, und ich hätte meine Ruhe.

Ich war bereit, meine Schwarzwaldzeit in vollen Zügen zu genießen!

Während der Grübelei hatten meine Füße mich schon ziemlich weit am See entlanggetragen, und mein Magen meldete lautstark Hunger. Deshalb beschloss ich, umzukehren und mich wieder Richtung Ortschaft zu halten. Es musste inzwischen schon fast sechs sein, die ersten Geschäfte würden bestimmt bald öffnen.

Im Augenwinkel sah ich eine Bewegung auf dem Wasser, ich fuhr herum. Pascal! Im nächsten Moment verwarf ich den Gedanken sofort wieder. Was sollte Pascal auf dem Wasser machen? Für eine gemütliche Bootstour war es nicht die richtige Tageszeit, und wenn er mich verfolgte, dann sicher nicht auf dem Seeweg.

Ich erspähte einen Herrn mit Hut, der leicht in sich zusammengesunken in einem kleinen Ruderboot saß. Ein Angler? Das Licht war noch nicht voll da, deshalb konnte ich keine Details erkennen.

»Guten Morgen und Petri Heil!«, rief ich und winkte freundlich zu dem Herrn hinüber. Der rührte sich nicht. Schwarzwälder Eigenbrötler! Ich zog die Schultern hoch und ging ein paar Schritte. Aber irgendwie war es doch merkwürdig. Ich drehte mich noch mal um, der Kerl saß immer noch genau so da. Mist, wenn die Sonne nur schon aufgegangen wäre! Im Dämmerlicht und mit Nebelschwaden vor Augen konnte ich kaum erkennen, was sich da auf dem Wasser tat. Hatte er eine Angel ausgeworfen oder nicht? Unschlüssig blieb ich stehen. Ich kniff die Augen zusammen, bemühte mich, das Boot zu fokussieren: Da war keine Angel.

»Entschuldigung. Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber geht es Ihnen gut?«

Keine Reaktion.

»Hallo?« Langsam wurde mir mulmig zumute. Was für eine gespenstische Situation. War da nur jemand eingeschlafen? Oder hatte er Kummer und badete in Weltschmerz– entrückt von aller Gegenwart? Vielleicht brauchte er Hilfe? Ich konnte nicht weitergehen, und ihn dem Schicksal überlassen. Aber was sonst? Hinschwimmen? Wohl eher nicht. Die Wassertemperatur war sicher alles andere als einladend. Ich trat ans Ufer und streckte meine Hand in den See. Pfui Teufel! Nein, Schwimmen war keine Alternative.

Hab dich nicht so. Kaltes Wasser ist gut für den Teint.

Ich ignorierte Stimmchen und blickte mich weiter um.

Ein paar Meter von dem treibenden Boot entfernt war ein Bootssteg. Vielleicht könnte ich ein Ruderboot ausleihen? Ein paar Minuten später stellte ich mit einem nicht gesellschaftsfähigen Fluch auf den Lippen fest, dass alle Boote festgekettet waren.

»Hören Sie, könnten Sie bitte einfach nur die Hand heben, damit ich sehe, dass alles in Ordnung ist?« Ich hatte meine Hände zum Trichter geformt und meinen Wunsch so laut gebrüllt, dass mein Hals kratzte. Nichts. Keine Reaktion. Kein wie auch immer geartetes Signal– weder Hand noch Fuß. Langsam, aber sicher hatte ich die Nase voll. Schon wieder ein Mann. Schon wieder Ärger.

Während ich wie Rilkes Panther am Ufer hin und her schlich, immer fünf Schritte in die eine und fünf Schritte in die andere Richtung, ließ ich den treibenden Kahn und den Mann nicht aus den Augen.

Da stimmt was nicht. Schau doch nur, wie komisch der in sich zusammengesackt ist. Du musst was tun!

Sehr witzig. Mein Stimmchen bewies wieder einmal Humor. So weit war ich ja auch schon ohne Flüsterstimmchen gekommen. Die Frage war nur: was?

Ich bückte mich und hob ein paar Steine auf. Die ersten Würfe landeten meilenweit vom Boot entfernt, beim Werfen und Zielen hatte ich mich schon in der Schulzeit äußerst talentfrei gezeigt. Nun stellte ich fest, dass sich das über die Jahre nicht gebessert hatte. Der achte Versuch klappte. Der Stein knallte gegen die Bootswand. Ich hielt inne. Von dem Mann kam keine Reaktion. Der neunte Wurf war etwas zu hoch angesetzt. Der Hut des Mannes landete im Wasser.

Ich hielt die Luft an. Falls er nur eingeschlafen war, würde er jetzt aufwachen. Vielleicht sollte ich lieber abhauen? Atemlos beobachtete ich die Szene. Wie in Zeitlupe sackte der Mann zur Seite und hing jetzt halb über die Bordwand. Ein Arm baumelte in der Luft, die Hand wischte über die Wasseroberfläche, berührte sie leicht.

Der Kerl ist tot!

Oder ohnmächtig. Könnte doch sein, dass er nur ohnmächtig war. Bitte, lass ihn ohnmächtig sein, betete ich in den beginnenden Tag hinein.

Ohnmächtig oder tot– auf jeden Fall brauchte er Hilfe. Mit zitternden Händen kramte ich mein Handy aus der Tasche und wählte den Notruf.

ZWEI

28.April

Meine Muskeln und Knochen ächzten, als ich mich aus dem Sitz quälte. Der Boden schien zu schwanken, als befände ich mich bei hohem Seegang auf einem Schiff. Meine Augen brannten, und in den Ohren dröhnte immer noch das Motorenbrummen des Autos, obwohl Pauline – wie ich meinen dunkelblauen Mini getauft hatte– längst stand und ich den Schlüssel in der Hand hielt. Ich kam in die Senkrechte und brachte damit meine Bandscheiben zum Jaulen.

Hey, cool bleiben, ihr Scheibchen, wir haben es geschafft, und ab heute steht Wellness auf dem Programm– für Körper und Seele.

Vor meinem inneren Auge tauchte eine Massageliege auf, daneben Milchkaffee und ein großes Stück Schwarzwälder Kirschtorte, flankiert wurde das köstliche Arrangement von einem Gläschen Sekt, frau gönnt sich ja sonst nichts. Ich konnte es kaum erwarten, und immerhin war das ja alles Arbeit. Als Autorin musste ich schließlich recherchieren, was ich meinen Lesern empfehlen wollte. Gut, dazu wäre kein Wellnessprogramm nötig, es sollte im Schwarzwaldbuch hauptsächlich um die Kulinarik gehen. Aber wieso nicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden? Für den einen oder anderen Wellnesstipp wären meine Leser bestimmt dankbar. Und ich hatte mir etwas Verwöhn-Programm redlich verdient, besonders nach der letzten Zeit. Ätzend, nervig, anstrengend und zum schnellstmöglichen Vergessen– das beschrieb die letzten sechs Monate meines Lebens ziemlich genau. Die letzten sechs Monate und einen gewissen Herrn, der an meinen Nervenseilen zupfte und riss, als wären sie Basssaiten und er ein wild gewordener Kontrabassist. Und dann staunte er, welche Töne dabei entstanden, und glaubte, nur etwas an der Stellschraube drehen zu müssen, um die Dissonanzen zu beheben. Pech gehabt, mein Lieber, oder besser, mein Ex-Lieber. Die Saiten sind gerissen, es ist vorbei mit deiner Musik, such dir gefälligst ein anderes Instrument und lass mir meine Ruhe.

Ich wischte den Gedanken an Pascal weg und konzentrierte mich auf den breiten Kiesweg, den es zu bewältigen galt. Wenn meine Vision von gutem Essen, Whirlpool und Massage keine Zukunftsmusik bleiben sollte, musste ich in Bewegung kommen und die letzten Meter meiner Reise hinter mich bringen.

Von Hamburg bis Titisee mit nur einer kurzen Kaffeepause – abgesehen von der kleinen Zwangspause, die ein übereifriger Polizist mir beschert hatte– und jetzt noch der kleine Weg bis zum Hotel. Sarah hatte behauptet, ich sei total verrückt, kein normaler Mensch würde so eine Strecke am Stück fahren, aber sie hatte es nicht geschafft, mir mein Vorhaben auszureden. Ich hatte keine Lust auf drittklassige Raststätten, quengelnde Kinder und gestresste Eltern. Und auch nicht auf alleinreisende Männer, die sich vielleicht ein bisschen Abwechslung und Gesellschaft erhofften. Solche zog ich ärgerlicherweise nämlich magisch an. Selbst auf gemeinsamen Reisen mit Pascal hatten diese Kerle versucht, mich heimlich anzubaggern. Einfach unglaublich. Dabei dachte ich früher immer, Typen stünden auf blond und langbeinig. Aber obwohl ich mit meinen eins neunundsechzig nur mittelgroß war, passte ich nervend oft in das Beuteschema wildernder Herren, was vermutlich an meinen seidigen dunkelbraunen Haaren, die mir fast bis zum Po gingen, und den Schokoaugen lag. So lautete die am häufigsten verwendete Umschreibung meines Äußeren durch Männer. Auch wenn ich natürlich froh war, eher als die Schöne und absolut nicht als das Biest durchzugehen – weder äußerlich noch innerlich–, fand ich die Reaktionen dennoch übertrieben. Zumindest einen Hauch.

Meistens hatte ich es durchaus genossen, wenn Männer einen oder auch mal einen zweiten Blick riskierten. Welche Frau würde Nein sagen, wenn jemand ihr seine Anerkennung offenbaren wollte? Aber damit war jetzt Schluss! Für die nächsten hundert Jahre war mein Bedarf gedeckt. Erst musste ich an meinem Talent arbeiten und lernen, nicht immer die faulen Fische an Land zu ziehen. Deshalb auch meine Kamikazefahrt quer durch Deutschland. Keine Ablenkungen und immer der Ruhe und Erholung entgegen.

Seht ihr, meine Bandscheibchen, jammert nicht, es war für einen guten Zweck. Das Durchfahren hat mir einiges erspart, das müsst ihr doch verstehen.

Und außerdem war ich so wenigstens nicht in Versuchung gekommen, ständig auf das Handy zu schauen. Ich hatte es beim Fahren ausgeschaltet. Und weil diese Handy-Terror-Pause so unglaublich angenehm war, beschloss ich, das Telefon noch ein paar Minuten in der Tasche zu lassen, um in Ruhe ankommen zu können. Die Vorwürfe mussten noch etwas warten. Eigentlich wollte ich gar nicht wissen, was Pascal sich wieder an Unverschämtheiten, Drohungen und Betteleien hatte einfallen lassen. Er wechselte ständig seine Taktik.

Während ich meine müden Glieder streckte, atmete ich tief durch. Schwarzwaldluft! Herrlich. Ungefähr fünfundzwanzig Jahre war ich nicht mehr hier gewesen. Inzwischen war ich ein waschechtes Nordlicht und sehr gespannt, wie es sich anfühlen würde, auf den Spuren meiner Wurzeln zu wandeln. Würde ich hier zur ersehnten Ruhe kommen? Konnte ich hier die Antworten finden, wie es mit mir weitergehen sollte? Wie auch immer, ich war entschlossen, die Arbeit an meinem neuen Buch zu genießen und alles andere erst einmal auszublenden.

Tschüss, Pauline, ruh dich aus, hier im Schwarzwald wird es mit den vielen Bergen noch anstrengend genug für dich.

Ich gab meinem Mini einen freundschaftlichen Tätschler und trottete los. In der rechten Hand hielt ich Notebook und Handtasche, links zog ich den Trolley hinter mir her, der knirschend über den Kies holperte. Mangels dritter Hand musste die Reisetasche im Auto warten.

Ich blinzelte den Weg entlang Richtung Gebäude. Ob das Hotel hielt, was es im Internet versprach? Der erste Eindruck in der untergehenden Frühjahrssonne war durchaus positiv. Altes Fachwerk, renoviert und moderat modernisiert, sodass die Schwarzwälder Aura erhalten geblieben war. Die Sprossenfenster waren zwar neu, aber im alten Stil gehalten– das taten sich heutzutage immer weniger Menschen an, weil das Putzen so viel umständlicher war. Die Tür schwang auf, als ich auf etwa zwei Meter herangekommen war. Ich trat ein und schritt ohne zu zögern auf den Empfangstresen zu, der durch die indirekte Beleuchtung eine behagliche Ausstrahlung verströmte.

»Herzlich willkommen im Haus Schwarzwaldblick, was kann ich für Sie tun?« Die Frau – Sandra, wie ihr Namensschild mir verriet– blickte mich abwartend an und lächelte dabei freundlich.

»Clarissa Kleinschmidt, hallo. Ich habe reserviert.« Während die Empfangsdame ihren Computer befragte, versuchte ich durch unauffällige Dehnübungen meine rebellierenden Rückenmuskeln zu besänftigen und ließ gleichzeitig meinen Blick schweifen. Hier hatte sich jemand viel Mühe mit den Details gegeben. Rechts neben dem Tresen in einer etwas größeren Nische stand eine kleine Sitzgruppe in dunkelgrünem Cord mit drei Sesseln und einem Zweiersofa, das mir einladend zuzwinkerte. Ich zwinkerte zurück.

Nicht jetzt, Liebchen, später vielleicht.

Wir zwei könnten Freunde werden, das war mir sofort klar. Hier könnte ich gemütlich bei einem Milchkaffee Leute beobachten und mir Inspiration suchen, ohne im direkten Blickfeld meiner Mitmenschen zu sein. Vielleicht hätte die Geschäftsleitung auch nichts dagegen, wenn ich zwischendurch ein wenig in dieser Nische arbeitete? Ich liebte es, an belebten Orten zu sitzen und in meine Schreiberei abzutauchen. Sicher gab es hier im Haus auch WLAN, so könnte ich immer gleich die versprochenen Mails an Sarah schicken. Sie war nämlich nicht nur meine allerbeste Freundin, sondern auch immer die erste Testköchin für meine neuen Rezepte.

Ich schaute zur Decke. Ein kleiner Kronleuchter sorgte für behagliches Licht– ebenso wie die wohlplatzierten Stehlampen, von denen ich auf Anhieb drei entdeckte. Ob hier ein Innenarchitekt am Werk gewesen war? Vielleicht ein Lichtdesigner? Oder hatten die Besitzer selbst so ein zielsicheres Händchen für Stil? Jedenfalls schwang der Schwarzwald deutlich im Raum. Edel, ohne jeden Touristenkitsch. Was die Fassade versprochen hatte, wurde hier gehalten.

Gar nicht schlecht, hier können wir es wohl aushalten, kommentierte Stimmchen.

Ausnahmsweise waren wir mal einer Meinung.

»Frau Kleinschmidt! Herzlich willkommen! Es ist mir eine Freude, Sie als Gast in unserem Haus begrüßen zu dürfen.« Eine Frau Mitte dreißig kam freudestrahlend auf mich zu und schüttelte überschwänglich meine Hand. »Ich habe all Ihre Bücher gelesen. Hoffentlich hatten Sie eine gute Anreise. Werden Sie bei uns Urlaub machen, oder arbeiten Sie an einem neuen Projekt?«

Ich schluckte, versuchte mir einen Eindruck von der Person zu machen, die sich hier gerade wie ein Wasserfall über mich ergoss. Die herzliche Begrüßung berührte mich, es war nicht selbstverständlich für mich, erkannt zu werden, auch wenn ich schon einige Male im Fernsehen zu sehen gewesen war und mit meinen Büchern inzwischen einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hatte. Aber dieses Hineinstürmen in meinen Tanzbereich, ohne dass ich einen Schimmer hatte, wer mir hier gerade so nahe kam, ließ mich zurückweichen– zumindest innerlich. Äußerlich rührte ich mich nicht von der Stelle und überlegte, was wohl die passende Reaktion sein könnte. Während ich im Geist fieberhaft die Möglichkeiten überschlug, lächelte ich möglichst unverbindlich. Mein Zögern blieb nicht unbemerkt.

Das Gesicht der freundlichen Frau überzog sich mit einem rosa Schimmer. »Mein Güte, ich bin aber auch unmöglich. Entschuldigung. Da hat mich die Begeisterung wohl über das Ziel hinausschießen lassen.« Sie trat einen halben Schritt zurück. »Darf ich mich vorstellen? Franziska Wollschläger. Ich bin die Inhaberin des Hotels, und ich versichere Ihnen, normalerweise lasse ich unsere Gäste atmen und überfalle sie nicht einfach so.«

Inzwischen hatte ich mich gefangen. »Es freut mich auch, Sie kennenzulernen, Frau Wollschläger. Wissen Sie was? Ganz sicher werden wir in der nächsten Zeit Gelegenheit finden, uns in aller Ruhe zu unterhalten, und dann erzähle ich Ihnen auch gern, weshalb ich hier im Schwarzwald bin. Um ehrlich zu sein, ich erhoffe mir sogar den einen oder anderen hilfreichen Tipp von Ihnen. Aber–«, ich hob entschuldigend die Schultern und unterdrückte ein Gähnen, das sich den Weg nach oben bahnte, »jetzt bräuchte ich dringend eine Dusche und ein bisschen Ruhe. Nach über zehn Stunden hinter dem Steuer fühle ich mich etwas zerknittert.«

Frau Wollschläger wirkte erleichtert, weil ich ihr den Überfall nicht übel nahm. Sie nickte und schaute zu ihrer jungen Empfangsdame, die uns regungslos beobachtet hatte und jetzt ihrer Chefin eine Zimmerkarte und einen Block entgegenstreckte. Dabei musterte sie mich unauffällig, aber durchaus neugierig. Es war klar, dass sie keinen Schimmer hatte, wieso ihre Chefin so in Ekstase geraten war.

Frau Wollschläger nahm die Karte, den Block legte sie zurück auf den Tresen. »Die Formalitäten können wir erledigen, wenn Sie sich etwas ausgeruht haben und wirklich angekommen sind. Wir haben Zimmer42 für Sie gerichtet. Freddi wird Sie nach oben begleiten.« Sie winkte den Hausdiener heran und drückte ihm die Zimmerkarte in die Hand. »Falls Sie einen Wunsch haben– der Empfang ist durchgehend besetzt. Und ich bin auch meist irgendwo im Haus erreichbar. Scheuen Sie sich bitte nicht zu sagen, wenn Ihnen etwas fehlt.«

Franziska Wollschläger wurde mir von Minute zu Minute sympathischer. Ich lächelte sie dankbar an. Über meine Zimmernummer amüsierte ich mich und konnte mir einen Kommentar nicht verkneifen.

»Zweiundvierzig«, sagte ich. »Wie nett. Ich hoffe, das Handtuch liegt bereit.« Ich grinste, bedauerte meinen lockeren Zungenschlag allerdings, als ich den Schatten sah, der sich über das Gesicht der Hotelchefin legte.

»Selbstverständlich, Frau Kleinschmidt.« Die Stimme, eben noch warm und freundlich, klirrte ein wenig.

Uiuiui, da hatte ich aber einen Nerv getroffen. »Entschuldigung, so war das nicht gemeint«, beeilte ich mich, die Sache klarzustellen. »Es ist nur– als Sie zweiundvierzig sagten, musste ich unwillkürlich an Douglas Adams denken. Sie wissen sicher: ›Per Anhalter durch die Galaxis‹.«

Was für ein Glück. Der Schalter legte sich zurück, die Eisschicht um Franziska Wollschläger schmolz in Sekundenschnelle. Mehr noch, sie lachte schallend, und ich stimmte mit ein.

DREI

29.April

»Hallo, Frau Schropf, Clarissa Kleinschmidt. Ich bin gestern Abend angekommen und würde mich gern mit Ihnen treffen. Wann würde es Ihnen denn passen?«

Nachdem ich eine Nacht selig und tief geschlafen hatte, fühlte ich mich bereit zu neuen Taten. Schon von Hamburg aus hatte ich mit der Fachfrau für Wildkräuter Kontakt aufgenommen, und wir hatten verabredet, dass ich mich melden würde, sobald ich im Schwarzwald wäre. Wir wollten uns zu einem Gespräch treffen, uns kennenlernen und sehen, wie Frau Schropf mich bei meinen Recherchen unterstützen könnte. Sie fand die Aussicht, als Kräuter-Expertin in meinem Buch Erwähnung zu finden, durchaus verlockend.

»Frau Kleinschmidt, wie schön. Von mir aus können wir uns gleich heute Vormittag treffen. Wollen Sie zu mir kommen, oder sollen wir einen Kaffee trinken gehen?«

»Kaffee klingt sehr gut, machen Sie einen Vorschlag– ich kenne mich hier noch nicht aus.«

Wir verabredeten uns im Café Heck, und ich beschloss, mich gleich im Anschluss um eine andere wichtige Angelegenheit zu kümmern. Ich wollte einen Makler kontaktieren– vorsichtig meine Fühler ausstrecken. Erst hatte ich nur mit der Idee gespielt, aber nachdem ich mein Handy wieder geweckt hatte und siebenundsechzig Nachrichten von Pascal vorgefunden hatte, stand der Entschluss, der vorher noch mit einem dicken Fragezeichen versehen gewesen war, nun mit vielen fetten Ausrufezeichen direkt über mir: Ich werde mir im Schwarzwald eine neue Heimat schaffen!

Der kriegt mich nicht klein, dem werde ich zeigen, wie ernst mir die Trennung ist.

Ich sagte das zu dem Stuhl, der vor dem kleinen Schreibtisch stand und mir aufmerksam zuhörte. Als ich Pascal kennenlernte, fand er meine Marotte, mit mir selbst und mit den Gegenständen um mich herum zu sprechen – manchmal nur in Gedanken, hin und wieder aber auch laut–, süß. Charismatisch, hatte er es genannt. Nach einiger Zeit hatte er angefangen zu nörgeln, wollte an mir rumerziehen, und als ich Pauline gekauft hatte, gab es ein Riesentheater, weil Pascals Meinung nach jemand, der seinem Auto einen Namen gab, kurz vor der Zwangseinweisung stehen musste. Das waren die ersten kleinen Risse. Er gängelte und kontrollierte mich. Es fing mit harmlosen Kleinigkeiten an und wurde erst unmerklich, dann immer deutlicher schlimmer. Pascal stellte mir langsam, aber sicher die Sauerstoffzufuhr ab.

Als er mir den Heiratsantrag gemacht hatte und ich nicht mit großem Hurra Ja gehaucht hatte und selig in seine Arme gesunken war, gab es den großen Knall. Der Pascal, der jetzt mit vor Wut weißen Lippen vor mir stand und mir etwas von den Erwartungen ins Gesicht schleuderte, die ein Mann ja wohl an seine Frau haben durfte, schien mir fremd. Wo war der Pascal, in den ich mich vor gut einem Jahr verliebt hatte? Hatte ich einen Mann mit zwei Gesichtern erwischt, oder hatte er mir einfach nur monatelang etwas vorgespielt, bis er dachte, er hätte mich so weit? Egal. So genau wollte ich das gar nicht wissen, denn es würde nichts ändern. Was auch immer die Gründe für sein Benehmen waren, für mich hatte er sich als Partner damit disqualifiziert.

Der klopft dich doch eh wieder weich, das ist nur eine Frage der Zeit.

Oh nein, da lag Stimmchen vollkommen falsch. Ich war sehr sicher, dass mein künftiges Leben ohne Pascal eindeutig entspannter und glücklicher verlaufen würde. Und weil er wie ein Affe klammerte und meine Entscheidung nicht akzeptieren wollte, begann ich mit dem Gedanken zu spielen, meine Reise in den Schwarzwald für einen dauerhaften Ortswechsel zu nutzen. Zumindest zog ich es in Erwägung. Als Ausweg, als Start in mein neues Leben. Vielleicht täte mir die Luftveränderung gut.

Der Tropfen, den mein Heimatfass benötigt hatte, um überzulaufen, hing mit meinem unfreiwilligen Zwangsstopp zusammen. Ich hatte es für einen dummen Zufall gehalten. Murphys Gesetz eben. Jeder, der mich kannte, wusste, dass Murphy und ich eine ganz besondere Beziehung zueinander hatten. Wie waren sozusagen siamesische Zwillinge. Sarah behauptete immer, Murphy sei der Gegenpol, um meinen Alltag im Gleichgewicht zu halten, weil ich so durch und durch ordentlich war und immer alles klar strukturieren wollte. Nach Sarahs Meinung sorgte Murphy für die notwendige Abwechslung in meinem Leben. Ich fand, meine wunderbare Chaos-Sarah wäre eigentlich genug Abwechslung für mich, aber gegen Murphy war kein Kraut gewachsen, und so nahm ich meinen Hang zu Butterbroten, die mit der gebutterten Seite unten auf dem Boden landeten, möglichst gleichmütig hin. Meistens jedenfalls.

Deshalb hatte ich zuerst auch keinen Verdacht geschöpft, als eine Polizeistreife sich auf der Autobahn vor mich setzte und mich mit blinkendem Befehlsschild auf einen Parkplatz lotste. Ich ließ die Situation noch einmal Revue passieren – eigentlich hätte ich– Murphy hin und siamesischer Zwilling her– gleich drauf kommen müssen, dass da was nicht stimmte. Allein der Blick des Beamten sprach Bände. Aber ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung gehabt. Arg- und wehrlos war ich gewesen. Und naiv. Meine Herrn, was war ich für ein naives Schaf! Die Bilder zogen wie ein Film vor meinem inneren Auge vorüber:

»Führerschein und Fahrzeugschein, bitte.«

Ich kniff die Lippen zusammen, so konnte ich den Fluch zurückhalten und gleichzeitig ein Lächeln vortäuschen. »Augenblick. Die Papiere sind in meiner Tasche.« Ergeben angelte ich nach derselben, die vom Beifahrersitz in den Fußraum gerutscht war.

Der Polizist beugte sich etwas näher Richtung Wageninneres. Seine Nase zuckte dreimal kurz. »Haben Sie Alkohol getrunken?«, schoss die Frage auf mich zu.

»N-nein. Keinen Schluck.« Das Glas Sekt, das Sarah und ich zum Abschied getrunken hatten, war sicher längst verdunstet, meines war sogar mit Orangensaft verdünnt gewesen, weil ich ja wusste, dass ich eine lange Strecke fahren musste. Leider kämpfte ich seit drei Stunden mit Schluckauf, und das Hicks, das sich jetzt seinen Weg nach oben bahnte, unterstrich meine Glaubwürdigkeit nicht gerade. Danke, Murphy!

»Steigen Sie bitte aus«, kam auch prompt die Reaktion des Herrn in Uniform. Würde er nicht so streng schauen, könnte er direkt als Leckerbissen durchgehen, aber bei diesem Beamtenblick verkrochen sich aufkommende Gelüste unverzüglich, und er schien zu den wenigen Exemplaren zu gehören, die nicht auf Schokoaugen und Haare bis zum Po reagierten. Vermutlich hatte er noch nicht einmal bemerkt, dass ich überhaupt Augen und Haare hatte, so dienstbeflissen, wie er war.

Der Alkoholtest zeigte null Komma null Promille an. Ich atmete erleichtert durch, doch zu früh gefreut– damit fing die Sache erst an spannend zu werden. Gleich darauf musste ich mit geschlossenen Augen die Arme ausstrecken, auf einem Bein stehen – mein Gleichgewichtssinn ist miserabel–, dreißig Sekunden abschätzen und mit dem Zeigefinger meine Nase treffen. Das grelle Licht, mit dem die Kollegin des strengen Beamten mir in die Augen schoss, erschreckte mich, weil ich nicht damit gerechnet hatte. Einen Moment sah ich bunte tanzende Punkte. Ich wankte bedenklich, brauchte ein paar Sekunden, bis ich wieder sicher stand. Das war natürlich Pech. Der Typ in Uniform zog die Augenbrauen nach oben, bis sie komplett unter seinen Haaren verschwunden waren. Idiot! Er betrachtete mich, als sei ich eine Schwerverbrecherin. Doppelmord– mindestens. Die Kontrolle wurde intensiviert, ich begann nach der versteckten Kamera zu suchen, weil ich kaum glauben konnte, dass es sich um einen normalen Einsatz handelte.

Das Überfallkommando forderte sogar einen Drogenspürhund an und stellte Pauline auf den Kopf.

Knapp zwei Stunden später konnte ich endlich – um ein paar vollkommen aus der Luft gegriffene Ermahnungen reicher