Tod auf der Kokerei - Thomas Salzmann - E-Book

Tod auf der Kokerei E-Book

Thomas Salzmann

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Beschreibung

Ein Kriminalroman mit viel Atmosphäre, viel Regionalkolorit und einer charismatischen Ermittlerin. Eine Tote treibt im Wasser des Werksschwimmbads auf Zeche Zollverein. War es Selbstmord oder Mord? Ex-Hauptkommissarin Frederike Stier muss für Aufklärung sorgen, denn bei der toten Frau handelt es sich um die Tochter eines alten Freundes. Immer tiefer gräbt sie sich in die Vergangenheit des Opfers und stellt bald fest, dass die Menschen wie eine Kokerei sind: Sie haben eine weiße und eine schwarze Seite ...

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Thomas Salzmann wurde 1960 in Pirmasens, Rheinland-Pfalz, geboren und studierte in Köln Betriebswirtschaftslehre. Nach mehreren Stationen in der Industrie widmet er sich seit einigen Jahren dem Schreiben. Er ist verheiratet und lebt mit seiner Frau in Mettmann.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Jochen Tack/imageBROKER

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Lothar Strüh

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-966-2

Originalausgabe

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1

Rebecka Lautenschlägers Gesicht verschwand unter dem Reißverschluss des Leichensacks. Der Bestatter und sein Mitarbeiter hievten sie in die Aluwanne, legten den Deckel auf und trugen sie zur Treppe. Routiniert schafften sie die steilen Stufen. Eine Wasserlache glänzte im Schein der Strahler an der Stelle, wo die junge Frau gerade noch gelegen hatte. Einige Tropfen gefroren bereits zu kleinen Eisperlen.

Eine unwirtliche Kälte lag über dem Gelände der Kokerei, einem Teil des Welterbes Zeche Zollverein in Essen.

Frederike Stier und Hartmut Lautenschläger standen Hand in Hand auf dem Liegedeck des Werksschwimmbads auf der Kokerei. Frederike sah zu Harmut hoch. Er schien sich zwischen seinen hochgezogenen Schultern verstecken zu wollen. Frederike konnte sich nur vorstellen, wie schlimm es sich anfühlen musste, wenn das eigene Kind in einem Metallsarg weggetragen wurde.

»Puh«, sagte sie und befreite ihre Hand aus Hartmuts. Sie schüttelte sie, um den Schmerz heraus- und Blut wieder hineinzubekommen.

Hartmut starrte auf die Holzplanken.

Sie gab ihm die Zeit. Die sie nutzte, um sich umzusehen. Atemdampf umhüllte die Köpfe der Männer der Spurensicherung, der Kripo, einiger Streifenpolizisten. Ihr Schweigen war ebenso eisig wie die Luft und zeigte, wie konzentriert sie nach Spuren und Hinweisen suchten. Mit gesenkten Köpfen schlichen sie über die Holzplanken, stellten Nummernschildchen auf, packten eine Spur in den Beweismittelbeutel.

Frederike hob den Kopf. Im Hintergrund wachte der angestrahlte Doppelbock von Schacht XII über dem Ruhrgebiet. Die Kokerei dagegen war in rotes Licht gehüllt. Rot wie die längst verloschene glühende Kohle, mit der Koks erzeugt worden war, dachte sie.

Das Werksschwimmbad, an dessen Rand sie standen, war im Sommer ein Publikumsmagnet, im Winter waren es zwei zusammengeschweißte Überseecontainer mit einem Dach darüber. Natürlich von Künstlern entworfen und natürlich im Rahmen einer Kunstveranstaltung.

Das Schwimmbad befand sich am Kopf der Batterie 9 der Kokerei. Das wusste sie, weil sie es gelesen hatte, ohne zu wissen, was eine Batterie auf einer Kokerei war.

Vor der Mauer des letzten Koksofens baute sich eine rostrote Stahlkonstruktion auf. Im linken Teil führte eine Treppe nach oben. Dort sah sie Rohre, einen Glaskasten mit matten Scheiben und einem Wellblechdach, Stahlgerüste. Ein Stahlseil mit einem schweren Haken hing herunter. Links erhob sich mächtig ein Schornstein in den noch nachtschwarzen Himmel, und hinter ihrem Rücken ragte eine verwahrloste Wand empor, vor der sich Stahlstreben, Rohre, Industriekultur verteilten.

Frederike spürte, dass sie sich nur ablenkte, indem sie die Umgebung betrachtete. Dass sie zusehen musste, wie eine Ermittlung anrollte, bei der sie nicht aktiv beteiligt war, widerstrebte ihr – zutiefst. Zu nah war ihr der Polizeidienst noch.

Will ich aktiv beteiligt sein? Die Fragte schwebte über der Szenerie. Was würde sie antworten, wenn Hartmut sie fragte, ob sie den Tod seiner Tochter beleuchten würde? Die Frage, die sie nicht hören wollte, auf die sie jedoch hoffte? Die Antwort würde ihr schwerfallen. Nicht, weil sie nicht wusste, welche die richtige wäre. Die wusste sie. Doch hätte sie den Mut, sie auszusprechen?

Frederike rieb die Hände aneinander. Sie musste aufhören, darüber nachzudenken.

Ein Taucher stieß mit dem Kopf durch die Wasseroberfläche und prustete. Er hielt sich an der Metallkonstruktion fest, auf die eine Plane gespannt war, die das Schwimmbecken überdachte.

»Hast du was?«, fragte sein Kollege, der am Beckenrand stand und sich zu ihm hinunterbeugte.

»Nichts. Außer Dreck hab ich nichts gefunden.« Er reichte dem Taucher am Beckenrand einen Unterwasserstrahler, danach seine Sauerstoffflasche, die er sich vom Rücken gestreift hatte.

Hartmut sollte bei diesen Arbeiten nicht dabei sein, fand Frederike und blickte hoch zu ihm. So niedergeschlagen und alt hatte sie ihn noch nie erlebt.

Sie drückte seine Hand. »Was kann sie mitten in der Nacht hier gewollt haben?« Die Frage richtete Frederike mehr an sich selbst als an ihn.

Hartmut starrte auf die Stelle, wo gerade noch seine Tochter gelegen hatte. Zwei Schildchen der Spurensicherung mit der »1« und der »2« kennzeichneten Rebeckas Stiefel. Das goldene Kettchen mit einem Kreuz hing noch am Schaft des linken. »Das hat sie von uns zur Konfirmation bekommen.« Er zeigte darauf. »Ach, Frederike, das ist so schlimm.«

Sie strich ihm über den Rücken.

Dann kniete sie sich hin, sah zuerst unter die Plane und in das Schwimmbecken. Sie beugte sich vor, steckte die Hand ins Wasser und zog sie direkt wieder heraus. »Puh, ist das kalt!« Danach sah sie sich Rebeckas Schuhe und das Kettchen genauer an. Was wollte sie finden?

Frederike hob den Kopf, dann die Hand, um ihre Augen vor den Strahlern der Spurensicherung zu schützen. Sie tauchten das Deck in ein erbarmungsloses Licht. Wo war Patrick, der Leiter der Spusi? Sie sah ihn nirgends.

Mit einem Knacken in den Knien richtete sie sich auf. »Komm«, sagte sie zu Hartmut und zog ihn in Richtung Treppe.

Viel lieber würde sie hierbleiben. Um zu erfahren, wie ihre ehemaligen Kollegen die Situation einschätzten. War es der Fundort einer toten jungen Frau oder ein Tatort? Was könnte hier passiert sein? War es wahrscheinlich, dass Rebecka Selbstmord begangen hatte?

»Das war kein Selbstmord, Frederike. Auch kein Unfall.« Hartmuts Stimme holte sie zurück. Er klang fest und bestimmt.

Kowalczyk hatte einen Suizid vermutet, nachdem der Notarzt zusammen mit ihm keinen Hinweis auf eine todesursächliche Gewalteinwirkung an Rebeckas Körper festgestellt hatte. Voreilig, überflüssig und unprofessionell.

Kevin Kowalczyk, ihr Nachfolger bei der Kripo, leitete den Einsatz hier. Er liebte den kurzen Weg, schnelle Entscheidungen, einen leeren Schreibtisch. Zu viele Details störten seinen Rhythmus, unklare Faktenlagen sein Bedürfnis nach einem pünktlichen Feierabend.

»Herr Lautenschläger, wir hätten noch einige Fragen.« Wie aufs Stichwort kam er die Treppe ein Stück herauf. Sie sahen nur seine Schultern und den Kopf.

Vielleicht war es gut, dass er Hartmut von diesem Ort holte und seine Gedanken ablenkte.

»Ich komme mit«, sagte Frederike.

»Kommt nicht in Frage«, erwiderte Kowalczyk sofort.

Frederike setzte zu einer Bemerkung an, doch Hartmut kam ihr zuvor und beugte sich zu ihr. »Ich will jetzt keine Diskussionen.« Sein Gesicht wirkte grau. Die Strahler schnitten harte Konturen hinein.

Sie war überrascht, wie nah ihm Rebeckas Tod ging. Nach dem Tod seiner Frau sei ihr Verhältnis abgekühlt und der Kontakt fast gänzlich abgebrochen, hatte er erklärt. Wenn sie sich richtig erinnerte, suchte Rebecka den Abstand, wollte alleine mit dem Verlust der Mutter fertigwerden. Sie war ein Mamakind gewesen. Vier Jahre war das her. Er litt darunter. Sie selbst hatte Rebecka nie getroffen. Hartmut hatte auch nur in Halbsätzen von ihr erzählt.

Sollte der Verlust eines Elternteils die Familie nicht zusammenschweißen? Sie hatte darauf verzichtet, weiter zu fragen, was wirklich dahintersteckte. Auch nicht, nachdem er sich im Juni mit Rebecka getroffen hatte. Wurden jetzt alte Wunden aufgerissen?

Seine Schultern rollten nach vorne, die Arme hingen herunter. Sie hätte ihn gerne in den Arm genommen.

Aber nicht vor Publikum.

Gemeinsam gingen sie zu ihrem ehemaligen Kollegen, der noch immer auf der Treppe wartete. Frederike sah seinen Blick an sich hochwandern. Auf Höhe des Halses stoppte er. »Kommen Sie, Herr Lautenschläger.«

»Wir haben keine –«, versuchte es Hartmut, sie doch einzubeziehen. Kowalczyk hob die Hand. »Sie können Frau Stier später von unserem Gespräch berichten. Wenn Sie es für hilfreich halten.« Dann sah er Frederike an. »Und du verschwindest von hier. Deine Hilfe wird nicht gebraucht. Von niemandem.«

»Das hat man bei deinen letzten Fällen gesehen.« Dass ihr ehemaliger Kollege in diesem Ton mit ihr sprach, überraschte, nein, es ärgerte sie.

»Du überschätzt dich. Wie du dich auch in der Vergangenheit überschätzt hast.«

Warum provozierte er sie hier, vor Hartmut, vor der versammelten Mannschaft?

»Ich begleite Herrn Lautenschläger, ob es dir gefällt oder nicht«, sagte Frederike und hakte sich bei Hartmut unter.

»Kommen Sie.« Kowalczyk legte Hartmut die Hand auf die Schulter. »Alleine.«

»Lass das, Kowalczyk. Ich gehöre zu ihm.«

»Es ist in Ordnung, Frederike. Danke.« Hartmut knickte ein und strich ihr über die Wange, als wollte er die Schärfe seiner Worte mildern. Die letzte Energie schien damit zu versiegen, denn seine Schultern sanken noch tiefer. »Ich schaffe das. Sie müssen doch den finden, der Rebecka ermordet hat.«

Kowalczyk grinste. »Herr Lautenschläger.« Er legte Hartmut die Hand auf den Rücken und schob ihn an sich vorbei. »Warten wir doch zuerst einmal die Obduktion ab. Dann wissen wir mehr.«

Frederike biss sich auf die Lippe. Es war wirklich nicht der passende Zeitpunkt für einen Streit.

»In einer Minute ist sie weg«, sagte ihr ehemaliger Kollege noch zu einem Uniformierten, der an der Brüstung stand. Dann ging er mit Hartmut die Treppe hinunter.

Frederike blieb oben und sah den beiden nach. Kowalczyk zog die Tür des Vans auf und zeigte Hartmut, wo er Platz nehmen sollte. Kaum saß er, schob Kowalczyk laut krachend die Tür zu.

Frederike drehte sich zur Liegefläche.

Der Streifenpolizist zeigte auf die Treppe.

»Gleich«, sagte sie und ließ ihn stehen.

Sie sollte sich wirklich heraushalten. Doch Kowalczyk verstand es, sie so zu provozieren, dass es ihr unmöglich schien. Auch wenn ihr Verstand ihr signalisierte, dass es dieses Mal tatsächlich besser wäre.

2

Der Streifenpolizist, dünner Flaum glänzte auf seiner Wange, räusperte sich erneut und machte eine auffordernde Handbewegung.

»Gleich, hab ich gesagt.« Frederike suchte Patrick, den Leiter der Spurensicherung. Sie brauchte eine erste Einschätzung, bevor sie ging. Mit Patrick hatte sie sich in ihrer aktiven Zeit oft gefetzt. Um ehrlich vor sich selbst zu sein: Sie waren sich spinnefeind, doch besaß er einen nüchternen, klaren Verstand, den sie immer noch sehr schätzte. Über Patricks Kopf schwebte normalerweise eine Wolke vom Qualm seiner Zigaretten und zeigte von Weitem seinen Standort. Heute ging der im Atemdampf der Mannschaft unter.

Am Ende des Schwimmbeckens machte sie ihn endlich aus. Er redete mit einem der Taucher. Frederike ging wie selbstverständlich zu ihm. »Habt ihr schon etwas?«

»Für dich habe ich gezaubert. Hier.« Er hielt einen leeren Beweismittelbeutel hoch. »Ein silbernes Nichtschen.«

Seine Antwort kam so spontan, dass Frederike sicher war, dass er sie sich zurechtgelegt hatte, als er sie auf sich zukommen gesehen hatte. »Mich interessiert nur, was du mir verheimlichst«, erwiderte sie.

»Dafür habe ich ein goldenes Warte-ein-Weilchen.«

»Fällst du in deine infantile Phase zurück, oder bist du noch nicht nüchtern?«

»Frederike, du weißt doch selbst, dass ich dir nichts erzählen darf. Aber sag, was machst du eigentlich hier?«

Sie sah sich um. »Ich habe geträumt, dass hier eine Frau schwimmt, die ich kennen könnte.«

»Du solltest weniger trinken. Aber im Ernst, wer hat dich informiert?«

»Unter uns?«

Er nickte.

Sie überlegte einen Moment. Am Ende siegte die Erkenntnis, dass sie etwas von ihm wollte und sie daher einen vertraulicheren Ton anschlagen sollte. Dass sie damit ihren guten Kontakt zur Kripo preisgab, musste sie riskieren. Und weil sie auf eine Gegenleistung hoffte, sagte sie: »Kowalczyks Vater. Er hat den Namen ›Lautenschläger‹ mitgekriegt, da hat er mich angerufen und gefragt, ob die zusammenhängen. Weil Lautenschläger in Essen nicht verbreitet ist und er von mir und Hartmut weiß. So sind wir hierhergekommen.«

Patrick lachte. »Er dankt dir immer noch, dass du seinen Filius im Präsidium eingeführt und anfangs an die Hand genommen hast?«

»Ja. Und dass ich seinem Sohn alles gezeigt habe, was in keinem Handbuch steht. Außerdem habe ich ihm meinen Job überlassen, damit er nicht in die Provinz muss.«

»Der Alte ist einfach eine treue Seele. Halt ihn dir warm.«

Sie winkte ab, denn sie bekam nur sehr sporadisch Informationen vom »alten Kowalczyk«, wie sie ihn nannte.

»Weiß das der Junior?« Patrick sah natürlich auch, wie angespannt das Verhältnis zwischen Frederike und ihrem Nachfolger mittlerweile war.

»Ich warne dich. Kein Wort zu ihm.«

Patrick hob die Hände.

»Wollen wir uns beim Italiener treffen und in Ruhe über den Fall reden? Das macht es weniger kompliziert.« Frederike bemerkte die Köpfe der Truppe, die sich bereits in ihre Richtung drehten. Sie hofften wahrscheinlich, dass Frederike und der Leiter der Spurensicherung sich wieder an die Wäsche gingen wie so oft in der Vergangenheit, wenn sie aufeinandertrafen. Ihre Antipathie hatten sie vor niemandem verheimlicht.

Ihr Verhältnis hatte sich geändert, nachdem Frederike aus dem Polizeidienst ausgeschieden war. Beim letzten Fall, der Mordermittlung zu Alexander Röttgens Tod, waren sie beinahe vertrauensvoll miteinander umgegangen. Anfangs. Er hatte sie auf dem Laufenden gehalten und sie ihn. Jemand musste das mitbekommen haben, denn plötzlich, von heute auf morgen, war Patrick zugeknöpft und ihre Informationsquelle versiegt gewesen.

Natürlich hoffte sie auf eine Wiederbelebung der Verbindung, weil es hilfreich war, wenn sie Informationen aus dem Zentrum der Ermittlung ergattern konnte.

»Bei Röttgen war es etwas anderes.« Patrick zog den Reißverschluss seines Schutzanzuges auf und holte eine Packung Zigaretten aus der Jacke. Sie lehnte ab, als er ihr die Schachtel entgegenstreckte. Auch, als er ihr nach dem ersten Zug die Zigarette hinhielt. Wegen ihres schwachen Herzens hatte sie das Rauchen aufgegeben. Jeder Rauchfahne hatte sie anfangs hinterhergeschmachtet und sich gewünscht, dass jeder in ihrem Umfeld sich eine Zigarette ansteckte, damit sie passiv mitrauchen konnte. Darüber war sie hinweg. Auch die Zigarette als verbindendes Ritual lehnte sie heute ab.

»Ist es doch etwas Ernstes mit ihm?« Patrick deutete mit dem Kinn Richtung Einsatzwagen, in dem Hartmut gerade saß.

»Keine Sorge, ich entscheide immer noch selbst, was gut für mich ist.«

Er sah sie skeptisch an.

»Kann ich dich anrufen?« Frederike ließ nicht locker.

Patrick blies eine Rauchwolke in die Luft. »Aber nerv nicht. Kowalczyk kämpft um sein Standing und schießt gegen alles, was ihm schadet. Er ist ein echter Angstbeißer, ohne Skrupel.«

»Hast du Angst vor ihm?« Sie sah den einen Kopf größeren Mann schmunzelnd an.

»Ihm ist eine kräftige Brise entgegengeweht, nachdem er bei Röttgen versagt hat. Wenn du ihn wieder vorführst und rauskommt, dass ich dir geholfen habe, dann bin ich draußen.«

»Ich bin in Rente und habe kein Team. Wie kann ich ihn da vorführen?«

»Keine Ahnung, wie. Ich traue dir aber zu, dass.«

»Dieses Mal nicht. Es geht um Hartmuts Tochter. Ich will mich raushalten. Keine Ahnung, was am Ende herauskommt, aber wenn es persönlich wird, kann ich nur verlieren.«

»Warum willst du dann Informationen?«

Frederike lachte. »Um auf dem Laufenden zu bleiben?«

Sie lachten gemeinsam. Das verband. Hoffte sie.

»Ist dem Arzt etwas aufgefallen?« Eine erste Leichenschau wurde immer vor Ort durchgeführt. Alleine damit die Ermittelnden einen Hinweis bekamen, worauf sie besonders achten sollten.

»Frederike.« Patrick drückte seine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger aus und steckte die Kippe in den leeren Beutel.

»Kommen Sie bitte, Frau Stier.« Der Streifenpolizist stand neben ihr und wollte ihren Arm greifen.

»Gleich.« Sie zog den Arm weg und wandte sich dem Spurensicherer zu. »Ist sie ertrunken?«

Der zog die Augenbrauen hoch. »Das wird die Obduktion zeigen.«

»Kannst du mir sagen, wer Rebecka gefunden hat?«

Patrick sah den Streifenpolizisten an, der einen Schritt nach hinten trat. »Ein Jogger. Sie schwamm oben. Er hat die Beine durch die Scheiben gesehen und nachgeschaut.«

Als sie gekommen waren, hatte Frederike die kleinen Bullaugen in der Seitenwand des Beckens gesehen. Konnte man dadurch Beine erkennen, wenn man joggte?

Zumindest hatte Patrick ihr einen Hinweis gegeben. Sie verbuchte es als positives Zeichen.

Außerdem speicherte sie die Information ab, für den Fall, dass es wichtig werden sollte und sie Details brauchte. Wenn der Jogger heute hier vorbeigerannt war, dann würde er das auch morgen tun oder übermorgen, wie sie diese Frühsportler kannte, jedenfalls regelmäßig. Sollte es notwendig sein, würde sie ihn hier auftreiben.

»Ich muss weitermachen«, meinte Patrick und hielt ihr die Hand hin.

Frederike drückte sie. »Melde dich, wenn du Hilfe brauchst«, sagte sie, was er mit einem ehrlichen Lachen quittierte.

Mit einem letzten Blick über die Liegefläche stieg sie die Treppe hinunter.

3

Rechts neben Frederike befand sich die Außenwand des Schwimmbads, des Überseecontainers. Auf die Idee musste man kommen, zwei Transportbehälter zu einem Schwimmbad umzubauen. Der Hintergrund bei dieser Installation war bestimmt wieder der Wandel von Industriegütern zu einer alternativen Nutzung oder Wandel durch Umnutzung.

Die Container standen auf der Erde. Man ging die Treppe hinauf, um auf die zweieinhalb Meter höher gelegene Liegefläche und in das zwölf mal fünf Meter große Becken zu gelangen. Sie fragte sich, wieso um diese Jahreszeit noch Wasser im Becken war. Es müsste doch schon längst abgelassen worden sein.

Sie bog um die Ecke. Stahlträger umhüllten die Container wie ein Korsett, eine Holzkonstruktion trug die Liegefläche. Sie wollte zu dem Bullauge, das sie vorhin gesehen hatte und durch das der Jogger Rebecka gesehen haben wollte. Frederike musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um hindurchzublicken. Es war wirklich klein, vielleicht dreißig Zentimeter breit und fünfzehn hoch, und nur wenn man direkt davorstand, konnte man im Wasser etwas erkennen. Beim Blick nach unten sah sie die feuchte Stelle des ansonsten trockenen Bodens. Wie skurril ist das? Steht ein Jogger hier und pinkelt, während eine tote Frau vor ihm im Wasser treibt.

Wenigstens hatte sie die Frage geklärt, wie ein Jogger Rebecka entdecken konnte.

Die Tür des Einsatzwagens wurde aufgeschoben. Sie ging hin. Hartmuts Gesicht war beinah so rot wie die angestrahlten Batterien der Kokerei im Hintergrund. Auch die versteinerte Miene deutete auf eine kontroverse Befragung hin. Sie würde es erfahren.

»Lass uns gehen«, sagte Hartmut, noch bevor Frederike etwas fragen konnte.

»Ich melde mich«, rief Kowalczyk, doch Hartmut drehte sich nicht mehr zu ihm um, sondern hob nur kurz die Hand und murmelte: »So ein Idiot.«

Doch Kowalczyk gab nicht auf. »Frederike«, rief er ihr hinterher. »Hast du einen Moment?«

Sie hatte nicht, denn gerade musste sie sich um Hartmut kümmern. »Was ist?«, fragte sie dennoch, obwohl sie es sich denken konnte. »Ich halte mich raus«, sagte sie, ohne die Antwort abzuwarten. Sie hoffte, damit Kowalczyk den Wind aus den Segeln zu nehmen. »Mir ist das zu persönlich, mit seiner Tochter. Vor allem, wenn es doch kein Suizid war.«

»Was soll es sonst gewesen sein?« Er schob sein Kinn nach vorne.

Sie schwieg.

Kowalczyk legte den Zeigefinger an die Wange.

Was ging ihm jetzt durch seinen Beamtenschädel?

»Du weißt, dass du in deiner Laufbahn nicht jeden Fall erfolgreich abgeschlossen hast. Fälle, bei denen der Täter heute noch ungestraft herumläuft.«

Die Bemerkung traf sie unvermittelt. »Was willst du damit sagen?« Sofort schoss ihr der eine Fall in den Kopf, der sie seit Jahren verfolgte, weil sie ihn nicht hatte abschließen können. Sie trat einen Schritt näher und stand ihm jetzt Nasenspitze an Adamsapfel gegenüber.

»Dass es manchmal schlecht ist, wenn die Vergangenheit ans Licht kommt.«

»Lass die Andeutungen. Was willst du mir sagen?«

»Ich wollte es nur angesprochen haben. Jetzt, wo wir im Präsidium alte Fälle neu aufrollen.« Er drehte sich weg.

»Was hat das mit mir zu tun?«

»Es sind die ungelösten Fälle, wie du dir denken kannst. Vielleicht ist ja auch einer von dir dabei.«

Natürlich hatte sie nicht jeden ihrer Fälle erfolgreich abgeschlossen. Wie auch? Deshalb war ihr schleierhaft, was Kowalczyk wollte.

»Willst du mir drohen?«, fragte sie ihn und hielt ihn am Arm fest.

»Ich finde es nur fair, wenn ich dich informiere, dass wir an alten Fällen arbeiten. Und jetzt muss ich weiter.«

Damit wandte er sich ab und ging zum Schwimmbecken. Sie sah ihm hinterher, ohne die leiseste Ahnung zu haben, wie sie seine Bemerkung einordnen sollte.

Weil sie wusste, dass es nichts mit Fairness zu tun hatte, wenn Kowalczyk so etwas sagte, dachte sie fieberhaft darüber nach, während sie zurück zu Hartmut ging. Dass im Präsidium offene Fälle regelmäßig neu überprüft wurden, war schon während ihrer Zeit normal. Die Ermittlungsmethoden änderten sich, oder es gab einen neuen Hinweis, einen Grund, um noch einmal mit den Nachforschungen anzusetzen. Ihr das in dieser Form vor die Füße zu werfen war bekloppt. Sie pflichtete Hartmut bei: Kowalczyk war ein Idiot.

Hand in Hand ging sie mit Hartmut zum Parkplatz, wo sein Auto stand. Sie musste beinahe rennen, um mit ihm Schritt zu halten. Kaum waren sie außer Hörweite, machte er seinem Ärger erneut Luft. »Kowalczyk ist überzeugt, dass Rebecka sich das Leben genommen hat.« Er stemmte die Hände in die Seite. »Er glaubt nicht an ein Kapitalverbrechen. Ihr Portemonnaie hätte in ihrer Jacke gesteckt, keine sichtbare Gewalteinwirkung, kein Übergriff –«

»Lass uns das Ergebnis der Rechtsmedizin abwarten. Er kann jetzt noch gar kein Urteil abgeben. Ich weiß nicht, warum er es trotzdem tut.«

Hartmut tastete seine Taschen nach dem Autoschlüssel ab. Mit einem Signalton sprang die Verriegelung auf. Er stand vor der schwarzen Limousine und sah auf den Boden.

Sie trat vor ihn und legte ihre Hände um seinen Nacken. »Es tut mir leid, was passiert ist. Das ist schlimm.«

Er verlor seine Anspannung. Beugte sich zu ihr und drückte sie fest an sich. »Danke«, flüsterte er in ihre Jacke. Mit der flachen Hand rieb sie über seinen Rücken und löste sich.

Seine sonst so strahlenden, fast schon schelmischen Augen füllten sich mit Tränen. Frederike drehte den Kopf weg, um nicht selbst zu weinen.

Hartmut hatte sich selten neutral und niemals positiv über seine Tochter geäußert. Deshalb überraschte sie seine Reaktion. Andererseits war Rebecka immer noch seine Tochter gewesen, seine Familie.

Während sie einen Moment schweigend vor dem Auto standen, kam ihr kurz die Idee, Hartmut anzubieten, in Rebeckas Umfeld nachzuforschen, was hinter ihrem Tod stecken könnte. Doch sie verwarf den Gedanken schnell wieder. Er musste es wollen. Er musste sie fragen, ob sie sich umhören würde.

Ihr war noch sehr bewusst, wie schwierig sich die Ermittlung um Alexander Röttgens Tod gestaltet hatte, nachdem dessen Frau sie gebeten hatte nachzuforschen. Denn Hartmut wollte sie ständig von ihren Nachforschungen abhalten. Es sei zu anstrengend, zu belastend, zu gefährlich für sie. Als könnte sie nicht selbst auf sich aufpassen. Hinzu kam ihr persönliches Verhältnis zu Röttgen, einem Freund und lieben Menschen. Und dass eine Polizistin bei einer Befragung einfacher schwierige, persönliche Fragen stellen konnte als eine Freundin.

Hartmut musste sie fragen.

»Wollen wir einen Kaffee trinken? Dann können wir im Warmen überlegen, wie es weitergeht.« Frederikes Finger färbten sich bereits blau, und ihre Kiefer schlugen unkontrolliert aufeinander.

»Was meinst du: wie es weitergeht? Wir müssen Rebeckas Mörder finden.« Hartmut sagte das mit einer Selbstverständlichkeit, die ihr die Sprache verschlug.

»Lass uns ein Café suchen. Dort können wir es in Ruhe besprechen.«

»Sollten wir nicht besser direkt zu ihrer Wohnung fahren? Nachsehen, ob sie …« Hartmut stockte, wischte sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen und drückte sie an der Nasenwurzel zusammen.

»Kowalczyk fährt sicherlich auch gleich dorthin«, entgegnete Frederike. »Vermutlich mit der Spurensicherung. Wir können da auch später noch hin.«

Hartmut nickte. Er wirkte plötzlich sehr weit weg mit seinen Gedanken, leistete wohl deshalb keinen Widerstand. Er sah auf den Autoschlüssel in seiner Hand, als wüsste er nicht, wozu er diente.

Frederike beschloss, ein Taxi zu rufen. Sie selbst fuhr seit über dreißig Jahren kein Auto mehr, und ihn in diesem Zustand ans Steuer zu lassen kam nicht in Frage. Er sollte zur Ruhe kommen, beginnen zu verstehen, was passiert war.

Hartmut fügte sich. Kurz darauf bestiegen sie beide ein Taxi, das sie zu Hartmuts Haus in den Essener Süden brachte. Sie begleitete ihn zur Haustür, schloss die Tür für ihn auf und versprach, sich am Nachmittag zu melden. Mit einem kaum hörbaren »Danke« verschwand er im Haus.

Das Taxi wartete am Straßenrand. Sie gab dem Fahrer ihre Adresse in der Altendorfer Straße. Danach grübelte sie erneut über Kowalczyks letzte Bemerkungen. »Du weißt, dass du in deiner Laufbahn nicht jeden Fall erfolgreich abgeschlossen hast.«

Es war so banal, wie dass nach Ebbe die Flut kam. Wie selbstverständlich war es, dass jemand, der arbeitete, auch Fehler machte? Sie hatte sogar sehr viel gearbeitet.

Trotzdem hallte es nach.

4

Frederike saß an ihrem Küchentisch, die Onlineausgabe der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung auf ihrem Tablet.

Sie versuchte, die Gedanken an Rebeckas Tod in den Hintergrund zu schieben. Doch sie war nicht stark genug und kam gegen die ehemalige Kriminalhauptkommissarin in ihrem Kopf nicht an. Was konnte hinter dem Tod der jungen Frau stecken? Waren es private Probleme, die sie in einen Selbstmord getrieben hatten? War sie in etwas hineingeraten? Was könnte dieses Etwas sein? Alles und nichts.

Sie kannte Rebecka nicht, weshalb sie sich auch keine Theorie überlegen konnte. Sie müsste mit Leuten sprechen, die sie gekannt hatten. Allen voran mit Hartmut. Aber auch mit Arbeitskollegen, Freunden, Sonstigen in ihrem Umfeld.

Dazu brauche ich einen Auftrag. Von Hartmut.

Sie scrollte in der Zeitung weiter. Als sie den Namen las, erstarrte sie. »Neue Erkenntnisse im Vermisstenfall Bettina Schmatke« stand in fetten Buchstaben über dem Artikel. Ihre Augen rasten über die Zeilen. Nachbarn erinnerten sich plötzlich wieder daran, in der Nacht ihres Verschwindens doch etwas gehört zu haben. Einen lauten Wortwechsel, der schlagartig verstummt war, eine Tür, die zugeschlagen worden war, ein Rumpeln auf der Treppe. Offenbar Anlass genug für den Polizeipräsidenten, die Akte wieder zu öffnen.

Wusste Kowalczyk von dem Artikel? Natürlich wusste er das. Deshalb die Anspielung.

Frederike wusste, dass die Kripo Essen Cold Cases, alte, ungeklärte Fälle, wieder aufrollte. So auch diesen Fall der seit fast dreißig Jahren vermisst gemeldeten jungen Frau aus Essen.

Neue Zeugenaussagen gaben Anlass, dem Fall noch einmal intensiver nachzugehen. In dem WAZ-Artikel wurden die Eltern und Nachbarn zitiert, die auch heute noch der Polizei vorwarfen, damals nicht intensiv genug gesucht zu haben. Den einzigen Verdächtigen, den Verlobten der Frau, nicht überführt zu haben.

Es war einer ihrer wenigen Fälle, die sie unaufgeklärt ins Archiv hatte geben müssen. Einiges hatte auf Kapitalverbrechen hingedeutet, doch es war nie eine Leiche gefunden worden. Die Beweislage war zu dünn gewesen, um eine Anklage ohne Opfer anzustrengen. Also hatte der Staatsanwalt die Ermittlungen eingestellt.

Die Gesichter der Familie, die flehenden Blicke, die verzweifelten Bitten, doch weiterzumachen, zu suchen, nicht aufzuhören, bis sie Frau Schmatkes damaligen Verlobten als Täter überführt hätte, waren noch in ihrem Kopf gespeichert. Frederike erinnerte sich lebhaft an den Fall, weil sie sehr darunter gelitten hatte, vor allem die Eltern zurücklassen zu müssen, ohne ihnen sagen zu können, was mit ihrer Tochter passiert war.

Damals litt sie umso mehr darunter, weil auch sie die Suche nach dem Mörder ihres Mannes Moritz ergebnislos aufgeben musste. Der Steinewerfer, der Moritz’ Leben mit einem Pflasterstein ausgelöscht hatte, war ungestraft davongekommen, weil jede Suche in eine Sackgasse geraten war. Das nagte bis heute an ihr. Genau wie dieser Fall. Einen Angehörigen zurückzulassen, ohne das Äußerste getan zu haben, um den Täter zu überführen, war für sie nicht mehr denkbar.

Weil sie sicher war, dass Kowalczyk diese Bemerkung nicht ohne Hintergedanken gemacht hatte, beschloss sie, Patrick nach dem momentanen Stand der wieder aufgenommenen Ermittlungen zu fragen. Sollte Kowalczyk noch einmal davon anfangen, wollte sie vorbereitet sein. Sie trank einen Schluck von ihrem Tee. Kalt und bitter. Wie die Erinnerung.

Sie drehte den Kopf zum Fenster und sah durch ihr gespiegeltes Gesicht hindurch in die Ferne.

Kurz blitzte ein Gedanke auf. Nein. Die Fallakte wurde vertraulich behandelt. Keine Details, keine Namen daraus, auch ihrer, würden an die Öffentlichkeit gelangen. Auf ihre ehemaligen Kollegen konnte sie sich verlassen.

Hoffentlich.

Und auf Kowalczyk?

Als sie die Zeitungs-App schloss, merkte sie, wie ihre Hände zitterten. Sie stand auf. Auch wenn es zum Polizeialltag gehörte, nicht jeden Fall erfolgreich abzuschließen, fühlte es sich selbst heute noch wie eine Niederlage, ein Versagen an. Zum Glück hatte sie anschließend noch zahlreiche Fälle erfolgreich gelöst. Auch nach ihrem Ausscheiden aus dem Polizeidienst.

Im Wohnzimmer hörte sie das Martinshorn, der Klingelton ihres Smartphones. Seit sie sich im Vorruhestand befand, kam das sehr selten vor, dass sie es hörte.

»Hallo, Hartmut.«

»Ich fahre jetzt zu Rebeckas Wohnung«, sagte er ohne Begrüßung. »Kommst du hin?« Er gab ihr die Adresse.

Hartmut wartete vor dem Mietshaus in der Beisingstraße. Er sah auf die Uhr, als Frederike ihn mit der Frage »Geht es dir besser?« begrüßte. Als Antwort hob er die Schultern. Sofort drückte er auf den Klingelknopf. Stephanie Grubinek empfing sie an der Wohnungstür.

Rebecka und Frau Grubinek hatten gemeinsam hier gewohnt. Die ging mit Hartmut voraus zur Küche. Frederike blieb am Eingang stehen. »Ich ziehe schnell meine Schuhe aus«, gab sie vor, um etwas Zeit zu haben, sich alleine einen ersten Eindruck von der Wohnung zu verschaffen.

Alles schien neu. Die Wände weiß gestrichen. Parkettboden. Keine Alltagsspuren an den Wänden. An der Garderobe hingen Jacken und Mäntel auf Bügeln. Auf der Ablage darüber lagen Mützen und Handschuhe, ein roter Hut. Auf dem Boden gegenüber standen feste Winterschuhe auf einer Tropfschale aus Gummi. Frederike stellte ihre dazu. An der Wand darüber sah sie gerahmte Fotos. Auf den ersten Blick von Urlaubsreisen oder Ausflügen. Sie erkannte Frau Grubinek, wie sie Rebecka lachend im Arm hielt. Ein Selfie. Wie unbeschwert die zwei Frauen wirkten. Rebecka strahlte. Ihre lockigen Haare wehten im Wind, Grübchen auf den Wangen, auf den ersten Blick eine sympathische junge Frau. Die Mitbewohnerin wurde von ihr halb verdeckt.

Von diesen Fotos abgegrenzt hingen andere Fotos. Sie erkannte den übervollen Petersplatz in Rom. Auf dem nächsten einen Mann am Fenster, der die Arme ausgebreitet hatte. Ein etwas größeres Foto zeigte Frau Grubinek neben Papst Benedikt. War es bei einer Audienz?

Frederike ging den Flur hinunter. Rechts und links sah sie geschlossene Türen. Welche davon führte wohl in Rebeckas Zimmer? Sie drückte die Klinke der Tür links nach unten, doch sie war verschlossen. Also ging sie weiter zur Küche. Hartmut saß am Esstisch.

Frau Grubinek erzählte gerade, dass sie im Laufe des Vormittags von Kowalczyk informiert worden war. Er hatte sie angerufen. »Ich habe ihm das nicht geglaubt. Das ist doch verrückt, oder? Gestern Abend ist sie …« Frau Grubinek brach den Satz ab, als sie Hartmuts Blick begegnete. »Entschuldigung. Es tut mir leid.« Sie drehte sich zum Herd, wo ein Wasserkessel zu pfeifen begann. Während sie losen Tee ins Sieb einer Teekanne füllte, erzählte sie, dass sie sich danach mit Kowalczyk hier getroffen hatte, da er Rebeckas Zimmer in Augenschein nehmen wollte.

Die junge Frau wirkte gefasst. War sie nicht betroffen vom Tod ihrer Mitbewohnerin, oder zeigte sie ihre Bestürzung nur nicht?

»Welches ist Rebeckas Zimmer?«, fragte Frederike und setzte sich neben Hartmut.

»Der Mann von der Polizei meinte, dass ich niemanden in das Zimmer lassen darf, bevor er mir nicht das Okay dafür gibt«, antwortete Frau Grubinek. Sie goss das heiße Wasser in die Teekanne.

»Das ist in Ordnung. Kein Problem.« Da es für Kowalczyk kein Morddelikt war, hatte er das Zimmer nicht versiegelt. Trotzdem wollte er nicht, dass es verändert wurde, sollte sich seine Einschätzung als falsch erweisen. »Hat Herr Kowalczyk etwas gefunden oder mitgenommen?« Die Ermittlerin in Frederike wollte es genau wissen, wobei sie sich um einen belanglosen Ton bemühte.

»Nein. Er war nur kurz drin. Hat ein paar Fragen gestellt, sich umgesehen und war wieder weg.«

Nicht überraschend. Kowalczyk meinte bereits zu wissen, wie Rebecka zu Tode gekommen war, und konzentrierte sich vermutlich auf den nächsten Fall.

»Trinken Sie auch einen Tee?«, fragte Frau Grubinek.

»Danke, im Moment nicht.« Frederike wollte Fragen stellen und Antworten erhalten.

Hartmut nahm gerne einen.

»Wollen Sie sich nicht zu uns setzen?« Die junge Frau rannte die ganze Zeit durch die Küche, räumte einen Teller weg, holte Zucker aus dem Schrank, verstaute einen Saftkarton im Kühlschrank.

»Ich weiß nicht. Das ist alles so fremd. Ich kann es gar nicht glauben.« Sie schnäuzte sich.

»Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«, fragte Frederike.

»Um halb sieben gestern Abend. Sie war zum Essen verabredet.«

»Wissen Sie, mit wem?« Frederike stellte die Frage, als würde es sie nicht besonders interessieren.

Frau Grubinek schüttelte den Kopf. Ihr Blick sagte: Ich weiß, dass ich es wissen müsste.

»Wie lange wohnten Sie und Rebecka schon hier?« Frederike zwang sich, ihre Fragen behutsam und vorsichtig zu stellen, nicht die Ermittlerin heraushängen zu lassen. Doch das lag ihr nicht. Als würde man ein Rennpferd zwingen, Schritt zu gehen.

Es entwickelte sich ein verkrampftes Gespräch. Frau Grubinek ließ sich aber auch alles aus der Nase ziehen. Frederike erfuhr, dass sich die zwei Frauen im Fitnessstudio kennengelernt hatten. Frau Grubinek hatte über einen Aushang dort eine neue Mitbewohnerin gesucht, sie und Rebecka fanden einen Draht zueinander, und so war Hartmuts Tochter dort eingezogen. Trotzdem schien sich keine enge, vertraute Freundschaft entwickelt zu haben. Frau Grubinek war anfangs sauer auf Rebecka, weil die ihr erst nach dem Einzug gestanden hatte, dass sie auf der Suche nach einem Job war und noch über kein geregeltes Einkommen verfügte.

»Ich war auf das Geld für das Zimmer angewiesen. Alleine konnte und kann ich die Wohnung nicht finanzieren. Und dann das.« Die Frau merkte, dass sie über ihre tote Mitbewohnerin schimpfte, und trank schnell einen Schluck Tee. »Als ich meine Chefin fragen wollte, ob wir in der Agentur Verstärkung brauchten, hatte Rebecka schon einen Vorstellungstermin bei ihr vereinbart. Woher sie den Kontakt hatte, weiß ich nicht. Als es geklappt hat, habe ich mich sehr gefreut.« Sie verstummte. »Erst später erfuhr ich, warum Rebecka genommen wurde.«

Die junge Frau stand auf, um eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank zu holen.

»Und zwar?«, hakte Frederike nach.

»Sie hat einen neuen Kunden mitgebracht. Neues Geschäft ist immer ein gutes Argument.«

Trotzdem. Warum gerade bei der Agentur? Darum würde sie sich später kümmern.

Sie sah sich Stephanie Grubinek genauer an. Sie wirkte nicht wie jemand aus der Werbebranche. Dafür erschien sie ein bisschen spießig mit ihren glatten, schulterlangen Haaren und dem ungeschminkten Gesicht. Sie trug eine weiße Bluse unter einem blauen V-Ausschnitt-Pullover und gar keinen Schmuck. Zu brav, zu wenig … kreativ.

Frederike übte sich weiter in Geduld.

Hartmut fragte unvermittelt: »Wie war Rebecka so? Hat sie genug gegessen? Hat sie auf sich geachtet?« Auch wenn Frederike verstand, warum Hartmut das interessierte, so waren sie eigentlich hier, um nach Motiven für ein Verbrechen zu suchen.

»Ich weiß nicht«, nahm Frau Grubinek den Faden auf und stellte die Wasserflasche mit einem Lächeln auf den Tisch. »Sie war immer gut gelaunt. Wir haben nicht so viel Zeit miteinander verbracht. Sie hat viel gearbeitet.«

»War sie glücklich?« Hartmut sprach so leise und verzagt, dass er kaum zu verstehen war.

»Ich weiß nicht. Irgendwie schon, glaub ich.« Frau Grubinek sah aus dem Fenster. Sie holte tief Luft. »In letzter Zeit war sie … Ich weiß nicht.«

»Glauben Sie an einen Selbstmord?«, fragte Frederike ganz direkt.

»Das frage ich mich auch«, antwortete Stephanie Grubinek. »Ich kann es nicht beurteilen. Hätten Sie mich gestern gefragt, wäre die Antwort eindeutig gewesen. Rebecka bringt sich nicht um. Wenn eine solche Vermutung dann plötzlich im Raum steht, überlegt man, ob man etwas übersehen hat, ob es Situationen gegeben hat, die auf so was hingedeutet haben.«

»Haben Sie eine konkrete Situation vor Augen?«

»Nein.« Frau Grubinek hob die Schultern. Sie schien nachzudenken. Abrupt sah sie auf die Uhr an ihrem Handgelenk. »Ich muss los. Tut mir leid.« Sie stand auf.

Frederike hatte noch gar nicht richtig mit ihren Fragen angefangen. Nächstes Mal, tröstete sie sich und legte ihre Hand auf Hartmuts Schulter.

»Lass uns gehen.«

»Ich verstehe es nicht«, sagte er. »Wer macht so etwas? Das ist doch krank.«

»Das ist es«, sagte Frederike, ohne darauf einzugehen, dass es noch nicht feststand, dass seine Tochter einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. »Komm.«

Frau Grubinek stand schon an der Eingangstür.

»Darf ich mich wieder melden, wenn ich noch Fragen habe? Sie sehen, wie aufgelöst Herr Lautenschläger ist. Er möchte mehr über seine Tochter wissen. Der Kontakt war nicht sehr gut, und nun macht er sich Vorwürfe.«

Frederike bückte sich, um ihre Schuhe zuzubinden.

»Lass uns gehen«, sagte jetzt Hartmut und zog seine Jacke an. »Danke, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben. Danke.« Er streckte Frau Grubinek die Hand hin, die sie schließlich griff.

»Gerne. Es tut mir leid, was mit Ihrer Tochter passiert ist. Ich kann es immer noch nicht glauben.« Es kam zögernd, ihre Stimme zitterte.

»Darf ich noch einmal vorbeikommen?«, fragte Frederike. »Wenn ich noch Fragen habe oder etwas geregelt werden muss?«

»Natürlich«, antwortete Frau Grubinek wie selbstverständlich. »Ich arbeite lang. Aber wenn es passt, gerne. Melden Sie sich.«

Frederike notierte sich die Telefonnummer und gab ihrerseits Frau Grubinek eine Karte mit ihren Daten. »Wenn Ihnen etwas einfällt, was es für uns leichter macht, das Unglück zu verstehen, rufen Sie mich bitte an.«

Sie verabschiedeten sich, und Frederike stieg mit Hartmut die Treppe hinunter.

»Die verheimlicht uns etwas. Die weiß mehr. Man lebt nicht mit jemandem zusammen und weiß nichts voneinander.« Hartmut klang wach und beinahe zornig. Ganz anders als eben noch.

»Ja dann«, antwortete sie und war versucht, in die Hände zu spucken. »Wo sollen wir hingehen?«

5

Die Novemberluft empfing Frederike und Hartmut kalt und feucht, als sie auf die Beisingstraße traten. Das Haus, in dem sich Frau Grubineks Wohnung befand, war alt, aber renoviert und in einem besseren Zustand als die benachbarten Häuser. Rote Klinker im Bereich des ersten Stocks, die drei oberen Stockwerke waren mit weißen Klinkern verkleidet. Über allen Fenstern bildeten rote Klinker einen Rahmen. Sie zeigten auch, wo ein Stockwerk endete. Ein Erker ragte ebenfalls aus der weißen Fassade. Ein solcher Erker wäre ein perfekter Platz für meinen Sessel.

Frederikes Blick blieb noch einen Moment dort hängen, während sie den Reißverschluss der Jacke hochzog.

»Ich habe auf dem Weg hierher ein Café gesehen. Lass uns dorthin gehen«, sagte sie und hakte Hartmut unter. Er brummte etwas in seinen Bart, was sie als Zustimmung interpretierte.

An der nächsten Kreuzung bogen sie links ab, bald darauf kamen sie an einem kleinen Park vorbei. Eine Frau mit Kopftuch schob einen Kinderwagen, am Ohr ein Telefon. Auf einer Bank saßen zwei ältere Männer, die die Kugeln ihrer Gebetsketten durch die Finger rutschen ließen. Am Kiosk am Ende der Straße stand eine Gruppe Jugendlicher. Sie prosteten sich zu, während sie noch herzhaft lachten.

Frederike und Hartmut erreichten den Platz. Bevor sie das Café Zwingli betraten, betrachtete Frederike den silbernen Klotz, der schräg davorstand. Er sah aus wie ein Stein, hoch, bestimmt drei Meter und fast quadratisch. Eine Art Skulptur, die fremd und unpassend wirkte. Sie weckte Neugier bei ihr, was auch schon ein Erfolg war. Bestimmt gibt es dazu eine Geschichte, dachte sie und folgte Hartmut. Stünde sie auf Zollverein, wäre es Kunst.

Sie stiegen die Stufen zum Eingang empor. Eine freundliche Frau zeigte ihnen einen Tisch in der Ecke. Sie setzten sich, bestellten zwei Kännchen Tee, Frederike mit einem Gläschen Rum, weil es so kalt war, und sogen die Wärme des Raums auf. Die Chefin brachte den Tee und verwies auf die Speisekarte, die auf eine Tafel geschrieben über dem Tresen hing, falls sie etwas essen wollten.

Hartmut hatte unterwegs kein Wort gesagt. Jetzt senkte er kurz das Kinn, bevor er Frederike direkt in die Augen sah. Sie spürte dabei eine Gänsehaut, die nicht von der Kälte kam.

»Ich will, dass du das klärst, Frederike. Bring mir den Mörder, der meine Rebecka auf dem Gewissen hat«, sagte er entschlossen. »Tu, was du dafür tun musst, und nimm keine Rücksicht.«

Frederike ließ die Worte ausklingen. Sie waren mehr Musik als Text. Himmelschöre. Trotzdem fragte sie: »Willst du das wirklich?«

»Ich würde es lieber nicht wollen. Ich weiß, wie labil dein Herz noch ist und wie sehr du dich in einen Fall verbeißen kannst. Aber der Gedanke, dass Rebeckas Tod nicht vernünftig aufgeklärt wird, macht mich verrückt.«

»Und wenn sie sich doch selbst getötet hat?«

»Dann …«, er stockte, »das hat sie nicht. Niemals! Du hast doch Frau Grubinek gehört. Rebecka hatte nicht den Eindruck gemacht, dass sie verzweifelt gewesen wäre und sich etwas antun wollte.«

Frederike schwieg. Hartmuts Blick blieb auf sie gerichtet. »Und du bist dir ganz sicher, dass du das willst?«, fragte sie nach einer angemessen empfundenen Bedenkzeit. Sie schwankte immer noch zwischen dem Drang zu ermitteln und der Furcht, mit ihren Ermittlungen Hartmut endgültig zu verlieren.

Nachdem sie den Mord an ihrem Freund Alexander Röttgen aufgeklärt hatte, hatten sie sich eine Pause verordnet. Frederike musste die fast schon besitzergreifende Fürsorge, seinen Drang, sie zu bremsen und zum Aufhören zu bewegen, verarbeiten. In den letzten Wochen hatten sie wieder mehr miteinander unternommen. Aber darüber, wie es mit ihnen weitergehen könnte, hatten sie bisher nicht gesprochen.

Dass Hartmut sie jetzt bat, Untersuchungen anzustellen, jetzt, wo er in der gleichen Situation war wie vor einem halben Jahr Sandra, Alexanders Frau, machte sie sprachlos. Diese Kehrtwende musste er erklären.

Sie sah Hartmut unverwandt an.

Bevor sie etwas sagen konnte, sagte er: »Ich weiß, worauf du hinauswillst. Es war im Sommer falsch von mir, dich von der Ermittlung abhalten zu wollen. Ja. Ich erkenne jetzt, wie unerträglich es ist, wenn ein lieber Mensch getötet wurde und man zusehen muss, wie andere das aufklären. Oder eben nicht. Frederike, bitte –« Hartmut wich ihrem Blick nicht aus.

»Aber versprich mir, dich nicht einzumischen. Du lässt mich ermitteln, wie ich es für richtig halte«, fiel sie ihm ins Wort.

»Frederike –«

Sie hob die Hand. Ihr gingen etliche Fälle durch den Kopf, bei denen Dinge ans Licht gekommen waren, mit denen niemand gerechnet hatte. Doppelleben, Suchtprobleme, Abartigkeiten, alles war ihr untergekommen. »Gleich! Überlege heute Nacht, was aus uns wird, wenn ich etwas entdecke, was nicht in dein Bild von Rebecka passt. Wenn sie ein Leben geführt hat, das du nicht kennst und das für dich vielleicht schwer zu akzeptieren ist. Ich werde die Überbringerin dieser schlechten Nachricht sein. Und du weißt, was mit denen passiert, die schlechte Nachrichten überbringen.«

»Ich –«

Wieder unterbrach sie ihn. »Denk in Ruhe darüber nach. Morgen früh reden wir noch einmal und überlegen gemeinsam, wie es weitergeht.

Frederike wusste, dass das scheinheilig von ihr war. Sie war am Tatort gewesen, hatte Kowalczyk mit seiner vorgefertigten Meinung erlebt, dazu Hartmuts Überzeugung, Rebecka habe sich nicht selbst getötet. Was auch Stephanie Grubinek glaubte.

Trotzdem zwang sie Hartmut und sich zu dieser Bedenkzeit. Nur ihren Kopf konnte sie nicht abschalten. Der überlegte bereits die ersten Ermittlungsschritte.

6

Frederike saß in ihrem Ohrensessel, einen Teller Spaghetti auf dem Knietablett, ein Glas Chianti auf dem Tischchen daneben, und weil es passte, hauchte Leonard Cohen: »You want it darker.«

Sie stocherte in den Nudeln herum.

Für Hartmut in Rebeckas Leben zu forschen empfand sie, wie Schokolade zu essen. Sie wusste, dass es nicht gut für sie war, aber es hinterließ ein gutes Gefühl. Wieder in einem Fall zu ermitteln, sich wieder mit Kowalczyk zu messen, am Ende zu wissen, dass sie die Bessere war, ließ das Risiko in den Hintergrund treten. Das Risiko, etwas aufzudecken, was möglicherweise die Freundschaft zu Hartmut gefährdete. Oder mehr noch.

Ihre größte Befürchtung war, dass bei ihren Ermittlungen etwas herauskam, das besser bei Hartmut und Rebecka geblieben wäre. Etwas schlummerte im Hintergrund, was das Verhältnis der beiden zerrüttet hatte. Wenn sie nachforschte, blieb der Punkt nicht unberührt. Sie kannte sich und wusste, dass sie bei ihren Ermittlungen alles aufdecken wollte und würde. Dabei ging sie nicht immer zimperlich vor. Außerdem brachte sie grundsätzlich zu Ende, was sie angefangen hatte, was hieß, dass alle Fragen beantwortet werden mussten.

Sie trank einen Schluck Wein, dann brachte sie die Nudeln in die Küche und drückte den Korken auf die Weinflasche. Die letzten Takte von Cohens Album verklangen.

Zeit, ins Bett zu gehen. Morgen würde sie klarer sehen. Mit wachen Augen und einem frischen Kopf.

Frederike stand auf, noch bevor der Wecker klingelte. Das Laken war zerwühlt, ihr Schlafanzug durchgeschwitzt. Zeit für eine ausgiebige Dusche.

Die Zeitung überflog sie schnell. Heute gab es keinen Bericht über neu aufgerollte Ermittlungsfälle. Der Artikel von gestern spukte noch immer in ihrem Kopf. Mit einem Becher Tee ging sie ins Wohnzimmer. Sie öffnete das Fenster und fragte sich, wann es wohl das erste Mal schneien würde. Im Flur holte sie ihren Rucksack und schloss das Fenster beim Zurückkommen wieder.

Ihr altes Notizbuch steckte in dem Fach, in das es gehörte. Sie holte es heraus. Versonnen schlug sie es auf. Notizen ihrer letzten Fälle. Freistein, der geniale Künstler, mit dem die Mordserie auf Zeche Zollverein angefangen hatte. Verrückt, dachte sie.

Danach ihr Freund Alexander Röttgen, der Kämpfer für das Ruhrgebiet, für die Menschen hier. Der Mahner, der mit dem Kopf voraus durch die Welt gestürmt war. Bis sein Engagement ein jähes, brutales Ende gefunden hatte.

Ihr Blick streifte das Bild »Die Einsamen«. Edvard Munchs gerahmtes Poster zierte seit Freisteins Fall ihre Wand. Das Paar, sie im weißen Kleid, er im schwarzen Anzug, hintereinanderstehend am Strand. Im Museum Folkwang hatte sie es gesehen und sich sofort darin verloren. Es war das erste Bild, bei dem ihre Phantasie angesprochen worden war. Zuerst war es der Titel des Bildes, »Die Einsamen«, gewesen, der sie hatte innehalten lassen. Weil sie sich damals einsam und verlassen gefühlt hatte. Sie sah das Bild und fand sich sofort wieder. Der Welt den Rücken zugekehrt. Der Mann, mit den Händen in den Hosentaschen, untätig danebenstehend. Deshalb stand für sie nicht im Vordergrund, was der Maler ausdrücken wollte, sondern was sie empfand, wenn sie das Bild betrachtete. Jedes Mal, wenn sie es ansah, wanderten ihre Gedanken in eine andere Richtung. So viele Möglichkeiten, das Bild, sich selbst, die Welt zu sehen.

Ihre Hände lagen auf den aufgeschlagenen Seiten ihres Notizbuchs. Sie blätterte um, zu einer neuen, leeren Seite. Wie früher, dachte sie. Wenn sie einen neuen Fall auf dem Tisch hatte, schrieb sie den Fall und das Aktenzeichen in die erste Zeile.

So weit war es noch nicht. Rebecka war noch kein Fall. Deshalb weigerte sich ihre Hand, den Namen »Rebecka Lautenschläger« zu schreiben. Trotzdem wollte sie ihre ersten Überlegungen zum Tod der jungen Frau, ihre Eindrücke vom Tatort – oder Fundort? – und eine Zusammenfassung des Gesprächs mit der Mitbewohnerin aufschreiben.

Ihr Telefon klingelte, und sie legte den Stift beiseite.

Sie kannte die Nummer nicht.

»Guten Morgen«, sagte sie und wartete.

»Frau Stier? Guten Morgen.«

»Wer ist da?«

»Stephanie Grubinek.«

Frederike wartete, doch es kam nichts mehr. »Ja?«

»Entschuldigen Sie. Ich habe mich geirrt.« Das Gespräch war weg.

Seltsam. Die Frau hatte aufgeregt gewirkt, fast gehetzt. Frederike sah auf die Uhr. Es war noch vor sechs Uhr. Eigentlich frech, so früh anzurufen. Warum hatte sie einfach wieder aufgelegt? Wobei oder womit hatte sie sich geirrt?

Sie überlegte zurückzurufen, wollte Stephanie Grubinek aber nicht bedrängen. Sie tat es dennoch. Die Mailbox sprang an.

Sie beschlich der Verdacht, dass bei der jungen Frau etwas nicht stimmte. Ihre Stimme hatte nicht geklungen, als wollte sie sie über etwas informieren.

Frederike drückte die Wahlwiederholung. Wieder die Mailbox.

Sie schrieb eine Notiz in ihr Buch.

Nachdem sich Rebeckas Mitbewohnerin nach fünf Minuten immer noch nicht gemeldet hatte, schrieb sie ihr eine Textnachricht. »Wenn ich etwas für Sie tun kann, melden Sie sich bitte.«

Frederike war gespannt, ob eine Antwort kommen würde.

Sie überlegte, Hartmut anzurufen. Ihn vor neun Uhr zu belästigen grenzte an Majestätsbeleidigung, was er stets zum Ausdruck brachte. Deshalb wartete Frederike, bis die Uhr kurz nach acht anzeigte. Heute musste er das ertragen.

Wie sich herausstellte, hatte Hartmut bereits mit Kowalczyk telefoniert und seinen Unmut über die frühe Störung an ihm ausgelassen.

Die Obduktion sei noch nicht abgeschlossen, und Kowalczyk wolle noch einige Befragungen durchführen, bevor er eine endgültige Einschätzung des Falls vornehme. »›Aber können Sie sich nicht doch vorstellen, dass es eine Selbsttötung Ihrer Tochter war?‹, hat er mich gefragt. Ist das zu fassen?« Hartmut atmete schwer. Jetzt sorgte sich Frederike um sein Herz. »Du glaubst doch auch, dass sie ermordet worden ist?«

Sie schloss es nicht so kategorisch aus, wie es Kowalczyk tat. Die Erfahrungen einer ehemaligen Hauptkommissarin sagten ihr, dass hier etwas nicht stimmte. Wie so häufig war ihr Gefühl nicht konkret, mehr Schwingung als Fakt. Aber dieser ungewöhnliche Fundort, offenbar kein Abschiedsbrief, keine Hinweise im Vorfeld – das alles sprach eher für einen unfreiwilligen Tod. Einen Unfall konnte sie bei diesem Fundort ausschließen. Sie würde gerne weitere Gespräche führen, damit sie sich ein besseres Bild machen konnte.

»Lass uns in Ruhe darüber reden. Ich komme zu dir.«

Eine halbe Stunde später klingelte sie bei Hartmut.

Der Kaffee stand bereits auf dem Tisch. Ein Bild Rebeckas stand gerahmt im Wohnzimmer auf der Anrichte. Flankiert von einer Kerze und drei Rosen in einer Vase. Der dicke Strauß weißer Lilien irritierte sie beim Betreten des Wohnzimmers, sie sagte aber nichts dazu.

Draußen schlug die Haustür zu. Frederike sah über die Schulter.

»Adelheid geht einkaufen.« Hartmut blickte verlegen zur Seite.

Er hatte diese Frau gelegentlich erwähnt. Sie hatten sich im Sommer in der Philharmonie in Düsseldorf kennengelernt. Viel gab es dazu nicht zu sagen. Seither trafen sie sich gelegentlich, gingen in die Oper oder ins Konzert. Manchmal trafen sie sich in einem Café oder gingen essen. Frederike hatte sie bei einer Veranstaltung auf Zollverein kurz getroffen. Sie wusste nicht, was Hartmut an ihr fand. Adelheid war so ganz anders als sie. Mit ihrem Kaschmirpullover, der Perlenkette, den kurzen sportlichen Haaren. Sie war nett und verbindlich gewesen. Frederike war davon ausgegangen, dass sich aus der Bekanntschaft bisher nicht mehr entwickelt hatte.

Hartmut machte keine Anstalten, das weiter zu kommentieren, und sie unterließ die Frage, ob Adelheid bei ihm übernachtet habe.

Sie sah ihn an.

»Setz dich«, war alles, was er sagte.

Der Mann, der fast immer einen Schalk um die Augen mit sich trug, wirkte gealtert und grau; seine Falten tiefer, seine Haare stumpfer, die Augen trüb. Es tat ihr weh, ihn so zu sehen.

Er holte ihr Kaffee und Wasser, schenkte ein, setzte sich und sah Frederike an. »Ich will, dass du herausfindest, was hinter Rebeckas Tod steckt. Ich habe kein Auge zugemacht, weil mich die Frage quält. Ich werde dir alles sagen, was mich und Rebecka betrifft, aber nicht jetzt. Mir fehlt die Kraft. Versprich mir nur, dass du auf dich aufpasst.« Damit beendete er seine Ansprache und machte es dadurch deutlich, dass er aufstand. Sein Blick sagte, dass er das auch von ihr erwartete.

Irgendwie verstand Frederike ihn, irgendwie aber auch nicht. So viele Fragen brannten ihr auf der Seele. Der Respekt Hartmut gegenüber ließ sie stumm bleiben. Fast. »Nur eins versprich mir: Wenn es von Kowalczyk etwas gibt, was ich wissen muss, sag es mir bitte umgehend. Am liebsten wäre es mir, wenn ich bei den Gesprächen dabei sein könnte. Versuche es.« Keine weiteren Fragen stellen zu dürfen widersprach ihrem Selbstverständnis. Zunächst war es entscheidend, vom nächsten Angehörigen Informationen zu bekommen. Sie hatte unendlich viele Fragen. Sie konnte doch nicht wieder gehen, ohne sie gestellt zu haben.

Sie stand auf und stellte sich neben Hartmut, der vor dem Wohnzimmerfenster stand und in den Garten schaute.

Er drehte sich zu ihr und nahm sie in den Arm. »Danke für dein Verständnis. Ich brauche Zeit, um mit der Situation klarzukommen. Sie war meine Familie.«

Was sollte sie noch sagen?

Bevor sie das Wohnzimmer verließen, fragte sie: »Von wem sind die Blumen?« Dabei zeigte sie auf die Lilien.

»Die Werbeagentur, bei der Rebecka gearbeitet, hat sie geschickt.«

Frederike blieb stehen und sah auf die Karte, die noch im Strauß steckte. Wobei sie weniger die Karte sah als eine erste Spur, der sie nachgehen konnte. Arbeitskolleginnen und -kollegen wussten normalerweise immer etwas zu erzählen. »Darf ich?« Sie zeigte Hartmut die Karte, was er mit »Bitte« und einer Handbewegung, die Gleichgültigkeit ausdrücken sollte, beantwortete.

An der Haustür fragte Frederike doch noch einmal: »Gibt es etwas, das du mir erzählen kannst? Was mir helfen könnte, den möglichen Täter zu finden?«

»Es gibt keinen möglichen Täter! Nur einen Täter. Sie wurde ermordet. Draußen läuft jemand rum, der meine Rebecka auf dem Gewissen hat.« Jetzt klang Harmut wieder entschlossen. Sie hoffte, dass er sehr schnell immer so sein würde. Gemeinsam ermittelte es sich leichter und effektiver.

»Und den werden wir finden.« Frederike sah ihn an, zählte bis drei, ob er nicht doch noch etwas sagte.

»Im Moment bin ich noch durcheinander und krieg das alles nicht zusammen. Das kommt so plötzlich. Das ist so unwirklich, dass Rebecka tot sein soll.« Seine traurige Stimmung gewann wieder die Oberhand.

»Sag mir bitte bald, was Rebecka und dich auseinandergebracht hat. Was zwischen euch stand.«

»Lass uns ein anderes Mal darüber reden.«

Aus ihrem Rucksack holte sie Mütze und Handschuhe und nahm ihre Jacke vom Haken. Er half ihr hinein. Sie setzte die Mütze auf.

»Das kriegen wir hin«, sagte sie dann. Zumindest hoffte sie es.

Hartmut beugte sich ihr entgegen und schloss sie in seine Arme. »Danke«, flüsterte er und ließ sie nicht direkt wieder los. »Danke, dass du das machst.«

Sie legte ihm die Hand auf die Wange.

»Wir telefonieren«, sagte Frederike und drehte sich zur Tür.

»Danke«, sagte Hartmut noch einmal und öffnete ihr die Tür.

Es war kalt geworden. Sie zog die Handschuhe an. Tief sog sie die winterliche Luft ein, ihren Blick richtete sie zum Himmel. Die Ermittlungen im Fall Rebecka Lautenschläger begannen.

7

Auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle kreisten Frederikes Gedanken um das Gespräch mit Hartmut. Dass er noch niedergeschlagen und wenig gesprächig war, konnte sie verstehen. Rebecka war seine Familie gewesen, nachdem seine Frau gestorben war. Nach Hartmuts Bemerkungen dazu war es die Ruine einer Familie.

Sie wusste, dass Hartmut einen jüngeren Bruder und eine Schwester hatte, die aber nicht in der Nähe wohnten. Auch der Kontakt zu ihnen war ihres Wissens auf Grüße zu Weihnachten und zum Geburtstag reduziert. Im Grunde traurig, dass er den Kontakt nicht pflegte.

Wie sollte sie es einschätzen, dass Hartmut nicht über das Verhältnis zu seiner Tochter sprechen wollte? Würde es sich als ein Minenfeld entpuppen? Wenn ja, betrat sie es sehenden Auges.

Frederike erreichte die Haltestelle. Es warteten bereits einige Fahrgäste im Unterstand, wo es windgeschützt war. Deren Blicke waren auf den Boden oder das Smartphone gerichtet. Manche stapften mit den Füßen oder pusteten sich in die Hände.

Frederike stellte sich neben das Häuschen und lehnte sich an die mit Graffiti beschmierte Scheibe. Der Mülleimer stank selbst bei der Kälte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

Da ihr kein Ermittlungsteam zur Verfügung stand, auch nicht die Möglichkeit, Rebeckas Telefon- oder Bankdaten zu überprüfen oder ein Bewegungsprofil mit Hilfe der Mobilfunkdaten zu erstellen, blieben ihr nur Gespräche mit Menschen aus Rebeckas Umfeld und ihre eigenen Gedanken. Vielleicht fand sich auch ein Sparringspartner, mit dem sie ihre Überlegungen diskutieren konnte.

Frederike holte ihr Smartphone aus dem Rucksack. Keine Anrufe. Sie erinnerte sich an den von Stephanie Grubinek vom Morgen. Etwas beunruhigt war sie schon. Deshalb tippte sie erneut eine Nachricht: »Alles in Ordnung mit Ihnen? Melden Sie sich, wenn ich etwas tun kann. Das meine ich ernst!« Sie schickte sie ab.

Dieses kurze Stehen nutzte die Kälte sofort, um sich in ihr auszubreiten. Sie hoffte, dass die Bahn bald eintraf, bevor sie zum Eiszapfen erfroren war. Wenigstens blinzelte die Sonne immer wieder zwischen Wolkenlücken durch. Dann drehte sie den Kopf in deren Richtung, und sie kam sich wie eine Sonnenblume vor.

Von der Karte, die Hartmut mit den Lilien geschickt worden war, wusste Frederike, dass sich die Werbeagentur CB, Competence by Bredemann, bei der Rebecka gearbeitet hatte, in Gelsenkirchen befand. Sie suchte im Smartphone die Adresse. Die Straße lag zum Glück nur wenige Meter vom Hauptbahnhof entfernt. Mit der 107 konnte sie dorthin durchfahren.

Es dauerte dann trotzdem eine knappe Stunde, bis sie endlich ankam.

Die Agentur befand sich im obersten Stock eines ganz schicken Eckhauses in der Fußgängerzone. In den zwei unteren Etagen gab es einen Bekleidungsfilialisten, oben die Agentur. Ein wirkliches Eckhaus war es nicht, denn die Ecke war rund. So wirkte es modern inmitten der funktionellen Sechziger- und Siebziger-Jahre-Bauten.

Den Eingang fand sie in der Seitenstraße. Das Klingelschild der Agentur war nicht zu übersehen. Mit dem Aufzug fuhr sie hinauf in den dritten Stock. Die Fahrstuhltüren glitten auseinander, und Frederike betrat eine andere Welt. Blendendes Weiß überall, Glas, Marmor auf dem Boden und ein Duft von Weihnachten in der Luft. Für Ende November fand sie das übertrieben, auch wenn in ihrem Supermarkt die Weihnachtszeit immer schon im September begann.

Sie betrat den Empfangsbereich durch eine doppelflüglige Glastür. Hinter dem weißen Tresen saß eine Schönheit, die das Cover jedes Modemagazins schmücken könnte. Lange glatte Haare, ein Teint wie Alabaster, dezent geschminkt und ein Lächeln, das Frederike sagte, wie sehr willkommen sie hier war.

Auf dem Tresen stand bereits ein Adventskranz, auf dem eine Kerze brannte. Daneben sah sie einen Teller mit Orangen, Mandarinen und Nüssen. Zimtstangen waren dazwischengemischt. Jetzt wusste sie, warum es nach Weihnachten duftete.

An der Wand hinter dem Empfangsmodel hing das Logo der Agentur CB, darunter, ebenfalls in geschwungenen Lettern geschrieben, der Slogan: »Competence by Bredemann«. Beides war auf eine weiße, bestimmt zwei Meter breite Glasplatte in goldener Schrift geschrieben. Darunter stand ein Sideboard, darauf standen Postkörbe, Aktenordner und eine weiß blühende Orchidee.

Mit ihrer Strickmütze in der Hand und ihrer offenen Winterjacke fühlte Frederike sich deplatziert. Ihre Schuhe, die für eine Schlammwanderung gemacht waren, taten ihr Übriges.

Die junge Frau ließ sich nicht irritieren, lächelte unverdrossen weiter und sagte wie auswendig gelernt: »Herzlich willkommen. Was kann ich Gutes für Sie tun?« Der offene Blick der Frau ließ nicht erkennen, was in deren Kopf vorging.

Frederike räusperte sich. »Stier. Frederike. Könnte ich Frau oder Herrn Bredemann sprechen?« Sie hatte auf dem Weg hierher auf der Homepage gelesen, dass die Agentur vom Ehepaar Bredemann geführt wurde, daher fragte sie auch direkt nach einem von beiden.

Die Frau, »Jenny Rössler« stand auf dem Schildchen, sah auf den Bildschirm vor sich. »Haben Sie einen Termin? Ich kann hier keinen sehen.«

»Nein, nein. Ich bin spontan gekommen. Es geht um Rebecka Lautenschläger.«

»Mein Beileid«, sagte Frau Rössler spontan, wohl in der Annahme, dass Frederike eine Angehörige sei. »Das ist schlimm, was passiert ist. Wir haben es gestern –«

»Danke, aber ich bin eine Freundin von Herrn Lautenschläger, Rebeckas Vater«, unterbrach Frederike sie.

»Richten Sie Herrn Lautenschläger mein Beileid bitte aus. Sind die Blumen angekommen?«

Frederike hörte aus der Stimme eine aufrichtige Anteilnahme heraus. Die junge Frau steckte also hinter den Lilien.

Diese Jenny erklärte Frederike, dass es gerade sehr schlecht sei, weil Frau Bredemann einen Termin habe und danach zu einem wichtigen Pitch wegmüsse. Deshalb sei es heute ungünstig.

Frederike bemerkte eine Bewegung links neben sich und drehte den Kopf. Hinter einer Glastür näherten sich eine Frau und ein Mann. Die Frau drückte die Tür auf, um den Mann vorzulassen.