Tod im Botanischen Garten (eBook) - Dirk Kruse - E-Book

Tod im Botanischen Garten (eBook) E-Book

Dirk Kruse

4,7

Beschreibung

Als Frank Beaufort ein Hilferuf seines alten Doktorvaters erreicht, erklärt er sich bereit, inkognito zu ermitteln. Denn aus der Schatzkammer der Erlanger Universitätsbibliothek verschwinden wertvolle Bücher und Kunstwerke. Doch schon bald stößt der bibliophile Gentleman-Detektiv auf einen Toten. Warum musste der Wissenschaftler sterben? Je tiefer Frank Beaufort und seine Freundin Anne Kamlin in die Mysterien der anatomischen Präparate, exotischen Pflanzen, ausgestopften Gorillas und antiken Statuen vordringen, desto gefährlicher wird es auch für sie selbst. Der Mörder ist zu allem bereit, um sein dunkles Geheimnis zu schützen ...

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Ähnliche


 

 

 

 

 

 

 

Dirk Kruse

 

Tod im Botanischen Garten

 

Frank Beauforts dritter Fall

 

 

Kriminalroman

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage November 2012)

 

© 2012 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Umschlagsgestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung eines Bildes von Maria Sibylla Merian

SLUB S.B.3088 - Pineapple with Surinam insects (Aufn.: SLUB / Dt. Fotothek)

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-234-1

 

Für meine Eltern,

für Nuta und für Heinz

 

Dem, der dieses Buch von seinem Eigentümer stiehlt oder sich ausborgt und nicht wiederbringt: Lass es sich in seiner Hand in eine Schlange verwandeln und ihn zerreißen. Lass ihn von Krämpfen geschüttelt werden und all seine Organe vernichtet sein. Lass ihn in Schmerzen sich krümmen und laut um Erbarmen flehen, und lass seine Qualen nicht versiegen, bis er geständig ist. Lass die Bücherwürmer an seinen Eingeweiden nagen, und wenn er sich zu seiner letzten Strafe auf den Weg macht, lass die Flammen der Hölle ihn auf ewig verzehren.

 

Fluch gegen Buchdiebe aus der Klosterbibliothek von San Pedro in Barcelona

 

 

 

Vielleicht lässt sich das verborgenste Motiv des Sammelnden so umschreiben: Er nimmt den Kampf gegen die Zerstreuung auf. Der große Sammler wird ganz ursprünglich von der Verworrenheit, von der Zerstreuung angerührt, in dem die Dinge sich in der Welt vorfinden.

 

Walter Benjamin

 

1. En garde – Dienstag, 12. Juli

Schweiß rann Frank Beaufort über die Stirn. Er atmete heftig. Sein ganzer Körper fühlte sich unendlich schwer an. Die müden Beine spürte er kaum noch – sie bestanden aus einer Mischung von Blei und Gummi. Unverwandt starrte er den Mann an, der keine drei Meter vor ihm die Waffe gezückt hatte. Jeden Moment musste sein Angriff erfolgen. Die Klinge blitzte auf, als sein Widersacher pfeilschnell auf ihn zupreschte. Mit letzter Kraft wich Beaufort zur Seite aus, sodass die Attacke ins Leere ging. Gleichzeitig stieß er reflexartig den rechten Arm vor und ließ den Angreifer in seinen Degen laufen. Als die Spitze der Klinge dessen Oberkörper berührte, ertönte ein lautes Summen, und die Lampe des Melders leuchtete grün auf. Mit einem Ruck riss sich Beaufort die Maske vom Gesicht, reckte seinen Degen zur Hallendecke und sank vor Erschöpfung auf der Planche in die Knie. Er hatte gesiegt! Das erste Mal hatte er ein Gefecht gegen einen der besten Kämpfer des Vereins gewonnen.

 

*

 

Mit hartem Strahl prasselte das heiße Wasser auf Beauforts nackten Körper. Tat das gut! Er liebte diesen Moment, wenn er, physisch völlig verausgabt, unter der Dusche stand. Wieso hatte er das all die Jahre nicht vermisst, in denen er kaum mehr Sport getrieben hatte? Zum Glück war es Anne gelungen, ihn schließlich doch noch zu einer kleinen Fitnessoffensive zu überreden. Anfangs musste er sich noch dazu zwingen, und es dauerte ein wenig, bis er den richtigen Sport gefunden oder besser gesagt bei seinem alten Verein wiedergefunden hatte. Aber mittlerweile freute er sich richtig auf seine wöchentlichen Trainingseinheiten in Erlangen.

»Gibst du mir was von deinem Shampoo ab, Frank? Meins ist alle.«

Daniel Kempf, ehrenamtlicher Trainer in der Fechtabteilung der Sportgemeinschaft Siemens und ehemaliger Studienkollege von Beaufort, stellte sich unter die Dusche daneben und streckte den Arm aus. Wortlos reichte Beaufort ihm die Flasche, aus der Daniel sich Shampoo in die Handfläche drückte und sie dann mit einem Nicken zurückgab.

»Du hast in der kurzen Zeit ganz schön Fortschritte gemacht, wenn man bedenkt, dass du seit über zehn Jahren keinen Degen mehr in der Hand hattest. Aber ich sage ja immer: Fechten ist wie Radfahren. Wenn man das mal richtig gelernt hat, dann vergisst man es nie mehr.« Daniel shampoonierte sich die Haare.

»Ich bin selbst erstaunt, wie gut es klappt. Meine Paraden beherrsche ich alle noch. Nur die Beinarbeit könnte besser sein. Da hapert’s halt noch mit der Kondition.«

»Fechten ist eben nichts für Couch-Potatoes. Aber auch da hat sich bei dir ja schon ein bisschen was getan in den letzten Monaten. Weißt du noch, wie du in deiner ersten Stunde hier gehechelt hast?« Daniel grinste.

Beaufort erinnerte sich nur ungern daran zurück. Das erste Training im Mai war so anstrengend für ihn gewesen, dass er sich vor Erschöpfung auf der Toilette übergeben hatte. Gefolgt von dem wohl schlimmsten Muskelkater seines Lebens. Ihm hatten Stellen im Körper wehgetan, von denen er noch nicht einmal wusste, dass es dort überhaupt Muskeln gab. Gemessen an diesem Tiefpunkt seiner körperlichen Leistungsfähigkeit war er jetzt geradezu in Topform. Was auch daran lag, dass er in den vergangenen Wochen seine Kalorienzufuhr drastisch eingeschränkt hatte, besonders die durch Alkohol und Schokolade. So war es ihm gelungen, ein paar Wohlstandskilos abzuspecken und sich langsam wieder seinem Normalgewicht anzunähern.

»Aber heute habe ich das erste Mal ein Gefecht gegen Christoph gewonnen!«, sagte Beaufort nicht ohne Stolz. Er drehte das Wasser ab und begann sich mit einem großen Badetuch, in das sein Familienwappen eingestickt war, abzutrocknen. Auch Daniel beendete seine Dusche.

»Das hast du wirklich nicht schlecht gemacht. Deine Defensivtaktik ist einwandfrei. Wenn du den Gegner kommen lässt, hast du bei deiner Körpergröße und deiner Reichweite einen echten Vorteil bei der Riposte. Aber zu einem wirklich guten Fechter fehlt dir noch der richtige Offensivgeist. Nächsten Dienstag üben wir mal gezielt die schnellen Angriffe erster und zweiter Intention.«

»Zweiter Intention?«

»Die mit Finten und Scheinangriffen.«

»Dieser Sport ist aber auch wirklich kompliziert.«

»Wenn Fechten einfach wäre, würde es Fußball heißen.«

»Würdest du diesen Satz auch in der Nordkurve im Frankenstadion wiederholen?«

»Sehe ich aus wie ein Masochist?«

In der Gemeinschaftsumkleide föhnte Beaufort sein Haar trocken und zog sich an. Als er seine Fechtausrüstung in der großen Sporttasche verstaut hatte, fragte ihn Daniel: »Kommst du noch mit auf ein Bier?«

»Warum nicht? Man muss ja auch an seinen Elektrolythaushalt denken. Ein leichtes Hefeweizen kann ich mir schon mal gönnen.«

»Ob du das allerdings bei Professor Harsdörffer bekommen wirst, wage ich zu bezweifeln. Als Vollfranke hält der nichts von halben Bieren. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass er für heute ein Fass Storchenbier bestellt hat. Das wirst du dir doch nicht entgehen lassen.«

»Hält der alte Harsdörffer noch immer seinen Jour fixe ab? Ich habe ihn schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«

»Regelmäßig jeden zweiten Dienstag im Monat, außer es sind gerade Semesterferien. Daran wird sich wohl auch nach seiner Emeritierung nichts ändern, schätze ich. Unser geschätzter Doktorvater hat mich vorhin extra angerufen und mir aufgetragen, dich auf jeden Fall mitzubringen. Er will dich dringend wiedersehen.«

»Ich dachte zwar, wir gehen nur kurz auf ein Bier in die Kneipe, aber wenn Harsdörffer so insistiert, kann ich ja schlecht Nein sagen.« Beaufort zog sein Mobiltelefon aus der Tasche. »Ich geb nur kurz Anne Bescheid. Wir wollten eventuell ins Kino. Aber der Film, den sie sehen will, ist sowieso nicht mein Fall. Irgend so ein Tanzstreifen mit Antonio Banderas.«

Während sie am Pförtner vorbeigingen und auf den Parkplatz vorm Sportzentrum in der Komotauer Straße traten, versuchte Beaufort zweimal, seine Freundin zu erreichen.

»Besetzt«, sagte er, als sie bei Daniels Auto ankamen.

»Dann schick ihr doch schnell eine SMS.«

»Schnell geht das bei mir schon gar nicht. Es macht mich wahnsinnig, dass jede Taste mit mindestens drei Buchstaben belegt ist. In der Zeit, die ich fürs Schreiben einer sogenannten Kurzmitteilung brauche, erledige ich spielend vier Telefonate.«

»Eigentlich wundere ich mich, dass du überhaupt ein Handy besitzt. Mit der modernen Technik hattest du es ja noch nie so. Harsdörffer gibt noch heute gern zum Besten, dass du deine Doktorarbeit auf der mechanischen Schreibmaschine geschrieben hast, während wir anderen alle schon längst mit dem PC gearbeitet haben.« Daniel lachte vergnügt und öffnete die Autotüren per Knopfdruck.

»Erstens war es eine elektrische Schreibmaschine und keine mechanische. Und zweitens warte ich halt lieber ab, bis sich eine neue Technologie auch wirklich durchgesetzt hat, ehe ich sie benutze. Nimmst du mich mit?«

»Hast du noch immer keinen Führerschein gemacht? Du weißt aber schon, dass sich das Auto gegenüber der Pferdekutsche technisch durchgesetzt hat, oder?«

»Du bist ja so was von witzig«, antwortete Beaufort bissig und ließ sich in den Beifahrersitz sinken.

 

*

 

Harsdörffers mehrstöckige Villa am Fuße des Erlanger Burgbergs war ein echtes Jugendstilschmuckstück mit großem Garten und traumhaftem Ausblick. Der Professor, der allein in dem großen Haus wohnte, gehörte einer alteingesessenen Gelehrtenfamilie der Universitätsstadt an. Sein monatlicher Jour fixe war eine Institution in Akademikerkreisen. Der Salon quoll meistens über vor Professoren, Ehemaligen, Doktoranden und Studenten der höheren Semester, die sich an Harsdörffers Gastfreundlichkeit schadlos hielten, und nicht eher gingen, bis das Bierfass geleert war. Jedes Mal wurde eine andere Sorte eines handwerklich gebrauten fränkischen Bieres ausgeschenkt. Wegen des schönen Wetters hatte sich das Geschehen heute Abend ins Freie verlagert. Als Daniel und Frank das Grundstück betraten, hörten sie fröhliches Stimmengewirr von der Terrasse her und stießen durch den Garten zur Festrunde. Dort standen oder saßen an die vierzig Gäste in Grüppchen plaudernd beieinander. Mitten unter ihnen der bestens gelaunte Gastgeber in der Rolle des Impresarios, der von Gruppe zu Gruppe eilte und das Geschehen dirigierte. Als Harsdörffer die Neuankömmlinge bemerkte, spurtete er sofort auf die beiden los und rief mit lauter, theatralischer Stimme: »Mein lieber Beaufort! Ich sollte Sie gehörig ausschelten. Sie haben mir Ihre geschätzte Anwesenheit allzu lange vorenthalten. Umso mehr freue ich mich, dass Sie endlich wieder den Weg in meine bescheidene Hütte gefunden haben. Es ist wenigstens zwei Jahre her, dass ich das Vergnügen Ihrer geistreichen Gesellschaft genießen durfte.« Der kleine Mann mit der barocken Statur schüttelte dem beinahe zwei Köpfe größeren Beaufort herzlich und ausgiebig die Hand. »Sie müssen wissen«, wandte er sich aufgeräumt an die Runde, »dass dieser Mann hier einer meiner begabtesten und scharfsinnigsten Doktoranden war. Zu schade, dass er sich nie für eine Karriere an unserer Alma Mater erwärmen konnte. Er wäre ein hervorragender Hochschullehrer geworden.«

»Ich glaube, da täuschen Sie sich, lieber Professor. Für eine universitäre Laufbahn sind meine Interessen zu vielfältig und mein Ehrgeiz zu gering.«

Harsdörffer lachte laut und glucksend, wobei sein dicker Bauch in der von Hosenträgern gehaltenen hellen Leinenhose in Wallung geriet.

»Die Vielseitigkeit Ihrer Interessen gebe ich Ihnen gern zu. Schon damals konnten Sie sich in der Literaturwissenschaft für alte Handschriften ebenso begeistern wie für moderne Lyrik. Doch in puncto Ehrgeiz muss ich Ihnen widersprechen. Wer macht denn gerade in allen Zeitungen von sich reden, was die Aufklärung kapitaler Verbrechen anbelangt? Nicht jeder kann von sich behaupten, einen veritablen Serienmörder zur Strecke gebracht zu haben. Aber für Mord und Totschlag hegten Sie ja von jeher ein großes Interesse. Schon Ihre Doktorarbeit über den Gentleman-Detektiv in der Kriminalliteratur ist ein Beweis für diese Leidenschaft.«

»Zu viel der Ehre«, wehrte Beaufort ab, »ich habe nur ein paar Nachforschungen angestellt und ein paar richtige Schlüsse daraus gezogen. Und was den Serienkiller anbelangt, war es eher so, dass nicht ich ihn, sondern er mich am Wickel hatte. Ich versichere Ihnen: Das war keine angenehme Erfahrung.«

»Bescheiden wie eh und je.« Harsdörffer klopfte Beaufort munter auf die Schulter, wobei er sich ganz schön strecken musste. »Aber kommen Sie, Sie beide müssen unbedingt das Storchenbier probieren, bevor Sie sich unter die Gäste mischen.«

Der Professor zapfte persönlich je eine Halbe für die Neuankömmlinge. Als er Beaufort den Krug reichte und der sich ein wenig hinabbeugte, um das Bier mit einer angedeuteten Verbeugung in Empfang zu nehmen, flüsterte Harsdörffer ihm ernst zu: »Wenn sich die Reihen hier gelichtet haben, erwarte ich Sie in meiner Bibliothek zu einem Vieraugengespräch. Ich brauche dringend Ihre Hilfe.« Doch schon im nächsten Augenblick wandte er sich fröhlich um und rief einem sauertöpfisch dreinblickenden hageren Mann im grauen Anzug mit Fliege fidel zu: »Treten Sie näher, Professor Gäbelein. Lassen Sie sich diesen köstlichen Trunk nicht entgehen. Ein unfiltriertes helles Landbier. Streng gebraut nach dem Bayerischen Reinheitsgebot. Kaum zu glauben, welch phänomenale Geschmacksnuancen sich erzeugen lassen, wenn man lediglich Hopfen, Malz und Wasser zusammenfügt.«

Beaufort schaute seinem davontänzelnden Doktorvater hinterher. Harsdörffer hatte das Temperament eines Sanguinikers, der seine Feingeistigkeit gern hinter einer lärmenden Fassade versteckte. Doch er kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass ihn ernsthafte Sorgen plagen mussten. Womöglich finanzieller Art? Seitdem Beaufort nach dem plötzlichen Tod seiner Eltern ein Spielwarenimperium geerbt und kurz darauf gewinnbringend verkauft hatte, galt er als einer der reichsten Junggesellen im Land. Vielleicht brauchte Harsdörffer einen Privatkredit? Oder hatte er gesundheitliche Probleme? Seine Gesichtsfarbe war mehr rot als rosig und ließ auf einen zu hohen Blutdruck schließen. Was immer es war, bald würde er schlauer sein. Er prostete Daniel zu, der ihn etwas scheel von der Seite anschaute. Brach da gerade wieder die alte Eifersucht durch? Er und Daniel hatten zur selben Zeit beim Professor ihre Doktorarbeit geschrieben, aber Harsdörffer hatte schon immer ein besonderes Faible für Beaufort gehabt und ihn stets bevorzugt. Während ihm die Dinge, die ihn interessierten, zuzufallen schienen und er mitunter sogar Anfälle von Brillanz zeigte, musste sich Kempf alles hart erarbeiten. Seit Jahren hangelte er sich von Assistentenstelle zu Assistentenstelle, ohne dabei seine Habilitation zu beenden. Wenigstens war Daniel der bessere Fechter.

In den folgenden beiden Stunden führte Beaufort angeregte Gespräche mit einer Professorin für Neurochirurgie, einem koreanischen Austauschstudenten, dem Leiter der Antikensammlung, einem ständig Witze reißenden Theologen und zwei äußerst attraktiven Buchwissenschaftlerinnen. Und weil er sich blendend amüsierte und es ein so wunderschöner lauer Sommerabend war, vergaß er für heute mal die guten Vorsätze und trank noch zwei Halbe von dem süffigen Bier.

 

*

 

Als die meisten Gäste gegangen waren und nur noch ein harter Kern von sechs Leuten eifrig die neuen Reformen des Hochschulpräsidenten diskutierte, trat der Hausherr an Beaufort heran. »Ich denke, wir können uns jetzt in die Bibliothek zurückziehen. Danke, dass Sie so lange ausgehalten haben.«

»Nicht doch. Ich habe mich ausgezeichnet unterhalten. Es war ohne Frage ein schweres Versäumnis von mir, Ihrem legendären Jour fixe so lange ferngeblieben zu sein. Ich verspreche, Ihnen in Zukunft wieder häufiger die Aufwartung zu machen.« Beaufort konnte sich nicht erklären, warum er in Gegenwart des Professors immer dessen geschraubten Jargon annahm.

»Ich baue darauf. Sie sind stets ein gern gesehener Gast in meinem Hause. Das wissen Sie ja.«

Durch eine schwere Eichentür, die Harsdörffer sorgfältig wieder hinter ihnen schloss, betraten sie die Privatbibliothek. Es war eine richtige Gelehrtenstube mit meterhohen Bücherwänden rundum, einem großen Schreibtisch und zwei dunkelgrünen Ledersesseln, in denen sie Platz nahmen. Während der Professor seinem Besucher einen alten französischen Cognac aufnötigte und die beiden Gläser einschenkte, schaute Beaufort sich eifrig um.

»Ihre Bibliothek ist um einiges gewachsen seit meinem letzten Besuch«, stellte er anerkennend fest.

»Ihre doch gewiss auch. Unter all meinen Studenten waren Sie immer der größte Büchernarr. Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie meine Sammlung mittlerweile übertroffen haben.«

»Wie sollte mir das je gelingen?«, entgegnete Beaufort liebenswürdig. Doch war das eine höfliche Heuchelei. Beauforts Bibliothek war mittlerweile nicht nur doppelt so groß, sie beherbergte auch exquisite Schmuckstücke, die hier nicht zu finden waren. Aber er konnte seinem alten Lehrmeister, der ihn in die Kunst der Bibliophilie eingeführt hatte, ja schlecht gestehen, dass er ihn schon längst überflügelt hatte.

»Sie sind ein charmanter Schwindler, Beaufort. Ich bin mir sicher, dass Ihre Bibliothek quantitativ und qualitativ die meine bei Weitem überragt. Schließlich haben Sie nicht nur das Interesse und die Fähigkeiten, sondern auch die nötigen finanziellen Mittel zum Aufbau einer einzigartigen Sammlung.« Er erhob sein Glas. »Auf die Bücher und ihre verständigen Leser.«

Beaufort trank einen Schluck des erlesenen Cognacs, der ihm sanft in der Kehle brannte. Also daher wehte der Wind. Harsdörffer musste wirklich Geldsorgen haben. Warum kam er sonst auf Beauforts Reichtum zu sprechen? Der Erhalt dieses alten Hauses verschlang bestimmt Unsummen. Vielleicht wollte der Professor ihm ja sogar einen Teil seiner Bibliothek zum Kauf anbieten? Das sah doch nach einer vielversprechenden Unterredung aus, fand er.

»Womit wir auch schon beim Thema wären. Ich benötige nämlich Ihre Hilfe in einer äußerst delikaten Bücherangelegenheit, die natürlich unter uns bleiben muss. Kann ich mich auf Ihr Stillschweigen verlassen?«

»Diskretion ist mein zweiter Vorname«, beteuerte Beaufort. Gleich würde er ihm ein Kaufangebot vorlegen, da war er sich sicher. Schon überschlug er den Preis, den er für die Bücher zu zahlen bereit war, die ihn hier am meisten interessierten.

»Wahrscheinlich ahnen Sie es längst: Ich bedarf Ihres kriminalistischen Spürsinns.«

»Ach, wirklich?« Beaufort war konsterniert. Harsdörffers Bücher, die er in seiner Sammelgier schon im Geiste um sich gestapelt hatte, schwebten wieder in ihre Regale zurück.

»Wie Sie ja wissen, leite ich seit Jahren die Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek. Eine echte Schatzkammer voller mittelalterlicher Manuskripte, unersetzlicher Inkunabeln, einmaliger Zeichnungen und wertvoller Grafiken. Da wir die menschlichen Schwächen natürlich kennen und wissen, dass solche Kostbarkeiten unerlaubte Begehrlichkeiten wecken können, haben wir eine Reihe von Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Die Handschriftenabteilung ist bestens geschützt. Aber dennoch ist es einem unbekannten Subjekt gelungen, in das Innerste einzudringen.« Harsdörffer schlug ärgerlich mit der Hand auf die Sessellehne. »Wir werden bestohlen!«

»Wie ist das möglich?« Beaufort wusste noch aus Studienzeiten, dass sich dort jeder Besucher anmelden und regis­trieren musste, mit den für seine Arbeit benötigten Preziosen im Lesesaal quasi eingeschlossen wurde, die ganze Zeit über unter Beobachtung stand und seine Taschen durchsuchen lassen musste, ehe er wieder ging. Es war nahezu aussichtslos, auch nur das kleinste Blättchen hinausschmuggeln zu wollen.

»Wenn wir das bloß wüssten! Wir haben plötzlich unerklärliche Lücken im Bestand und keine Ahnung, wie die Bücher hinausgelangt sind.«

»In der Kriminalliteratur nennt man das Locked-Room-Mystery, das Geheimnis des verschlossenen Raumes«, dozierte Beaufort. »Wenn man genauer nachforscht, war der Raum, in dem ein Mord geschah oder aus dem, wie in diesem Fall, etwas entwendet wurde, meist so geschlossen dann doch nicht. Was sagt denn die Polizei dazu?«

»Die haben wir noch nicht informiert. Es wäre hochpeinlich für die Universitätsbibliothek, wenn dieser Vorfall an die Öffentlichkeit dringen würde«, antwortete Harsdörffer erregt. »Wir haben uns erst vor ein paar Wochen zum Gespött gemacht, als eines unserer Magazine bei einem Wolkenbruch voll Wasser lief und Tausende Bücher beschädigt wurden. Wenn die neue Leiterin der UB, Hildegard Krüger-Fernandez, die Bücher nicht sofort hätte einfrieren lassen, wären sie unweigerlich verloren gewesen. Trotzdem haben wir natürlich eine beschämende Rüge vom Kultusministerium kassiert.«

Beaufort erinnerte sich, darüber sogar einen Bericht in der Tagesschau gesehen zu haben. Die tiefgefrorenen Bücher wurden nach und nach zu einem Kaffeeröster nach Bremen geschickt, wo sie von Mitarbeitern nach Feierabend gefriergetrocknet wurden. Danach erst konnten sie restauriert werden. Bestimmt eine kostenintensive Rettungsaktion.

»Das glaube ich auch, dass es dem Ansehen der Universität empfindlich schadet, wenn das bekannt wird«, bestätigte Beaufort. Aber mehr noch würde wohl die Reputation Harsdörffers leiden, fügte er im Stillen hinzu. Sein einstiger Mentor war wirklich in einer unangenehmen Lage.

»Ich wusste, dass Sie unser Problem verstehen würden.« Der Professor wirkte erleichtert.

»Was wollen Sie also in der Sache unternehmen, wenn Sie die Polizei nicht einschalten können?«

»Was für eine Frage? Ich baue darauf, dass Sie uns helfen, den Dieb zu fassen und die gestohlenen Bücher wiederzubeschaffen! Mit Hildegard habe ich schon alles besprochen. Sie kennen sich in der Materie bestens aus, verfügen über kriminalistischen Sachverstand und sind darüber hinaus taktvoll und verschwiegen.«

Beaufort hätte sich gut noch weitere Komplimente anhören können, doch in diesem Moment polterten die verbliebenen Gäste ins Zimmer, allen voran der sichtlich angeheiterte Professor Gäbelein mit losgebundener Fliege und offenem Hemdkragen. »Hier stecken Sie also! Wir haben Sie schon überall gesucht.« Und ehe Harsdörffer sich’s versah, machte sich die Gruppe lärmend über seine Cognacvorräte her.

»Wenn ich auf Sie zählen kann, kommen Sie morgen in mein Büro«, raunte sein Doktorvater ihm leise in dem Tumult zu. »Dann weihe ich Sie in die Details ein.«

Beaufort machte eine höfliche Verbeugung. »Selbstverständlich können Sie mit mir rechnen. Ich werde da sein.«

 

*

 

»Warum melden Sie sich bei mir? Sie haben sich seit zwanzig Jahren nicht mehr gerührt.«

»Was glauben Sie denn? Weil wir einen guten Grund haben natürlich.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass es Sie überhaupt noch gibt.«

»Uns wird es immer geben.«

»Was wollen Sie von mir?«

»Jemand war im Archiv. Und er wollte Ihre Akte.«

»Das ist nicht möglich!«

»Das haben wir auch geglaubt, doch es ist Fakt.«

»Oh, mein Gott! Hat er sie bekommen?«

»Leider ja.«

»Wann war das?«

»Gestern.«

»Sie müssen dringend etwas unternehmen.«

»Nein, SIE müssen etwas unternehmen. Ende.«

2. Allez – Mittwoch, 13. Juli

Der Morgenhimmel über der Nürnberger Altstadt leuchtete im schönsten Azurblau. Nicht ein Wölkchen beeinträchtigte den satten monochromen Farbeindruck. Beaufort riss die Küchenfenster seiner Penthauswohnung auf und ließ die sommerliche Luft hinein. Für halb neun in der Früh war es schon richtig warm. Copacabana-Feeling in Franken. Er legte Coleman Hawkins’ Desafinado-Album auf, drehte die Lautstärke hoch und hatte gleich noch bessere Laune. Wenn Hawkins sein Tenorsaxofon zärtlich singen ließ und wie nebenbei Jazz-Sambas und Bossa novas spielte, spürte Beaufort die erträgliche Leichtigkeit des Seins. Er tänzelte im Samba-Rhythmus durch die Küche, presste Orangen aus, kochte Kaffee, schäumte Milch auf, portionierte ein kleines Stückchen Butter in ein silbernes Schälchen, legte zwei dünne Knäckebrote in den Korb, dekorierte eine Scheibe Serranoschinken und einige Cornichons auf einen Teller, wählte aus seinem reichhaltigen Angebot an Frühstückskonfitüren ein Glas Marillenmarmelade aus und wollte sich gerade auf den Weg ins Erdgeschoss zum Briefkasten machen, als es an der Wohnungstür läutete. Im Spion erblickte er das resolute Gesicht seiner Haushälterin und öffnete ihr mit großer Geste.

»Guten Morgen, Frau Seidl, nur immer herein in die gute Stube. Was führt Sie so früh schon zu mir?«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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