Tod im Hexenweiher - Stephanie Werner - E-Book

Tod im Hexenweiher E-Book

Stephanie Werner

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Beschreibung

Im Hexenweiher unterhalb von Nümbrecht wird die Leiche eines jungen Mannes gefunden, an Händen und Füßen gefesselt. Seine ehemaligen Schulkameraden sind alarmiert: Hat der Mord etwas mit dem Verschwinden ihrer Freundin Miriam vor zehn Jahren nach einer Maifeier an eben diesem Weiher zu tun? Schon bald wird klar, dass die ein dunkles Geheimnis hütenden Schulfreunde von der Vergangenheit eingeholt werden ...

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Seitenzahl: 174

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Stephanie Werner

Jahrgang 1973, tätig im Bereich Finanzbuchhaltung. Schreibt Kurzkrimis, Reiseberichte, heitere Kurzgeschichten.

Bücher:

„Zerbrochenes Eis“, „Eiskalte Seele“ und „Boot 4“ (Kriminalromane)

„Gletscher, Eis und wilde Tiere“ (Reiseerzählungen)

„Frohe Weihnachten“ und „Frohe Weihnachten 2“ (Weihnachtsgeschichten)

Beiträge in Anthologien

Dieses Buch ist ein fiktives Werk. Auch wenn der Roman weitgehend an real existierenden Orten spielt, sind Handlung und handelnde Personen frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Epilog

Kapitel 1

An einem sonnigen Maitag schlendert Hannah durch einen Nümbrechter Supermarkt, um einige Kleinigkeiten für das bevorstehende Wochenende einzukaufen. Sie legt ein Glas Himbeermarmelade in ihren Korb und geht weiter zum Regal mit den Nudeln. Dort betrachtet sie die verschiedenen Sorten und entscheidet sich schließlich für Spaghetti. Dann reiht sie sich in der Warteschlange an der Kasse ein. Als sie endlich ihre Einkäufe auf das Band legen kann, wirft sie einen Blick zurück und lässt erschrocken die Marmelade zu Boden fallen. Mit lautem Klirren zerbricht das Glas auf den schwarzweiß gemusterten Fliesen. Die rote Masse spritzt auf ihre Hosenbeine und die blauen Sportschuhe.

Wie gelähmt bleibt sie stehen und starrt die Person am Ende der Warteschlange an. Hannah ringt nach Luft. Das kann nicht sein! Das ist unmöglich! Sie schüttelt energisch den Kopf. Doch die Person hält Hannahs Blick stand. Sie lächelt nicht, ihr Gesichtsausdruck zeigt keinerlei Gefühlsregung. Und dennoch strahlt sie Kälte und Feindseligkeit aus.

Mit zitternden Händen fährt sich Hannah durch ihre langen, blonden Haare. Ein eiskalter Schauer läuft ihr den Rücken hinunter. Sie spürt, dass diese Begegnung Unglück über sie und ihre Freunde bringen wird.

„Einen Augenblick bitte, ich hole ein Kehrblech“, sagt die freundliche Kassiererin.

Hannah zuckt zusammen. Erst jetzt blickt sie zu Boden und sieht die Spuren ihres Missgeschicks. Die Himbeermarmelade hat eine große Lache gebildet, ihre weiße Hose zieren rote Kleckse. Die Scherben verteilen sich im gesamten Kassenbereich. Glücklicherweise hatte die hinter ihr wartende ältere Frau genügend Abstand gehalten, so dass sie nichts von der Marmelade abbekommen hat.

Als Hannah wieder aufschaut, ist die Person verschwunden. Hektisch blickt sie in die Gänge zwischen den Regalen, zu den anderen Kassen, hinüber zum Ausgang. Nirgends eine Spur von ihr. Wohin ist sie so schnell verschwunden? Oder hat sich Hannah deren Anwesenheit nur eingebildet?

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Möchten Sie sich einen Augenblick setzen? Sie sind ganz blass um die Nase“, fragt die ältere Frau besorgt, die geduldig – wie alle anderen Kunden auch – in der Schlange hinter ihr wartet.

Hannah erschrickt. Sie hat die Wartenden hinter sich völlig ignoriert und bemerkt erst jetzt deren neugierige Blicke. „Es ist alles in Ordnung, danke“, entgegnet sie mit hochrotem Kopf und ringt sich ein Lächeln ab. „Entschuldigen Sie bitte die Verzögerung. Das war sehr ungeschickt von mir.“

Hannah tritt von einem Fuß auf den anderen, schaut sich immer wieder um. Doch die Person scheint tatsächlich unbemerkt das Geschäft verlassen zu haben.

„Es tut mir sehr leid“, stammelt Hannah, als die Kassiererin mit Besen, Kehrblech und Putzeimer aus einem Nebenraum zurückkehrt und Scherben und Marmeladenreste beseitigt. „Ich bezahle das Glas selbstverständlich.“

„Das brauchen Sie nicht. Sowas kann jedem passieren. Ich hoffe, Sie haben sich Ihre Hose nicht ruiniert. Das sind ganz hartnäckige Flecken.“

Hannah hat es plötzlich eilig. „Die bekomme ich mit einem guten Fleckenspray bestimmt wieder raus. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“ Mit zitternden Händen sucht sie im Portmonee nach einem Fünf-Euro-Schein, zieht dabei direkt mehrere hinaus und schiebt die nicht benötigten wieder ins Geldfach zurück. „Ich lege Ihnen fünf Euro für die Nudeln hierhin. Der Rest ist für die Kaffeekasse.“

Und schon ist sie aus dem Geschäft. Im Laufschritt überquert sie den Parkplatz, schaut dabei immer wieder nach rechts und links. Doch die Person bleibt verschwunden.

„Guten Morgen Hannah. Wie geht es dir?“

Hannah verdreht die Augen, als sie die Stimme einer Nachbarin hinter sich vernimmt. Im Augenblick könnte sie es nicht ertragen, einen minutenlangen Redeschwall über sich ergehen zu lassen. Deshalb geht sie weiter, als hätte sie Frau Fuchs nicht gehört.

Auf dem Weg von der Ortsmitte zu ihrer Wohnung im oberen Teil des Lindchenwegs blickt sie sich weiterhin nach allen Seiten um. Sie schaut in die Gärten der Häuser, lässt ihren Blick über die große Parkfläche gleiten. Obwohl ihr nichts Verdächtiges auffällt, fühlt sie sich verfolgt. Sie ist sicher, dass sie sich die Begegnung im Supermarkt nicht eingebildet hat. Ihre Krankheit ist eine Sache, aber halluziniert und Personen gesehen, die nicht da waren, hat sie bisher noch nicht. Sie muss so schnell wie möglich ihre Wohnung erreichen, dort fühlt sie sich sicher. Und sie muss sofort Kontakt zu ihren früheren Schulfreunden aufnehmen, muss sie warnen, denn sie alle sind in Gefahr. Unwillkürlich geht Hannah schneller und schneller. Sie keucht, schnappt nach Luft. Ihre Beine schmerzen und sind schwer wie Blei, denn sie konnte in den letzten Jahren keinen Sport machen. Ihr Gemütszustand und ihre körperliche Verfassung ließen das nicht zu.

Endlich sieht sie ihr Haus. „Gott sei Dank“, bringt sie atemlos hervor. Das Adrenalin in ihrem Körper gibt ihr die Kraft noch einmal zu beschleunigen.

Plötzlich schießt ihr ein anderer Gedanke durch den Kopf. Abrupt bleibt sie stehen. Wartet die Person vielleicht vor dem Haus, oder, schlimmer noch, in der Wohnung auf sie? Nach kurzem Innehalten geht Hannah langsam, Schritt für Schritt weiter, sucht mit weit aufgerissenen Augen die Umgebung ab. Als sie schließlich den Eingang ihrer kleinen Parterrewohnung erreicht, wirft sie zuerst einen Blick in den Garten, dann noch einmal zurück auf den Gehsteig. Niemand ist zu sehen. Nur Frau Maier sitzt wie immer hinter ihrem Wohnzimmerfenster in der dritten Etage und schaut hinaus.

Hannah öffnet die Haustür, huscht durch den Flur und steckt mit zitternden Händen den Schlüssel ins Schloss ihrer Wohnungstür im Erdgeschoss. Vorsichtig schiebt sie diese ein Stück auf, zwängt sich durch den schmalen Spalt hindurch und schließt die Tür sofort wieder ab. Zusätzlich sichert sie sie mit einer Kette. Dann lehnt sich Hannah mit dem Rücken gegen die Wand und atmet tief durch. Ihr Puls rast, ihr Brustkorb hebt sich heftig auf und ab. Endlich in Sicherheit! Ihr ganzer Körper bebt. Vor ihrem geistigen Auge spielt sich immer wieder die Szene im Supermarkt ab. Der eiskalte Blick der Person hat sich in ihr Gedächtnis eingebrannt und lässt sie nicht mehr los. Sie weiß, dass diese Person Rache nehmen will.

Mehrere Minuten verharrt Hannah in dieser Position, bis sie sich etwas beruhigt hat. Dann schaut sie in den Spiegel im Flur: Sie sieht blass aus. Sie wendet sich ab und geht in die winzige Küche, die nur aus einer kleinen Küchenzeile, einem Tisch und drei Stühlen besteht. Sie wirft vom Fenster aus noch einmal einen prüfenden Blick auf die Straße. Niemand zu sehen. Zu ihrer Beruhigung schaut sie auf die Terrasse, in Wohn- und Schlafzimmer und das Bad. Der letzte Raum der Wohnung ist das Gästezimmer, in das sie nur zum Putzen geht. Sie zögert. Schweiß tritt auf ihre Stirn, die Handflächen sind feucht. Ein beklemmendes Gefühl überfällt sie. In diesem Zimmer befinden sich Unterlagen aus ihrer Vergangenheit. Unterlagen, die sie nie wieder ansehen wollte. Dennoch öffnet sie die Tür des kleinen Raumes, in dem sich nur ein Bett, drei Regale und ein Schrank befinden. Aber auch hier ist alles in Ordnung. Beim Hinausgehen fällt ihr Blick auf eine schwarze Kladde in einem der Regale. Hannah nimmt sie aus dem Fach heraus und geht zurück in das durch bodentiefe Fenster lichtdurchflutete Wohnzimmer. Dort setzt sie sich an den Esstisch und legt mit zitternden Händen die Mappe vor sich hin. Minutenlang starrt sie wie hypnotisiert auf den edlen Ledereinband. Eine dicke Staubschicht hat sich auf ihm gebildet. Kein Wunder, denn die Kladde lag mehrere Jahre unberührt an ihrem Platz. Wenn sie den Raum geputzt hat, hat sie dieses Regalfach immer ausgelassen. Hannah rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. Ihr Brustkorb zieht sich krampfartig zusammen, als würde er von einer Eisenkralle umschlungen, die sich immer weiter schließt.

Soll sie die Mappe wieder zurück an ihren Platz legen? Oder soll sie sie öffnen, die Dämonen der Vergangenheit loslassen und riskieren, dass sie erneut Besitz von ihr ergreifen?

Kapitel 2

Eine großgewachsene Gestalt tritt hinter dichten Sträuchern auf der gegenüberliegenden Straßenseite von Hannahs Haus hervor. Von dort aus hat sie diese durch die Terrassentür seit dem Eintreffen in ihrer Wohnung beobachtet.

Sie lächelt, denn sie ist zufrieden mit dem, was sie gerade gesehen hat. Die Inszenierung im Supermarkt zeigt Wirkung. Das blanke Entsetzen in Hannahs Augen, ihre daraus resultierende Bewegungsunfähigkeit und die anschließende Aufgeregtheit sind eine Genugtuung für sie.

Die Person spürt Hannahs Unsicherheit, ihre Angst. Als sie vom Geschäft nach Hause ging, brachte sie diese mit jeder Faser ihres Körpers zum Ausdruck. Welch eine Genugtuung! So hat sie es sich erhofft. Sie will Hannah leiden sehen. Genauso wie sie selbst seit vielen Jahren leidet. Und daran trägt Hannah eine Mitschuld.

Die Gestalt verlässt ihren Platz und lächelt vor sich hin, als sie den Lindchenweg langsam entlang der Ein- und Mehrfamilienhäuser mit den blühenden Vorgärten Richtung Reha-Klinik hinauf geht. Es ist das erste Mal seit vielen Jahren, dass sie lächelt und sich über etwas freut. Sie kennt Hannah seit langem und weiß, wie labil diese ist. Und sie stellt sich vor, welche Folgereaktionen die Situation im Supermarkt auslösen wird.

Es wird nicht lange dauern, dann kontaktiert Hannah ihre früheren Schulfreunde und informiert sie über die Begegnung.

Alle werden versuchen ihr klar zu machen, dass sie sich das nur eingebildet hat. Niemand wird ihr glauben. Hannah jedoch lässt nicht locker und bringt die Freunde zur Verzweiflung. Das Ganze endet in einem Streit zwischen den Mitgliedern der ehemaligen Clique. Genau das ist der Plan.

Kapitel 3

Einen Tag zuvor

Bei Einbruch der Dämmerung fährt Andreas die Schloßstraße von Nümbrecht Richtung Bierenbachtal hinunter. Er fährt schnell, viel zu schnell. In der Rechtskurve auf Höhe Schloss Homburg schießt der Wagen auf die Gegenfahrbahn. Hektisch reißt er das Steuer nach rechts, sein schwerer Geländewagen stellt sich quer. Nur mit Mühe gelingt es ihm, das Auto wieder unter Kontrolle und zurück auf die richtige Fahrspur zu bringen. Ausgangs der Kurve tritt er das Gaspedal erneut durch. Am Ende der Geraden steigt er heftig auf die Bremse. Die Reifen blockieren und quietschen. Rauch steigt an beiden Seiten des Autos auf. Dann biegt er nach rechts in den Weg nach Spreitgen ein und gibt wieder Gas.

Die Strecke führt zunächst durch ein Waldstück. Niemand begegnet ihm um diese Uhrzeit. Als die schmale Straße am Ende des Wäldchens eine Biegung nach rechts macht, stoppt er den Wagen und stellt ihn am linken Fahrbahnrand ab. Von hier aus führt ein Schotterweg zu den beiden nebeneinander liegenden Hexenweihern. Dort sollen früher sogenannte „Hexenproben“ stattgefunden haben. Diese führte man durch, wenn eine Frau der Hexerei bezichtigt wurde. Das konnte aus banalen Gründen geschehen, zum Beispiel wenn eine Kuh in der Nachbarschaft keine Milch mehr gab. Die Angeklagte wurde an Händen und Füßen gefesselt und ins Wasser geworfen. Ertrank sie, war dies der Beweis für ihre Unschuld. Schwamm sie, galt sie als Hexe überführt und endete auf dem Scheiterhaufen.

Andreas steigt aus und schaut sich um. Er sieht weder Spaziergänger, noch Radfahrer oder Autos. Das ist gut. Dann holt er einen zerknitterten Zettel aus seiner Jackentasche hervor und faltet ihn auseinander.

<Ich weiß, was ihr damals getan habt. Komm bei Einbruch der Dämmerung zum Hexenweiher, sonst werde ich der Polizei einen Hinweis geben. Zu niemandem ein Wort, oder deine Freundin wird dafür büßen.>

Die mit krakeliger Handschrift verfasste Nachricht lag am Morgen im Flur hinter der Wohnungstür. Irgendwann in der Nacht musste sie jemand unter der Tür hindurch geschoben haben. Den ganzen Tag über konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Das ging sogar so weit, dass er sich auf der Arbeit mehrmals dabei ertappte, Fehler gemacht zu haben.

Wer ist die Person, die angeblich über die Nacht zum 1. Mai 2009 Bescheid weiß? Was will sie von ihm? Warum war sie nicht direkt zur Polizei gegangen?

Ein Fahrzeug nähert sich aus Richtung Spreitgen. Er hält die Luft an. Hoffentlich ist es kein Spaziergänger, der auch hier parken und zu den Hexenweihern gehen will. Oder ist es der Verfasser der Nachricht? Kurz darauf taucht ein roter Sportwagen unterhalb von Spreitgen auf.

„Verdammt“, schimpft Andreas. Er kennt das Auto.

Der Fahrer verringert die Geschwindigkeit und hält neben Andreas an. Dann lässt er das Fenster auf der Beifahrerseite herunter.

„Hallo Andreas. Was machst du denn um diese Uhrzeit hier?“, fragt sein Arbeitskollege Anton.

„Ich will eine Runde spazieren gehen. Ich brauche noch etwas frische Luft.“ Als er diese Worte ausgesprochen hat, würde er sich am liebsten ohrfeigen. Was ist, wenn Anton ihn begleiten will? Fahr weiter! Bitte fahr weiter!

„Na dann wünsche ich dir viel Spaß. Ich muss meine Frau in Ründeroth vom Bahnhof abholen. Die war heute in Köln einkaufen!“

„Wir sehen uns morgen.“ Andreas atmet auf und schaut dem sich entfernenden Sportwagen hinterher.

Er legt den Zettel ins Handschuhfach, nimmt sein Taschenmesser heraus und steckt es in die Jackentasche. Für alle Fälle. Mit schnellen Schritten geht er in Richtung der beiden Weiher. Seit fast zehn Jahren ist er diesen Weg nicht mehr gegangen. Dabei hat er sich als Jugendlicher oft mit seinen Schulfreunden hier getroffen. Sie haben gefeiert, das ein oder andere Bier getrunken, Musik gehört und gegrillt. Es war eine tolle, unbeschwerte Zeit. Sie wurden langsam erwachsen, planten ihre Zukunft und hatten Träume. Es schien keine Grenzen für sie zu geben, die Welt stand ihnen offen. Aber dann kam der 1. Mai 2009 und mit ihm das Ende der Freundschaften.

Wie oft hat er sich gewünscht, die Zeit zurückdrehen zu können und alles ungeschehen zu machen. Er hätte sich nach dem Vorfall anders verhalten müssen. Auf Ben zu hören und zu tun, was der von ihnen verlangte, war der größte Fehler seines Lebens. Er hätte sich mehr gegen dieses aufgeblasene Arschloch auflehnen sollen. Dann hätten sie alle nicht die ganzen Jahre mit einer unfassbaren Lüge gelebt. Doch damals konnten sie sich gegen das Alpha-Tier Ben nicht durchsetzen. Sie standen unter Schock. Ben hingegen fasste als erster einen klaren Gedanken und schmiedete den teuflischen Plan. Trotzdem hat Andreas seinen Wunsch Lehrer zu werden verwirklicht und den Vorfall erfolgreich verdrängt. Und jetzt holt sie die alte Geschichte ein. Sollte er die anderen verständigen? Sie warnen? Nach kurzer Überlegung entscheidet er, sie nicht zu beunruhigen. Er will erst einmal abwarten und herausfinden, was die Person tatsächlich von ihm will.

Nach ein paar Minuten Fußmarsch erreicht Andreas den größeren der beiden Hexenweiher. Er liegt friedlich in der Abenddämmerung eingerahmt von einzelnen Bäumen an der einen und dichtem Wald an den anderen Seiten. Die Oberfläche ist spiegelglatt, am Ufer dösen zwei Enten im Gras. In den Bäumen zwitschern Vögel und fliegen emsig hin und her. Eigentlich ein idyllischer Ort, an dem man Ruhe und Entspannung findet. Trotzdem läuft ihm bei diesem Anblick ein eiskalter Schauer über den Rücken. Wenn seine Freundin sonntags einen Spaziergang unternehmen wollte, hat er stets nach einer Ausrede gesucht, um nicht hier entlang gehen zu müssen. Einmal war sie deswegen ziemlich sauer gewesen und warf ihm vor, immer seinen Kopf durchsetzen zu wollen.

Andreas schaut sich um. Wo wird die Person auf ihn warten? Vermutlich nicht auf dem Abschnitt, wo jederzeit Spaziergänger vorbeikommen könnten. Deshalb geht er ein Stück weiter und biegt nach links in den schmalen Pfad ein, der zwischen den beiden Weihern hindurch in den Wald führt. Weder der große, noch der kleine Teich ist von der Straße nach Spreitgen und dem Ort selber einsehbar. Lediglich von den Wanderwegen in der Umgebung. Doch auf diesen ist weit und breit kein Mensch zu sehen.

Neben dem Vogelgezwitscher ist nur das Rauschen des Windes in den Baumkronen zu hören. Andreas Herz schlägt schneller, sein Mund ist trocken. Er blickt auf seine Armbanduhr. Dabei war keine Uhrzeit vereinbart. Nervös schaut er nach rechts und links. Er fühlt sich beobachtet, spürt Blicke auf sich gerichtet. Er kann es nicht ertragen, dass er nicht weiß, wer die Person ist und wo sie sich versteckt. Seine schweißnassen Hände wischt er an der Jeans ab, dann fährt er sich mit dem Unterarm über die Stirn.

Plötzlich ein Rascheln. Dicht hinter ihm. Reflexartig dreht er sich um, sucht mit zusammengekniffenen Augen die Umgebung ab. Nichts. Vielleicht ist ein Vogel aufgeflogen oder eine Maus durch das Unterholz gelaufen. Andreas tritt von einem Fuß auf den anderen, denkt unwillkürlich an seine Freundin Katrin. In all den Jahren des Zusammenlebens hat er ihr nie von damals erzählt. Er darf sie keinesfalls in Gefahr bringen. Deswegen ist er hier. Aufmerksam behält er die Ufer der beiden Weiher im Auge, registriert jede Bewegung der Zweige, jeden Vogel in den Bäumen.

Dann das Knacken eines Astes, der unter Druck zerbricht. Laut und sehr nah. Ruckartig schnellt sein Kopf herum. Ihm stockt der Atem, als er die großgewachsene, schlanke Gestalt ungefähr zehn Meter entfernt erblickt. Wo war sie so plötzlich hergekommen? Sie ist dunkel gekleidet und trägt eine schwarze Sturmhaube. Andreas hat keine Vermutung, um wen es sich handeln könnte.

Sie nähert sich bis auf zwei Meter. Dann bleibt sie stehen, die rechte Hand hinter dem Rücken verborgen. Sie schaut ihm in die Augen, zeigt ansonsten keinerlei Reaktion. Andreas hört seinen Puls schlagen. Wieder und wieder wischt er seine Handflächen an der Hose ab. Was nun? Soll er weglaufen? Sie ansprechen oder abwarten, was passiert?

„Wer bist du? Was willst du von mir?“, fragt er, nachdem sich sein Gegenüber nicht rührt.

Doch die Person reagiert nicht, starrt ihn mit ihren eiskalten blauen Augen nach wie vor an.

Andreas’ Brustkorb zieht sich zusammen. Sein Oberkörper verkrampft sich. Der Abendwind weht durch sein verschwitztes T-Shirt. Er fröstelt, steckt die Hände in die Jackentaschen und umklammert mit der Rechten das Messer. Was weiß sie? Was hat sie vor? Ihr Schweigen ist schlimmer als jede Drohung.

„Warum hast du mich herbestellt?“ Andreas versucht sein Gegenüber zum Reden zu bringen.

Sie sagt immer noch nichts, doch ihr Blick durchbohrt ihn wie ein Dolch. Das Schweigen wird unerträglich. Seine Knie zittern.

„Wenn du nichts sagst, kann ich ja wieder gehen“, provoziert er, um sie aus der Reserve zu locken.

Jetzt reagiert die Gestalt zum ersten Mal. Langsam hebt sie den linken Arm, zieht die Sturmhaube vom Kopf und blickt ihm weiterhin in die Augen. Dabei verzieht sie keine Miene, ihre Lider scheinen nicht einmal zu zucken.

Unwillkürlich tritt Andreas einen Schritt zurück. Obwohl er seine Lippen zu Worten formt und etwas sagen will, bringt er keinen Ton hervor. Er starrt die Person mit wirrem Blick an und schüttelt ungläubig den Kopf. Sekundenlang.

„Du?“, stammelt er fassungslos. „Du bist das?“ Sein Herz klopft, als würde es zerspringen. „Was willst du von mir?“

„Es ist lange her, aber ich habe nicht vergessen, was ihr getan habt“, sagt sie.

„Woher weißt du das?“ Andreas weicht die Farbe aus dem Gesicht.

„Das ist egal“, entgegnet sie bitter.

Andreas schluckt. Ihm wird abwechselnd heiß und kalt. Sein T-Shirt ist mittlerweile komplett durchnässt. „Warum hast du nicht schon früher etwas gesagt?“

„Ich sinne seit langem auf Rache. Aber jetzt ist erst der richtige Zeitpunkt dafür gekommen.“

„Lass uns reden …“

„Ich will nicht reden. Reden hättest du vor vielen Jahren müssen. Du Feigling.“ Mit verbitterter Miene tritt sie noch näher an ihn heran.

„Ich konnte nicht anders.“

„Du hättest die Chance gehabt.“

„Wie kommst du überhaupt hierher? Ich denke du bist …?“

„Lenk nicht ab. Du hättest die Wahrheit ans Licht bringen können.“

„Irgendwann gab es kein Zurück mehr.“

„Das ist nicht wahr. Das ist eine verdammte Ausrede! Aber jetzt, jetzt ist es zu spät. Du hast mein Leben zerstört und dafür wirst du sterben!“ Ihre Augen funkeln hasserfüllt.

Blitzschnell macht sein Gegenüber einen Schritt auf ihn zu, holt die rechte Hand hinter dem Rücken hervor und schlägt mit einem dicken Stein zu.

Mit einer blutenden Wunde am Kopf sackt Andreas zu Boden und bleibt regungslos liegen.

Kapitel 4

Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend bringt Hannah die schwarze Mappe zurück ins Gästezimmer. Die junge Frau hat es nicht geschafft, diese zu öffnen. Hannah legt sie in den Schrank, weil sie sich mit der Vergangenheit nicht beschäftigen kann. Aber die Begegnung am Morgen war real, die war Gegenwart. Darüber muss sie reden. Aber mit wem? Mit ihrer Familie geht das nicht, mit denjenigen, die ihre Vergangenheit teilen auch nicht. Bis auf eine, denn zu einer hat Hannah den Kontakt gehalten.