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Lockdown Frühjahr 2020: Eine Amtsärztin findet bei der Kontrolle eines luxuriösen Altenheims 7 Tote. Der Gerichtsmediziner kann bei einigen einen unnatürlichen Tod nicht ausschließen. Das Pflegepersonal und ein achter Bewohner sind unauffindbar. Ein Angehöriger äußert einen Mordverdacht. Die Berliner Mordkommission steht vor einer schwierigen Aufgabe: Fünf fragliche Morde, zwei natürliche Todesfälle und ein Flüchtiger. Sie versucht in mühsamer Kleinarbeit ein Motiv und einen Mörder zu finden. Dabei wird sie immer wieder durch Lockdown-Beschränkungen behindert.
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Seitenzahl: 329
Veröffentlichungsjahr: 2021
Li Wenliang posthum gewidmet
Die Handlung und die handelnden Personen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten sind rein zufällig.
20.2.2020
Sa 22.2.2020
Mi 1.4.2020
Di 7.4.2020
Mi 8.4.2020
9.4.2020 (Gründonnerstag)
10.4.2020 (Karfreitag)
12.4.2020 (Ostern)
Di 14.4.2020
Mi 15.4.2020
Do 16.4.2020
Fr 17.4.2020
Sa 18.4.2020
So 19.4.20
Mo 20.4.2020
Di 21.4.20
Mi 22.4.20
23.4.20
Fr 24.4.20
Sa 25.4.20
So 26.4.20
27.4.20
Di 28.4.20
Mi 29.4.20
Do 30.4.20
Fr 1.5.20
Sa 2.5.20
So 3.5.20
Mo 4.5.20
5.5.20
Mi 6.5.20
Do 7.5.20
Fr 8.5.20
Sa 9.5.20
So 10.5.20
Mo.11.5.20
Di 12.5.20
Mi 13.5.20
Do 14.5.20
Fr 15.5.20
Anhang
Im Briefkasten lagen zwei Briefe, darunter auch das lang erwartete Schreiben von der Berliner Senatsgesundheitsverwaltung in einem schlichten Umschlag aus grauem Recyclingpapier. Dilara Fatimi öffnete ihn sofort. Sie hoffte darin die angekündigte Stellenzusage zu finden. Sie las das Schreiben zweimal. Sie konnte nicht glauben, was dort stand. Zunächst dachte sie an einen verfrühten Aprilscherz. Am 1. April, so zumindest hatte sie es mit der Personalsachbearbeiterin telefonisch vereinbart, sollte und wollte sie anfangen, als Ärztin im Gesundheitsamt Steglitz-Zehlendorf zu arbeiten. Hier stand zwar als Einstellungsdatum der 1. April, aber im Gesundheitsamt Marzahn-Hellersdorf. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Nach einer Weile, die sie ratlos vor den Briefkästen gestanden hatte, ging sie langsam die Treppe hoch.
In ihrer winzigen Wohnung setzte sie sich erst einmal. Dann wählte die Nummer der Sachbearbeiterin, die sie in ihrem Smartphone gespeichert hatte. Das musste umgehend geklärt werden. Besetzt-Zeichen! Sie atmete tief durch und ging ins Bad. Lang und nachdenklich betrachtete sie ihr Gesicht im Spiegel. Fahl! Abgespannt! Die Augen und Wangen etwas eingefallen. Fast wie vor ihrer Flucht aus Aleppo in Syrien. Das war aber schon über vier Jahre her. Danach hatte sie in Deutschland langsam wieder etwas an Gewicht zugenommen. Sie hatte in den letzten Monaten hart für die bevorstehende Abschlussprüfung in dem theoretischen Weiterbildungskurs zur Fachärztin für Öffentliches Gesundheitswesen gelernt. Und zu wenig geschlafen, wie sie sich selbstkritisch eingestand.
Nach der dramatischen Flucht aus Syrien wollte sie unbedingt in Deutschland bleiben. Hier fühlte sie sich sicherer als in ihrem vom Bürgerkrieg zerstörten Heimatland. Aber nachfragen durfte sie trotzdem mal. Schließlich hatte sie mündlich mit der Personalsachbearbeiterin etwas Anderes verabredet. Sie wählte wieder deren Nummer. Wieder besetzt! Sie nahm sich vor, es in der nächsten Stunde noch dreimal zu versuchen. Beim letzten Versuch klappte es. Die Antworten der Sacharbeiterin wirkten sehr kühl und abweisend.
„Sie haben nur eine schriftliche Zusage auf eine Anstellung zum 1.April bei der Berliner Senatsgesundheitsverwaltung. Wir setzen die neuen Mitarbeiter immer da ein, wo der größte Bedarf ist. Das ist zurzeit nun mal Marzahn-Hellersdorf. Später können sie sich dann gezielt auf Ausschreibungen aus einem bestimmten Bezirk bewerben. Aber bitte bedenken sie, dass das Land Berlin die Kosten für ihre theoretische Weiterbildung an der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf bezahlt und nicht irgendein Bezirk. Also fangen sie doch erst einmal in Hellersdorf an zu arbeiten. Dann kann man sehen, was sich tun lässt,“ beendete sie das Telefonat in etwas freundlicherem Ton.
Marzahn-Hellersdorf! Janusz-Korczak-Straße! Sie hatte, seitdem sie in Berlin lebte, sich überwiegend in den westlichen Stadtbezirken, vor allem in Schöneberg, Charlottenburg und auch Kreuzberg aufgehalten. In Marzahn-Hellersdorf war sie noch nie gewesen. Jedenfalls nicht bewusst. Da musste der Stadtplan her. Aha, der Bezirk lag ganz im Nordosten von Berlin. Und die Janusz-Korczak-Straße lag in Hellersdorf, fast am Ende von Berlin, schon halb in Brandenburg… Aber da gab es zumindest ganz in der Nähe eine U-Bahnstation. Sie beschloss, am Wochenende dorthin zu fahren und sich einmal umzusehen.
Am Freitagabend war sie im ICE von Düsseldorf nach Berlin gefahren. Am Samstag hatte sie fast bis Mittag geschlafen, weil sie so erschöpft und müde war. Sie hatte daher die Fahrt nach Hellersdorf auf Sonntag verschoben. Etwas frierend stand sie vor dem Ausgang der U-Bahn-Haltestelle Hellersdorf. Sie blickte sich um. Ein großer Platz. Fast menschenleer. Zumindest um diese Zeit. 10 Uhr morgens am Sonntag.
Nur moderne Gebäude, ohne jedes Flair. An einem größeren Gebäude stand Alice-Salomon-Hochschule. Na ja, jedenfalls bin ich hier nicht ganz aus der Welt. Sie ging los, um die Janusz-Korczak-Straße zu suchen. Überall moderne Gebäude. Ein großes Einkaufszentrum und viele Geschäfte. Dann war sie schon in der richtigen Straße. Das Gesundheitsamt befand sich in einem sehr schlichten Gebäude mit Dienststellen von mehreren Behörden. Irgendwie hatte die ganze Gegend keine richtige Atmosphäre, aber alles machte einen ordentlichen Eindruck. Vielleicht wirkt es freundlicher, wenn hier in der Woche mehr Menschen sind, versuchte sie sich einzureden. Jedenfalls war das Gesundheitsamt mit öffentlichen Verkehrsmitteln in etwa 40 Minuten zu erreichen.
Zum Arbeitsanfang im Gesundheitsamt in Marzahn-Hellersdorf wurde Frau Fatimi nur sehr kurz durch die Leiterin, Frau Dr. Haupt begrüßt. „Ich- das heißt, wir alle hier im Amt freuen uns sehr, dass sie endlich da sind. Bei vielen Aufgaben, die wir wegen der Corona-Pandemie aktuell zu bewältigen haben, freuen wir uns ganz besonders über Verstärkung. Sie werden es hoffentlich verstehen, dass wir heute keine große Begrüßungsrunde machen können. Die meisten Mitarbeiter sind gerade dabei, Corona-verdächtige Personen nachzuverfolgen oder Quarantäne Maßnahmen etc. zu überwachen. Ich gehe davon aus, dass sie die anderen Mitarbeiterinnen bald auch so kennenlernen werden. Wir hatten uns schon in dem Vorgespräch bekannt gemacht. Am besten sie beginnen gleich mit der Arbeit, denn hier wird jeder dringend gebraucht. Beim Einarbeiten hilft ihnen Frau Meier. Sie ist am längsten hier im Amt und kennt sich daher bestens aus. Bei Fragen dürfen sie sich gern an mich wenden. Ich wünsche ihnen trotz der augenblicklich schwierigen Umstände einen guten Start.“
In den nächsten Tag machte Frau Meier Frau Fatimi mit den üblichen Arbeitsabläufen bekannt. Das meiste waren Verwaltungsarbeiten. Sie bekam ein eigenes Büro. Anfänglich bestand ihre Aufgabe vor allem darin, Kontaktpersonen von Corona-positiv Getesteten ausfindig zu machen und zu einem Test in einer der speziellen Corona-Untersuchungsstellen in Berlin auffordern. Dazu war viel Papierarbeit nötig, denn die Erfassungsprogramme für die PCs funktionierten noch nicht richtig. Der Bundesgesundheitsminister hatte öffentlich schnelle Abhilfe versprochen. Nach Ostern, so hatte es die Senatsverwaltung angekündigt, sollten zudem Medizinstudenten von der Charité auf Honorarbasis für Verstärkung bei der Suche nach Kontaktpersonen sorgen.
In der ersten Aprilwoche stieg die Anzahl der Corona-Neuinfektionen bundesweit, so auch in Berlin deutlich an. Daher gab es immer mehr Fälle nachzuverfolgen. Und auch viele Menschen, die besorgt im Amt anriefen, was sie bei Verdacht auf eine Corona-Infektion machen sollten. Dies war insoweit ärgerlich, als in allen Medien die Untersuchungsstellen genannt worden waren. Zudem fehlten im Gesundheitsamt - auch nach ihrem Arbeitsbeginn- noch immer mindestens zwei Ärzte. Die Leiterin hatte bei ihrer Begrüßung so etwas angedeutet. Der ärztliche Dienst war chronisch unterbesetzt.
Jetzt verstand Frau Fatimi, warum sie von der Gesundheitsverwaltung hierhergeschickt worden war und so freundlich begrüßt worden war. Einige ihrer Kolleginnen sprachen angesichts der jetzt deutlich erhöhten Anforderungen in der Corona-Pandemie von Überlastung, eine andere wegen der fast täglich neuen Herausforderungen sogar von Chaos. Das konnte sie überhaupt nicht verstehen. Chaos? Was Chaos wirklich bedeutet, hatte sie vor wenigen Jahren im syrischen Bürgerkrieg in ihrer Heimatstadt Aleppo erlebt. Und überlebt.
Nach einem Angriff des syrischen Militärs mit von Hubschraubern abgeworfenen Fassbomben brannte in den engen Gassen von al-Dschudaide alles- auch Menschen. Kinder. Direkt vor dem Haus, in dem sie wohnte. Während sie die Treppe runterrannte, brach neben ihr nach einer heftigen Explosion die rechte Wand weg und stürzte mit Getöse in die Tiefe. Sie wurde durch die Druckwelle auf die Treppe geschleudert… Etwas später konnte sie sich wieder hochrappeln. Sie spürte am Hinterkopf etwas klebrig Feuchtes. Blut! Sie war gegen die noch stehende Wand gestoßen. Als sie nach der Wunde tastete, merkte sie, dass ihre Hand von einer dicken Schicht aus Schutt und Staub bedeckt war. Mittendurch mäanderte ein rotes Rinnsal. Erschreckt zog sie die Hand zurück. Als Ärztin wusste sie, dass Wunden möglichst sauber bleiben sollten. Sonst bestand die Gefahr einer schweren Wundinfektion. Und es gab hier in diesem Stadtteil von Aleppo fast kein Verbandsmaterial mehr. Desinfektionsmittel und Antibiotika schon gar nicht…
Langsam bemächtigte sich eine unheimliche Angst ihrer. Der Puls raste, sie hyperventilierte. Sie versuchte, ruhiger zu atmen. Nachdem sie dies – wie es ihr schien über mehrere Minuten- erfolglos probiert hatte, entschloss sie sich die Treppe langsam hinunterzugehen. Sie zitterte am ganzen Körper. Die Beine fühlten sich kraftlos und die Kniee butterweich an.
Die Treppe war aus Beton. Dennoch bewegte sie sich leicht unter jedem ihrer Schritte. Selbst wenn sie stillstand, waren noch einige Zeit Vibrationen zu spüren. Die Treppe hing an der Wand, die stehen geblieben war. Dort waren mehrere längere Risse zu erkennen… Festhalten! Aber wo? Das Treppengeländer war mit der rechten Wand in die Tiefe gestürzt. Also ganz vorsichtig weiter nach unten…
Endlich war sie auf der Straße angekommen. Sie wollte ihre kleine Tochter Mara suchen. Aber sie konnte nur Staubwolken erkennen. An vielen Stellen loderten Feuer. Menschen mit Brandverletzungen liefen verstört umher. Andere lagen am Boden und wimmerten. Verzweifelt versuchten die wenigen unverletzt Gebliebenen, die Feuer zu löschen. Immer wieder kam es zu Detonationen, wenn in den brennenden Autos die Tanks explodierten. Eine war so heftig, dass sie wieder zu Boden geworfen wurde. Über ihr zerbarsten Fensterscheiben. Instinktiv versuchte sie, sich vor den umherfliegenden Splittern zu schützen. Sie hielt sich die Hände vor die Augen und Stirn. Einige scharfe Glassplitter trafen trotzdem ihr Gesicht. Drangen in ihre Haut ein. Sie fühlte stechende Schmerzen. Der Staub von den Händen rieselte in ihre Augen. Unwillkürlich fing sie an zu weinen. Die Augen brannten. Wegen des starken Tränenflusses konnte nicht richtig sehen. Alles war verschleiert, unscharf. In der Schlucht aus zerstörten Häusern waberte ein scharfer, ekeliger Geruch nach verbranntem Fleisch. Menschenfleisch! Geschrei drang an ihr Ohr. Leute liefen wehklagend, völlig verstört, ziellos durcheinander. Überall lagen Leichenteile herum. Ein Augenpaar aus einem abgerissenen Kopf schaute sie fragend, anklagend an. Daneben lagen abgetrennte Arme, Beine und Füße. In einer großen Blutlache.
Ihr wurde übel. Sie musste sich übergeben. Schnell raffte sie sich wieder auf. Sie musste unbedingt ihre kleine Tochter finden. Kurz vor dem Fassbombenangriff war sie zum Spielen mit Nachbarskindern auf die Straße gegangen. Wo war sie jetzt? Dilara rief verzweifelt immer wieder ihren Namen. Antwort erhielt sie keine. Sie hörte nur von Ferne Explosionen. Um sie herum nur lautes, klagendes Schreien und schmerzgeplagtes Stöhnen und Ächzen. Immer wieder schrie sie den Namen ihrer Tochter Mara! Überall flackerten kleinere Brände. Verstaubte, blutende und verschreckte Menschen irrten ziellos umher. Sie reagierten nicht auf Ansprache, sondern sahen sie nur mit hohlen, geröteten Augen fragend an. Überall lagen Schutt und Trümmer. Wie sollte sie in diesem Wirrwarr ihre kleine Tochter finden?
Ihr Herz raste. Pochende Schmerzen am Hinterkopf. Und kein Lebens-zeichen von Mara! Sie hatte Angst, wahnsinnig zu werden. Da! Das war doch der Schuh von Mara! Aber nur Maras rechter Schuh lag dort. Mutterseelenallein zwischen den Trümmern des Nachbarhauses. Verzweifelt begann sie die Trümmer zur Seite zu räumen. Drei Frauen kamen ihr zur Hilfe. Als sie gemeinsam mit äußerster Kraftanstrengung eine schwere Betonplatte hochgestemmt hatten, sah Dilara ihre Tochter. Leblos. Mit geschlossenen Augen. Auf Rufen keine Reaktion! Sofort kroch sie unter die Platte, um Mara hervorzuziehen. Sie versuchte gleichzeitig, mit dem Rücken die Platte abzustützen. Sie spürte den rohen, kratzigen Beton direkt auf ihrer Haut. Der Rücken schmerzte stark unter der Belastung. Da versagten ihr die Kräfte. Sie konnte trotz Unterstützung durch die anderen Frauen die schwere Betonplatte nicht mehr hochhalten. Sie stürzte krachend zu Boden. Und auf Mara! Auch sie selbst war unter der tonnenschweren Platte gefangen. Mit dem Gesicht im Schutt. Ein feiner Glassplitter stach in ihre Stirn. Das Blut lief ihr in die Augen. Alles war dunkel. Sie hörte die Schreie der anderen Frauen. Wie von Ferne. Dreck rieselte ihr in die Augen bei dem Versuch sie zu öffnen. Die Augenlider brannten. Sie lag lebendig begraben unter einer mächtigen Betonplatte. Neben ihrer leblosen vierjährigen Tochter. Mara gab keinen Laut von sich. Es kostete sie größte Anstrengung, um den Kopf ein wenig zu drehen, um sie sehen zu können. Die herunterstürzende Platte hatte ihren Brustkorb zertrümmert. Dilara machte sich schwerste Vorwürfe, dass sie die Platte nicht mehr hatte halten können und diese auf Mara niedergekracht war. Möglicherweise war sie erst dadurch getötet worden. Sie fing an, stumm zu weinen.
Sie fragte sich unentwegt, ob Mara vorher noch am Leben gewesen war. Tief in ihren Inneren spürte sie, dass diese Frage sie ihr ganzes Leben lang quälen würde. Warum lebte sie weiter? Mara war das Wichtigste in ihrem Leben. Sie war alles, was ihr geblieben war. War sie jetzt verantwortlich für ihren Tod? Vor über einem Jahr war schon ihr Mann Ahmed bei Kämpfen in al-Dschudaide ums Leben gekommen war. Hinterrücks erschossen. Sie lebte… Nein, jetzt lag sie gefangen unter einer großen Betonplatte. Alles war dunkel. Hier konnte sie auch sterben. Sie war bereit dazu.
Erst Tage später setzte ihre Erinnerung wieder ein.
Das schrille Klingeln ihres Telefons holte sie aus den Erinnerungen an die schrecklichen Kriegsereignisse zurück. „Hier ist Haupt. Frau Fatimi, wir müssen auch über Ostern wegen der Corona-Krise einen Notdienst im Amt aufrechterhalten. Ich dachte, dass sie sich daran beteiligen. Ich muss das jetzt irgendwie regeln. Wann könnten sie denn?“
„Och, ich habe über Ostern nichts Besonderes vor. Man kann ja zurzeit in Berlin sowieso aufgrund der weitgehenden Beschränkungen des Senats wegen der Corona Pandemie nichts machen“.
„Damit sie ein bisschen rauskommen und sich bewegen, können sie über die Feiertage für ein paar Stunden hierherkommen.“
„An welchen Tagen denn genau?“
„Also, sie haben doch im Gegensatz zu den Kollegen keine Angehörigen hier in Berlin… Hm. Also ich dachte dann an alle Tage, Karfreitag bis Ostermontag.“
Frau Fatimi schluckte hörbar am Telefon.
„Sie müssen versuchen, das auch positiv zu sehen. Wie ich schon sagte, etwas Abwechslung von allein zu Hause. Und vor allem erwerben sie sich dadurch Lorbeeren bei den Kollegen.“
Auf diese Lorbeeren konnte sie verzichten. Aber wenn sie ehrlich zu sich war, wusste sie nicht, was sie Ostern allein tun sollte. Und es konnte nicht schaden, im Amt gleich zu Anfang einen guten Eindruck zu machen. Sowieso war in Berlin – wie es auf Deutsch hieß- alles heruntergefahren. Das hatte sie alles schon einmal erlebt.
Nur hatte man es in Syrien eindeutiger, nämlich als Ausgangssperre bezeichnet. Dort kannte die Regierung keine Zurückhaltung gegenüber der Bevölkerung. Sie versuchte daher keine Wortspielchen, sondern bezeichnete ihre rücksichtslosen Anordnungen unmissverständlich. Es war letztendlich nichts Anderes als brutales Kriegsrecht. Und bei Nichteinhalten der Verordnungen wurde scharf geschossen.
Was hatten der amerikanische oder französische Präsident gesagt? Die Menschen wären im Krieg gegen das Corona-Virus. Trump hatte die Bevölkerung der USA zum Kampf gegen das Virus aufgerufen. In diesem Kampf werde es Tote geben. Es wurden viel mehr, als er je gedacht hatte. Die Realität war jetzt auch in Deutschland Furcht einflößend. Überall Beschränkungen der Freiheitsrechte. War das nicht so ähnlich wie Kriegsrecht?
Ein Wortungetüm dachte sie. Was kann in einem Krieg gerecht sein? Gibt es einen Krieg für eine gerechte Sache? Die Politiker behaupteten es immer, besonders wenn sie siegreich gewesen waren. Sie hatte den Bürgerkrieg in Syrien hautnah miterlebt. Für dieses noch immer andauernde Desaster wird es nie eine Rechtfertigung geben.
Und gibt es denn überhaupt einen Krieg gegen die Natur? Viren waren wie die Menschen ein Bestandteil der Natur. Schon lange vernichteten Menschen natürliche Landschaften mit ihren Wäldern, Mooren und Tieren, um mehr Lebensraum für sich zu schaffen. Vergifteten die Atmosphäre. War dies ein Krieg gegen die Natur? Jedenfalls waren die Menschen für Zerstörung der Natur verantwortlich. Sie hatten in ihrer Illusion, über die Natur erhaben zu sein, versucht, es sich bequem und ohne Rücksichtnahme darin einzurichten. Letztendlich war es ein Krieg gegen sich selbst, denn die Menschen vernichteten für sie lebenswichtige Ressourcen.
Auf die Folgen wie die Klimakatastrophe waren sie nicht vorbereitet. Manche bestritten immer noch, dass sie im Wesentlichen auf menschliches Handeln zurückzuführen ist. So der amerikanische und brasilianische Präsident. Auch wurde gemutmaßt, dass das Corona-Virus aus einem chinesischen Labor stammt. Aber Viren sind Teil der Natur. Und je tiefer der Mensch in die Natur eindringt, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass er sich mit einem neuartigen Virus „infiziert.“ Auch das HIV-Virus war von Affen und Ebola von Fledermäusen auf den Menschen „übergesprungen“.
Die Virus-Pandemie wird von den meisten als massive Bedrohung der eigenen Gesundheit oder gar Existenz erlebt. Sie hatte im syrischen Bürgerkrieg unzählige Bedrohungssituationen erlebt. Sie rufen Angst, wahnsinnige Angst hervor. Sie musste jetzt ganz schnell mit ihrer Arbeit weitermachen, sonst würden ihre Gedanken wieder in Richtung der schrecklichen Erinnerungen driften. Dagegen konnte sie sich kaum wehren, denn diese lauerten ständig im Hintergrund. Wenn sie in ihr Bewusstsein drangen, überwältigten diese sie. Sich zu schützen, ist die einzige Möglichkeit im Krieg wie auch in einer Virus-Pandemie. Deswegen sind Schutzmaßnahmen auch jetzt so wichtig.
Eiligst nahm sie sich die nächste Meldung über einen Corona-Fall vor. Per Telefon kontrollierte sie, dass der Betroffene die vom Gesundheitsamt ausgesprochene häusliche Quarantäne einhielt. Da der Betreffende sich sofort meldete, hatte sie keine Zweifel daran.
Am Nachmittag rief Frau Dr. Haupt noch einmal an. Sie teilte ihr mit, dass sie trotz der Corona-Pandemie morgen eine Begehung in einem Altenheim machen solle. Sie deutete an, es hätte massive Beschwerden an höherer Stelle mit Hinweis auf eine möglicherweise vertuschte Häufung von Todesfällen während des Lockdowns gegeben. Daher wäre dort eine Kontrolle noch vor Ostern erforderlich.
Bisher hatte Frau Fatimi ein Altenheim erst zweimal kurz von innen gesehen, denn sie hatte nur in Krankenhäusern gearbeitet. Sie war daher gespannt, was sie dort sehen würde. In Syrien gab es keine Altenheime. Dort war es üblich, dass sich die Großfamilie um die älteren und kranken Familienangehörigen kümmerte. Sie hatte gelernt, dass es feste Familienverbände in Deutschland kaum noch gab. In ihrer Straße wurde voriges Jahr ein sogenanntes Mehrgenerationenhaus eingeweiht. Es gab eine große Feier und sogar jemand vom Bezirksamt hielt eine Rede. Es war ein gefördertes Modellprojekt. Viele pflegebedürftige Alte wurden in Deutschland in Heime abgeschoben.
Heute stand ihre erste Begehung eines Altenheims auf dem Programm. In Corona-Zeiten war die Einhaltung der Hygiene-Richtlinien noch wichtiger als sonst. Frau Fatimi hatte von Frau Dr. Haupt eine Liste von weiteren Punkten, die sie kontrollieren sollte, bekommen. Dabei handelte es sich auch um die behördlichen Anordnungen im Rahmen der Corona-Pandemie. Frau Dr. Haupt hatte Frau Meister zu ihrer Unterstützung abgeordnet. Frau Meister hatte von allen Mitarbeiterinnen im Amt die längsten Erfahrungen in Hygiene-Begehungen. Daher sprach Frau Fatimi mit ihr das Vorgehen und die Aufgabenverteilung eingehend und genau ab. Diese sah unter anderem vor, dass Frau Fatimi stichprobenartig einige Zimmer der Bewohner inspiziert.
Dafür wählte sie das dritte Stockwerk aus. In dem ersten Zimmer wohnte eine ältere, extrem schwerhörige Frau. Sie konnte überdies mit ihrem Hörgerät nicht richtig umgehen. Nach mehreren Versuchen gab Frau Fatimi es auf, so etwas wie eine Kommunikation in Gang zu bringen. Sie hatte gehofft, dass jemand vom Pflegepersonal sie begleitet und ihr die notwendigen Informationen gibt. So war es gestern mit der Heimleitung telefonisch vereinbart worden. Aber heute war eine Pflegerin ausgefallen. Daher konnte sie niemand begleiten. Die Amtsärztin prüfte kurz das kleine Bad. Dort gab es keine Beanstandungen. Die Bewohnerin summte von sich hin und machte einen zufriedenen Eindruck. Daher verabschiedete sich die Amtsärztin und ging das nächste Zimmer.
Die nächste Bewohnerin war eine sehr agile und gepflegte ältere Dame, die offensichtlich schon auf sie gewartet hatte. Sie stellte sich gleich als Frau Dr. Gedenk vor und bot ihr an, Platz zu nehmen. „Sie sind neu hier. Ich bin schon 91 Jahre altalso sehr alt. Da habe ich schon sehr viel erlebt. Früher in der DDR hatte ich eine ähnliche Funktion wie sie. Vieles wiederholt sich. Vieles wird auch schlicht vergessen! Jetzt wird so getan, als ob die Corona-Epidemie etwas ganz Neues wäre. Ist sie aber nicht! Ich kann mich noch genau die große Influenza-Pandemie 1968/69 erinnern. Die wurde Hongkong-Grippe genannt, weil dort das H3N2-Influenza-Virus zum ersten Mal aufgetreten war. Wenn sie sich jetzt die Berichterstattung über Corona anschauen, wird die Hongkong-Grippe nur ganz selten noch erwähnt. Einfach vergessen, obwohl damals weltweit etwa zwei Millionen Menschen starben. So genau wie heute wurden die Todesfälle nicht erfasst- in Deutschland gab es etwa 50.000 Todesfälle im Westen und mindestens 10.000 im Osten.“
„Schon vorher hatte ich als ganz junge Ärztin eine Grippe-Pandemie erlebt. Die sogenannte asiatische Grippe 1957/58 hatte mein Interesse für die Infektiologie geweckt. Dieses Gebiet hat mich mein Leben lang beschäftigt. Auch jetzt noch. Für mich sind Infektionen die klassischen Erkrankungen. Bei der asiatischen Grippe waren mindestens genauso viele Todesopfer zu beklagen wie bei der Hongkong-Grippe, in Deutschland über 30.000.“
„Jetzt werden die strengen Maßnahmen damit begründet, dass Corona ein neues, bisher nicht bekanntes Virus ist. Es sei besonders gefährlich, weil sich erst nach einem Kontakt- also einer Infektion mit dem Virus eine Immunität bilden könnte. Das H2N2- und das H3N2-Virus waren 1957 bzw. 1968 auch jeweils neu. Im Winter 1969/70 wurden aber trotzdem Schulen nur geschlossen, wenn dort mehrere Grippe-Fälle aufgetreten waren. In den Betrieben wurde die Produktion ebenfalls nur heruntergefahren bei hohem Krankenstand.“
„Allgemeine präventive Gesundheitsvorsorgemaßnahmen haben die Politiker 1968/69 trotz der chaotischen Zustände in den Krankenhäusern nicht für nötig gehalten. Damals gab es Berichte darüber, dass überall Notbetten aufgestellt werden mussten. Die Kranken lagen auf Fluren und in Badezimmern. In West-Berlin konnten die vielen Toten nicht schnell genug bestattet werden. Die Särge wurden daher zeitweise in den Gewächshäusern des Gartenbauamts Wedding oder in der Wilmersdorfer Bezirksgärtnerei gelagert. In Ost-Berlin lagen die Leichen gestapelt in einer Turnhalle.“
„Woher ich das so genau weiß? Erstens war ich wie viele andere Ärzte und Krankenschwestern selbst auch erkrankt und lag am Jahreswechsel mit hohem Fieber im Bett. 1970, also nach der Grippewelle war ich dann maßgeblich an der Ausarbeitung des „Führungsdokument zur Grippebekämpfung“ des DDR-Ministerrats beteiligt. Es war eine Art „Nationaler Pandemieplan“. Ähnliche Vorschläge hat die WHO erst 1999 gemacht. Und der erste Pandemieplan wurde in der Bundesrepublik 2005 nach dem DDR-Vorbild aus 1970 erstellt,“ sagte sie nicht ohne einen gewissen Stolz.
„Warum damals in West-Deutschland von politischer Seite kein Handlungs-bedarf für einen Pandemieplan gesehen wurde, kann ich nur vermuten. Es war die Zeit der ersten großen Koalition und der aufkommenden Studentenunruhen. Und des Höhepunkts des Vietnam-Kriegs. Es gab also genug andere politische Themen. Vielleicht waren auch die Millionen Toten aus dem zweiten Weltkrieg noch nicht vergessen. Einige Tausend Grippetote wurden deshalb möglicherweise als nicht besonders dramatisch angesehen.“
Frau Fatimi hatte die ganze Zeit hoch aufmerksam zugehört. Die von Frau Dr. Gedenk aufgezählten Fakten waren für sie neu. „Wenn Sie sich so gut auskennen, gab es denn noch weitere Pandemien seit 1969?“
“Natürlich, Virus-Pandemien sind wiederkehrende Naturereignisse. Wegen der schnellen Mutationen der Viren kommen Impfstoffe für die erste Welle immer zu spät. Eigentlich gibt es jedes Jahr im Winter eine Grippewelle. Nicht selten sind auch neben Influenzaviren auch Corona-Viren die Auslöser. Wenn die Mutationen nur gering sind, kann ein Impfstoff, der gegen einen vorangegangenen Virustyp entwickelt worden ist, den Verlauf mildern. Aber es hat in der letzten Zeit auch neuartige Viren gegeben bei wie SARS 2003. Das war auch ein Corona-Virus, also sozusagen der Vorläufer zu dem jetzigen. Der Ausbruch war aber auf Ostasien begrenzt. Schwere Grippewellen, die auch Europa betrafen, gab es 1995/96 mit etwa 30.000 Toten, 2012/13 und zuletzt 2017/18 mit etwa 25.000 Toten in Deutschland. Alle sind bei der Politik und der Bevölkerung schon in Vergessenheit geraten. Meist wird auch vergessen, dass die zweite Welle verheerender ist als die erste.“
„Das ist alles neu für mich, hoch interessant und sehr spannend. Ich würde mich gern noch einmal länger mit Ihnen unterhalten.“
„Ja, dann kommen sie doch in den nächsten Tagen noch einfach einmal vorbei. Ich würde mich sehr über ihren Besuch freuen.“
„Das geht leider nicht. Mein Dienstplan ist übervoll. Und dann ist da noch etwas Formales. Wir sind doch hier im ehemaligen Preußen…“
„Wohl wahr“ seufzte Frau Dr. Gedenk. „Hier gibt es für alles eine Regel. War schon vor Virus-Pandemie so. Zubettgehzeiten, Essenszeiten. Seit dem Corona-Lockdown gibt es für jeden Heimbewohner einen Extraplan. Alle Gemeinschaftsräume und die Cafeteria wurden geschlossen. Ich muss jetzt in meinem Zimmer bleiben und hier die Mahlzeiten einnehmen. Früher sah man sich wenigstens beim Essen. Da hatte man ein bisschen Gesellschaft. Konnte miteinander reden. Jetzt alles verboten! Auf den Fluren oder im Garten darf ich nur zu bestimmten Zeiten spazieren gehen – einzeln mit Mundschutz. Damit man sich nicht mit dem Virus ansteckt! Lesen kann ich nicht mehr richtig wegen einer trockenen Makuladegeneration. So bleibt fast nur noch das Fernsehen. An manchen Abenden muss ich lange suchen, bis ich etwas finde, was nicht mit Corona zu tun hat. Es ist einfach zu viel- auch wenn es mich sehr interessiert. Trostlos, diese erzwungene Einsamkeit! Dabei wohnen hier über 100 ältere Menschen. Jetzt ist alles verboten. Und wer ist dafür verantwortlich? Die Politik! Was hat sich der Berliner Senat dabei nur gedacht? Wir alten Leute haben doch auch noch Interessen. Und Rechte! Die haben die Politiker vergessen!“ fügte sie mit Nachdruck hinzu.
„Das Formale, das ich Ihnen noch sagen wollte: Ich darf sie nur aus dienstlichem Anlass besuchen- auch wenn ich gern mehr von Ihrem Wissen erfahren und auch Ihre Lebensgeschichte genauer kennenlernen würde. Ansonsten sind Besuche in Altenheimen während des Lockdowns nicht erlaubt.“
Sie sah, wie die alte Ärztin anfing, leise zu weinen. „Wir in den Heimen werden einfach vergessen!“
Die Amtsärztin wandte sich schnell ab, weil sie die Situation unerträglich und auch für sich selbst als sehr belastend empfand. „Vielleicht finde ich doch noch einmal eine Gelegenheit,“ log sie schnell. Nur raus hier!
Auf dem Flur suchte sie nach einem Stuhl. Als sie endlich einen gefunden hatte, überlegte sie lange, wie lange sie diese Arbeit noch durchhalten könne. Ihre Gedanken kreisten. Sie wollte hier in Berlin bleiben. Auch wenn sie zurzeit durch die Virusepidemie und die Maßnahmen der Regierung und des Senats auch persönlich stark verunsichert war. Wie sollte das weitergehen? Wo auf der Welt gab es noch einen sicheren Platz? Ihr Arbeitsplatz war nicht gefährdet. Arbeit hatte sie mehr als sie bewältigen konnte… Aber wie lange dauert die Pandemie noch? Gibt es eine zweite Welle? Und was kommt danach? Alle, mit denen sie sprach, stellten sich diese bangen Fragen…
Einstweilen mussten diese aber unbeantwortet bleiben. Jeden Abend wurde im Fernsehen von irgendwelchen Experten darüber diskutiert. Mehr Klarheit brachte ihr dies nicht. Nur die Verunsicherung wuchs. Düstere Zukunftsvisionen plagten sie immer häufiger, so dass sie nachts oft kaum Schlaf fand.
Sie versuchte sich zu konzentrieren. Sie klopfte an die nächste Tür. Sie hörte keine Antwort und öffnete trotzdem. Auf dem Bett lag halbangezogen eine alte Frau, die röchelte. Frau Fatimi versuchte, die Frau zu wecken. Gelblicher, zähflüssiger, blasiger Speichel lief ihr aus dem Mund. Als sie sich herunterbeugte, hörte sie ein leichtes Rasseln der Lunge. Erschreckt wich sie zurück und klingelte nach der Pflegerin. Keiner kam. Sie klingelte noch einmal.
Die Zeit schien sich endlos zu dehnen. Nichts passierte. Sie hatte nur ihre Aktentasche mit dem Laptop dabei. Aber sie wollte helfen. Sie versuchte, die alte Frau auf die Seite zu legen, damit sie besser atmen konnte. Da hörte die Frau ganz auf zu atmen. Nach einer Ewigkeit kam eine korpulente Pflegerin. „Wir müssen die Frau sofort intubieren“ rief Frau Fatimi ihr zu.
„Können Sie das?“ kam als kühle Antwort zurück.
„Ja! Das habe während meiner Ausbildung in Notfallmedizin gelernt.“
„Wir sind hier im Heim nicht auf solche Situationen vorbereitet. Wir haben kein Intubationsbesteck! Bei den alten Leuten macht das doch auch keinen Sinn mehr! Wir lassen sie in Ruhe sterben… Auf mehr sind wir nicht eingerichtet.“
Frau Fatimi sah sie verzweifelt an. „Aber wir müssen doch etwas tun.“
„Können wir nicht mehr! Vor dem Tod kann man sich nicht schützen.“ Nach einer Art Schweigeminute ergänzte die Pflegerin: „Hier im Heim sind in den letzten Wochen mehrere Menschen gestorben. Die Bewohner wissen bei Aufnahme, dass das Heim die letzte Station in ihrem Leben sein wird. Viele wollen auch gar keine Behandlung im Krankenhaus mehr. Sondern nur in Ruhe sterben.“
Frau Fatimi wurde ganz mulmig bei der Vorstellung, dass das Heim mit dem vielversprechenden Namen „Seniorenresidenz an den Gärten der Welt“ in Wirklichkeit ein großes Sterbehaus war. Sie musste sich setzen. In den blumigen Beschreibungen, die in dem Schaukasten am Heimeingang zu lesen waren, klang das ganz anders. Auch die vielen bunten Bilder mit lächelnden älteren Menschen vermittelten ein positives anderes Bild. Nach einigem Nachdenken musste sie sich eingestehen, dass die Pflegerin mit ihrer nüchternen abgeklärten Sicht der Dinge recht hatte. Ihre trockenen, zunächst herzlos erscheinenden Äußerungen waren wahrscheinlich durch die fast tägliche Auseinandersetzung mit dem Thema Sterben und Tod geprägt. Vielleicht war sie dadurch auch etwas emotional abgestumpft. Bei ihr selbst drangen in entsprechenden Situationen immer wieder die traumatischen Erfahrungen aus al-Dschudaide in Aleppo während des Bürgerkriegs ins Bewusstsein. Die totale Hilflosigkeit und Hektik bei der Suche nach ihrer Tochter nach dem Fassbombenangriff. Auch damals konnte sie nicht helfen…
Als die Amtsärztin sich wieder einigermaßen gefangen hatte, bemerkte sie, dass die Pflegerin die Hand der alten Frau hielt und ab und zu streichelte. Wahrscheinlich hatte sie das schon eine ganze Weile gemacht. Nur hatte sie dies nicht bemerkt, weil sie in ihren Gedanken abgelenkt war. Bei ihrer Tochter konnte sie auch nichts mehr tun…
Frau Fatimi versuchte jetzt, wieder ihre Rolle als Ärztin zu übernehmen. Sie fühlte an den Halsschlagadern der alten Frau. Kein Puls mehr. Sie hob die Augenlider an. Sie blickte in fahle, trübe, tote Augen. Starr auf irgendeinen Punkt im Jenseits gerichtet…
„Na, da müssen wir wohl einen Totenschein ausstellen“ sagte sie resigniert. Sie wunderte sich über ihren eigenen, sehr geschäftsmäßig wirkenden Ton. „Haben sie schon einen Corona-Test gemacht? Den brauche ich dafür!“
„Nein, so etwas können wir hier im Heim nicht. Das wird hier nur gemacht, wenn ein Arzt das bei einem vom ihm betreuenden Bewohner anordnet. Dann macht es aber die begleitende Sprechstundenhilfe oder der Arzt selbst. Wir sind Altenpflegerinnen und keine Krankenschwestern“ antwortete die Pflegerin trotzig.
„Ich muss noch einige andere Zimmer ansehen. Danach kann ich das mit dem Totenschein machen,“ sagte Frau Fatimi rasch. Schon wieder floh sie. Auf dem Flur blieb sie an die Wand gestützt einige Zeit stehen. Sie überlegte, ob sie die Amtsarzt-Begehung abbrechen konnte. Sie spürte, dass sie nicht mehr weiterkonnte. Da kam ihr die Idee, jetzt erst einmal ganz formal mit der Heimleitung zu sprechen. Hinterher konnte sie weitermachen. Zumindest hoffte sie das.
Das Büro der Heimleitung der „Seniorenresidenz an den Gärten der Welt“ lag im Erdgeschoss nahe dem Eingang. Frau Fatimi betrachtete noch einmal genauer und sehr nachdenklich die Bilder in dem Schaukasten. Sie hatten so gar nichts mit der aktuellen Realität zu tun. Da sah man ältere lachende Menschen, die auf einer Terrasse saßen, im Tagesraum gemeinsam spielten. Oder fröhlich Hand in Hand spazieren gingen in exotischen Gärten… Jetzt mussten die Heimbewohner in ihren Zimmern bleiben. Allein essen. Gemeinsame Aktivitäten waren verboten. Und sie war hier, um diese behördlichen Anordnungen zu überprüfen. Ihr fröstelte.
Die Heimleitung, Frau Helfa begrüßte sie freundlich. „Sie sind neu hier als Amtsärztin in Marzahn. Darf ich fragen, wo sie herkommen, Frau Fatimi?“
Schon wieder diese Frage! Allmählich fand sie diese Frage lästig. Sie zeigte, dass sie immer noch als Fremde wahrgenommen wurde, obwohl sie sich bemühte, gutes Deutsch zu sprechen. Daher antwortete sie: „Ich lebe schon länger in Berlin. Die Senatsverwaltung hat mich hierher-geschickt, weil am hiesigen Gesundheitsamt am meisten Ärzte fehlen… Ursprünglich komme ich aus Syrien. Aber ich habe mich hier schon gut eingelebt. Da ich wie übrigens viele in Syrien Christin bin, habe ich nicht so allzu große Anpassungsschwierigkeiten gehabt. Die Kultur und auch die Mentalität der Christen in Syrien unterscheidet sich nicht so sehr – wie immer angenommen wird- von der in Deutschland. Also kein Kulturschock.
Aber… Marzahn-Hellersdorf ist für mich wirklich ganz neu. Es scheint ein Stadtteil zu sein, der erst in den letzten Jahrzehnten gebaut wurde.“
„Da haben sie recht. Unser Haus wurde 1987 gebaut und dann 2003 noch einmal komplett saniert in Hinblick auf die Erfordernisse eines Alten- und Pflegeheims. Sie haben sich jetzt einen aktuellen Eindruck verschaffen können. In Corona-Zeiten ist natürlich vieles nicht so wie es sein sollte. Oh, ich hätte besser sagen sollte: sein könnte. Selbstverständlich halten wir uns hier an alle von der Senatsverwaltung vorgegebene Bestimmungen. Ich hoffe, dass sie sich davon überzeugen konnten…“.
„Für das Gesundheitsamt ist vor allem von Wichtigkeit, wie viele Todesfälle es hier in den letzten vier Wochen gab.“
„Drei.“
„Wurde bei denen ein Corona-Test durchgeführt?“
„Nein, die sind an Herz-Kreislaufversagen gestorben. So steht es auch auf dem Totenschein. Die behandelnden Ärzte hielten einen Test nicht für notwendig, da in allen drei Fällen keine Lungenentzündung vorlag.“
„Hm, da hätte ich dann doch noch ein paar Fragen. Wie sie vielleicht schon mitbekommen haben, ist gerade eine der Bewohnerinnen gestorben. In meinem Beisein! Dazu habe noch Fragen: Wann holen sie einen Notarzt? Zum Beispiel für eine Intubation.“
„Also ehrlich gesagt, fast nie. Das Durchschnittsalter unserer Bewohner lag letztes Jahr bei 85,7 Jahre. Da stellt sich meist nicht die Frage nach einer Notfall-Einweisung in ein Krankenhaus, sondern eher nach möglichen palliativmedizin-ähnlichen Maßnahmen. Also Sterbebegleitung. Die allermeisten unserer Bewohner haben auch in ihrer Patientenverfügung oder Vorsorgevollmachten festgelegt, dass bei ihnen keine intensivmedizinischen Maßnahmen mehr erfolgen sollen. Wir fordern alle zukünftigen Bewohner auf, entsprechende Dokumente bei Einzug vorzulegen. Denn nur sie bringen Klarheit.“ Sie deutete auf einen halb geöffneten Aktenschrank. Dort stand eine Reihe von Ordner mit den persönlichen Angaben der Bewohner.
„Und was machen sie bei Dementen?“
„Ja, das ist in der Tat schwierig. Aber wir haben hier die Regel, keine schwer dementen Menschen als Heimbewohner aufzunehmen. Dafür gibt es ein anderes Heim in unserem Verbund, das auch baulich speziell auf schwer Demente ausgerichtet ist…“
„Sie gehen also davon aus, dass die Ihnen vorliegenden Patientenverfügungen oder Vorsorgevollmachten rechtskräftig gültig sind?“ hakte Frau Fatimi nach. Sie konnte sie bei ihren Fragen auf das gerade in der theoretischen Fortbildung in Düsseldorf erworbene Wissen zurückgreifen. Sie hoffte, dass es etwas Eindruck bei der Heimleiterin machte. Diese schien sehr selbstgefällig zu sein.
„Oh, ich sehe, dass sie gut über die Rechtslage in Deutschland informiert sind. Ja, denn wir achten darauf, dass zu dem Zeitpunkt der Abfassung dieser Erklärungen noch Geschäftsfähigkeit bestand bzw. keine Betreuung vorlag.“
„Prüfen Sie die Geschäftsfähigkeit selbst?“
„Ja, das brauchen wir ja auch für den Abschluss des Heimbewohnervertrages. Der ist natürlich nur gültig, wenn die zukünftigen Bewohner bei der Unterzeichnung noch geschäftsfähig sind:“
„Jetzt noch eine ganz andere Frage. Sie haben selbst auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die sich durch den Corona-Lockdown ergeben. Was halten Sie denn von den Testen auf den Corona-Virus bei allen Bewohnern?“
„Ach, wissen Sie, das ist doch alles Theorie. Die Gesundheitsverwaltung mag das zwar wünschen, aber bisher gibt es gar nicht genügend Testmöglichkeiten. Wir handhaben es in etwa so wie es vom Robert-Koch Institut oder der Charité empfohlen wird: bei jedem mit einem entsprechenden Verdacht. Also bei Husten, Fieber usw… Dann geben wir den betreuenden Hausärzten Bescheid und fordern sie auf, einen Test durchzuführen oder zu veranlassen…“
„Aber da verstreichen doch Tage!“
„Ja, aber die Testergebnisse erhalten wir doch auch erst nach ein paar Tagen! So lange schotten wir die betreffenden Bewohner, soweit es geht, vollständig ab.“
„Hm, und wie ist das mit ihrem Personal? Sind wenigstens die alle schon getestet? Sie wissen doch, dass ihre alten Bewohner eine Hochrisiko-Gruppe sind!“
Die Antwort kam sehr zögerlich. „Frau Fatimi, ich weiß, dass sie bzw. das Gesundheitsamt anderes von uns erwarten… Aber auch in Deutschland wachsen die Bäume nicht in den Himmel. Das heißt, auch hier klappt nicht alles. Wie schon gesagt, es gibt zu wenig Testmöglichkeiten. Und wenn, dann müssten meine Mitarbeiter dort erst hinfahren. Die nächste Untersuchungsstelle ist im Evangelischen Krankenhaus Herzberge. Das dauert manchmal Stunden. Wir haben hier wie in fast allen Alten- und Pflegeheimen eine äußerst knappe Personalbesetzung. Da können wir uns längere Arbeitsausfälle überhaupt nicht leisten- auch für Testuntersuchungen nicht! Da hätten mit der Flüchtlingswelle ruhig mehr Pflegekräfte aus Syrien nach Deutschland kommen können.“
Frau Fatimi bemühte sich, diese Anspielung zu überhören. Sie war voll ausgebildete Ärztin! Mit einer deutschen Approbation! „Frau Helfa, eine letzte Frage: Haben sie gar keine Angst, dass irgendjemand vom Pflegepersonal ungewollt den Virus in das Heim einschleppt und dann viele Bewohner ansteckt?“
Frau Helfa zögerte. Dann begann sie plötzlich zu schluchzen. Sie verbarg ihr Gesicht mit den Händen. Von ihrem überheblich wirkenden geschäftsmäßigen Verhalten war nichts mehr zu bemerken. Ihre scheinbar selbstbewusste Fassade war völlig zusammengebrochen. „Sie wissen ja gar nicht, wie es mir geht! Natürlich habe ich davor Angst. Vor allem auch vor der Katastrophe, die dann kommt: Pflegepersonal krank und keiner mehr da, der dann die wahrscheinlich sehr zahlreichen kranken Bewohner versorgen kann. Ich kann nachts kaum noch schlafen, weil ich als Heimleitung letztendlich verantwortlich bin. Ich habe ständig Alpträume… Sie wissen ja gar nicht, wie schwer es ist, Schutzkleidung, Masken oder Desinfektionsmittel für das Personal zu besorgen. Wir haben von allem zu wenig. Die Politiker reden viel und diskutieren jeden Abend im Fernsehen, aber unternehmen diesbezüglich nichts. Das verunsichert mich und auch meine Mitarbeiter immer mehr, auch die Expertenrunden im Fernsehen mit den verschiedenen Meinungen. Da weiß man am Ende überhaupt nicht mehr, was richtig ist.“ Sie hielt inne.
Nach einer Weile sagte sie fast wieder gewohnt geschäftsmäßig: „Zu Ihrer Frage: Ja, ich habe Angst, sogar sehr große Angst, dass der Virus hier ins Heim eingeschleppt wird. Das einzige, was mir bleibt, ist die Schotten vollkommen dicht zu machen. Sie und ihre Mitarbeiterin sind die ersten Fremden, die seit zwei Wochen das Heim betreten durften. Sie kommen schließlich von der Aufsichtsbehörde. Da kann ich ihnen den Zutritt nicht verwehren. Aber Hilfe erwarte ich von ihnen auch nicht!“ Sie stand auf, um zu signalisieren, dass aus ihrer Sicht das Gespräch beendet war.
Frau Fatimi war froh, dass Frau Helfa die Unterredung abgebrochen hatte. Sie wusste, dass sie zu vielen der von Frau Helfa angeschnittenen Fragen wie z.B. Schutzkleidung keine Antwort hatte. Ihren Bericht über das Heim würde sie in Ruhe an den Ostertagen schreiben, wenn sie ohnehin im Amt sein musste. Ein bisschen Abstand wäre sicherlich hilfreich, um die Zustände in der „Seniorenresidenz an den Gärten der Welt“ möglichst objektiv zu beschreiben.
Sie beschloss, um einen möglichst objektiven Eindruck zu erhalten, sich auch noch die vierte Etage anzuschauen. Sie klopfte an die dritte Tür. „Ich bin die Amtsärztin. Gerade in den Zeiten der Corona-Pandemie ist es wichtig, dass die Hygieneregeln eingehalten. Deswegen mochte ich mir ihr Zimmer kurz anschauen.“
„Ich heiße Klara Wohlgemuth. Sie können sich hier gern umschauen. Aber ich würde gern auch noch ein bisschen mit ihnen reden. Ich bin hier seit drei Wochen total isoliert. Ich kann das Zimmer kaum verlassen. Seit einem Schlaganfall vor 2 Jahren lebe ich jetzt hier. Aber so etwas habe ich mein ganzes Leben noch nicht erlebt. Und ich bin schon 84 Jahre alt. Ich darf nicht mehr in die Tagesräume im Erdgeschoss. Die Cafeteria ist geschlossen. Essen nur hier auf dem Zimmer.“