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Wieder ein mörderisch spannender Fall für Karin Jochimsen: Nach einem Klassentreffen im Telgter Restaurant „Töttchen“ wird Tanja Bergmann tot aufgefunden. Gemeinsam mit ihrer neuen Assistentin Alexa Solinger ermittelt die kettenrauchende Kommissarin im Umfeld der Toten. Kann deren Job als Lebensmittelkontrolleurin etwas mit der Tat zu tun haben? Möglicherweise wurden auch alte Wunden bei dem Klassentreffen wieder aufgerissen. Nach dem „Treffer in Telgte“ ist dies der zweite Krimi, den eine Gruppe örtlicher Autoren unter dem Pseudonym M. Ord(t)schreiber verfasst hat. Die Leser dürfen sich auf ein Wiedersehen mit vielen kauzigen Typen aus dem Erstlingswerk freuen.
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Seitenzahl: 164
Veröffentlichungsjahr: 2012
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ASCHENDORFF
CRIMETIME
M. ORD(T)SCHREIBER
TOD IM
TÖTTCHEN
KRIMINALROMAN
Aschendorffs
EPUB-Edition
Vollständige E-Book-Ausgabe des im Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Umschlagabbildung: Heinrich Schwarze-Blanke
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Copyright © 2010/2012 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster
ISBN der EPUB-Ausgabe: 978-3-402-19671-7
ISBN der Druckaugabe: 978-3-402-12878-7
Sie finden uns im Internet unter
www.aschendorff-buchverlag.de
Vorwort
Vorbemerkung
Alle eventuell auftretenden Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig. Ähnlichkeiten mit real existierenden Örtlichkeiten sind dagegen durchaus beabsichtigt. Allerdings haben wir uns erlaubt, diese nach unseren Bedürfnissen, d.h. denen unserer Handlung, umzugestalten. So haben wir in der Herrenstraße ein Restaurant eröffnet, welches man dort vergeblich suchen wird. Eine Gräfin von Gallenhausen hat weder auf Haus Langen gelebt noch an der Realschule unterrichtet, und selbstverständlich sind weder die Realschule noch Haus Langen jemals Schauplatz solch krimineller Machenschaften gewesen, wie wir sie im Folgenden beschreiben!
Die AutorInnen
1
1.
Wie sie das hasste. Sie stand vor ihrem Kleiderschrank und wusste mal wieder nicht, welche Klamotten sie einpacken sollte. Sechs Tage würde sie in Telgte bleiben. Ihre Eltern freuten sich schon. So oft kam das schließlich nicht vor, dass Tanja Bergmann sie besuchte. Seit acht Jahren lebte sie in Köln. Der Job hatte sie dorthin verschlagen. Beim Lebensmittelüberwachungsamt der Domstadt war damals eine Stelle ausgeschrieben. Sie hatte sich beworben und wurde genommen. Weg aus Telgte, weg aus der kleinbürgerlichen Enge. Sie wollte raus. Auch deshalb, weil kurz zuvor ihre Beziehung zu Sven in die Brüche gegangen war. Seine großkotzige Art ging ihr irgendwann tierisch auf den Wecker. Wenn sie allein waren, konnte er so liebevoll sein. Aber wehe, sie tauchten gemeinsam irgendwo auf. Da ließ Sven immer öfter den Macho raushängen. Wenn er obendrein was getrunken hatte, konnte er richtig eklig werden. Nein, irgendwann war sie so weit, dass sie das nicht länger ertragen wollte, zumal die Lebensmittelkontrolle beim Kreis Warendorf, wo sie fünf Jahre gearbeitet hatte, auch immer langweiliger geworden war. Sie kannte zwischen Wadersloh und Everswinkel längst jede Pommesbude und jeden Supermarkt. Es reichte. Deswegen war sie froh, dass sie mit ihrem Umzug nach Köln alles hinter sich lassen konnte. Sollten andere doch denken, dass es wie eine Flucht ausgesehen habe. Das war ihr schnurz.
Jetzt würde sie Sven wieder sehen. Denn für den 30. April hatten Klara, Sabine und Ute zum Klassentreffen eingeladen. Vor 20 Jahren hatten sie die Realschule verlassen. Normalerweise mochte sie solche Revival-Veranstaltungen nicht sonderlich. Aber dieses Mal würde es ja möglicherweise ganz lustig werden. Immerhin hatte sie die meisten Mitschüler von einst schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen. Und Freya von Gallenhausen hatte auch zugesagt. Die Klassenlehrerin. Eine unglaublich taffe Frau, die inzwischen längst pensioniert war. Sie verstand den Lehrerjob schon damals nicht nur als Beruf, sondern als Berufung. Sie wusste alles über Schüler. Ob die Eltern noch zusammen waren, ob die Kinder morgens ohne Frühstück zur Schule kamen, ob der Vater die Mutter schlug.
„Gabi, leist du mir deinen grauen Cardigan?“ rief Tanja rüber in die Küche. Dort brühte sich ihre Mitbewohnerin gerade einen Kaffee auf. Gabi würde demnächst schon 50. Sie bildeten schon eine merkwürdige WG. Zwei Frauen, der große Altersunterschied. Sie selbst eine 36-jährige Beamtin, ihre Freundin eine arbeitslose Buchhändlerin. „Klar, kein Problem.“ Gabi trug ebenfalls Kleidergröße 40 und war nicht eigen mit ihren Klamotten. Und eitel schon gar nicht. Beide bevorzugten bequeme Sachen. Keine teuren Fummel. H & M, Esprit, ruhig auch Takko, das waren die Läden, in denen die Frauen fündig wurden. Ein, zwei Hosenanzüge hatte Tanja auch im Schrank. Für die offiziellen dienstlichen Anlässe, wenn sie irgendwo ein Restaurant von Amts wegen schließen musste. Wegen unhaltbarer hygienischer Zustände. Kam nicht oft, aber es kam halt vor.
Die Hosenanzüge blieben im Schrank. Sie hatte nicht vor, sich fürs Klassentreffen oder auch für die Tage zu Hause bei ihren Eltern sonderlich aufzubrezeln. Ihre Mutter legte darauf sowieso keinen Wert. Ihr Vater schon gar nicht. Beide wohnten noch immer in ihrem kleinen Einfamilienhaus in der Winkhaus-Siedlung. Ihr Vater hatte in dem Industriebetrieb 44 Jahre an der Werkbank gestanden. Ihre Mutter hatte ein paar Mark dazuverdient, als Aushilfe in einem Friseursalon auf der Königstraße, den es längst nicht mehr gab. Große Sprünge konnten sie sich zeit ihres Lebens nicht leisten. Im Sommer mal 14 Tage an die Nordsee, das Haus musste abbezahlt werden. Ihre Eltern waren jetzt 69 und 71. Ihr Rentnerdasein lief in festen Bahnen. Einmal in der Woche ging ihre Mutter zum Strickclub, ihr Vater zum Doppelkopfspielen. Sie hätten so gerne Enkelkinder gehabt. Im Moment fehlte es Tanja dafür am passenden Partner. Und eine Änderung der Situation zeichnete sich weit und breit nicht ab.
„Wir freuen uns auf dich, Kind“, hatte ihre Mutter vor ein paar Tagen am Telefon gesagt. „Kind“, das hatte sie wirklich gesagt und wohl auch so gemeint. Einmal Kind, immer Kind. Egal, ob sechs oder 36 Jahre alt. Tanja nahm es so hin. Sie hatte keine Lust, über solche Belanglosigkeiten mit ihrer Mutter zu streiten. Und was sie essen wolle, hatte die Mutter gefragt. Ob sie „Spanisch Frikko“ kochen solle. „Oh ja, gerne“, hatte Tanja geantwortet. Bei diesem Gericht wurden Kindheitserinnerungen wach. Ein einfaches Essen: klein geschnittene Kartoffeln, viel Zwiebeln und zerbröseltes Gehacktes, ein Brühwürfel, scharf gewürzt mit Pfeffer, Salz und Fondor wurden als Eintopf gekocht. Daran konnte sich Tanja als Kind sattessen. „Spanisch Frikko“ – das kannte sonst niemand. Eben ein bergmannsches Familiengericht.
„Tschüss dann, ich bin nächsten Freitag wieder da.“ Tanja umarmte ihre Mitbewohnerin, griff nach der blauen Reisetasche und ließ die Wohnungstür ins Schloss fallen. Knapp zwei Stunden später fuhr sie mit ihrem grünen Renault Clio von der Autobahn ab und bog auf die B 51 ein. Kurz vor Telgte blickte sie erstaunt aufs Rochus-Hospital. Der riesige Gebäuderiegel war verschwunden. Einzelne, frei stehende Häuser waren entstanden.
Keine fünf Minuten später hielt sie vor ihrem Elternhaus am Knapp.
„Schön, dass du da bist.“ Ihre Mutter hatte vor lauter Freude die Tränen in den Augen stehen. Der Kaffee war fertig. Frisch gebackene Nussecken standen auf dem Tisch. Mutter und Tochter quatschten über Gott und die Welt. Tanjas Vater hatte sich hingelegt. So konnte er das angeregte Gespräch wenigstens nicht stören.
Das Klassentreffen, so hatte sie der Einladung entnommen, würde im „Töttchen“ stattfinden. Als sie das letzte Mal in Telgte war, gab‘s das noch nicht. Deshalb schlenderte sie am späten Nachmittag schon mal durch die Stadt, um es sich anzusehen. Von außen wirkte das Lokal sehr einladend. Das Fachwerkhaus in der Herrenstraße hatte lange leer gestanden. „Das Essen soll nicht schlecht sein“, hatte ihre Mutter von Frauen ihres Strickclubs gehört, die schon mal drin gewesen waren.
Tanja wollte sich überraschen lassen. Am Nachmittag des nächsten Tages zog sie ein weißes Top zu Gabis Cardigan an, dazu eine schlichte Jeans. Ihr schulterlanges, blondes Haar band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. „Ich geh’ dann“, gab sie ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und steckte ihren Kopf auch noch kurz ins Wohnzimmer, wo ihr Vater die Nachrichten guckte.
Er begann wie jeder Tag. Alexa Solinger stand früh auf, um sich für die Morgenrunde fertig zu machen. Seit sie in Telgte die Stelle als Dorfpolizistin hatte, joggte sie jeden Morgen die gleiche Strecke, um den Kreislauf in Schwung zu bringen.
An der Kirche vorbei, über die beiden Emsbrücken, ein Stückchen an der Ems entlang und im Bogen wieder zurück. So genoss sie es auch dieses Mal wieder, die klare Frühlingsluft mit jeder Faser ihres Körpers zu spüren. Obwohl Feiertag war, hatte sie es im Bett nicht mehr ausgehalten. Zu dieser Zeit traf sie selten eine Menschenseele, höchstens mal einen völlig verschlafenen Gassigänger. Ja, Telgte hatte schon manchmal den Anschein eines verschlafenen kleinen Dorfes gemacht. Und um diese Uhrzeit am ersten Mai erst recht. Anfangs hatte sie beim besten Willen nichts Positives an Telgte gefunden. Aber allmählich hatte sie das beschauliche Städtchen kennen und lieben gelernt, auch wenn die Arbeit sie nach wie vor stark unterforderte. Doch mit den Aufstiegschancen bei der Polizei sah es im Moment leider schlecht aus, und da sie keine Lust auf den ganz normalen Wach- und Wechseldienst hatte, hatte sie das Stellenangebot in Telgte nach langem Zögern angenommen.
Wie sie so ihren Gedanken nachhing, hatte sie ihre Runde schon fast beendet. Sie schaute noch einmal nach links, um Paul, den Mann im Schwimmreifen, zu grüßen. Ein kleines Ritual, das sie sich angewöhnt hatte. Sie wusste selbst nicht, warum. Schließlich konnte der gemütliche Dicke nicht zurückgrüßen. Er war ein Relikt der „Alltagsmenschen“, einer Ausstellung, die Telgtes Ruf als Kulturhauptstadt des Münsterlandes noch weiter gestärkt hatte.
Irgendetwas kam Alexa komisch vor. Irgendwie sah Paul anders aus. Hatten etwa randalesüchtige Jugendliche versucht, ihn zu zerstören? Sie kehrte noch einmal zurück, um ihn genauer zu betrachten. Nein, Paul an sich war unversehrt, aber da schwamm etwas, irgendwas hatte sich wohl an Paul verhakt. Es kam häufiger vor, dass sich dort ein Ast verhakte. Aber das war kein Ast, dafür war es viel zu groß. Da ist ja… das gibt´s ja wohl nicht… „Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?! Kommen Sie sofort da raus!“ schrie sie noch, dann stolperte sie auch schon die steile Böschung hinunter und sprang in die Ems. Sie merkte gar nicht, dass das Wasser eiskalt war, sie war nur darauf fixiert, nicht abzutreiben und dem Wehr gefährlich nahe zu kommen. Sie war eine gute Schwimmerin. Bei Paul angelangt sah sie, dass das Gesicht der Person sich komplett unter Wasser befand. Sie riß sich zusammen und faßte den leblosen Körper an. Bevor sie sich beherrschen konnte, entglitt ihr ein spitzer Schrei. Die Person war eiskalt. Es war eine Frau. Alexas Blut gefror. „Komm schon, du bist ein Profi, und du benimmst dich jetzt gefälligst auch so“, versuchte sie sich zuzureden. Peinlich darauf bedacht, die Haut der blonden Frau nicht noch einmal direkt zu berühren, sondern lediglich ihre durchweichte Kleidung. Sie krallte ihre rechte Hand in den grauen Cardigan und zog den leblosen Körper mit letzter Kraft an Land. Am Emsufer schnappte Alexa nach Luft. Die Frau neben ihr nicht. Alexa wurde bewusst, dass diese Person im wahrsten Sinne des Wortes von allen Geistern verlassen war.
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2.
Irgendwie kam Sven das Gefühl bekannt vor. Sein Schädel hatte das letzte Mal nach Mickey Dirks Flaschen-Attacke in diesem Maße gedröhnt, daher konnte er sich nicht vorstellen, lediglich durch schlichten Alkoholmissbrauch solche Schmerzen eingekauft zu haben. Die Mütze seines Kapuzensweaters hatte er sich weit über den Kopf gezogen. Seine Beckenknochen schmerzten. Gott, wo war er? Er fühlte sich, als ob er auf einem kalten Betonboden geschlafen hätte und ihm derweil ein Korkenzieher von einem Ohr bis zum anderen durchgedreht worden wäre. Er löste langsam die Kordel seines Pullovers und schob die Kapuze in den Nacken. Hey, Cyprinus, dachte er bei sich, als die zwei Glubschaugen eines ausgestopften Karpfens sein Sichtfeld kreuzten. Svens graue Zellen ratterten. Was war passiert? Ein mühsamer Kopfschwenk brachte teilweise Erkenntnis. Er schien in einer Art Wochenendhaus gelandet zu sein. Eine Holzhütte mit einer Möblierung, die eine Feng-Shui-Beraterin begeistert hätte. Offensichtlich hatte er tatsächlich auf dem Boden genächtigt. Zum Glück kein Beton, sondern schlichte Holzdielen. Die Kopfdrehungen fielen ihm schwer. Sein Nacken war steif wie ein Besenstiel. Er hatte wohl nicht nur extrem hart, sondern auch extrem zugig genächtigt. Ein kleines Butzenfenster quietschte in seinen Angeln. Das heißt, eher in einer seiner Angeln, denn es war teilweise ausgehängt. Mühsam quälte Sven sich zuerst auf die Knie, um sich dann an der gepolsterten Lehne eines Gelsenkirchener Barocksessels hochzustemmen. Die Hütte schien nur über einen Raum zu verfügen. Na, wenigstens etwas! Inhabergeführtes Einraumetablissement – Rauchen erlaubt! Träge griff er in die Taschen seiner Jeans und zog eine zerknitterte Weichpackung „Camel“ hervor. Die ersten drei, die er aus der kleinen Öffnung an der Oberseite der Schachtel klopfte, waren gebrochen. Er hätte sich doch für eine feste Pappschachtel entscheiden sollen. Aber Sven fand es gerade in Gesellschaft einfach lässiger, in einem perfektionierten Bewegungsablauf die Kippe aus der Schachtel zu klopfen und annähernd gleichzeitig sein fünfzehn Jahre altes Zippo mit dem „Skull & Bones“ Motiv anzureißen.
Wenig später befand sich ein brauchbares Exemplar zwischen seinen Fingern. Dann zog er sich rauchend einen der gestapelten Küchenstühle mit umgedrehter Lehne zwischen die Beine. Er legte seinen zentnerschweren Kopf auf der Lehne ab und versuchte nun mit geschlossenen Augen, seine Erinnerungen an die zurückliegenden Stunden zu beschwören. „Was für ein beschissener Abend“, war der erste Gedanke, den seine langsamen Synapsen hervorbrachten. Erst der Flug von Mallorca mit einer Stunde Verspätung. Der Pilot hatte von einer Gewitterfront gesprochen, die umflogen werden musste. Und das bei seiner Flugangst! Seit der üblen Geschichte mit seinem alten Freund Mickey Dirks litt Sven regelmäßig unter Angstattacken. Krankheit, Tod, Unfall – alle möglichen Katastrophen bestimmten nun regelmäßig sein Denken. Er musste gelegentlich sogar auf Antidepressiva zurückgreifen, um den Krieg im Kopf zu einem Waffenstillstand zu bewegen. Aufbrausend war er. Kleinigkeiten reichten aus, um ihn aus der Haut fahren zu lassen. Eine solche Kleinigkeit war auch der Grund für den gründlich verhagelten gestrigen Abend gewesen. Was hatte diese dämliche Tussi auch geritten, ihn, „Blut-Svente“, einen piefigen Kleinstadtschreiberling zu schimpfen? Die Dame war vermutlich immer noch geknickt darüber, vor Dekaden von ihm abserviert worden zu sein. Dass er damals eigentlich von ihr abserviert worden war, blendete er aus. Er hatte sich nach dem kleinen Scharmützel mit seiner Ex für ein extrem maskulines Abendessen entschieden: Rohes Fleisch – genau das Richtige für Blut-Svente. Er konnte sich noch an die angewiderten Blicke der ehemaligen Klassenkameradinnen erinnern, als ihm auf feinem Porzellan eine ansehnliche Portion Wildschweintatar an Schalottenmousse serviert worden war. Vielleicht hatte er mit dieser Speisewahl ein kleines bisschen zu hoch gepokert, denn sein Magen-Darm-Trakt war momentan arg geschunden. Auf Mallorca hatte er es mit ausgewogener Ernährung nicht so genau genommen. Döner, Pommes und Peperoni-Salat waren nur Beispiele für Svens regelmäßige lukullische Entgleisungen, durch die er in seinem Körper eine neue Schwachstelle etablierte. Das Wildschweintatar hatte grauenvoll geschmeckt. Svens Magen hatte gekrampft. Auch ein kurzentschlossener Therapieversuch mit einer Fernet-gespülten Maloxandosis war nicht zur Linderung geeignet gewesen. Also hatte Sven für kurze Zeit die ohnehin unbefriedigende Veranstaltung verlassen und sich auf einen alles andere als gradlinigen Marsch entlang der Herrenstraße begeben. Nach einem Sprung über die Mauer am Heimathausparkplatz und einem Beinahesturz in die kalte Ems hatte er die kulinarische Feinkost dem Gebüsch übergeben. Auf dem Rückweg waren von weitem die unterdrückten Stimmen eines streitenden Pärchens zu vernehmen gewesen. „Warum behandelst du mich nach all der Zeit immer noch wie einen Fußabtreter?“ hatte eine gedämpfte Männerstimme geschimpft. Im Schein der Laterne vor dem „Töttchen“ hatte Sven zumindest den weiblichen Teil der Streithähne erkennen können. Diese potthässliche Strickjacke, die nicht mal seine, Gott hab sie selig, Oma zu ihrer Bridge-Runde angezogen hätte, hatte er sofort erkannt. Diese Frau schien es tatsächlich darauf angelegt zu haben, sich an diesem Abend mit der gesamten Klassengemeinschaft zu überwerfen. Sven hatte gerade einige Meter näher an das Paar heranschleichen wollen, als eine zweite Welle der Übelkeit an seiner Unterlippe anklopfte. Also war er eilends mit vorgehaltener Hand umgekehrt und hatte erneut über die Parkplatzmauer gekotzt.
Nach seiner Rückkehr war vor dem „Töttchen“ wieder Stille eingekehrt. Wahrscheinlich hatte es sich bei dem wütenden Stier um Antonius, den alten Steinbeißer, gehandelt. Einen Steinmetz, der eine Statur wie Obelix haben sollte, aber eine wie Idefix besaß. Was für eine arme Pfeife, hatte sich Sven gedacht. Antonius wohnt noch bei Mama und schlägt den ganzen Tag auf Grabsteine ein. Der Typ musste eine Neurose schieben, gegen die seine eigene wie eine „Drei-Tage-Regenwetter-Laune“ wirkte. Sven hatte daraufhin beschlossen, noch ein wenig in die Nostalgieatmosphäre des Klassentreffens einzutauchen. Schließlich fühlte man sich nicht alle Tage, als ob man mit Marty McFly, Doc Brown und dem Flux Kompensator zwanzig Jahre in die Vergangenheit gereist wäre. Im weiteren Verlauf des Abends hatte er noch eine kurze Diskussion mit seiner ehemaligen Biolehrerin, Freya von Gallenhausen. Aber als er begonnen hatte, sich an ihren Spitznamen, „die Galle“, zu erinnern, fing selbige schon wieder an, sich seine Speiseröhre hochzuarbeiten. Die Galle hatte auf ihn einen esoterisch-verwirrten Eindruck gemacht. Keine Ahnung, was da Bewusstseinserweiterndes auf ihrem Teller gelandet war. Sie hatte ständig irgendetwas von „Mein lieber Sven, wüssten Sie nicht gerne, was Ihnen in nächster Zukunft bevorsteht?“ gefaselt. Sven hatte entgegnet, dass er vermutlich durch Magenkrebs oder Leberzirrhose nach „Six-Feet-Under“ umsiedeln werde. „Galle“ hatte daraufhin wohl Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer Unterhaltung gehegt und war, ihren indischen Sari an den Schultern justierend, davonstolziert. Irgendwie hatte Sven es als enttäuschend empfunden, dass die Frau, die ihn vor langer Zeit in so wichtigen Lebensdingen wie der menschlichen Fortpflanzung unterwiesen hatte, mittlerweile wohl „Ticki-Balla“-Tendenzen aufzuweisen schien. Etliche Stunden, einige Dutzend Bier und gefühlte zehn doppelte „Töttchens-Kräuterli“ später, war der Zeitpunkt erreicht gewesen, an dem Svens Filmrolle mal wieder abgelaufen war.
Nachdem er nun den gestrigen Abend vor dem inneren Auge hatte Revue passieren lassen, beschloss Sven, schleunigst den Heimweg anzutreten und in seiner Wohnung an der Grabenstraße noch etliche Einheiten erholsamen Schlaf nachzulegen. Auf dem gleichen akrobatischen Weg, auf dem er offensichtlich auch gekommen war, die Hütte verlassend, erkannte er die Umgebung wieder. Er musste in der Nacht am Ufer der Ems entlang getorkelt und hinter Winkhaus in eine Fischerhütte der „Petrijünger Telgte“ eingebrochen sein. Seine „G-Shock-Illuminator“ gab ihren Stundenalarm. Zwölf Uhr Mittags. So unbequem schien die Hütte dann doch nicht gewesen zu sein. Langsam trottete er den Wirtschaftsweg Richtung August-Winkhaus-Straße entlang. Ein Blick auf sein Iphone zeigte ihm dreizehn unbeantwortete Anrufe. Was ist denn hier los, ich bin doch kein „big busy“ Börsenmakler, dachte er bei sich. Jede Menge Handy-Nummern – und eine Festnetz-Nummer aus Münster: 0251 999 – 666. Komisch, er hatte zurzeit nur wenige Kontakte in Münster. Wer konnte wissen, dass er nach Wochen mal wieder in der Region war? Interessehalber startete er den Safari Browser seines Iphones und gab die unbekannte Nummer in das „Google“ Suchfeld ein. Ungläubig schaute er auf das Ergebnis: Polizeipräsidium Münster. Wahnsinn! Gottverdammter Aufwand für eine geknackte Fischbude, sprach er kopfschüttelnd zu sich selbst.
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3.
Die Todesnachricht war für Klara Schuster-Schopp überraschend. Es kam ihr so vor, als wäre sie nur wenige Minuten, nachdem sie sich angetrunken und übermüdet nach einem anstrengenden Abend ins Bett hatte fallen lassen, von ihrem Mann Thomas geweckt worden. „Klara“, hatte er geflüstert und sie dabei auf die Wange geküsst. „Wach bitte auf.“ Mit drückenden Kopfschmerzen und zerzausten Haaren hatte sie sich aufgerichtet, ihr Blick noch unscharf, und angehört, was Thomas ihr mit leiser Stimme erzählte: Frau von Gallenhausen habe angerufen. Tanja tot. Gefunden in der Ems.
Zuerst hatte sie noch an einen schlechten Traum gedacht, sich mit dem letzten Funken Hoffnung an dieser Idee festgehalten. Doch als ihr Blick sich mehr und mehr schärfte und sie in Thomas‘ mitfühlende braune Augen schaute, erwischte sie die Realität wie ein Schwall kaltes Wasser.
Jetzt saß sie in der Küche, mit einer Tasse schwarzem Kaffee und einem trockenen Brötchen vor sich auf dem Tisch, die lockigen, schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Klaras braune Augen starrten immer noch geradeaus. Seit dem Morgen versuchte sie sich mit aller Kraft an den vergangenen Abend zu erinnern, aber viel war nicht hängen geblieben. Die Polizei würde sicherlich bald mit den Zeugenvernehmungen beginnen, und als Tanjas ehemals beste Freundin sollte sie versuchen, den Polizisten bei den Ermittlungen mit einer einigermaßen brauchbaren Aussage zu helfen. Im Moment allerdings war keiner von Klaras Gedankengängen brauchbar.
Im Flur polterte es. Paula kam in die Küche gestürmt. Als Klaras 16-jährige Tochter einen Blick auf ihre Mutter warf, blieb sie wie angewurzelt stehen. „Mann, Mama, du siehst schrecklich aus!“