Tod in den Augen - Jean-Pierre Vernant - E-Book

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Jean-Pierre Vernant

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Beschreibung

Jean-Pierre Vernant gehört zu jenen französischen Althistorikern, die mit unkonventionellen interdisziplinären Arbeiten international großes Aufsehen erregt haben. Das Verdienst dieser Schule von Althistorikern liegt in dem Versuch, die Antike unter bislang vernachlässigten Fragestellungen wieder zum Reden zu bringen: für die Gegenwart. In seiner Analyse der beiden Frauengestalten Artemis und Gorgo zeigt Vernant, wie sich die symbolhafte Bedeutung der griechischen Mythologie entziffern läßt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Jean-Pierre Vernant

Tod in den Augen

Figuren des Anderen im griechischen Altertum: Artemis und Gorgo

Aus dem Französischen von Max Looser

FISCHER Digital

Inhalt

FISCHER WISSENSCHAFTFür JulienEinleitungArtemis oder Die Grenzen des AnderenIhr PlatzIhre FunktionenDie KurotrophieGeburtDer KriegDer KampfVon den Rändern zum MonströsenDie Maske der GorgoEin Gesicht des SchreckensFlöte und Maske. Der Tanz des HadesDie Kopf-GöttinnenDer Tod in den AugenAnmerkungen

FISCHER WISSENSCHAFT

Für Julien

Einleitung

Warum Artemis? Gewiß ist sie eine verführerische Person, deren Jugendlichkeit manche Reize mit vielerlei Gefahren vereint. Doch das Interesse, das sie bei mir weckte, und die Fragen, die ich mir über sie stellte, haben ihren Anlaß in einer umfassenderen Forschungsarbeit über die verschiedenen Arten der bildlichen Repräsentation des Göttlichen, der ich mich in den vergangenen Jahren gewidmet habe.[1] Wie haben die Griechen ihre Götter dargestellt, und welche Fäden und symbolischen Anspielungen verknüpfen für den Gläubigen ein bestimmtes Idol mit der Gottheit, die es ihm »vergegenwärtigen« soll? In diesem Zusammenhang bin ich auf das Problem der griechischen Maskengötter gestoßen, d.h. der Götter, die durch eine Maske figürlich dargestellt werden oder zu deren Kult Masken gehören, entweder Votivmasken oder Masken, die von den Feiernden getragen werden. Im wesentlichen handelt es sich dabei um drei Mächte des Jenseits: Gorgo (die Gorgo Medusa), Dionysos und Artemis. Welche gemeinsamen Züge haben diese Mächte – so verschieden sie auch sein mögen –, Züge, die sie in den Bereich des Übernatürlichen rücken, das die Maske ausdrücken soll? Die Hypothese lautet, daß sie sich, je nach ihrer eigentümlichen Modalität, alle gleichermaßen auf das beziehen, was ich mangels eines besseren Begriffs die Andersheit oder das Anderssein [l’altérité] nennen werde; sie bezeichnen die Erfahrung, welche die Griechen vom Anderen in jenen Formen machen konnten, die sie ihm verliehen haben. Zwar ist Andersheit ein ungenauer und zu weiter Begriff, aber ich halte ihn trotzdem insofern nicht für anachronistisch, als die Griechen ihn gekannt und benutzt haben. So stellt Platon die Kategorie des Selben der Kategorie des Anderen im allgemeinen (des Verschiedenen; to héteron)[2] gegenüber. Freilich darf man nicht von Andersheit schlechthin sprechen, sondern muß jeweils Typen der Andersheit sorgfältig unterscheiden und definieren: was anders (verschieden) ist in bezug auf das Lebewesen, auf den Menschen (ánthrõpos), den Zivilisierten, den erwachsenen Mann (anér), den Griechen, den Angehörigen der Polis.

So gesehen könnte man sagen, daß die monströse Maske der Gorgo die extreme Andersheit, den grauenerregenden Schrecken des absolut Anderen, des Unsagbaren, des Undenkbaren, des reinen Chaos ausdrücke: für den Menschen die Konfrontation mit dem Tod, dem Tod, den das Auge der Gorgo über jene verhängt, die ihrem Blick begegnen, einem Blick, der jedes Wesen, das lebt, sich bewegt und das Sonnenlicht erblickt, in einen starren, eisigen, blinden, verfinsterten Stein verwandelt. Dionysos dagegen verkörpert etwas ganz anderes: das plötzliche Eindringen dessen, was uns unserer alltäglichen Existenz, dem Lauf der Dinge und uns selbst entrückt, ins Zentrum des Lebens – die Verkleidung, die Maskerade, der Rausch, das Spiel, das Theater, schließlich der Trancezustand, der ekstatische Wahn. Dionysos lehrt oder zwingt uns, anders zu werden, als man gewöhnlicherweise ist; vom Vertrauten aus die Erfahrung eines Aufbruchs zu einer verwirrenden Fremdartigkeit zu wagen.

Und Artemis? Wir wollen sie so betrachten: nicht die ganze Artemis in allen Einzelheiten ihrer Heiligtümer und Gestalten[3], sondern im wesentlichen – also in dem, was dieser göttlichen Macht ihre Besonderheit, ihren vielfachen Funktionen Zusammenhalt und Einheit verleiht.

Artemis oder Die Grenzen des Anderen

Als Tochter des Zeus und der Leto, als Schwester Apollons Herrin des Bogens und der Lyra[4] wie er, nimmt Artemis einen Doppelaspekt an. Sie ist die Jägerin, die Waldläuferin, der Wildling, die Schützin, die mit ihren Geschossen die wilden Tiere erlegt und deren Pfeile zuweilen die Frauen treffen und ihnen unversehens einen jähen Tod bereiten.[5] Sie ist aber auch die Jungfrau, die reine párthenos, einer ewigen Jungfräulichkeit geweiht, und sie führt in der Freude des Tanzes, der Musik, der schönen Gesänge den anmutigen Chor der halbwüchsigen Mädchen an, die sie zu ihren Gefährtinnen, zu Nymphen und Charites macht.

Woher kommt Artemis? Darüber wurde viel diskutiert. Einige sind der Auffassung, ihr Name sei griechischen Ursprungs, andere wollen in ihr eine Fremde sehen, deren Herkunft bald nordisch, bald wiederum orientalisch, lydisch oder ägäisch sein soll. Ihre bildliche Darstellung in der archaischen Zeit erinnert in mancher Hinsicht an die Figur jener großen asianischen oder kretischen Göttin, die man »Tierherrin« oder »Herrscherin über das Wild«, Pótnia thẽron, nannte, indem man eben jene Bezeichnung aufnahm, die die Ilias an einer Stelle der Artemis gegeben hat.[6] Eins scheint jedenfalls so gut wie sicher zu sein: Der Name der Artemis scheint auf den Täfelchen in der Linear B aus dem achäischen Pylos vorzukommen. Demnach wäre sie seit dem zwölften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung im griechischen Pantheon gegenwärtig, und daß sie von den Alten selbst gelegentlich als xénẽ, fremd, ausländisch, bezeichnet wird, bedeutet, wie bei Dionysos, weniger eine nichtgriechische Herkunft als vielmehr die »Fremdartigkeit« der Göttin, ihren Abstand zu den anderen Göttern, die Andersheit, deren Trägerin sie ist.[7] Obschon die Herkunftsfrage heute immer noch unbeantwortbar ist, so kann man doch wenigstens die Züge kennzeichnen, die seit dem 7. Jahrhundert der Artemis ihre eigentümliche Physiognomie verleihen und sie zu einer eigenständigen, typisch griechischen Göttin machen, die im Pantheon einen Platz, eine Rolle und Funktionen übernimmt, die nur ihr zukommen.

Wie hat man sie traditionellerweise gesehen? In der Funktion zweier Eigenschaften. Erstens soll sie die Göttin der in jeder Hinsicht wilden Welt sein: der wilden Tiere, der unkultivierten Pflanzen und Landstriche, der jungen Menschen, solange sie noch nicht in die Gesellschaft integriert oder zivilisiert sind. Zweitens soll sie eine Göttin der Fruchtbarkeit sein, die über das Wachstum der Pflanzen, Tiere und Menschen gebietet.

Wie steht es damit wirklich? Betrachten wir zunächst ihren Platz, ihre Örtlichkeiten, sodann ihre Rolle und ihre Funktionen.

Ihr Platz

»Schenke mir alles Gebirg«, fordert Artemis von ihrem Vater in der Hymne, die Kallimachos ihr gewidmet hat[8], und sie macht deutlich, daß sie nur selten, wenn man ihrer bedarf, in die Stadt herabsteigen wird. Doch außer auf den Bergen und in den Wäldern geht sie auch an jenen anderen Orten um, die die Griechen chen agrós nennen, die unbestellten Felder, die außerhalb der Äcker die Territorialgrenzen, die eschiatiaí markieren. Als die Ländliche (agrotéra) ist sie auch Limnatis: die aus den Sümpfen und Lagunen. Sie hat ihren Platz am Meeresufer, in den Küstenzonen, wo die Grenzen zwischen Festland und Wasser unbestimmt sind. Sie hat ihren Sitz ebenfalls in Gebieten des Landesinnern, dort, wo eine Flußüberschwemmung oder stehengebliebenes Wasser einen Raum schaffen, der weder ganz trocken noch wirklich wasserreich ist und wo jeder Ackerbau sich als unsicher und riskant erweist. Was ist das Gemeinsame dieser so verschiedenen Orte, die der Göttin gehören und an denen ihr Tempel erbaut werden? Es ist weniger ein Raum der völligen Wildnis, der im Vergleich zur Stadt und zu den humanisierten Landstrichen der Polis eine radikale Andersheit darstellt; vielmehr sind es Ränder, Grenzzonen, Übergangsbereiche, in denen das Andere sich im Kontakt manifestiert, den man regelmäßig dort mit ihm pflegt, wo Wildes und Kultiviertes einander berühren, sich zwar gegenüberstehen, sich aber auch gegenseitig durchdringen.

Ihre Funktionen

Als erste Funktion die Jagd.

An der Grenze zweier Welten, deren Grenzlinien sie markiert und deren klare Ausprägung sie durch ihre Anwesenheit gewährleistet, überwacht Artemis die Jagd. Wenn der Jäger die Tiere verfolgt, um sie zu töten, dringt er in die Domäne der Bestialität ein. Er dringt zwar in sie ein, darf sich aber nicht zu weit vorwagen. Viele Mythen berichten ja darüber, was dem Jäger droht, wenn er gewisse Grenzen überschreitet: von der Gefahr des Verwilderns, der Verwandlung in ein fremdes Tier. Dennoch bildet die Jagd gerade für den Jugendlichen ein wesentliches Element der Erziehung, jener paideía, die ihn in die Polis integriert.[9] Am Grenzsaum des Wilden und des Zivilisierten führt sie den Halbwüchsigen in die Welt der wilden Tiere ein. Aber die Jagd wird in der Gruppe und mit Disziplin ausgeübt; sie ist eine kontrollierte und reglementierte Kunst mit strengen Geboten, Verpflichtungen und Verboten. Nur wenn diese gesellschaftlichen und religiösen Normen überschritten werden, verwildert der aus dem Menschlichen herausfallende Jäger und wird unmenschlich, so wie die Tiere, denen er gegenübertritt. Artemis, die eifersüchtig darüber wacht, daß die Tiere respektiert werden, bestätigt die Unantastbarkeit einer Grenze, deren extreme Unbeständigkeit wegen des Risikos, sie in jedem Augenblick zu gefährden, die Jagd hervorhebt.

Abbildung 1: Artemis. Attisches Vasenbild

Artemis bedeutet also nicht bestialische Wildheit, Gesellschaftslosigkeit. Sie bewirkt sozusagen, daß die Grenzen zwischen dem Wilden und dem Zivilisierten in gewissem Maße durchlässig bleiben, da die Jagd uns vom einen Bereich in den anderen übergehen läßt, daß sie aber zugleich getrennt bleiben, da die Menschen sonst verwildern würden, wie es Polybios zufolge im 3. Jahrhundert mit den Arkadiern geschah, die auf einen vorzivilisatorischen Stand zurückfielen, weil sie die von der Göttin unterstützten Riten und Bräuche vernachlässigten. Sie verließen Städte und Ortschaften, lebten zurückgezogen, und indem sie sich gegenseitig massakrierten, bewiesen sie die gleiche Wildheit wie die wilden Tiere, die sie dazu antreibt, einander aufzufressen.[10]

Die Kurotrophie

Artemis ist die Kurotrophos schlechthin. Sie nimmt sich aller Sprößlinge an, jener der Tiere und der Menschen, gleichgültig, ob männlich oder weiblich. Ihre Funktion besteht darin, sie zu ernähren, sie zum Wachsen und Reifen zu bringen, bis sie vollständig erwachsen sind. Die Menschenkinder führt sie bis an die Schwelle der Adoleszenz, die sie, indem sie ihr ihr Jugendleben überlassen, mit Zustimmung und Hilfe der Artemis überwinden müssen, um über die von ihr geleiteten Initiationsriten die volle Gesellschaftsfähigkeit [socialité] zu erlangen – das junge Mädchen tritt in den Stand der Gattin und Mutter ein, der Jüngling in den des Bürger-Soldaten. Matrone, Hoplit: Lebenszustände, die das Modell dessen bilden, was Frau und Mann werden müssen, um in Übereinstimmung mit den anderen zur gesellschaftlichen Identität zu finden. In der Zeit des Heranwachsens nehmen die Jugendlichen, bevor sie die Schwelle überschreiten, ebenso wie die Göttin eine randständige, ungewisse und mehrdeutige Position ein, bei der die Grenzen zwischen Knaben und Mädchen, Jugendlichen und Erwachsenen, Tieren und Menschen noch nicht klar festgelegt sind. Die Jugendlichen befinden sich in der Schwebe, sie gleiten von einem Status zum anderen; die Mädchen übernehmen die Rollen und Verhaltensweisen der Knaben, die Jungen spielen Erwachsene, indem sie sich als gereift und völlig entwickelt ausgeben; die menschlichen Geschöpfe gleichen sich den wilden Tieren an. Nur ein Beispiel: Atalante, die am meisten der Artemis ähnelnde unter den parthénoi, die Jungfrau, die ihr Leben lang im Umkreis der Artemis bleiben will, ohne jemals die Grenze zu überschreiten, jenseits deren die Jungfrau zu dem wird, was ihre Bestimmung ist: zu einer Ehegattin, zu einer Matrone, so wie alle anderen Frauen auch.[11] In den Wäldern wird Atalante seit ihrer Geburt von einer Bärin gesäugt, die sie mittels der Milch ihrer Zitzen und indem sie sie ebenso leckt, wie sie es bei ihren eigenen Jungen tun würde, »nach Art der Bären aufzieht«.[12] Das kleine Mädchen wächst so schnell heran, daß es in wenigen Jahren die Größe, die Körperkraft und das Aussehen einer Erwachsenen erlangt. Ihre Schönheit ist, entgegen ihrem Verhalten, nicht nur knabenhaft; Atalante ist so männlich, daß sie alle, die ihr begegnen, in Schrecken versetzt.[13] Nachdem sie téleia oder hóraia geworden ist, d.h. das Alter erreicht hat, in dem eine Frau reif ist und Kinder gebären kann, lehnt sie das télos der Ehe, die Vollendung der Weiblichkeit ab, zu der Artemis sie führen soll, damit sie diese schließlich verläßt – das junge Mädchen soll sich ihr zur gewünschten Zeit entziehen und zur Frau werden. Indem Atalante sich ganz der Artemis widmet und ebenso wie diese für immer Jungfrau bleiben will, reduziert sie die Weiblichkeit auf das Anfangsstadium. Sie lehnt es ab, jene Grenze kennenzulernen und zu überschreiten, welche die jugendliche Andersheit von der Identität der Erwachsenen trennt. Deshalb sind Atalantes Status und Wesen uneindeutig – bei ihr unterscheidet sich das Kind, pais, nicht von der reifen Frau; das Mädchen verfällt in eine Hypervirilität, statt sich vom Knaben abzugrenzen; das menschliche Geschöpf wird zu einer Bärin. Als Atalante schließlich die Ehe verordnet wird, verwandelt sich diese in einen Wettlauf, in eine wilde Verfolgung, in deren Verlauf die Braut ihren Bewerber wie auf einer Jagd hetzt und massakriert. Und als schließlich Aphrodite eingreift, um das Mädchen leidenschaftlich verliebt zu machen, geschieht dies in einer tierhaften Vereinigung, bei der Gatte und Gattin in Löwen verwandelt werden.

Nun ist aber die Welt der Artemis gerade nicht die der Atalante. Artemis ist nicht auf sich selbst zurückgezogen, verschlossen in ihrer Andersheit; sie öffnet sich auf das Erwachsenenalter hin. Die Rolle der Artemis besteht darin, die Jugendlichen in einen Zustand zu versetzen, der es ihnen erlaubt, sie zu verlassen, wenn der Augenblick dafür gekommen ist; sie begründet die Rituale, mit denen sie sie entläßt, wobei sie sie auf die andere Seite, ins Gebiet des Selben begleitet.