Tod in Hamburg - Gunter Gerlach - E-Book

Tod in Hamburg E-Book

Gunter Gerlach

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Beschreibung

Moritz Brahms, Gitarrist und privater Ermittler, findet die Leiche seines Bandkollegen Robert Manley. Schnell wird klar: Robert Manley hatte viele Feinde. Doch wer war sein letzter Gast? Brahms nimmt die Ermittlungen auf und lässt sich von seiner Spürnase kreuz und quer durch Hamburg führen. Von den grünen Vierlanden bis zum noblen Blankenese, von der szenigen Schanze bis zum schicken Eppendorf – Gunter Gerlach fängt die Atmosphäre und den Charme der Hansestadt exakt ein und lässt seinen Helden und Hundekenner an allen Ecken schnüffeln.

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Gunter Gerlach

Tod inHamburg

Brahms ermittelt

Ein Ellert & Richter Krimi

When I carefully consider the curious habits of dogs I am compelled to conclude That man is the superior animal

When I consider the curious habits of man I confess, my friend, I am puzzled.

Betrachte ich so recht die Umgangsform des Hundes, Komm ich zwangsläufig zu dem Schluß, Daß der Mensch das höhere Tier ist.

Betrachte ich so recht die Umgangsformen des Menschen, Gesteh ich, Freund, da werd ich ganz konfus.

Ezra Pound, Meditatio

1

Wenn man halb Mensch, halb Hund ist, fallen bestimmte Entscheidungen leicht. Brahms hatte es aufgegeben, Kammerjäger werden zu wollen, und auf seine Visitenkarte geschrieben: Privater Ermittler. Das eine wie das andere hatte seinem Vater die Zornesader auf der Stirn anschwellen lassen. Für ihn war es der erneute Beweis, dass sein Sohn mit dreißig Jahren immer noch nicht wusste, was er wollte. Ein Versager.

Mit dem vollständigen Instinkt eines Hundes hätte er an diesem Morgen Mord und Mörder vielleicht bereits gespürt. Doch noch saß er im Stau auf der Elbbrücke und drehte an der Klimaanlage seines Wagens. Neben ihm dröhnte ein Basslautsprecher auf vier Rädern. Ein Jugendlicher am Steuer nickte im Takt. Jetzt kurbelte er das Fenster seines alten Wagens herunter. Seine Musik sollte die Welt erobern. Er hängte seinen Arm heraus und klopfte auf das Blech, als wär’s ein Pferd. Das wäre jetzt die Lösung, dachte Brahms, ein Pferd. Er sah durch das Brückengeländer hinab auf die Elbe. Das Wasser ein dunkler Teig. Träge streckte es sich nach Norden, gab dem Verkehr den Takt vor. Darüber erhoben sich die großen eisernen Bögen der alten Konstruktion. Saurierskelette.

Dreißig Minuten Fahrzeit hatte ihm sein Navigator für die Strecke von Eppendorf bis Vierlande, dem Hamburger Gemüsegarten im Osten, vorgegeben. Das Programm wollte mit der Wirklichkeit des Verkehrs nichts zu tun haben.

Brahms kam neben einem Mercedes zu stehen. Ein Hund hinter Glas bellte ihn an. Ein Neufundländer. Er brachte die Ungeduld und Wut des Fahrers zum Ausdruck. Beide zu dick, nah am Herzinfarkt. Brahms sah an ihm vorbei und gähnte, um den Hund zu beschwichtigen. Es wirkte. Er senkte den Kopf, kein Bellen mehr, aber er zog die Lefzen hoch, knurrte vermutlich noch. Brahms dachte an die Auseinandersetzung mit seinem Vater. Das Familienunternehmen, der Kaffee-Import und die Großrösterei erwarteten ihn. Er sollte zurückkommen, neben dem Vater die Geschäfte führen. Wie es sich für einen hanseatischen Kaufmannssohn gehörte.

Er stellte die Lüftung des Wagens höher, öffnete das Seitenfenster einen Spaltbreit. Er überlegte, ob er Robert anrufen sollte, andererseits nahm dieser es mit der Pünktlichkeit auch nicht so genau.

Die Autoschlange setzte sich langsam wieder in Bewegung. Am Ende der Elbbrücken wurde ein erster Staugrund sichtbar. Ein Kleinwagen lag vor Erschöpfung auf der Seite. Ein zweiter stand zerknittert am Brückengeländer, sprach den Fahrer daneben schuldig.

Brahms Handy auf dem Beifahrersitz klingelte. Er blickte sich um, ob ihn nicht die Besatzung eines Polizeiwagens beim verbotenen Telefonieren am Steuer beobachtete, dann nahm er den Apparat ans Ohr.

„Ich bin’s, Caroline“, tönte es wie der Anfang eines Liedes.

„Hallo, was gibt’s denn?“

„Lutz, du bist doch bei Robert?“

„Nein, nein, noch nicht. Es sind überall Staus. Wenn es so weitergeht, brauche ich noch eine halbe Stunde.“

„Ach so, noch nicht.“ Sie machte eine längere Pause, sodass Brahms glaubte, die Verbindung sei unterbrochen.

„Caroline?“

„Ja.“

„Was wolltest du?“

„Na ja. Ich versuche ihn immer anzurufen, aber es schaltet sich nicht einmal seine Mailbox ein. Verstehst du das?“

„Er muss da sein. Er erwartet mich.“

„Ja, also vielleicht kannst du ihm was ausrichten. Ich glaube, ich hatte versprochen, heute Nachmittag zu ihm raus zu fahren, aber ich schaffe es nicht.“

„Du glaubst ...?“

„Es ist wegen … es ist wegen Ronny.“

„Gut, ich richte ihm aus, dass du einen anderen hast.“

„Das ist mein Pferd.“

„Ein Pferd?!“

Sie lachte im Voraus über den kommenden Witz. „Du weißt doch, das große Tier, das immer ein langes Gesicht macht.“

„Okay, ich richte Robert aus, dass du ihm ein Pferd vorziehst.“

„Es ist … weil der Tierarzt kommt.“

„Gegen ein Pferd und einen Tierarzt kommt Robert nicht an.“

Caroline verabschiedete sich. Brahms legte auf. Der Verkehr stand wieder.

Ein Pferd, ein Pferd, ein Königreich für ein Pferd.

Er beneidete Robert um Caroline. Sie besaß eine spezielle Gestik, mit der sie alle Männer für sich einnahm. Es war, als fände sie ohne Mann keinen Halt, würde schwanken oder sogar umfallen. Wenn Männer und Frauen sich trafen, nach Geschlechtern Gruppen bildeten, saß einzig Caroline unter den Männern. Sie neigte sich deutlich jenen zu, die sie mochte, hängte sich bei ihnen ein, unterstrich Worte, in dem sie den Gesprächspartner unvermittelt berührte, anfasste, festhielt. Es lag nicht die Absicht dahinter, mit dem Berührten eine engere Beziehung einzugehen. Wer das glaubte, stieß schnell an Grenzen. Sie schien als Einzelwesen nicht existieren zu können, so wie ein Baum den Wald zum Schutz vor dem Wind braucht.

Sie beeindruckte Männer mit ihrem Äußeren. Langes blondes Haar. Ihr tadelloses Gebiss bestand vielleicht aus mehr Zähnen als bei normalen Menschen. Sie war die Tochter eines Zahnarztes aus Blankenese und dessen beste Werbung. Und sie war der Grund für Roberts Trennung von seiner Frau Lara gewesen. Seit sechs oder fast sieben Jahren war sie mit ihm zusammen. Nicht einfach bei einem Mann, der bei Frauen keine Gelegenheit ausließ.

Ende der Sechzigerjahre war Robert Manley aus London nach Hamburg gekommen. Er wollte hier wie die Beatles Karriere machen. Es reichte nur zur regionalen Größe. Unter den Groupies am Bühnenrand war damals immer wieder Lara, sie wollte Bluessängerin werden, stattdessen wurde sie schwanger. Roberts Sohn Ian wurde geboren. Lara behielt aber ihren Job in der Werbung. Robert gefiel das nicht.

„Ich wollte Musiker sein, erfolgreich oder arm“, hatte er zu Brahms gesagt. „Je mehr Lara verdiente, umso mehr hatte ich das Gefühl, meine Arbeit sei nichts wert.“

„Aber sie ermöglichte euch ein angenehmes Leben.“

„Ich wollte kein angenehmes, ich wollte ein aufregendes Leben.“

Mit 57 Jahren war er immer noch im Musikgeschäft, spielte zusammen mit Brahms in einer Band. Pflückte sich die Mädchen vom Bühnenrand. Und in den letzten Jahren hatte er endlich größeren Erfolg. Er komponierte für andere Sänger. Seine Songs kamen in die Hitparaden. Später Ruhm, aber nur unter Musikern, denn nur sie interessierte, wer der Komponist war. Robert verdiente jetzt genug. Es reichte sogar für ein kleines Häuschen. Nicht vorn in Blankenese, aber auch an der Elbe. In Vierlande, dem Hinterhof Hamburgs.

Der Basslautsprecher war wieder neben ihm. Brahms betrachtete sich im Rückspiegel. Die Stirn glänzte. Das dunkle Haar war lang und struppig. Nie entschied es sich für eine Richtung, und selbst bei hoher Luftfeuchtigkeit legte es sich nicht. Er hob die Nase ins Spiegelbild. Sie war zu groß, dafür besaß er einen ausgeprägten Geruchsinn wie ein Hund.

„Die Nase hast du von mir“, hatte der Vater gesagt. „Fürs Kaffeegeschäft braucht man vor allem eine Nase.“

Mit dem Erreichen der Autobahnauffahrt erhöhte sich die Geschwindigkeit, obwohl die Wagen immer noch dicht auffuhren. Er schaltete das Radio lauter und drückte auf Suchlauf. Doch die Sender unterschieden sich an diesem Morgen weder durch ihre Gute-Laune-Musik noch durch die aufgesetzte Heiterkeit der Moderatoren. Jedes Lachen eine Lüge im Wettbewerb um die meisten Hörer.

Brahms stand der Sinn nach schlecht gelaunten Sängern. Er langte nach einer alten Dylan-CD auf dem Rücksitz. Nur aus den Augenwinkeln nahm er gerade noch rechtzeitig das Aufflammen roter Rücklichter wahr. Er umklammerte das Lenkrad, trat mit voller Kraft auf die Bremse und kam mit wenigen Millimetern Abstand hinter seinem Vordermann zum Stehen. Dylan-CD und Handy flogen an ihm vorbei, versammelten sich zu seinen Füßen. Er angelte nach dem Handy, das sich in drei Teile zerlegt hatte.

Brahms brauchte weitere zehn Minuten bis zum Autobahnkreuz Hamburg-Süd. Er bog ab auf die Autobahn Richtung Lübeck. Sechs Fahrspuren lagen hier unter den Lastwagenschlangen, den Absperrungen und dem Staub der Baustellen verborgen. Der Sand knirschte zwischen seinen Zähnen. Er stellte die Lüftung ab, öffnete das Seitenfenster und spuckte die Baustelle aus. Nächste Abfahrt Moorfleet. Langsam kam das blaue Möbelhaus in Sicht, das nicht nur hier am Autobahndreieck, sondern mit seinen Produkten auch in Brahms Wohnung teilweise strategische Position bezogen hatte.

Er fuhr von der Autobahn ab und befand sich auf dem Lande. Er atmete tief. Hamburg war plötzlich Dorf. Die Straße führte zwischen Gärtnereien und Gemüsefeldern entlang.

Entgegen des Navigatorvorschlags nahm er die Straße neben dem neuen Deich. Er kannte die baumlose Strecke als längeren, aber schnelleren Weg. Er gab Gas. Die Wegelagerer mit ihrem Geschwindigkeitsradar standen hier nie. Zu wenig Verkehr, zu wenig Beute. Die Häuser lagen zusammengesunken hinter dem alten Elbdeich. Jahrelang hatten sie sich über ihn hinaus gereckt, aber die Flut stieg immer höher. Ein neuer Deich war gebaut worden, hatte ihnen restlos den Blick auf den Fluss geraubt.

Vor dem Deich teilte sich der Fluss in Norder- und Süderelbe. Brahms grinste, als er an den Wasserkrieg dachte. Im 19. Jahrhundert hatten die Hamburger mit der Vertiefung der Norderelbe den Harburgern im Süden das Wasser abgegraben. Die Pfeffersäcke leiteten die Binnenschifffahrt einfach in ihren Hafen um. Und je tiefer das Flussbett, umso mehr Geld floss in die Kassen.

Brahms bog auf den alten Elbdeich ab. Er parkte oberhalb von Roberts Haus, halb auf der Rasenfläche, die vom Deich hinabführte. Jedes Mal, wenn er hier aus dem Auto stieg, überraschte ihn die Stille. Das Rauschen der Stadt eine ferne Brandung. Der verwehte Ton einer Kirchenglocke schlug die halbe Stunde, die er zu spät kam. Eine Fliege traf seine Stirn und öffnete ihm die Ohren für das Summen der Insekten. Wenn er den Kopf auf den Marschboden legte, würde er wahrscheinlich die Regenwürmer bei der Arbeit hören.

Robert hatte das schiefe Backsteinhaus vor einem halben Jahr von einem pensionierten Kapitän gekauft. Der wollte das Schiff verlassen, bevor es kenterte. Nur das ausgebaute Dachgeschoss ragte noch über den alten Deich.

Direkt über der Klingel endete einer der Risse im Mauerwerk, als wäre mal der Blitz eingeschlagen. Wie konnte Robert diesen Klingelton ertragen? Eine Melodie von ABBA.

Im Haus rührte sich nichts. Brahms kannte den Trick mit der Tür, sie hatten schon einige Male mit der Band hier draußen geprobt. Man musste die Tür am Griff heranziehen und dann mit dem Fuß unten dagegen drücken, schon öffnete sie sich.

„Robert?“

Er trat in den dunklen engen Flur. Das Haus atmete gedünstetes Gemüse vom Vorabend und feuchtes Leinen der Nacht aus. Hinzu kam ein kaum wahrnehmbarer Hauch von Parfum. Und da war noch etwas Undefinierbares. Brahms hob die Nase, seine Nackenhärchen stellten sich auf.

„Robert, bist du da?“, bellte er laut, erschrak über seinen Ton. Er zögerte, er wollte ihn nicht mit einem Mädchen im Bett überraschen.

Brahms räusperte sich, glättete seine Luftröhre und schickte ein gesungenes „Ich bin’s, Brahms“ in die Dunkelheit des Hauses. Der Flurspiegel neben ihm zeigte sein Abbild. Ein Zerrspiegel. Die Nase groß voraus, im Gesicht ein dunkler Schatten heftigen Bartwuchses. Die Ohren ragten aus dem Gestrüpp des dunklen Haars heraus. Strähnen waren über die Stirn herabgefallen, dazwischen glühten die braunen Augen. Ein halber Hund.

Er wartete auf ein Flüstern oder ein Kichern, wenigstens ein Schnaufen oder den typischen Raucherhusten Roberts. Marke Senior-Service.

Nichts.

Er tappte weiter in den Flur hinein. Der Geruch einer toten Ratte stieg ihm in die Nase. Ein Knurren löste sich, er hob die Lippen, ging einen halben Schritt rückwärts. Er roch Gefahr. Die Nackenhärchen stellten sich auf. Mit einer schnellen Kopfbewegung sicherte er nach hinten. Der Fluchtweg war frei, die Haustür stand noch offen. Vorsichtig näherte er sich der Wohnzimmertür, stieß sie auf. Die Luft versetzte ihm einen Schlag, doch er hielt stand.

Robert, im Schlafanzug, lag auf den Knien und hatte den Kopf bis zum Boden gesenkt, bewegte sich nicht. Eine Haltung wie ein Jockey auf einem Pferd. Brahms schlich geduckt heran, legte einen Finger an den Hals Manleys. Aber er wusste schon vorher: Robert war tot.

2

Flüchten oder standhalten? Er zitterte. Jedes Körperhaar wurde Antenne. Nicht nur durch Mund und Nase sog er die Welt ein, sondern durch jede Pore. Brahms kannte diesen Moment. Die Fähigkeiten seiner Sinne wuchsen ins Unermessliche, öffneten ihm eine Welt hinter seinen Augen. Sterne auf einem eiskalten Winterhimmel. Aber zugleich schossen auch die giftigen Säfte der Angst in seinem Körper empor wie das Quecksilber in einem Thermometer, das in heißes Wasser getaucht wurde. Eiskalt und kochend heiß. Dieser Zustand sich widersprechender Emotionen entstand immer bei außergewöhnlichen Ereignissen. Wenn ihm offene Aggression begegnete, wenn ihn die Liebe überraschte und in Gegenwart des Todes.

Was er in solchen Momenten sah, roch, fühlte und hörte, zog ihn mit aller Macht an und bedrängte ihn gleichzeitig so sehr, dass er sich dem Wunsch zu fliehen kaum entziehen konnte. Mit angespannten Muskeln, zitternden Gliedern fühlte er sich den Hunden aus der Zucht seines Onkels näher als fast jedem Menschen. Er wusste, was sie wussten.

Ein Vorteil, als er noch auf dem Hundeplatz geholfen hatte. Die Hunde suchten seine Nähe, ließen ihn nie aus den Augen. Eine Geste, ein geflüstertes Wort genügte und sie taten, was er wollte. Noch heute ordnete sich ihm das ganze Rudel sofort unter. Zum Ärger von Bruno Kimpfert, der sich um die Zucht und Ausbildung kümmerte.

Bereits beim Betreten von Roberts Haus hatte Brahms den Tod gespürt. Und jeder tote Körper bedeutete Gefahr. Was immer ihn umgebracht hatte, Bakterien, Viren, Tiere oder Menschen, konnte sich auch auf den nächsten Lebenden stürzen.

Die Bilder, die Brahms zu der vielfach geschwängerten Luft des Hauses assoziierte, überlagerten einander. Aber der stärkste Eindruck bestätigte sich, als er sich dem Toten näherte. Robert war an Gift gestorben. Ein Gift, das Brahms ihm gegen die Ratten besorgt hatte. Diese Ausdünstung des vom Körper aufgenommenen und durch die Haut abgegebenen Giftes kannte er. Mit ein paar Sprüngen war er wieder an der Tür. Er wollte nichts berühren und verändern. Nicht Roberts Telefon benutzen. Er musste zurück zum Wagen und versuchen, sein Handy zusammenzusetzen. Hilfe holen. Ein Fall für die Polizei.

Er hielt inne, dachte nach. Was immer hier geschehen war, er war beteiligt daran. Was immer er tat, es konnte gegen ihn ausgelegt werden. Gerade durch die Verwendung seines Giftes wurde der Fall zu seinem Fall. Er atmete tief ein, richtete sich auf. Die Polizei konnte warten. Er würde zuerst durch alle Räume gehen, ein Bild von Roberts letztem Abend zusammensetzen, möglichst ohne eigene Spuren hinzuzufügen.

Ein Essen in der Küche am großen Holztisch. Er beugte sich zu den frischen Fettflecken hinunter. Zwei Personen hatten hier gesessen. In der Spüle zwei Glasschüsseln mit Resten von Salat und Dressing, darunter zwei Teller, auf dem oberen Speisereste. Er hob ihn vorsichtig an. Der untere Teller war blank. Abgewaschen oder nicht benutzt. Rechts neben der Spüle lagen die Zutaten. Ein Spaghettigericht mit Gemüse, Pilzen und scharfem rotem Pesto war gekocht worden. Das Fenster dahinter angelehnt. Und auf der Fensterbank stand sie, die alles entscheidende Zutat. Rattengift. Kyrillische Schrift. Ein großer schwarzer Totenkopf auf gelbem Grund. Die abgebildete Ratte ließ keine Verwechslung zu. Daneben Bierflaschen mit Flüssigkeitsresten. Aber auch zwei Flaschen Rotwein. Der Duft der dritten Flasche hing im Raum, sie stand angebrochen auf dem Tisch. So geht ein Macho-Leben zu Ende: ein gutes Essen, ein edler Rotwein, eine Frau im Bett und dann sterben.

Mit dem Fuß stieß er die angelehnte Schlafzimmertür auf. Wie erwartet war das Bett zerwühlt. Die Falten des Betttuchs konzentrierten sich auf die Mitte, bildeten Fragezeichen. Die Bettdecke hing auf den Fußboden herab. Kleidung lag verstreut, halb unterm Bett. Auf einem Tablett brannte noch eine dicke Kirchenkerze. Sie würde nichts nützen. Robert kam in die Hölle. Ruß lag im Wettstreit mit einem Parfum in der Luft, von dem Brahms nicht wusste, zu wem es gehörte, außer dass Männer es bevorzugten. Roberts Duft war es jedenfalls nicht.

Das Badezimmer war im Gegensatz zu den anderen Räumen erstaunlich sauber. Salmiakgeist.

Brahms betrat die erste Stufe der steilen Treppe nach oben. Er sog die Luft ein, dann schlich er hinauf. Der Geruch von Lösungsmitteln. Oben unterm Dach gab es weitere Räume, ein kleines zusätzliches Badezimmer und eine Dachkammer. Brahms lauschte nach Leben, legte sein Ohr gegen eine der Zimmertüren, dann drückte er die Klinke mit dem Ellbogen. Ihre Feder quietschte. Das Zimmer atmete aus. Es war das Gästezimmer mit schrägen Wänden. Das Bett noch frisch bezogen, davor eine Barrikade aus gestapelten Tischen und Stühlen.

Die Tür daneben führte zur Dachkammer. Ein staubiger Raum. Sonnenfinger stachen durch die Löcher zwischen den Ziegeln. Von Balken zu Balken hing eine Wäscheleine, gab Spinnweben Halt. Eine vergilbte Zeitschriftensammlung neben der Tür. Seglermagazine.

Das nächste Zimmer barg für Brahms eine Überraschung. Neben dem Fenster, von dem man früher einmal die Elbe hatte sehen können, stand eine Staffelei mit einem unfertigen abstrakten Gemälde. Mehrere ähnliche Bilder lehnten an der Wand. Auf einem kleinen Rollregal Malutensilien. Pinsel, Spachtel, Farbtuben, Paletten, Gläser mit Wasser. Ein Lüfter lief auf unterster Stufe.

Robert hatte in letzter Zeit davon gesprochen, dass er auch male. Brahms hatte sich kleine Aquarelle vorgestellt. Diese Bilder aber waren auf Leinwand und Keilrahmen, über einen Meter hoch und fast ebenso breit. Mit Spachtel und Pinsel hatte Robert Farben in unregelmäßigen verschachtelten Formen aufgebracht. Daneben gab es weitere Bilder auf Malkarton. Eine Landschaft. Er übte noch. Eine typische Vierländer Marsch. Im Gegensatz zu den großen abstrakten Gemälden war hier die Farbe mit zaghaftem Strich auf die Leinwand gesetzt. Eine Flucht von Ackerfurchen und gläsernen Gewächshäusern ausgerichtet auf den in der Ferne liegenden Deich. Dahinter ein Haus, das noch mit einem Fenster über den Deich lugte. Möglicherweise Roberts Haus. Dieses Bild passte nicht zu ihm. Sicher gab ihm jemand Unterricht, hatte das Motiv vorgegeben.

Er wollte die dahinter stehenden Bilder sehen, befürchtete Fingerabdrücke zu hinterlassen, obwohl das auf der Leinwand kaum möglich war. Er zog den Ärmel seines Hemdes über die Hand und klappte die an der Wand lehnenden vorderen Bilder gegen sein Knie.

Heftiges, mehrmaliges Hupen. Er fühlte sich ertappt. Am Fenster schob er seinen Kopf nur so weit vor, bis er das Auto sah. Ein roter Golf Cabrio, das Dach offen. Lara, Roberts Exfrau. Sie schlug zum zweiten Mal auf die Hupe ein und warf ihr rotes Haar zurück. Wutfalten über der Nase. Weiter hinten am Gasthaus lehnte ein Mann mit einer Schiffermütze und beobachtete sie.

Brahms kam sich wie ein Einbrecher, mehr noch wie der Mörder vor. Was sollte Lara denken, wenn sie jetzt ins Haus ginge, Robert sähe und er aus dem oberen Stockwerk käme.

Er sprang hinunter, öffnete die Haustür und ging dann ganz langsam auf Lara zu, ohne sie anzusehen. Er gähnte. Eine Hundegeste, um aggressive Gesprächspartner zu beschwichtigen. Sie stieg nicht aus. „Hi“, sagte sie, als wäre es eine Qual. „Ich gehe nicht in dieses Haus. Ich war da noch nie drinnen. Wenn ich mir vorstelle, ich begegne einem dieser kleinen Mädchen, die in seinen Betten herumliegen. Einer sollte ihn mal anzeigen. Die sind doch minderjährig.“

Sie richtete sich auf, glättete ihr Gesicht und lächelte ihn an. „Ich komme nur, um ihn zu mahnen. Gibst du ihm bitte diesen Brief. Er ist jetzt schon zwei Monate mit seiner Zahlung an mich im Rückstand. Ich weiß, dass er das absichtlich macht, aber jetzt ist Schluss. Ich gehe zu meinem Anwalt und dann geht’s vor Gericht.“ Laras Stimme war immer noch rau, aber dunkler als vor Jahren, als sie Bluessängerin werden wollte. Eine Zeit lang trat sie mit Robert auf, bis sie schwanger wurde. Brahms hatte Ian, ihren Sohn, lange nicht gesehen.

Er nickte und nahm den Brief. Er würde ihren Auftrag nicht mehr ausführen können. Er hätte jetzt gern das Nicken zurückgenommen. Es erschien ihm wie ein Eingeständnis einer Beteiligung an Roberts Tod.

„Ist was, Brahms?“

Er überlegte, ob er ihr sagen sollte, was im Haus geschehen war. Möglicherweise musste er sie dann davon abhalten hineinzustürmen, um Sachen herauszutragen. War sie Erbin? Vielleicht weckte der Tod auch ihre Liebe zu Robert neu. Tränen wären möglich. Er schüttelte den Kopf.

Sollte sie ihn jemals später fragen, würde er erklären, sie hätte ihn damals nicht zu Wort kommen lassen. „Mach’s gut“, sagte sie. „Ich bin spät dran. Überall Verkehrsstaus. Bin mit einer Freundin in Bergedorf verabredet.“

„Grüß Ian“, sagte er. Das hatte er noch nie getan und befürchtete, sie würde dadurch stutzig werden, nachfragen, ob etwas Besonderes sei.