TOD in ROT - Micha Krämer - E-Book

TOD in ROT E-Book

Krämer Micha

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Beschreibung

Nina Morettis siebter Fall. Starb der Mann in dem roten Weihnachtsmannkostüm tatsächlich eines natürlichen Todes? Bereits einen Tag nach Einäscherung der Leiche bekommt Oberkommissarin Nina Moretti ein anonym verschicktes Paket. Der Inhalt, ein abgeschnittener Finger und ein Büschel Haare des Verstorbenen. Nina und ihr Team beginnen zu ermitteln. War der nette ältere Herr aus der Hippiekommune wirklich der, für den er sich ausgab? Hat den Mann etwa seine linksextreme Vergangenheit eingeholt? War er in den Siebzigern gar ein V-Mann des Verfassungsschutzes?

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Veröffentlichungsjahr: 2015

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Über den Autor

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Epilog

Danksagung

Micha Krämer

TOD IN ROT

Im Verlag CW Niemeyer sind bereits folgende Bücher des Autors erschienen:

Tod im Lokschuppen

Krähenblut

Tod im Elefantenklo

Über deine Höhen

el toro

GEMA TOD

Romeo

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

© 2015 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Druck und Bindung: CPI books

eISBN 978-3-8271-9876-1

EPub Produktion durch ANSENSO Publishing www.ansensopublishing.de

Der Roman spielt hauptsächlich in einer allseits bekannten Region im Westerwald, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

 

 

Über den Autor:

Micha Krämer wurde 1970 in Kausen, einem kleinen 700 Seelen Dorf im nördlichen Westerwald, geboren. Dort lebt er noch heute mit seiner Frau, zwei mittlerweile erwachsenen Söhnen und seinem Hund. Der regionale Erfolg der beiden Jugendbücher, die er 2009 eigentlich nur für seine eigenen Kinder schrieb, war überwältigend und kam für ihn selbst total überraschend. Einmal Blut geleckt, musste nun ein richtiges Buch her. Im Juni 2010 erschien „KELTENRING“, sein erster Roman für Erwachsene, und zum Ende desselben Jahres folgte sein erster Kriminalroman „Tod im Lokschuppen“, der die Geschichte der jungen Kommissarin Nina Moretti erzählt. Was als eine einmalige Geschichte für das Betzdorfer Krimifestival begann, hat es weit über die Region hinaus zum Kultstatus gebracht. Inzwischen findet man die im Westerwald angesiedelten Kriminalromane in fast jeder Buchhandlung im deutschsprachigen Raum.

Neben seiner Familie, dem Beruf und dem Schreiben gehört die Musik zu einer seiner großen Leidenschaften.

Mehr über Micha Krämer auf www.micha-kraemer.de

Prolog

Nichts wog schwerer als der Verrat und dennoch hatte der Gott der Israeliten ein diesbezügliches Gebot, wie es schien, vergessen. Es stellte sich die Frage: War es Absicht oder doch eher ein Versehen Gottes, dass er an fast alle Sünden gedacht, aber diese eine unausgesprochen ließ? Dabei war es doch der Verrat des Judas gewesen, der einst das Schicksal des Gottessohnes besiegelt hatte. War es da nicht logisch, dass es noch dieses elfte Gebot geben musste: Du sollst keinen Verrat begehen an deinen Nächsten. Hatte nicht Jesus selbst beim letzten Abendmahl gesagt „Der mit der Hand mit mir in die Schüssel tauchte, der wird mich verraten. Des Menschensohn geht zwar dahin, wie von ihm geschrieben steht; doch wehe dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre ihm besser dass er nie geboren wäre.“

Ja, so stand es in der Bibel. Der Verrat war die schlimmste aller Sünden. Eine Todsünde, für die es nur eine Strafe geben konnte. Es musste getan werden. Hier und heute. Als Mahnung an alle, die sich mit dem Gedanken trugen, Verrat zu begehen. Er zog die Sturmhaube über den Kopf, rückte sie gerade und griff nach der Pistole, die vor ihm auf dem Tisch lag. Langsam erhob er sich und sah noch einmal in den Spiegel an der Wand. Dann ging er die steinernen Stufen hinab in den Keller. Der Verräter kniete auf dem Boden. Die anderen standen um ihn herum. Alle trugen sie Masken, bis auf den Mann hinter der leise ratternden Super 8-Kamera. Trotz des Sacks über dem Kopf des Verräters war sein Zittern deutlich zu sehen. Er wimmerte und es roch nach Urin. Ein kurzer Blick zur Kamera, sie lief.

„Es wäre ihm besser dass er nie geboren wäre“, flüsterte er noch einmal die Worte des Herrn.

Dann lud er die Pistole durch, setzte sie in den Nacken des Judas und drückte ab.

Kapitel 1

Freitag, 05. Dezember 2014

Weihnachtsmarkt/Betzdorf Sieg

Ninas Gesicht glühte. Verflucht, war ihr warm. Am liebsten hätte sie sogar die dicke Winterjacke einfach ausgezogen und beiseite gelegt. Sie trat einen Schritt zurück, legte den Kopf in den Nacken und sog die kühle Luft ein. Es roch nach einer Mischung aus Rauch, Zimt, gebratenem Fleisch, gebrannten Mandeln und süßlichem Glühwein. Halt so richtig wie es auf einem Weihnachtsmarkt riechen musste. Schneeflocken tänzelten aus der Dunkelheit herab, streiften sanft ihr Gesicht und schmolzen sogleich wieder dahin, wenn sie ihre Haut berührten. Doch auch das kalte Nass brachte heute irgendwie keine wirkliche Abkühlung.

„Magst du noch einen?“, fragte Torsten Liebig und bestellte bereits, ohne ihre Antwort abzuwarten, den nächsten Pott Glühwein. Er klang unbeschwert und fröhlich, wie lange nicht mehr.

„Verdammt, ist mir kalt!“, schimpfte Thomas Kübler derweil miesepetrig hinter ihr und schüttelte sich die Schneeflocken aus seinen Haaren.

Nina legte ihren Arm kameradschaftlich um seine Schultern, zog ihn zu sich und raunte ihm zu: „Mir ist nicht kalt. Vielleicht solltest du einfach auch mal einen Glühwein mittrinken, mein Lieber. Das hilft. Da wird dir ruck, zuck warm.“

Thomas verzog angewidert das Gesicht und schob sie von sich.

„Nee, Nina. Noch nicht mal, wenn ich am Verdursten wäre, packte ich das eklige Zeug an. Und du solltest auch mal langsamer machen, ich hab nämlich keinen Bock, dass du mir nachher noch ins Auto ...“

Auch wenn er den Satz nicht beendete, wusste Nina, was er sagen wollte. Doch seine Bedenken waren vollkommen unbegründet. Ihr ging es blendend, wenn man mal von dieser verflixten Hitze absah, deren Ursache zweifelsohne der Alkohol war. Aber deshalb war sie noch lange nicht so betrunken, wie Thomas ihr das jetzt versuchte einzureden. Was waren schon sechs Tässchen Glühwein?

Sie griff nach der dampfenden Tasse, die der Mann hinter der Theke ihr hinschob, nippte daran und bemerkte, wie Thomas argwöhnisch zum Himmel sah. Sie trat erneut einen Schritt zurück und folgte seinem Blick.

„Ist da was?“, fragte sie, weil sie nichts außer den Schneeflocken erkennen konnte, die wild im Schein der Straßenlaternen umherstoben.

„Wenn das hier im Tal schon so doll schneit, ist bei uns droben im Westerwald bestimmt schon Chaos. Dreihundert Höhenmeter sind eine Menge Zeug“, versuchte er sie zu belehren.

Nina verdrehte die Augen.

„Mensch, Thomas, dass du immer alles so schwarz sehen musst. Mach dich doch einfach mal locker. Der Torsten wird ja nicht jeden Tag Papa und gibt einen aus. Du kommst schon noch nach Hause zu deinem Liebchen“, stöhnte Nina und hob erneut ihren Glühweinbecher, um dem Kollegen und frisch gebackenen Papa Torsten Liebig zuzuprosten.

„Auf den kleinen ...“, sie stockte, da ihr der Name des Neugeborenen schon wieder entfallen war.

„Luis. Der kleine Schatz heißt Luis“, half Torsten ihr mit stolz geschwellter Brust weiter, hob dann ebenfalls seinen Glühwein und stieß mit ihr an. Nina schielte währenddessen zu Thomas, der immer noch argwöhnisch zum Himmel gaffte. Sie mochte ihn. Thomas war mehr für Nina als nur ein Kollege. Er war ein richtiger Kumpel, ein Freund und immer da, wenn man ihn brauchte. Außerdem war er der Mann ihrer besten Freundin Alexandra und ein sehr liebevoller Papa. Genau da lag aber das Problem. Thomas fiel es schwer, nach Feierabend einfach mal mit seinen Kollegen noch auf ein Feierabendbier oder wie heute auf einen Feierabendglühwein auf den Weihnachtsmarkt zu gehen. Ihn zog es nach der Arbeit nach Hause zu Frau und Kindern. Okay! Nina verstand das ja auch irgendwie und fand es schön, wie Thomas sich um seine kleine Familie kümmerte. Aber an einem Tag wie heute, wo sie im Kollegenkreis auf die Geburt des kleinen Luis anstießen, da könnte er sich ruhig mal ein bisschen lockerer machen.

„Sag mal, wo ist eigentlich Sandra?“, riss Polizeihauptmeister Jürgen Wacker sie aus ihren Gedanken. Nina sah sich um. Sie hatte keine Ahnung, wo die frisch gebackene Kriminalkommissarin Sandra Frings abgeblieben war.

„Die wollte eigentlich auch noch vorbeischauen“, überlegte sie laut, während ihr Blick über den kleinen, aber feinen Betzdorfer Weihnachtsmarkt schweifte. Es war erstaunlich, wie viele bekannte Gesichter sie hier sah. In einer Kleinstadt wie Betzdorf war dies natürlich nicht ungewöhnlich. Man stolperte hier ständig über Leute, die man kannte. An der Bratwurstbude schräg gegenüber entdeckte sie Bürgermeister Bernd Brato, der sich angeregt mit Ingo Molly, dem Jugendpfleger unterhielt. Bei den beiden stand der Weihnachtsmann in seinem roten Mantel und mit einem Esel an der Leine. Nina stutzte. Warum hatte der Weihnachtsmann eigentlich einen Esel dabei? Jeder normale Mensch wusste doch, dass der Weihnachtsonkel aus der Coca-Cola Werbung für gewöhnlich mit seinen Rentieren unterwegs war. Aber was sollte es? Betzdorf lag ja schließlich auch nicht am Nordpol, sondern am Rande des Westerwalds. Da durfte es dann wohl auch mal ein Esel anstatt eines Rentiers sein.

„Der hat aber auch schon ganz gut einen getankt“, hörte sie Thomas meckern. Nina sah ihn irritiert an.

„Wer? Der Bürgermeister?“, fragte sie, da sie jetzt nicht genau wusste, was Thomas meinte.

Der verdrehte wie so oft nur wieder seine Augen und zischte dann: „Nein, nicht der Bürgermeister. Ich meine den Nikolaus. Guck doch mal, wie der Typ schwankt.“

Nina sah hinüber zum Bratwurststand.

Der Mann im roten Mantel taumelte tatsächlich verdächtig hin und her. Sie schüttelte den Kopf. So was ging ja gar nicht. Dass Menschen, die ein solches Amtinnehatten, sich in der Öffentlichkeit so daneben benahmen, war in Ninas Augen ein Unding, denn gerade der Weihnachtsmann sollte doch eigentlich ein Vorbild für die Kinder sein, von denen sich nicht wenige hier auf dem Weihnachtsmarkt tummelten. Sie setzte die Tasse mit dem Glühwein an den Mund und trank noch einen Schluck, während sie weiterhin das Geschehen an der Bratwurstbude beobachtete. Bürgermeister Bernd Brato sprach gerade sehr eindringlich auf den Mann ein. In seinem Blick lag allerdings eher Besorgnis als Unverständnis. Auch Ingo, der nun einen Schritt näher trat und den Weihnachtsmann am Arm packte, sah sehr besorgt aus. Dann, aus heiterem Himmel, brach der Typ einfach zusammen. Bernd Brato, der noch versuchte, ihn festzuhalten, erwischte nur den Ärmel des roten Mantels, sodass der Kerl wie ein nasser Sack auf den Boden klatschte. Der Kopf des Esels, dessen Zügel der Stürzende immer noch umklammerte, wurde mit nach vorne gerissen, worauf das Tier sich erschrocken aufbäumte, losriss und dann verängstigt davonpreschte. Zum Glück sprangen Ingo und eine ältere Dame geistesgegenwärtig beiseite. Nina war wie gelähmt. Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich aus ihrer Starre löste. Sie rannte die paar Schritte zu dem am Boden Liegenden und hörte, wie Bernd Brato, dessen Hand am Hals des Weihnachtsmannes ruhte, schrie: „Wir brauchen sofort einen Notarzt!“

Nina riss ihr Handy aus der Jackentasche und wählte den Notruf, während der Bürgermeister und sein Jugendpfleger damit begannen, den Weihnachtsmann zu reanimieren.

Ninas Stimmung, die eben noch bestens gewesen war, befand sich auf dem Tagestiefstand, als der Notarzt den Kopf schüttelte und einer der Sanitäter daraufhin ein Tuch über das merkwürdig gelbliche Gesicht des Mannes legte.

„Ich kann das überhaupt nicht verstehen“, hörte Nina Ingo Molly leise hinter sich sagen. Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn fragend an.

„Was kannst du nicht verstehen?“

Ingo deutete auf die Bahre mit dem Toten.

„Na, der Norbert war doch seit Jahren trocken. Der Doktor meint, dass alles auf übermäßigen Alkoholkonsum hindeutet.“

„Kanntest du ihn näher?“

Ingo zuckte mit den Schultern.

„Was heißt jetzt näher? Ich hab ihm den Job vermittelt. Seine Lebensgefährtin ist eine frühere Bekannte von mir. Ich kenne die schon ewig, noch aus der Zeit, als der Frieder hier Jugendpfleger war.“

„Hui, das ist aber schon ziemlich lang her“, fand Nina, da sie sich an Ingos Vorgänger auf dieser Stelle kaum noch erinnern konnte.

„Aber sag mal, Ingo, seit wann vermittelst du eigentlich Jobs für Weihnachtsmänner? Arbeitest du jetzt nebenher noch fürs Arbeitsamt?“, fiel ihr ein.

Ingo winkte ab.

„Quatsch, Nina, das war eine Ausnahme. Die letzten Jahre hab ich hier immer selbst den Nikolaus gemacht. Ich muss aber morgen und übermorgen zu einem wichtigen Seminar in die Eifel und da hab ich den Norbert angerufen und ihn gefragt, ob er das für ein paar Euro machen würde. Die haben’s, glaub ich, auch nicht so dicke ... wenn du verstehst, was ich meine.“

Nina verstand genau, was er meinte.

„Und der Norbert war Alkoholiker?“, hakte sie nun noch einmal nach.

„Nein ... ja. Er war trockener Alkoholiker. Alkoholiker ist man ja auch, wenn man nichts mehr trinkt ... sein Leben lang. Die Ina sagt, er würde seit Jahren nichts mehr anrühren. Hätte ich gewusst, dass ...“, er winkte ab und schnaufte dann, „also eins kannst du mir glauben, Nina, nächstes Jahr mach ich den Nikolaus wieder selbst.“

„Du, Nina, was machen wir denn jetzt mit dem Esel?“, quatschte Thomas sie nun von der Seite an. Sie fuhr herum. Das Bild, das sich ihr dort bot, war zu grotesk, um wahr zu sein. Thomas kam da mit hochrotem Kopf auf sie zu und zerrte das Eselchen an einer Leine hinter sich her. Schweißperlen rannen von seiner Stirn. Ihm schien auch nicht mehr kalt zu sein. Im Gegenteil.

„Was machst du da?“, fragte sie irritiert und obwohl sie ja genau sah, was er da tat.

„Siehst du doch. Ich hab den blöden Esel eingefangen“, blaffte er ein wenig außer Atem.

„Und?“

„Ja, das frag ich dich, Nina. Was machen wir denn jetzt mit dem Vieh?“

Nina stöhnte. Wie konnte einer nur so unbeholfen sein?

„Na, erschießen, was sonst“, schlug sie nicht wirklich ernst gemeint vor.

Wie erwartet, verfehlten Ninas Worte ihre Wirkung nicht. Thomas’ Gesichtszüge entgleisten total, während Ingo Molly sich ein Grinsen kaum verkneifen konnte.

„Wir können das arme Vieh doch nicht einfach ...“, er brach den Satz ab und sah sich zornig um.

„Haha, ihr seid echt sehr witzig. Veräppeln kann ich mich selbst“, schimpfte er und drückte dann einfach Ingo die Zügel in die Hand. „Bitteschön, Herr Molly. Den schenk ich dir.“

Dann zog er beleidigt ab.

„Ihr beide seid irgendwie wie so ein altes Ehepaar“, kommentierte Ingo die Situation, während er mit der freien Hand sein Handy aus der Tasche kramte und begann, eine Nummer zu wählen. Als er das Gerät schon ans Ohr nehmen wollte, hielt er kurz inne, schüttelte den Kopf und steckte es wieder zurück in seine Tasche.

„Nee, Nina, ich kann die Ina doch jetzt nicht anrufen und ihr sagen, dass sie ihren Esel abholen soll, weil ihr Mann gerade gestorben ist.“

Nina überlegte einen Moment. Ingo hatte recht. Das konnte er jetzt wirklich nicht. Eine solche Nachricht musste man persönlich überbringen und nicht einfach herzlos mit dem Telefon. Die Angelegenheit mit dem Esel war wohl doch kniffliger als es im ersten Moment den Anschein hatte.

„Könntest du nicht als Polizistin ... Ich meine, ihr macht so etwas ja öfters ...“, begann er vorsichtig. Nina hob abwehrend die Hände.

„Nee, nee, mein Lieber, das schlag dir mal sofort wieder aus dem Kopf. Ich bin nämlich gar nicht im Dienst. Außerdem hab ich was getrunken.“

„Wir könnten ja gemeinsam hinfahren“, schlug er vor.

Nina schüttelte den Kopf. Sie wollte heute keine schlechten Nachrichten mehr überbringen. Auf gar keinen Fall. Sie wollte noch einen kleinen Absacker trinken und dann ab nach Hause, zu Klaus.

„Okay, Ingo. Ich weiß, wie wir es machen. Wir binden den Esel jetzt einfach da am Glühweinstand an. Ich pass auf das Tierchen auf und trink mir noch einen oder zwei, bis du die Besitzerin geholt hast“, schlug sie vor.

Eine gute halbe Stunde später hockte sie neben Ingo in Norberts uraltem Mercedes 200D. Es war ein Krampf gewesen, bis sie das Grauohr, oder wie immer man diese Viecher im Volksmund nannte, endlich in den Pferdeanhänger verladen hatten. Das Vieh war störrisch wie ... na ja, wie man es von seinesgleichen halt immer behauptet. Irgendeiner der umherstehenden Gaffer hatte dann irgendwann den brauchbaren Vorschlag gemacht, den Esel mit Würfelzucker zu locken. Auf so was musste man als Nichteselbesitzer auch erst mal kommen.

„Wo hat der Norbert eigentlich gewohnt?“, fragte sie Ingo, der gerade in Wallmenroth rechts in Richtung Katzwinkel abbog.

„In Himmelshäuschen“, antwortete der ruhig.

Ninas Kopf fuhr herum.

„Wo, bitteschön?“

„In Himmelshäuschen“, wiederholte der Jugendpfleger.

„Wo, zum Geier, liegt Himmelshäuschen?“

„Das ist im Wildenburger Land, hinter Friesenhagen“, belehrte er sie.

Nina hatte definitiv noch nie von einem solchen Ort gehört. Da war sie sich ziemlich sicher.

„Du meinst nicht zufällig Engelshäuschen?“, erkundigte sie sich deshalb und sah, wie Ingo den Kopf schüttelte.

„Nee, nee, Nina, Engelshäuschen liegt ja noch vor Friesenhagen.“

Da hatte der Ingo recht. Engelshäuschen lag tatsächlich von Betzdorf aus gesehen noch vor Friesenhagen.

Nina beugte sich etwas nach vorne, um in den Außenspiegel zu schauen. Was sie sah, war gut. Der Anhänger schien noch dran zu sein und auch das Mercedes-Coupé mit Thomas Kübler am Steuer folgte ihnen noch.

„Wie gut bist du denn mit dieser Ina befreundet?“, erkundigte sie sich kurz vor dem Örtchen Katzwinkel.

Ingo wiegte den Kopf hin und her.

„Also befreundet trifft es jetzt nicht wirklich. Ich kenne sie halt. Von früher. Ich war damals noch ehrenamtlich im Jugendtreff. Das war zu der Zeit, als Frieder den Laden noch geleitet hat.“

Nina konnte sich noch ganz dunkel an Ingos Vorgänger erinnern. Sie musste damals erst so um die elf oder zwölf gewesen sein. Sie kam ins Grübeln.

„Du meinst jetzt aber nicht die Ina Bartels?“, erkundigte sie sich vorsichtig.

Ingo nickte.

„Doch, klar. Bartels. Ina Bartels! Genau, Nina. War die nicht sogar mit dir auf derselben Schule?“

Nina war irritiert. Ina Bartels war nicht nur in die gleiche Schule wie Nina gegangen, sondern auch in die gleiche Klasse. Sie hatten sogar gemeinsam Abitur gemacht.

„Und die ist mit dem toten Nikolaus verheiratet?“, fragte sie fassungslos.

Ingo schüttelte den Kopf.

„Nee, nee, die sind nur so zusammen. Also ohne Trauschein. Außerdem war der Norbert nicht der Nikolaus, sondern der Weihnachtsmann. Das ist ein Unterschied“, belehrte er sie.

Nina wusste natürlich, dass es zwischen dem Weihnachtsmann der Coca-Cola Company und dem Nikolaus der Christen einen Unterschied gab, aber das war hier nicht Teil der Debatte. Es ging um Ina und diesen Norbert.

„Dieser Norbert, ist ... war“, verbesserte sie sich, „doch locker fünfundzwanzig Jahre älter als die Ina. Der könnte doch glatt ihr Vater sein“, empörte sie sich.

Ingo zuckte mit den Schultern.

„Und? Wo liegt das Problem? Muss doch jeder selbst wissen. Wo die Liebe hinfällt.“

Nina verschränkte die Arme vor der Brust. Natürlich hatte Ingo recht. Das musste tatsächlich jeder selbst wissen. Außerdem las man ja auch in den Klatschblättern ständig davon, dass altersschwache Promis sich mit jungem, aufgepimptem Gemüse umgaben. Es war also nicht wirklich außergewöhnlich. Nina konnte sich für sich selbst so etwas nicht vorstellen. Allein der Gedanke daran ... 25 Jahre waren doch eine komplett andere Generation. Andere Interessen ... Sie wischte den Gedanken daran beiseite. Sie hatte ihren Klaus und das war gut so. Der Arme würde bestimmt in diesem Moment zu Hause in der gemeinsamen kleinen Dachwohnung sehnsüchtig auf sie warten, während sie hier mit einem Esel im Anhänger im dunklen Wildenburger Land herumgondelte.

Nachdem sie Friesenhagen passiert hatten, schien die Wegführung kniffliger zu werden. Zumindest entnahm Nina das Ingos Mimik, die ihr nach jeder Abbiegung unsicherer erschien.

„Sag mal, Ingo, wann warst du eigentlich das letzte Mal in diesem Himmelshäuschen?“, erkundigte sie sich, als sie bereits seit mehreren Minuten weder ein Schild noch ein Licht gesehen hatte, das auf die Anwesenheit von Menschen in dieser Einöde schließen ließ.

„Ähm ja ... also genaugenommen ...“, begann er herumzudrucksen und sah dann kurz zu ihr. Nina schloss die Augen und stöhnte laut auf.

„Du warst da noch nie? Oder?“

„Aber ich hab’s mir, nachdem ich die Ina letztens getroffen hab und sie mir erzählte, dass sie da wohnt, mal auf Google Earth angesehen. Das muss hier gleich kommen.“

Nina wollte gerade etwas erwidern, als im Lichtkegel der Scheinwerfer ein grünes Schild auftauchte, auf dem der Name „Himmelshäuschen“ stand.

„Sag ich doch. Da geht’s rechts nach Himmelshäuschen“, begeisterte Ingo sich.

„Da hast du aber noch mal Schwein gehabt“, stellte sie fest.

Ingo schüttelte den Kopf.

„Nee, eher ein Eselsglück.“

Etwa fünfhundert Meter nach der Abzweigung erreichten sie Norberts Gehöft. Der geschotterte Weg war eine einzige Buckelpiste und Nina musste bei dem Geschaukel an den armen Esel denken, dem im Anhänger sicherlich furchtbar schlecht wurde. Auf den ersten Blick wirkten das Haus und die große frei stehende Scheune verlassen. Erst bei näherem Hinsehen, und als die Lichter der beiden Autos erloschen waren, konnte man hinter den Scheiben des großen Hauses eine schwache Beleuchtung erkennen. Sie stiegen aus. Der Hof lag unter einer dicken Schneeschicht. Es roch nach Rauch und Kuhmist. Im Anhänger hörte sie den Esel brüllen. Es klang irgendwie begeistert. Vermutlich war das Grauohr froh, endlich zu Hause zu sein. Hinter dem Pferdeanhänger stieg Thomas gerade aus dem Dienst-Mercedes. In seiner Hand hielt er eine kleine Taschenlampe und leuchtete damit zu Nina.

Sie und Ingo warteten, bis der Kollege zu ihnen aufgeschlossen hatte.

„So stell ich mir den Arsch der Welt vor. Dunkel, feucht und es riecht nach Mist“, stellte Kübler trocken fest und Nina musste zugeben, dass die Beschreibung wie die Faust aufs Auge passte.

Im Schein der kleinen LED-Taschenlampe folgten sie Ingo zur Haustür.

„Keine Klingel“, stellte der nach kurzer Suche fest und klopfte dann gegen die Holztür des alten Fachwerkhauses.

„Was ’ne Bruchbude“, schnaufte Thomas und ließ den Kegel der Lampe an der Fassade entlanggleiten. Der Putz zwischen den schwarz gestrichenen Balken war an vielen Stellen abgeplatzt und das Geflecht aus Lehm und Reisig lag frei. Von drinnen waren nun Geräusche zu hören. Das Zuschlagen einer Tür, Schritte. Durch die kleinen Scheiben der Haustür war das Flackern eines Lichtes zu erkennen, dann wurde geöffnet. Nina zuckte unweigerlich zurück. Die Szene hatte etwas von einem Gruselfilm. Vor ihnen stand eine Frau, Nina schätzte sie auf vielleicht Mitte fünfzig, doch genau ließ sich das nicht einschätzen. Ihre langen weißgrauen Haare fielen ihr über die Schultern bis zu den Hüften. Ihr Gesicht wirkte sehr blässlich. In der einen Hand hielt sie eine Öllampe, die andere hob sie schützend vor die Augen, da Thomas ihr mit der Taschenlampe geradewegs ins Gesicht leuchtete. Sie trug ein langes, dünnes Nachthemd. Wer immer die Frau war, es war nicht Ina. Und sie war bestimmt auch keiner der Geister aus den Harry Potter Filmen, da man definitiv nicht durch sie hindurchschauen konnte.

„Ja bitte?“, fragte die geisterhafte Erscheinung mit einer rauen Stimme.

Nina entschied sich, dem nächtlichen Besuch einen eher dienstlichen Charakter zu verleihen. Sie zog also ihren Ausweis aus der Jackentasche und hielt ihn der Älteren direkt vor die Nase.

„Kriminaloberkommissarin Nina Moretti von der Kripo Betzdorf. Wohnt bei Ihnen ein gewisser Norbert ...“, sie stockte, da sie ja noch nicht einmal wusste, wie Norbert mit Nachnamen hieß.

„Waldrich, Norbert Waldrich“, half Ingo ihr auf die Sprünge.

Die weiße Frau warf die Stirn in Falten und sah an Nina vorbei in die Einfahrt. Nina folgte ihrem Blick irritiert. Schemenhaft war der alte Benz mit dem Pferdeanhänger in der Dunkelheit auszumachen.

„Sein Auto steht da.“

Das war mehr eine Frage als eine Feststellung, fand Nina.

Da ihr dies jetzt nicht weiterhalf, hakte sie noch einmal nach. Dabei versuchte sie langsam und deutlich zu sprechen.

„Genau, das ist das Auto von Norbert. Wohnt der denn auch hier?“

Die weiße Frau nickte und sah sich weiter suchend um.

„Norbert“, rief sie dann und trat an Nina vorbei auf den Hof.

Nina folgte ihr und stellte sich vor sie.

„Hallo, Sie, der Norbert ist nicht da“, versuchte Nina die Aufmerksamkeit der Dame auf sich zu lenken.

„Versteh ich nicht. Sein Auto parkt doch da. Vielleicht ist er bei Erich?“, überlegte sie.

„Wer ist Erich?“, hakte Nina nach.

Die weiße Frau verdrehte die Augen. Vermutlich empfand sie es als sehr dumm, dass jemand nicht wissen konnte, wer Erich war.

„Na, Honecker. Erich Honecker“, klärte sie Nina auf und leuchtete dann weiter den Hof mit ihrer Laterne ab.

Nina blickte zu Ingo, der mit dem Zeigefinger eine kreisende Bewegung über seiner rechten Schläfe machte. Thomas hingegen grinste nur dümmlich.

„Nu sag du doch auch mal was“, raunte sie Ingo zu.

„Na, er wird wohl gleich wieder auftauchen“, beendete die weiße Frau jedoch just in dem Moment ihre Suche, als Ingo den Mund öffnen wollte. Sie stakste zurück durch den Schnee und blieb vor Nina stehen.

„Um was geht es denn, Frau Kommissar? Was wollen Sie denn so Wichtiges von Norbert?“

Sie klang nun plötzlich um einiges resoluter und auch nicht mehr so verwirrt.

„Eigentlich möchten wir nicht zu Norbert, sondern zu seiner Lebensgefährtin“, versuchte Nina zu erklären.

„Ja, die bin ich. Also, was wollen Sie?“

Nina blickte irritiert zu Ingo. Der zuckte mit den Schultern.

„Wir dachten, Ina Bartels sei ...“, begann sie vorsichtig.

„Sie wollen zur Ina?“, erkundigte sich die weiße Frau nun. „Ja, warum sagen Sie das denn nicht gleich?“

Sie stapfte zurück ins Haus. Nina blickte ihr hinterher, bis sie verschwunden war.

„Was war denn das für eine?“, zischte Thomas Kübler ihr zu.

Nina zuckte mit den Schultern und fragte sich in diesem Moment, ob es vielleicht doch an den sechs Tässchen Glühwein lag, dass sie hier gerade überhaupt nichts kapierte.

„INA!“, wurde drinnen irgendwo geschrien. „Da draußen stehen die Bullen für dich auf dem Hof!“ Das Brüllen stammte eindeutig von der weißen Geisterfrau, da war Nina sich vollkommen sicher.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, dann stand plötzlich Ina in der Tür. Auch sie hielt eine Öllampe in den Händen.

„Nina?“, fragte sie ungläubig und blickte dann zu Ninas Begleitern.

„Ingo? Was macht ihr denn hier?“ Dann lächelte sie. „Die Renate hat gemeint, die Bullen seien da.“

Nina hob ihren Ausweis hoch, den sie immer noch in den Händen hielt.

„Da hat die weiß ... die Renate wohl recht. Ich bin nämlich dienstlich hier.“

Inas Blick flog von Ingo zu Thomas. „Ist was passiert? Ist was mit Norbert?“

Nina trat auf Ina zu und strich ihr über die Schulter.

„Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, Ina, aber Norbert ist heute Abend leider verstorben.“

Inas Augen weiteten sich, ihr Kinn klappte herunter. Dann schüttelte sie mit dem Kopf.

„Das kann doch nicht sein ...“, stotterte sie und rannte dann, als wäre der Teufel hinter ihr her, zurück ins Haus.

*

„Also wenn ihr mich fragt, haben die da alle einen heftigen Schatten“, kommentierte Thomas das, was Nina selbst auch dachte, als sie über den verschneiten Feldweg zurück zur Hauptstraße fuhren.

„Na ja, muss doch jeder selber wissen, wie er leben möchte. Wenn es denen doch so gefällt, dann lass sie doch“, meinte Ingo vom Rücksitz aus.

Nina wirbelte herum.

„Sag mal, Ingo, geht’s noch? Könntest du bitte mal ein kleines bisschen spießiger denken? Dieser Norbert lebt da mit einem kompletten Harem. Das geht gar nicht“, keifte sie missmutig.

„Lebte, Nina. Lebte! Und nur, weil er in seinem Haushalt mit vier Damen zusammenlebte, heißt das noch lange nicht, dass er mit allen auch ... na, du weißt schon, was gemacht hat“, erklärte Ingo für Ninas Geschmack nun ein wenig zu sachlich.

Sie verschränkte die Arme trotzig vor der Brust. Für sie war sonnenklar, was die da in dieser Hippiekommune trieben oder vielmehr getrieben hatten. Aber vermutlich hatte Ingo tatsächlich recht. Das war ganz allein deren Sache. Hauptsache, sie waren den Viehanhänger samt Inhalt losgeworden. Alles Weitere war nicht mehr ihr Problem.

„Aber die eine Alte im Nachthemd war schon merkwürdig drauf“, stellte Thomas fest, als sie bereits durch Friesenhagen fuhren.

„Die weiße Frau?“, erkundigte Nina sich, obwohl sie genau zu wissen glaubte, wen Thomas meinte.

„Genau ... die weiße Frau, das passt. Erich Honecker ... weiß doch jeder, dass der längst über die Wupper ist“, kicherte Kübler.

„Na, dann lag sie ja nicht wirklich falsch, als sie meinte, der Norbert wäre bei dem Erich“, kommentierte Nina.

„Hej, der Mann ist tot, da müsst ihr nicht noch blöde Witze reißen“, beschwerte Ingo sich vom Rücksitz.

Nina stöhnte.

„Ingo ... ich sagte, nur ein bisschen spießiger. Du musst das jetzt nicht übertreiben.“

Kapitel 2

Montag, 15. Dezember 2014

Kriminalinspektion Friedrichstraße/Betzdorf Sieg

„Bist du eigentlich total bescheuert? Was hast du dir dabei bloß gedacht? Sie hätte mausetot sein können“, schrie Nina erbost.

Uli Maier hob die Schultern und guckte wie ein geprügelter Hund.

„Manno, Nina, ich weiß auch nicht. Aber sie ist ja selber schuld. Was geht die mir mit ihrem Scheißfahrrad auch so auf die Nerven. Du weißt doch selbst, wie penetrant die Alte sein kann!“

Nina stöhnte und ließ sich auf ihren Bürostuhl sinken. Natürlich wusste sie, wie penetrant Irma Weber sein konnte. Nina kannte die ältere, etwas wunderliche Dame schon seit ihrer Kindheit, genau wie auch Uli Maier. Er und Nina waren damals bereits gemeinsam in die Grundschule gegangen. Danach hatten sich ihre Wege allerdings getrennt. Zumindest in schulischer Hinsicht, da Nina ab der fünften Klasse ins Gymnasium und der Uli zur Hauptschule gegangen war, die er nach dreimaligem Besuch der siebten Klasse dann leider ziemlich erfolglos beenden musste. Er war ein lieber, lustiger Kerl, das stand vollkommen außer Frage. Auch war er fleißig und ging tagein, tagaus in die Fabrik. Er arbeitete, so wie Nina gehört hatte, bei der Firma Schäfer an einer der großen Abkantmaschinen, mit denen sie diese Blechschränke herstellten, die dann aus Betzdorf überall in die weite Welt geliefert wurden. Leider war der Uli, so lieb er war, aber auch dumm wie Brot. Ohne das Brot jetzt damit beleidigen zu wollen. Hinzu kam, dass ihm ständig Dinge passierten, die man eigentlich gar nicht glauben konnte. Nina war davon überzeugt, dass, gäbe es auf einer Fläche, die so groß war wie ein Fußballfeld, nur eine einzige Bananenschale, würde Uli sie, ohne es zu wollen, finden, darauf ausrutschen und sich den Hals oder irgendein anderes Körperteil brechen. Dabei hieß es doch immer: Das Glück gehöre den Dummen. Doch nicht so bei Uli. Der war doof und ein Pechvogel. Irgendwann mit Anfang zwanzig hatte er aber auch mal Glück gehabt und die Uschi Weber erst kennengelernt, dann geschwängert und schlussendlich geheiratet. Nina fand, dass die beiden grundsätzlich toll zusammenpassten und auch ihre beiden Jungs waren, wenn man sie mal in der Stadt oder hier beim Dezernat für Jugendkriminalität traf, freundlich und nett. Alles gut, sollte man meinen. Doch das Dumme an Hochzeiten war halt, dass man nicht immer nur das bekam, was man wollte. Meist war es nämlich so, dass man die Sippschaft des oder der Angetrauten gleich noch für ganz umsonst obendrauf bekam. In Ulis Fall war das Irma Weber, die Mutter von Uschi. Und die war, wie Nina ziemlich genau wusste, äußerst schwierig.

„Sie hat mich pausenlos genervt, ich solle ihr dieses Scheißfahrrad ölen“, jammerte Uli und sah Nina nun eindringlich an. „Der Onkel Theodor von gegenüber hat ihr den Floh ins Ohr gesetzt. Der ist schuld.“

„Der Onkel Theodor?“, hakte Nina nach.

Uli nickte heftig.

„Ja, Nina. Der hat sie ständig wegen ihren quietschenden Bremsen aufgezogen. ‚Irmchen, lass dir doch von dem Uli mal die Bremsen ölen, damit die nicht mehr so quietschen‘, hat er über die Straße gebrüllt, und die ... die ist ihm voll auf den Leim gegangen. Hat mich tagelang genervt. Wann ich ihr denn endlich diese doofen Bremsen öle. Die ist sogar in der Nachbarschaft rumgelaufen und hat mich bei den Leut‘ schlecht gemacht.“

Nina wischte sich mit der Hand über das Gesicht bis zum Kinn und seufzte.

„Mensch, Uli, deshalb musst du ihr noch lang keinÖl auf die Felgenbremsen schmieren“, stöhnte sie in Anbetracht von so viel Dummheit.

„Sie hat es so gewollt“, beharrte er nun und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

„Ja, super und jetzt liegt sie mit Gehirnerschütterung und gebrochenem Bein im Krankenhaus und ich kann mich mit euren Familienstreitigkeiten rumärgern“, polterte sie los.

„Was mach ich denn jetzt mit dir? Uli, das ist Körperverletzung. Versuchter Totschlag. Dafür kannst du in den Bau gehen.“

Ein Klopfen unterbrach sie. Noch bevor sie „Herein“ sagen konnte, wurde die Tür aufgerissen und Thomas Kübler schaute durch den Türspalt. In seiner Hand hielt er einen dicken braunen Umschlag.

„Ich wollte dir nur die Post bringen, Nina“, trällerte er gut gelaunt.

Nina erhob sich schwerfällig, ging Thomas entgegen, schnappte sich das Kuvert und setzte sich dann wieder hin. Neugierig suchte sie nach einem Absender, konnte aber beim besten Willen keinen entdecken. Sie besah sich den Stempel auf der Briefmarke. Der Brief war am letzten Freitag hier am Postamt in Betzdorf aufgegeben worden. Wer tat denn so was? Das Postamt war keine hundert Meter von der Kriminalinspektion entfernt. Die eins fünfundvierzig hätte man sich doch locker sparen können. Sie riss den Umschlag auf und zog ein einzelnes großes Blatt Papier heraus und stutzte sogleich. Auf dem Zettel stand etwas geschrieben. Ganze vier Wörter. Aber nicht mit der Hand oder mit einem Computer oder gar einer Schreibmaschine getippt. Nein! Die Wörter waren allesamt aus Zeitungen ausgeschnitten. Nina hatte so etwas bisher nur in älteren Kriminalfilmen gesehen. Erpresser und sonstige anonyme Drohbriefeschreiber der Neuzeit verwendeten heutzutage Computerausdrucke. Die konnte man nur sehr schwer einem bestimmten Computer zuordnen. Früher, als es noch Schreibmaschinen gab, die ähnlich wie Fingerabdrücke ihr einzigartiges Schriftbild hinterließen, da hatte es diese Puzzlespiele mit den ausgeschnittenen Wörtern wohl einmal tatsächlich in der Polizeiarbeit gegeben. Doch diese Zeiten waren lange vorbei.

„NORBERT WALDRICH WURDE VERGIFTET“, las sie die vier Wörter abermals. Sie griff nach dem Umschlag und betastete ihn. Wie es schien, war da noch irgendein anderer Gegenstand drin. Neugierig schüttete sie den Inhalt auf ihren Schreibtisch. Es handelte sich eindeutig um zwei Gefrierbeutel, die da zum Vorschein kamen. Zwei von diesen durchsichtigen Tüten, wie Ninas Mama sie benutzte, wenn sie Schnitzel und ähnliches einfrieren wollte. In dem einen Beutel war ein Büschel Haare. Das Ding in dem zweiten war eindeutig auch kein Schnitzel, sondern ein menschlicher Finger. Sauber abgetrennt und mit einem sehr schmutzigen, ungepflegten Fingernagel. Angewidert verzog sie das Gesicht und ging mit dem Oberkörper so weit auf Abstand, wie es die Rückenlehne ihres Bürostuhls erlaubte.

„Bäh, is dat widerlich“, stieß Uli Maier aus.

Nina blickte zu Uli, der gebannt auf ihren Schreibtisch starrte und zeigte dann zur Tür.

„Ist wohl besser, du machst jetzt mal ’nen Abgang, Uli.“

„Du Nina, ich glaub, das ist ein Finger“, erklärte er unbeirrt das, was sie auch selbst sah.

Nina erhob sich, ging um den Schreibtisch herum und packte Uli am Kragen seiner Jacke.

„Ich sagte: Abgang.“

Er fuhr herum.

„Bin ich nicht verhaftet?“

„Nein, bist du nicht“, erklärte sie ihm und zog ihn zur Tür. Uli schien erleichtert.

„Aber ich darf das Land nicht verlassen und muss mich hier jeden Tag melden. So wie die das immer im Fernseher zeigen. Oder?“, wusste er.

„Bloß nicht, Uli“, beeilte sie sich zu sagen. Das fehlte ihr noch, wenn der Typ hier täglich auf der Matte stand. Sie schob ihn kurzerhand auf den Flur und schloss die Tür hinter ihm. Zurück am Schreibtisch streifte sie sich Gummihandschuhe über, um sich die Warensendung genauer anzusehen, doch hinter ihr wurde nun wieder die Tür aufgerissen.

„Was willst du denn noch?“, blaffte sie Uli an, der dümmlich durch den Türspalt lugte.

„Ähm ja ... ich wollt noch mal fragen, wie das jetzt gemeint war, als du sagtest: Bloß nicht. Also soll ich jetzt bloß nicht ins Ausland oder ...?“

Nina verdrehte die Augen. Wie konnte einer so dämlich sein?

„Uli, du fährst jetzt einfach nach Hause, bleibst da und ich fahre heute Nachmittag ins Krankenhaus und rede mal mit Tante Irmchen. Mach einfach, was du sonst auch tun würdest, aber mach bitte keinen Unsinn mehr. Ich melde mich bei dir! Verstanden?“, erklärte sie ihm sehr, sehr langsam und eindringlich.

Uli nickte. Nina war erleichtert. Nicken bedeutete, dass zumindest die Chance bestand, dass er sie tatsächlich verstanden hatte.

Nachdem er verschwunden war, untersuchte sie zuerst den Briefumschlag, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Dann besah sie sich den Brief.

Norbert Waldrich? Der Name kam ihr bekannt vor. Nina überlegte einen Augenblick, bis es ihr wieder einfiel. Natürlich. Norbert war der tote Weihnachtsmann. Sie schielte zu der Tüte mit dem abgetrennten Finger. Norbert Waldrich war seit knapp anderthalb Wochen tot. Sollte der Finger von ihm stammen? Ganz frisch sah er nicht mehr aus. Zum Glück verschlossen diese Tüten vollkommen aromasicher.

Sie griff zum Telefon und rief Thomas Kübler im Nachbarbüro an.

„Komm mal rüber und schau dir das an“, meinte sie knapp und legte dann wieder auf, ohne seine Antwort abzuwarten. Als Thomas hereinpolterte, kramte Nina gerade vier große Plastikbeutel aus dem Wandschrank, in denen sie Brief, Couvert und die Gefrierbeutel einzeln verpacken würde.

„Was gibt’s denn?“, wollte Thomas gut gelaunt wissen.

Nina deutete auf den Schreibtisch. Thomas beugte sich vor und besah sich die Artefakte auf der Tischplatte.

„Der Finger vom Nikolaus?“, fragte er sichtlich angewidert, nachdem er auch das Blatt mit den ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben überflogen hatte.

„Weihnachtsmann. Der Typ war ein Weihnachtsmann, kein Nikolaus. Lass das bloß nicht Ingo hören, der ist, was die Formulierung betrifft, sehr genau. Außerdem steht nicht fest, dass es sich auch wirklich um den Finger von diesem Norbert Waldrich handelt“, belehrte Nina ihn, obwohl es sie schon schwer wundern würde, wenn der abgetrennte Finger von jemand anderem stammte.

„Der Typ ist seit anderthalb Wochen tot. Der müsste demnach doch schon anfangen zu muffeln“, überlegte Thomas laut und schnüffelte vorsichtig über dem mit einem kleinen weißen Kabelbinder verschlossenen Beutel.

„Lass bloß zu“, zischte sie, doch Thomas ging zum Glück bereits auf Abstand.

„Und was jetzt?“, fragte er.

„Na, was wohl? Wir tüten den ganzen Kram ein. Den Finger und das Büschel Haare in die Gerichtsmedizin. Der Umschlag und der Brief kommen in die Kriminaltechnik.“

*

Es war kurz vor Mittag, als Nina mit ihrem marineblauen VW Käfer an der Abzweigung nach Himmelshäuschen vorbeiraste. Kübler, der frierend auf dem Beifahrersitz kauerte und sich die Hände rieb, wurde heftig in die Gurte gedrückt, als Nina auf die Bremse trat. Sie schaltete in den Rückwärtsgang und raste die wenigen Meter bis zu der Einmündung zurück.

„Mensch, Nina, nächstes Mal fahr ich. Erst erfriert man in der Karre und dann wird es einem auch noch kotzübel, weil du fährst wie der letzte Henker“, meckerte er.

„Erstens kann ich nichts dafür, wenn die hier die Wegweiser so bescheuert aufstellen, dass man sie erst sieht, wenn man schon vorbeigefahren ist, und zweitens solltest du dir mal ordentliche Klamotten zulegen, dann wär es dir bei dem Wetter auch nicht zu kalt“, schimpfte sie und sah zu ihm hinüber.

„Ich trage ordentliche, der Witterung angepasste Kleidung“, knirschte er, „vielleicht solltest du dir lieber mal einen Wagen mit Heizung zulegen. Einen, bei dem man nicht während der Fahrt ständig die Scheiben von innen freikratzen muss. Einen, in dem der Beifahrer keine Handschuhe und Wollmütze braucht und in dem der Fahrer durch die total beschlagenen und zugefrorenen Scheiben die Wegweiser erkennen kann, wenn er schon meint, im Tiefflug um die Kurven rasen zu müssen.“

„Apropos Klamotten, schicke Jacke hast du da. Ist die neu?“, wechselte sie einfach das Thema, da Thomas eh nichts von Autos verstand. Und überhaupt.Über Maggiolino ließ sie nicht mit sich diskutieren. Der alte Käfer war nicht nur ein Auto, mit dem man von A nach B fuhr. Maggiolino gehörte zur Familie. Er war das erste und einzige Auto ihres Papas gewesen. Ein Auto, für das der italienische Gastarbeiter hart hatte arbeiten und sparen müssen. Maggiolino, „Maikäfer“, hatte ihr Papa den kleinen Wagen immer liebevoll genannt. So ein Auto gab man nicht einfach ab oder ersetzte es durch einen gefühllosen Neuwagen.

Der Ablenkungsversuch funktionierte. Thomas grinste, streckte die Arme nach vorne und strich dabei den sandfarbenen Stoff ein wenig glatt.

„Ja, schick nicht? Hat Alex mir gekauft“, erklärte er stolz, während der Käfer über den schmalen Weg zum Himmelshäuschen-Hof tuckerte.

„US-Army Feldjacke M65 ohne Schulterklappen. Genau so eine hatte der Schimanski im Tatort immer an. Alex findet, die passt zu mir“, erklärte er todernst.

Nina schielte kurz zur Seite. Es fiel ihr schwer, ernst zu bleiben. Die Jacke von Schimi, dem coolsten Tatortbullen aller Zeiten, nun im Besitz von Thomas Kübler.

„Super Sache, Thomas ,Schimi‘ Kübler. Dann fehlen dir jetzt ja nur noch die passenden 80er-Jahre Cowboystiefel zu dem Outfit“, rutschte es ihr heraus, bevor sie in schallendes Gelächter ausbrach. Sie spürte seinen eisigen Blick von der Seite. Zum Glück waren sie an ihrem Ziel angekommen. Mit einem leichten Schliddern stoppte sie den Käfer auf dem Hof des verschiedenen Weihnachtsmannes und stieg aus. Am Tag, bei Sonnenschein, sah das verschneite Hofgut gar nicht so schlimm aus wie letztens in der Nacht. Sogar die bröckelnde Fassade zwischen den schwarz gestrichenen und krummen Fachwerkbalken versprühte einen gewissen Charme.

„Schau mal. Die haben hier sogar einen Hofladen“, bemerkte Thomas das Schild an einem kleinen Nebengebäude, das ebenfalls in der für die Region typischen Fachwerkbauweise gehalten war. Nina ging auf das Häuschen zu, vor dessen offen stehender Tür ein schwarzer Porsche 911 mit Kölner Kennzeichen parkte.

„Ich will entweder meine Ware oder meine Kohle zurück. Und zwar sofort!“, hörte sie die Stimme eines Mannes. Sofort hielt sie Thomas an seiner Schimanski-Jacke zurück und spitzte die Ohren.

„Ich weiß nicht, wo Norbert es hat“, wimmerte eindeutig die Stimme von Ina.

„Dann streng dich gefälligst an und suche es, du doofe Kuh“, kreischte der andere aufgebracht. Nina zog ihr Handy aus der Jackentasche und fotografierte spontan das Nummernschild des Sportwagens. Man wusste nie, wofür so etwas gut sein konnte.

„Also bis Freitag. Und streng dich gefälligst an!“, schrie der Unbekannte und stürzte dann an Nina vorbei aus dem Hofladen. Der Mann trug einen teuer wirkenden grauen Anzug mit einem bordeauxfarbenen Hemd. Nina schätzte ihn auf maximal Mitte zwanzig und war sich sicher, dass das Jüngelchen die Kohle für den Porsche und seinen Anzug nie und nimmer selbst mit ehrlicher Arbeit verdient haben konnte. Blieben also von Beruf Sohn oder Gauner. Oder natürlich beides. Die halblangen, blonden Haare waren mit Pomade, Haargel oder vielleicht auch Frittenfett aus der Stirn nach hinten über den Kopf geklebt, vermutlich, um eine erste kahle Stelle sorgsam zu überdecken. Haarausfall, gerade in so jungen Jahren, war auch wirklich nicht schön, wenn man so ein eitles Bürschlein war. Sie sah ihm hinterher und schoss, während er in seinen Porsche stieg, noch unauffällig drei Handyfotos von ihm. Ob es daran lag, dass Nina nicht unauffällig genug fotografiert hatte oder ob das Jungchen Adleraugen besaß, konnte sie nicht sagen. Auf jeden Fall hatte er es bemerkt. Er sprang wieder aus dem Wagen und baute sich wütend vor ihr auf.

„Hast du mich etwa gerade fotografiert?“, zischte er zornig.

Nina schüttelte den Kopf.

„Nee, warum sollte ich. Du bist gar nicht mein Typ“, erklärte sie ruhig und fast ohne zu lügen, da das Jüngelchen tatsächlich überhaupt nicht ihr Typ war.

„Gib mir sofort dein Handy“, forderte er sie auf.

Nina begann zu lachen.

„Sag mal, geht’s noch?“

„Du sollst mir dein Handy geben, du Schlampe!“, schrie er und packte sie am Arm.

Nina blickte auf die rechte Hand des Jüngelchens, die sich in ihre Jacke verkrallt hatte.

„Nimm deine Finger da weg oder du wirst es bereuen“, zischte sie ihm nun überhaupt nicht mehr amüsiert zu. Doch das Jüngelchen grinste nur überlegen und griff mit seiner freien Linken nach Ninas Handy. Dann ging alles sehr schnell. Der Tritt in die Weichteile. Jüngelchens Kniefall. Und sein entsetztes Gesicht, als Nina ihm den Arm herumdrehte, er daraufhin vornüberkippte und mit der Nase auf den festgefahren Schnee klatschte. Nina sprang rittlings auf ihn, griff nach den Handschellen am Gürtel unter ihrer Jacke und ließ sie zuschnappen.

„Thomas, rufst du bitte eine Streife“, forderte sie Kübler auf und informierte das Jüngelchen anschließend über seine Festnahme und die Rechte, die er damit hinzugewonnen hatte.

Sie sah zu Ina, die mit offenem Mund in der Tür des Hofladens stand und Nina anstarrte, als sei sie ein Alien.

Keine zehn Minuten später parkte ein Streifenwagen hinter Maggiolino. Die Kollegen würden das Jüngelchen, das mit richtigem Namen Dennis Waldrich hieß, erst einmal mitnehmen und wegschließen. Nina würde sich später selbst um ihn kümmern. Der Angriff auf eine Polizeibeamtin war kein Kavaliersdelikt. Er würde schon sehen, was er davon hatte. Bis sie sich um ihn kümmerte, würde er nun Zeit haben, sich darüber Gedanken zu machen.

Nina musste zugeben, dass ihr Inas kleiner Hofladen gefiel. Das niedrige Gebäude war früher einmal das Backhaus des Hofes gewesen. Der alte gemauerte Holzofen hinter der Verkaufstheke an der Rückwand des Häuschens wurde, wie Ina erklärte, heute nur noch sehr selten benutzt.

Das Angebot an Waren war im Gegensatz zu dem bei einem Discounter überschaubar. Es gab Eier, Käse, Milch, Kartoffeln, Möhren und verschiedene Sorten Kohlgemüse wie Wirsing, Rotkohl oder auch Grünkohl. In einer Kühltheke lagen Fleisch und Wurstwaren, die, genau wie der Rest der Ware, ausschließlich aus eigener Produktion stammten.

„Das macht ihr hier alles selbst?“, hakte Nina erstaunt nach.

Ina nickte stolz.

„Alles, Nina. Wir bauen das Gemüse an, züchten unsere eigenen Schweine, Schafe und Hühner. Wir besitzen sogar sieben Milchkühe und einen Zuchtbullen. Hier ist alles ganz natürlich, ohne Pestizide und Kunstdünger.“

Nina beugte sich zu den kleinen Schildchen mit den Preisen am vorderen Rand der Kühltheke. Die Preise schienen ihr auf den ersten Blick sehr moderat und auch Thomas, der vor einem Kühlschrank mit Glastür stand, in dem sich verschiedene Milchprodukte und Käse befanden, schien begeistert.

„Und das lohnt sich mit dem Laden? Ich meine, ihr liegt hier ja nicht gerade an einer viel befahrenen Straße, sondern ... entschuldige, wenn ich es so krass ausdrücke ... am Arsch der Welt“, stellte Nina skeptisch fest.

Ina wiegte den Kopf hin und her.

„Na ja, reich wirst du damit nicht. Am Anfang lief ja auch fast überhaupt nichts, doch wenn die Leute einmal den Weg zu uns gefunden haben, kommen sie immer wieder. Außerdem haben wir ja auch noch den Marktstand. Wenn der Kunde nicht zu uns kommt, fahren wir halt zu den Kunden“, meinte sie begeistert. Es klang wie einer dieser Werbeslogans aus der Fernsehwerbung und schien auch so gemeint. Nina zog den Hut vor Menschen mit so viel Optimismus und Enthusiasmus. Was hatte Ingo Molly auf dem Weihnachtsmarkt noch gesagt? „Der Norbert war froh über den Nebenverdienst. Die haben es scheinbar nicht so dicke.“ Ja, so ungefähr waren seine Worte gewesen. Wenn sie sich den Hof ansah, war sie gewillt, dies zu glauben.

„Du sag mal, Ina, dieser Typ eben, was wollte der eigentlich von dir?“, wechselte Nina das Thema. Sie ließ es belanglos und weniger neugierig klingen, doch es misslang. Ina zuckte bei den Worten derart heftig zusammen, als sei sie beim Ladendiebstahl ertappt worden.

„Nichts wollte der. Er hatte Norbert etwas geliehen. Und wollte es jetzt, wo der Norbert ...“, sie stockte. „Na, er wollte es wiederhaben.“

„Um was ging es da? Was hat Norbert ihm geliehen? Für mich hörte es sich an, als hätte Norbert ihm etwas verkauft und nicht geliefert“, hakte Nina nach und war gespannt, welches Märchen ihr Ina nun auftischen würde.

Ina blickte sich hilfesuchend um.

„Ja, das war so ein ähm ... so ein Dings, ähm ein Werkzeug zum Bohren und so ...“

„Vielleicht ein Akkuschrauber?“, half Thomas ihr auf die Sprünge.

Ina nickte hastig.

„Ja genau, so ein Akkuschrauber-Dings. Norbert hat das gebraucht von ihm gekauft und der Dennis wollte jetzt das Geld oder das Werkzeug zurück.“

Nina betrachtete die Schulfreundin eingehend. Ina wirkte mit ihren ergrauten, zu einem Zopf geflochtenen Haaren, dem schwarzen Rock, der dunkelblauen Strickjacke und der Schürze wie eine uralte Frau. Dabei waren sie beide ein Jahrgang und Ina somit gerade erst dreiunddreißig. Wenn Nina es nicht besser wüsste, würde sie sie mindestens zwanzig Jahre älter schätzen als sie tatsächlich war. Aber war sie wirklich so dumm zu glauben, Nina würde ihr diese alberne Story abnehmen? Nun gut, sie würde heute sowieso noch das Jüngelchen befragen. Mal sehen, was der dazu sagte.

„Wann war eigentlich Norberts Beerdigung?“, erkundigte sich Nina nun endlich nach dem, weshalb sie hier waren.