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Wer ist der entstellte Tote unter der Glocke? Erschlagen. Blutüberströmt und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Eine Leiche liegt unter der der bekanntesten Glocke von Graz, der Liesl. Wer ist der Tote? Wie kam er in den verschlossenen Glockenturm? Warum will niemand etwas gesehen haben? Das Ermittlerteam rund um Chefinspektor Wakolbinger und seine junge Assistentin Panzenböck trifft auf eine Mauer aus Hass und Lügen. Nach ‚Kaltblütige Abrechnung‘ ist dies der zweite brisante Fall für Wakolbinger/Panzenböck.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
L. R. Wöss
TODESLÄUTEN
Impressum
© 2020 Lotte R. Wöss
Am Bühel 8
6830 Rankweil
Email: [email protected]
Covergestaltung: Michael Troy / MT-DESIGN
Bildnachweis: © Viacheslav Lopatin, www.shutterstock.com
© Calin Stan, www.shutterstock.com
Lektorat Elsa Rieger & Victoria Suffrage
https://www.elsarieger.at/lektorinnen/
Gestaltung/Satz:
Elsa Rieger
Alle Rechte vorbehalten – Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Personen, Orte, Handlungen und andere Ereignisse sind entweder Produkte der Fantasie oder wurden fiktiv genutzt. Eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Die in diesem Buch erwähnten Markennamen und Warenzeichen sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer.
Für Andrea
Es gibt Menschen, die man einmal kennenlernt,
und dann nie mehr verlieren will.
Inhalt
Hauptbahnhof ‒ Sonntag, 3.11.2019
Rathaus ‒ Donnerstag, 7.11.2019
Zwei Tage zuvor ‒ Dienstag, 4.11.2019
Schloßberg ‒ Donnerstag, 7.11.2019, 13.30 Uhr
Glockenturm ‒ Donnerstag, 7.11.2019, 14.00 Uhr
Der Künstler – Donnerstag, 7.11.2019, 15.30 Uhr
Talfahrt ‒ Donnerstag, 7.11.2019, 18.00 Uhr
Am Anfang ‒ Montag, 11.11.2019, 7.30 Uhr
Verschnupft – Montag, 11.11.2019, 10.00 Uhr
Autohaus Neuburg ‒ Montag, 11.11.2019, 12.00 Uhr
Ein neuer Tag ‒ Dienstag, 12.11.2019
Villa Wessely ‒ Dienstag, 12.11.2019, 20.00 Uhr
Ohne Kopf ‒ Mittwoch, 13.11.2019, 8.00 Uhr
Landeskrankenhaus ‒ Donnerstag, 14.11.2019
Alte Sünden ‒ Donnerstag, 14.11.2019
Ella ‒ Freitag, 15.11.2019
Landeskrankenhaus ‒ Freitag, 15.11.2019
Schnaps-Runde ‒ Samstag, 16.11.2019
Polizeidirektion ‒ Montag, 18.11.2019
Pizzeria ‒ Montag, 18.11.2019
Villa Wessely ‒ Montag, 18.11.2019
Kleine Schritte ‒ Dienstag, 19.11.2019
Der Stadtrat ‒ Mittwoch, 20.11.2019
Beim Zanzengruber ‒ Mittwoch, 20.11.2019
Polizeirevier ‒ Mittwoch, 20.11.2019
Fehler mit Folgen ‒ Donnerstag, 21.11.2019
Wahrheit? – Donnerstag, 20. November 2019
Feierabend ‒ Donnerstag, 21.11.2019
Grantig ‒ Freitag, 22.11.2019
Ruckerlberg ‒ Freitag, 22.11.2019
Grillparzerstraße ‒ Freitag, 22.11.2019
Frühstück ‒ Samstag, 23.11.2019
Zwölfer ‒ Dezember 2019
Das Wort zum Schluss
Über die Autorin
Buchempfehlung
Hauptbahnhof ‒ Sonntag, 3.11.2019
2008 hatte man Thomas Neuburg für tot erklärt.
Zum Teufel, der Drecksack lebte! Quicklebendig spazierte er einfach in die Halle des Grazer Hauptbahnhofes. Was tat dieser Verbrecher hier? Der war seit elf Jahren tot, verdammt. Amtlich tot. Und doch war ein Irrtum ausgeschlossen: Thomas Neuburg war zurück. Martin spürte sein Hemd unter dem Boss-Anzug feucht werden. Dann straffte er sich. Er war nicht mehr das arme kleine Würstchen von damals.
Wo war Uschi? Sie durfte den Kerl auf keinen Fall sehen. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Menschenmenge zu schauen, die der Zug ausgeschüttet hatte.
Weshalb tauchte dieser Mistkerl auf? Es konnte nur eines bedeuten: Rache.
Martin verrenkte sich den Hals. Verdammt, wo blieb seine Frau? Ob er rasch telefonieren konnte? Eine schrill geschminkte ältere Dame streifte ihn im Vorbeigehen. Er atmete durch. Was für ein widerliches Parfum! Die Übelkeit, die in ihm aufstieg, hatte jedoch ausschließlich mit dem Mann zu tun, der, telefonierend, langsam auf ihn zukam.
Fünf Meter, vier Meter, drei.
Martin zog den Schal über seine Nase.
Vielleicht irrte er sich doch.
Zwei.
Er konnte es einfach nicht sein.
Eins.
Der Mann redete in sein Handy. Es klang südländisch. Spanisch? Portugiesisch? Martin drehte sich halb weg, behielt ihn im Augenwinkel.
Null.
Die Narbe quer über dem Handrücken.
Irrtum ausgeschlossen.
Die Menschenmenge verschluckte den Kerl dermaßen schnell, als wäre er nur ein Gespenst gewesen. Martin stand da, eingefroren, die Hände geballt, als wollte er sie jemandem ins Gesicht schlagen. Drei Jahrzehnte schmolzen, als wäre es gestern gewesen. Seine Fußsohlen brannten. Er fummelte nach seinem Handy.
»Hier bist du!« Uschi. Total vergessen. Da stand sie vor ihm, im Designerkostüm, mit perfektem Make-up und dem gönnerhaften Blick, den sie ihm gegenüber immer aufsetzte. »Versteckst du dich etwa? Meine Güte, wir suchen dich schon überall. Du weißt, wie ich diese Ankunftshallen hasse. Ständig rempelt einen jemand an.« Sie tastete nach ihrer aufgetürmten Frisur. »Martin, wie kannst du diese Krawatte zu dem Hemd aussuchen? Du musst wirklich ein wenig mehr auf die Zusammenstellung achten. Wie oft soll ich dir das denn noch sagen.«
»Tut mir leid.« Er war es gewöhnt, sich ständig für alles bei ihr zu entschuldigen. Für sein Aussehen, für sein Reden, dafür, wie er atmete. Selbst dafür, dass er ihr extravagantes Leben finanzierte. Demonstrativ, als könne sie seine Gedanken lesen, zupfte sie an ihrem Kragen.
»Hast du wenigstens …«
»Halt die Klappe.«
Uschis Augen wurden groß. Das erste Mal, dass Martin ihr etwas entgegensetzte. Sie holte zu einer Antwort aus, dann schluckte sie merklich und senkte den Blick.
Rasch griff er nach ihren Koffern. Er wollte nicht diskutieren und überhaupt. Daran war nur Thomas schuld, wie an allem.
Dann fiel sein Blick auf Beate, seine Tochter. Ein bildhübsches jüngeres Abziehbild seiner Frau. Beate drückte ihm ein Küsschen auf die Wange, eines dieser affektierten, künstlichen, die er hasste, jedoch trotzdem kommentarlos hinnahm. Tat so, als hätte sie nichts gehört. Während sie zum Ausgang strebten, erzählten die Frauen unentwegt. Er hörte nicht zu, denn vor seine Augen schob sich das Bild des verhassten Mannes. Unauffällig sah er nach links und rechts. Er würde hoffentlich schon weg sein. Martin antwortete mit belanglosen Worten auf das Geplapper, was ihnen scheinbar zum Glück nicht auffiel.
In seinem Kopf schoben sich die Gedanken wie eine zähe Flüssigkeit hin und her.
Was plante Thomas Neuburg?
Rathaus ‒ Donnerstag, 7.11.2019
»Mann, ich dachte, wir bekämen wenigstens was Gutes zu essen. Dafür musste ich mich extra in Schale werfen?« Niklas Schröder zog demonstrativ Luft durch die Nase.
»Denkst du, das ist alles, was es gibt?« Amadeus Franz fuhr sich vorsichtig durchs perfekt geföhnte blondierte Haar, um bloß keine Welle zu ruinieren. Cindy Panzenböck grinste bei der Enttäuschung ihrer Kollegen angesichts des Büfetts. In den vergangenen Monaten hatte sie die beiden gut kennengelernt, sie hatten sich als Team in der Abteilung Leib und Leben bewährt. Und auch ihr Chef Wakolbinger hatte sich mit ihr abgefunden. Na ja, mehr oder weniger. Sie sah sich um. Angesichts der Tatsache, dass sich im Raum mindestens dreißig Personen befanden, vom Bürgermeister angefangen, Gemeinderäte, Journalisten und natürlich die Chefs der Polizeidirektion, erschienen die Mikro-Häppchen wirklich dürftig. Offenbar hatte ein Haubenkoch seiner Kreativität freien Lauf gelassen. Melonenkügelchen in Größe einer Daumenkuppe waren mit zwei Quadratzentimetern Rohschinken umwickelt, daneben lag auf einem Porzellanlöffel ein halbes Scampi auf einem Tupfer Cocktailsauce, garniert mit einer Petersilienflocke. Frühlingsröllchen in der Größe von Cindys kleinem halbierten Finger, Lachsröschen, Sushi, geraspelte Karotten, gefüllte Oliven ‒ das Büfett war köstlich anzusehen, aber nicht zum Sattessen.
Chefinspektor Toni Wakolbinger saß neben Polizeidirektor Machacek in der vordersten Reihe. Dabei wirkte er eher unglücklich, rückte seine Krawatte gerade. Es war das erste Mal, dass Cindy ihn mit einer solchen sah. Auch an den dunklen Anzug konnte sie sich nicht erinnern und hatte den Verdacht, dass er neu war. Bei der Hitze, die im Raum herrschte, schwitzten vermutlich alle Männer.
Sicher meinten die, dass Cindy es mit ihrem kurzärmeligen Kleid und der Strickjacke besser hatte. Dabei sehnte sie sich nach ihrer Jeans und dem Moment, ihr Püppchen-Outfit abzulegen.
»Sie dürfen sich hinten hinsetzen.« Ein Mädchen im Kellnerinnen-Outfit wies auf die Stühle in der letzten Reihe.
»Wahrscheinlich sollen wir dankbar sein, dass wir überhaupt eingeladen wurden.« Widerwillig setzte sich Niklas in Bewegung.
»Hätte ich doch vorher etwas gegessen.« Ein tiefes Seufzen von Franz.
Cindy hätte sich nicht gewundert, wäre das Design-Büfett unter dem vernichtenden Blick ihres Kollegen dahingeschmolzen. »Du hättest nur deine neuen Klamotten beschmutzt.« Sie tippte ihm auf die Brust. »Hier ein Ketchupfleck, das wäre eine Tragödie.«
Die drei lachten, doch plötzlich spürte Cindy, wie Niklas heftig ausatmete. Ein schlanker grauhaariger Mann im eleganten Designer-Anzug setzte sich direkt neben Wakolbinger. Ein weißer Verband zierte seine rechte Hand.
»Kennst du den?«, flüsterte sie Nik zu.
»Das ist Stadtrat Egger. Der Vater von Jaqueline.«
Cindy wusste natürlich, dass Jaqueline die von Nik vergötterte Freundin war. Obwohl sie die Frau nie persönlich kennengelernt hatte, war sie doch allzeit präsent, denn Niklas erwähnte sie zum Erbrechen häufig. »Habt ihr Probleme?«
»Er hat eins mit mir. Ein einfacher Polizist ist ihm nicht gut genug für seine Tochter.«
»Was für ein Trottel.«
Ein Streichquartett unterbrach die Unterhaltung. Anschließend erhob sich Bürgermeister Erwin Wagner, knöpfte das Jackett über dem wohlgenährten Bauch zu und begann mit einer Rede. Die ersten Sätze glitten an Cindy vorbei, ohne dass sie von ihr aufgenommen wurden, denn ihre Blicke schweiften im Raum umher.
»… durch die tatkräftige Ermittlung unseres perfekt funktionierenden Polizeiapparates konnte eine Mordserie besonderen Ausmaßes aufgeklärt werden. Herr Major Roland Machacek, lassen Sie sich in aufrichtigem Respekt hochachtungsvoll die Hand schütteln.«
Theatralik pur!
Cindys Magen meldete sich nun auch, ihre beiden Kollegen hatten sie mit dem Gemecker über das karge Büfett wohl angesteckt. Hoffentlich dauerte dies hier nicht allzu lange, danach konnten sie in Ruhe irgendwo zu Mittag essen. War das gerade ihr Name? Niklas stieß sie an.
Wakolbinger stand vorne und sprach. Nanu, was hatte sie verpasst? »Ohne die Mithilfe meines Teams wäre es nicht zu schaffen gewesen. Steht einmal auf.«
Verhaltener Applaus ertönte und ein paar Bilder wurden geknipst.
»Oh Gott, ich habe vergessen, meine Fußnägel zu lackieren. Sitzt meine Frisur?« Franz stieß sie grinsend in die Seite. Es dauerte einen Moment, bis sie es erwiderte. Bei ihrem eitlen Kollegen wusste sie nie so genau, ob er es ernst meinte oder nicht.
Zum Glück eröffnete der Bürgermeister in diesem Augenblick das Büfett. Als das Trio endlich am Ziel war, befanden sich nur noch vereinzelte Portiönchen auf dem Tisch. Die anwesenden Journalisten hatten ganze Arbeit geleistet. Nik und Franz ergatterten wenigstens je eins der winzigen Biergläser, Cindy nahm sich ein Glas Orangensaft vom Tablett.
»Niklas. Dich hätte ich hier nicht erwartet. Soweit ich weiß, kamst du ja später zum Team? Sozusagen bei der letzten Leiche?« Stadtrat Egger war zusammen mit dem Bürgermeister und Wakolbinger zu ihnen getreten.
»Richtig, Ihre Tochter ist mit unserem Revierinspektor befreundet.« Der Chefinspektor prostete ihnen zu.
»Meine Jackie war immer schon ein eigenwillig exotisches Geschöpf.« Egger klopfte Niklas jovial auf die Schulter. »Genieße den Empfang. Das gibt es ja bestimmt nicht alle Tage.«
»Was ist denn mit Ihrer Hand passiert?«, fragte Cindy rasch und deutete auf den Verband.
»Ein Urlaubssouvenir vom Segeln.« Egger schüttelte den Kopf. »Nicht der Rede wert, ein paar Stiche. Heilt bereits ab. Sie gehören zum Team? Jeder fängt mal an, nicht wahr?«
Damit drehte er sich um und wandte sich einer Journalistin zu, die an seinen Lippen hing.
In Cindy brodelte es. Anfängerin! Manchmal verteufelte sie ihr jugendliches Aussehen. Was aber letztendlich auch egal war. Was sagte das Alter über Fähigkeiten? Oder anders herum: War Alter ein Privileg für Respektlosigkeit? Ein Blick auf Wakolbinger zeigte ihr, dass der sich über Eggers Aussage amüsierte, und Machacek hatte, so schien es, nicht einmal zugehört, sondern stattdessen sämtliche Häppchen von seinem Teller verschlungen. Einige Gemeinderäte kamen hinzu, bald waren sie in ein Gespräch über aktuelle Probleme vertieft und das Team rückte ein wenig ab. Die Journalisten hatten überraschend schnell den Saal geleert. Klar, das Büfett war abgeräumt.
Cindy spürte ihre Füße. Die Veranstaltung zog sich. Sie ergatterten jeder noch ein Getränk, erst kurz vor dreizehn Uhr konnten sie sich verabschieden.
Sie holten ihre Jacken und traten in den kühlen Novembertag.
»So, jetzt gibt’s endlich etwas Herzhaftes.« Wakolbinger rieb sich die Hände. »Es wird Zeit, dass ich euch meine Lieblingsrestauration vorstelle.«
»Super, Chef. Wohin gehen wir?« Cindy überlegte, welches Gasthaus in der Nähe war.
»Hier zum Zwölfer, den Besitzer kenne ich gut und er hat Würstel vom Feinsten.« Er zwinkerte ihr zu und schien Protest zu erwarten.
Doch Cindy hatte ebenfalls eine Vorliebe für die Wurstspezialitäten auf dem Hauptplatz. »Der Zwölfer! Da war ich bereits.«
»Mir ist alles recht. Mann, hab ich einen Kohldampf! Und ein Bier wäre auch nicht ohne.« Franz stupste Niklas an. »Ich hoffe, deine Jackie hat dich noch nicht zum Veganer gemacht.«
»Ich esse alles.« Nik wirkte sichtlich entspannter, seit der Stadtrat nicht mehr in der Nähe war.
Es war einiges los am Standl, doch als der Besitzer, ein großgewachsener stämmiger Mann, Wakolbinger sah, grinste er breit. »Toni! Traust du dich auch wieder einmal auf den Hauptplatz?«
»Hallo Christian. Ja, höchste Zeit. Ich habe schon Entzugserscheinungen nach deinen Würsteln. Das ist übrigens mein Team, setz alles mir auf die Rechnung.« Er nannte rasch die Namen.
Der Wirt stellte ungefragt eine Flasche Bier vor Toni hin. Der grinste und nahm einen großen Schluck.
»Was mögt ihr?«, wandte sich der Standlwirt an die anderen und streckte ihnen die Hand hin. »Ich bin der Christian.«
»Wie geht’s der Sonja? Und den Kindern?« Toni schien offenbar Christian und seine Familie wirklich gut zu kennen.
»Sie sind gesund und munter.«
Kurze Zeit später hatten alle ein Bier.
Wakolbinger hob seine Flasche hoch. »Also Cindy, Amadeus und Niklas ‒ ab heute bin ich der Toni.« Er prostete ihnen zu.
Franz zog die Nase kraus. »Bitte, bleiben Sie bei Franz. Sonst muss ich noch Gitarre spielen.«
»Es heißt: Bleib bei Franz.« Toni zwinkerte ihm zu.
»Klavier oder Geige«, sagte Cindy zur selben Zeit.
»Wie bitte?« Die großen Augen von Franz, verbunden mit dem offenen Mund, waren göttlich anzusehen.
»Mozart hat Klavier und Geige gespielt, nicht Gitarre.« Cindy spielte auf dem Tisch den Flohwalzer nach.
»Wenn ich Hunger habe, kann ich nicht denken.«
»Wenn du keinen Hunger hast, sackt dein Blut vom Gehirn in den Magen, folglich ist auch nicht viel mit dir los.« Nik grinste breit.
Franz zog die Augen zusammen und wollte etwas sagen, da klingelte ein Handy.
Wakolbinger fasste in seine Jacketttasche, holte es heraus, runzelte die Stirn und nahm das Gespräch an. »Wakolbinger.« Er drehte sich weg, weil eine Straßenbahn mit Gebimmel vorbeifuhr. »Wie bitte? Können Sie das noch einmal wiederholen? Schloßberg? ‒ Ja, wir sind ganz in der Nähe. Ist die Spurensicherung schon verständigt? ‒ Aha.« Er nahm das Handy vom Ohr und räusperte sich. »Keine Würstel, wir müssen zu einem Tatort.«
»Jetzt?« Die Mundwinkel von Franz erreichten Tiefstand.
»Die Leiche liegt auf dem Schloßberg.«
»Ein Mord, Chef?« In Cindy kribbelte es.
»Auf dem Schloßberg?« Niklas klang ebenfalls aufgeregt.
»Es hat sich ausgecheft, Panze, kannst du dir das nicht einmal eine Minute lang merken?« Und zu Niklas, »ich bin übrigens nicht vertrottelt, wenn ich sage, auf dem Schloßberg, dann ist es auch auf dem Schloßberg.«
»Zweimal Hot Dog, eine Bosna und einmal Käsekrainer«, tönte es vom Standl.
»Stell’s warm, Christian. Tut mir leid, wir müssen fort.«
Der Standlwirt sah unglücklich auf die Pappteller. »Aufgewärmt schmecken sie nicht«, hörte Cindy ihn noch schimpfen, sie waren bereits auf dem Weg durch die Menschenmenge über den Hauptplatz. Vor der Murgasse stoppten sie kurz, da eine Straßenbahn vorbeiratterte.
»Hätten wir nicht schnell ein Paar Frankfurter im Gehen essen können?« Franz machte ein Gesicht wie ein Fünfjähriger, dem erklärt wurde, dass Weihnachten heuer ausfiel.
Wakolbinger drehte sich zu ihnen um. »Das erzeugt einen super Eindruck, wenn die Abteilung ›Leib und Leben‹ Würstel kauend auftaucht.«
Cindy beobachtete amüsiert, wie Franz einen verzweifelten Blick zum Zwölfer-Stand zurückwarf.
Sie marschierten schweigend durch die Sackgasse am bekannten Grazer Großkaufhaus vorbei, bis zum Platz, an dem der Schloßbergsteig zum Uhrturm hinaufführte. Irgendwas lag in der Luft, Cindy spürte es, je näher sie ihrem Ziel kamen.
Zwei Tage zuvor ‒ Dienstag, 4.11.2019
»Dieser Hundesohn!« Ralf sprach aus, was alle dachten.
In Martins Magen rotierten hundert Messer. Uschi war ausgegangen. Angeblich war sie bei der Geburtstagsfeier einer Freundin. Eigenartig, dass sie von dem Fest offenbar erst am Nachmittag erfahren hatte. Daher hatten sie die Villa für sich. Normalerweise trafen sich die vier immer am Mittwoch zum Bauernschnapsen. Heute war Dienstag. Und auf ein Kartenspiel hatte niemand Lust.
Zwei Tage war es her, dass Thomas Neuburg sprichwörtlich wie eine Bombe eingeschlagen hatte. Seit er ihnen erneut das Leben schwermachte.
»Mein liebender Bruder beansprucht alles.« Günter Neuburg betonte das zweite Wort besonders. »Der gibt sich nicht mit Hundekuchen zufrieden, der will die gesamte Firma.«
»Vielleicht kannst du dich mit ihm einigen.« Konrad Huber, Günters Cousin, mit sechsundvierzig der Jüngste der Runde, fingerte an seinem Zigarettenpäckchen, ohne eine Zigarette herauszunehmen. In Martins Haus war Rauchen verboten.
»Einigen? Hast du vergessen, dass er deinen Vater in den Selbstmord getrieben hat?« Martin nahm eine Flasche Whisky aus dem Barschrank. Den teuren. »Er hat nur einen einzigen Grund zurückzukommen. Rache.«
»Aber warum?« Ralf Steindl, Günters langjähriger Freund und Geschäftspartner, klopfte mit der flachen Hand auf den Tisch. »Es ist verjährt.«
»Ach ja?« Martin stellte vier schwere Gläser nebeneinander. »Hast du vergessen, was er deiner Schwester angetan hat? Oder wollte sie es etwa?«
»Was fällt dir ein!« Bei Ralfs Brüllen zuckten alle zusammen.
Martin schenkte ein. »Das ist doch die Aussage von Thomas gewesen, nicht wahr? Dass die Kleine sich ihm an den Hals geworfen hätte.«
Ralf schnappte nach Luft, sein Bauch schwabbelte, seine Hände ballten sich, er brachte nur ein Ächzen heraus. »Lüge!«
»Er will sich rächen, für dreißig Jahre Exil.« Martins Finger spielten mit dem Schraubverschluss.
»Das ist nicht unsere Schuld«, sagte Konrad fast zeitgleich mit Günter.
»Hat er sich selbst zuzuschreiben.« Ralf nickte heftig, seine Finger trommelten auf die Tischplatte.
Nicht ganz. Martins Freunde ahnten nichts von dem gestrigen Telefonat, als ein gewisser Herr endlich vom Urlaub zurückgekommen war. Das sollte auch so bleiben. Daher verschloss Martin rasch die Flasche und stellte sie zurück.
»Er gehört dahin, wo wir ihn alle vermutet haben, in die Hölle!« Ralfs Wangen wirkten wie zwei knallrote Luftballone.
»Wir müssen ihn loswerden.« Günter schnappte sich eins der gefüllten Gläser und trank es zur Hälfte aus. »Ich habe hart gearbeitet nach dem Skandal damals. Das Autohaus Neuburg hat sich seinen Namen verdient. Ich lasse mir das nicht von dem Dreckskerl kaputtmachen!«
Martin verteilte die restlichen Drinks und prostete den Freunden zu. »Wir sind uns einig, der Sauhund muss verschwinden.«
Sie tranken. Kurz war es still.
»Er wurde doch für tot erklärt«, sagte Ralf leise. »Oder, Günter?«
»Allerdings.« Günter hielt Martin das leere Whiskyglas hin, dieser goss nach. »Vor genau elf Jahren.«
»Kann man einen Toten umbringen?« Konrad kicherte, er trank selten Alkohol, umklammerte jetzt jedoch das Glas, als wollte er es nicht mehr loslassen.
»So einfach ist das nicht.« Martin starrte mit Ekel auf Konrads schmutzige Fingernägel. »Wasch dich mal.«
»Als Automechaniker arbeitet man halt und sitzt nicht in einem de luxe Büro wie der feine Herr Bankdirektor«, wehrte der sich.
»Er will sich mit mir auf dem Schloßberg treffen.« Günter schwenkte die braune Flüssigkeit im Glas, sodass sie im Licht aufleuchtete.
»Wir brauchen auf jeden Fall einen Ausweg.« Martin blickte in die Runde. »So oder so.« Mit Genugtuung nahm er wahr, dass ihm alle zögernd zustimmten. Die Schlacht war eröffnet.
Schloßberg ‒ Donnerstag, 7.11.2019, 13.30 Uhr
»Der Lift ist wohl die schnellste Lösung.« Tonis Stimme klang leicht säuerlich. Mit Aufzügen stand er auf Kriegsfuß, wie Cindy wusste.
»Wo genau liegt die Leiche?«, fragte Niklas.
»So wie es aussieht, war die Liesl die Täterin.« Toni schritt zügig durch den Stollen voran und zeigte dem Mädchen im verglasten Ticketschalter seinen Ausweis. Sie durften anstandslos passieren.
Danach warteten sie, der Aufzug war gerade oben.
»Die Liesl?« Cindy überlegte kurz, bis es ihr einfiel. »Du meinst, die Glocke?«
»Ja. Mehr weiß ich auch noch nicht.«
»Hat sie sich aus der Verankerung gelöst?« Niklas schüttelte den Kopf. »Und ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt stand jemand in der Nähe oder drunter?«
»Soweit ich weiß, dürfen Touristen da gar nicht rein, zumindest nicht ohne Guide«, erklärte Franz. »Mein Cousin ist nämlich einer.«
»Ein was?« In Tonis Stimme schwang Ungeduld.
Cindy wusste, wie sehr er unnützes Geschwätz hasste.
»Ein Guide. Die müssen eine aufwendige Prüfung absolvieren, als Austria-Guide und«, Franz unterbrach sich. »Der Lift ist echt geil. Mit dem bin ich noch nie gefahren.«
»Franz, was ist mit den Guides und der Prüfung?«, bohrte Toni nach, der mit dem Rücken zur Glaswand stand.
»Claudio ist eigentlich Lehrer, das mit dem Guide ist nur ein Nebenjob. Aber die Ausbildung ist gar nicht so ohne.« Ein lautes Knurren kam aus seinem Bauch, er grinste verlegen. »Hätte ich doch rasch ein Würstel gegessen«, grummelte er.
»Hör auf mit der Lamentiererei. Ich bin froh, dass dein Magen leer ist, bis jetzt hast du noch immer dein Inneres nach außen gestülpt, wenn du Blut gesehen hast«, schnauzte Toni.
Cindys Neugierde stieg. Wusste Toni mehr, als er sagte? Von Blut hatte er jedenfalls bisher nichts erzählt.
Der Aufzug endete direkt vor dem Uhrturm. Sie traten hinaus, mitten in eine japanische Touristengruppe, die in eine lebhafte Diskussion mit ihrem Reiseführer vertieft war. Cindy hielt sich hinter Wakolbinger, der sich wie eine Dampfwalze durchkämpfte. Der Weg zum Glockenturm war durch ein Polizeiauto abgesperrt, zwei Beamte in Uniform stellten sich ihnen entgegen.
»Gut, dass Sie da sind.« Einer der Uniformierten wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Die Japaner haben nicht eingesehen, dass sie nicht zur Liesl dürfen.«
»Wo ist die Leiche?«
»Direkt im Glockenturm.«
Sie marschierten die paar Minuten hinauf, oben war eine zweite Urlaubergruppe, die jedoch eher still beieinanderstand. Gruppeninspektor Karl Lindner kam ihnen entgegen.
Seine Gesichtsfarbe war grau, er fuhr sich mehrmals durch das volle Haar, dabei fiel Cindy auf, dass seine Hände zitterten.
»Es ist horrormäßig, Toni. Der Kopf des Toten ist eine einzige blutige Masse. Verdammt, wie konnte das passieren? Der Mann muss direkt unter der Glocke gestanden haben.«
»Hat sich die Glocke gelöst?« Toni schaute nach oben, dann wieder auf Lindner. »Ein technisches Versagen?«
»Nein. Der Tote liegt oben im Glockenturm im Eck. Ich verstehe nicht, wie er so dumm sein konnte. Er muss darunter gestanden haben, der Glockenschwengel hat ihn getroffen, zumindest ist der voll Blut. Es ist überhaupt alles voll Blut rundum.«
Cindy hatte den Gruppeninspektor nie zuvor dermaßen außer sich gesehen. In ihr rumorte es und plötzlich war sie froh, dass sie nichts gegessen hatte. Sie holte Luft und folgte ihren Kollegen, die die Holztür des Turmes erreicht hatten.
»Wollt ihr euch das wirklich antun?« Lindner hielt einen Sack mit Plastiküberschuhen und Schutzanzügen in den Händen, zögerte aber. »Das Team der Spurensicherung muss jeden Moment eintreffen.«
»Ich dachte, sie wären bereits da«, sagte Wakolbinger leise, während er die Schuhe schützte, das Jackett auszog und sich in einen der Schutzanzüge quälte. Er drehte sich zu den anderen. »Ihr müsst nicht mit hinauf.«
Cindy schluckte und warf einen Blick auf ihre beiden Kollegen. Als die zur Schutzkleidung griffen, sogar Franz, tat sie es ihnen nach.
»Wer hat den Toten gefunden?« Toni hatte auf ›Bulle‹ umgestellt, würde jetzt sicher geschäftsmäßig alle Routinefragen bei Erstkontakt mit einem Tatort abspulen. Insgeheim grinste Cindy. Genauso hatte sie es auch beigebracht bekommen.
Lindner wies auf eine Gruppe älterer Menschen, die hinten verteilt auf Felstrümmern saßen und leise sprachen. »Eine Pensionistengruppe aus Dornbirn. Der große Bursche mit dem Bart ist Herr Reinhold Sedlacek von den Graz Guides.«
»Waren die alle bei dem Toten oben?« Cindy zog den Reißverschluss des Anzuges zu, ihr elegantes Kleid würde hoffnungslos zerknittern.
»Bei der Leiche waren nur der Guide und ein älteres Ehepaar. Er hat die anderen zum Glück gleich hinuntergescheucht. Sie sind alle komplett daneben. Ich habe das Kriseninterventionsteam angefordert.«
»Gute Idee.« Karl lächelte leicht bei Tonis Lob, dann sah er am Glockenturm hoch.
»Ihr müsst aufpassen da drin. Ein Künstler«, die spezielle Betonung überhörte wohl niemand, »war dabei, seine Ausstellung für den Advent zu gestalten. Sämtliche Lampen und Kabel und sonst was liegen durcheinander. Achtet auf Glasscherben.«
»Wer ist verantwortlich für den Turm?«
»Die Gebäudeverwaltung ist verständigt. Für die Ausstellung ist eine Kuratorin zuständig, sie heißt Elfriede Gruber. Ich habe sie vorhin erreicht. Gestern hat sie um fünfzehn Uhr die Tür abgesperrt.«
Toni warf einen Blick auf die Tür.
»Ist die aufgebrochen worden?«
»Eben nicht. Laut Herrn Sedlacek war sie ordnungsgemäß abgeschlossen. Von außen war alles normal. Nur drinnen sieht es aus wie Sodom und Gomorra.«
»Dann stellt sich also die Frage, wie das Opfer in den Turm gelangt ist. Wissen wir schon, wer der Tote ist?«
Lindner schüttelte den Kopf. »Das Gesicht ist nicht zu erkennen. In den Taschen haben wir nichts gefunden. Aber wir haben bisher nur oberflächlich gesucht, das Weitere wollten wir der Spurensicherung überlassen. Sind ohnehin schon genug Spuren durch die Touristengruppe zertrampelt.«
Dem musste Cindy zustimmen. Doch Toni ging nicht darauf ein. »Karl, wie oft läutet die Liesl?«
»Dreimal täglich, jeweils um sieben und um zwölf Uhr mittags, das wird elektronisch aus der Glockenstube gesteuert. Die Firma Reicht-Turmuhren ist zuständig für das Läutwerk, sie veranlassen, dass es abgestellt wird.«
»Möglichst, bevor sie wieder läutet.«
»Selbstverständlich, Toni.« Karls Stimme klang etwas beleidigt, was Cindy innerlich erneut schmunzeln ließ.
Glockenturm ‒ Donnerstag, 7.11.2019, 14.00 Uhr
Toni hatte keine Ahnung, was ihn erwartete, aber er stellte sich auf das Schlimmste ein. Wenn der Zustand des Toten einen erfahrenen Beamten wie Lindner dermaßen aus dem Gleichgewicht bringen konnte, musste der Anblick grauenvoll sein.
»Wir müssen herausbekommen, wer alles einen Schlüssel hat«, sagte Cindy neben ihm. In den weißen Schutzanzug eingehüllt wirkte sie extrem jung. Kaum zu glauben, dass sie bereits dreißig war. Immer wieder ein wunder Punkt bei ihr. Die unnütze Bemerkung wies auf ihre Nervosität hin, er schwieg.
Der muffige Geruch von altem Gemäuer empfing sie, es war bedeutend kühler als draußen.
Franz sprach aus, was Toni dachte. »Oh Gott, hier sieht es aus, als wäre ein Tornado durchgerast.«
Chaos war für das, was sie im Inneren des ehemaligen Verlieses erwartete, noch untertrieben. Glühbirnen, Neonröhren und Lichterketten lagen ineinander verknotet auf dem Boden. Der Künstler hatte offenbar viel Zeit damit verbracht, Lichtinstallationen zu legen. Wie immer es vorher ausgesehen haben mochte, nun war es ein einziger Abfallhaufen. Glasscherben mischten sich mit buntem Papier, Plastikstücken, Draht und Kabeln.
»Steigt nirgends drauf«, forderte Toni sicherheitshalber und sie versuchten, die fast nicht existenten Bodenflächen zwischen den Trümmern zu erreichen.
Wie auf Eiern erkletterten sie die Stufen des Turmes, auch hier fanden sie sämtliche Überreste des künstlerischen Schaffens auf dem Boden liegen. Cindy blieb direkt hinter ihm. Hätte er ihr befehlen sollen, unten zu bleiben? Und Franz mit seinem empfindlichen Magen? Auf der anderen Seite hielt er einiges davon, sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. So grauenvoll der Anblick auch sein mochte, manchmal speicherte das Gehirn ein Detail ab, das später von Bedeutung sein könnte. Auf einer der Treppenstufen erspähte er einen roten Fleck und bückte sich reflexartig. Blut? Das musste die Spurensicherung feststellen.
Auch die anderen bemerkten die dunkle Verfärbung auf dem Steinboden. Ohne Worte setzten sie ihren Weg fort. Cindy deutete auf braunrote Spritzer, die ein paarmal auf den Stufen und an der Wand auftauchten. Die letzte Kurve, und Toni stand im Eingang, der direkt zur Glocke führte. Er atmete durch.
Grauenvoll.
Das Blut war durch den ganzen Raum versprüht, der Anblick machte selbst ihm zu schaffen. Eine Gestalt lag verkrümmt am Boden auf der rechten Seite, unter einem der kleinen Fenster. Der Kopf eine einzige blutige Masse, die Arme und Beine am Körper anliegend. Gleich einer Puppe, die man in die Ecke geworfen hatte.
Hinter sich hörte er Cindy keuchen. Er trat einen Schritt nach links, damit die anderen Platz hatten.
»Oh mein Gott.« Das kam von Niklas.
Franz würgte und eilte die Treppe hinab, dass das Knistern des Schutzanzuges laut zu hören war. Hoffentlich verwischte er nicht zu viele Spuren.
»Es sieht aus, als hätte wirklich der Glockenschwengel den Mann erschlagen.«
Das Zittern in der Stimme von Niklas war nicht zu überhören. Sein Gesicht hatte die Farbe der Plastikkleidung angenommen.
»Aber wie ist das möglich?« Cindys Blick wanderte suchend durch den Raum. »Da müsste er direkt darunter gestanden haben, wer tut das? Ein Selbstmörder?«
Toni schüttelte den Kopf. »Gegebenenfalls stand er unter Drogen. Außerdem ist da ja auch das Blut auf der Treppe.«
»Ein Unfall?« Niklas schaute auf den Boden. »Aber wenn er gestolpert wäre, hätte ihn der Schwengel kaum erwischen können. Die Glocke hängt hoch.«
Toni scannte den Raum in Sekundenschnelle. »Was ist da bloß passiert?« Er schüttelte den Kopf. Die Liesl als Mörderin! »Hoffentlich findet die Spurensicherung etwas Hilfreiches. Auch wenn es schwierig wird, die einzelnen Spuren zuzuordnen, zahlreiche Leute sehen sich den Glockenturm an. Er gehört schließlich zu den Attraktionen von Graz.« Mit großen Schritten überbrückte er die Distanz zum Toten und beugte sich hinunter.
»Fällt euch auf, dass die Lichtinstallationen hier intakt sind?« Cindy wies auf die linke Seite, wo eine Lichterkette um die Holzverstrebungen gewunden war. Ein paar Glühbirnen waren in einer Weise verdrahtet, dass man sie für Figuren halten konnte, eine Neonröhre hing an durchsichtigen Fäden in der Luft, zahlreiche Fahnen aus Papier baumelten daran herunter. »Ich weiß zwar nicht, ob das so gehört, aber es sieht unangetastet aus. Dürfte eine Weihnachtskrippe darstellen.«
Toni erhob sich, kam zurück und betrachtete das Gebilde. Cindy hatte einen Blick für Kleinigkeiten. Beantworten konnte das nur der Künstler selbst.
»Wie kam der Mann überhaupt hier herauf? Er und eventuell ein Zweiter, wenn wir von Mord ausgehen?« Cindy drehte sich rundum.
»Was meinst du, Toni, wie lange er schon tot ist?« Niklas stand vor der Glocke, die nun ruhig verankert hing. Nur der blutige Glockenschwengel passte nicht ins friedliche Bild.
»Ich bin kein Arzt, aber die Totenstarre hat komplett eingesetzt. Also ich schätze, er liegt mindestens seit gestern Abend da.«
»Dann müsste er um neunzehn Uhr erschlagen worden sein«, kombinierte Cindy rasch. »Wenn es stimmt, dass die Glocke nur um sieben läutet, gibt’s keine andere Möglichkeit.«
»Fräulein Oberschlau!« Toni konnte es sich nicht verkneifen, es zu sagen. Sie war auf Zack, die Kleine, aber manchmal nervte das.
Niklas hob seine behandschuhten Hände hoch. »Soll ich mal nach einem Ausweis suchen?«
»Nein. Karl hat das schon getan. Überlassen wir das Ganze der Spurensicherung.« Toni war sich bewusst, dass sie das Feld räumen sollten. »Sprechen wir mit der Gruppe, die den Toten gefunden hat.«
Unten begegneten ihnen die Leute von der Spurensicherung mit Gruppeninspektor Gerfried. Er zog sich gerade den Reißverschluss an seinem Plastikanzug hoch.
»Aber nicht, dass ihr mir wieder Sämtliches an Beweisen zertrampelt habt.« Es klang nur halb scherzhaft.
»Wir waren vorsichtig.«
»Jaja, das sagen sie alle.« Er spähte an Toni vorbei in den Innenraum. »Was bedeuten diese kaputten Lampen überall?«
»Angeblich das Wirken eines Künstlers.«
»Sieht nach Kampf aus.« Gerfrieds spitze Nase kräuselte sich. »Frisch ans Werk.«
Toni sparte sich ein ›so schnell wie möglich‹ hinterherzuschießen. Er wusste, dass die versierten Beamten professionell arbeiten würden. Einige von ihnen kannte er seit Beginn seiner Karriere hier in Graz.
Sie schälten sich aus den Schutzanzügen. Toni wies Niklas an, sich um die Touristen zu kümmern. »Hol Franz dazu, sobald er sich eingekriegt hat.« Er drehte sich zu Cindy. »Wir befassen uns mit dem Guide.«
Minuten später standen sie vor der Touristengruppe, die im breiten Vorarlberger Dialekt aufgebracht diskutierte. Die meisten saßen hinter dem Glockenturm auf Mauerresten, dazwischen waren zwei Löwen aus Stein. Abseits auf der linken Seite des aufwärts führenden Weges stand ein mittelgroßer Mann, Mitte vierzig, der auf eine schluchzende ältere Frau einredete. Sie saß zusammen mit einem Grauhaarigen auf der Mauer, der den Arm um sie gelegt hatte.
»Chefinspektor Wakolbinger«, sagte Toni zu dem bärtigen Mann, hielt seinen Ausweis hoch und wies auf Cindy. »Revierinspektorin Panzenböck. Sind Sie der Guide?«
»Herr Reinhold Sedlacek?«, ergänzte Cindy. Richtig, Karl hatte seinen Namen genannt. Sie merkte sich wohl alles?
Der Angesprochene warf einen kurzen Blick darauf, antwortete rasch. »Ja. Die Gruppe hat mich für eine Schloßbergführung gebucht. Wir haben beim Uhrturm angefangen, ich mache immer dieselbe Runde, ausgenommen es wird anders gewünscht.«
Er wirkte sympathisch auf Toni, mit braunen kurzen Haaren und ebensolchem gepflegten Vollbart.
»Gehen wir ein paar Schritte abseits.« Toni lotste den Mann zirka zehn Meter von der Gruppe weg, aufwärts. Sie standen schließlich auf einer Art Brücke mit Blick auf ein altes Theater.
Mit einem innerlichen Grinsen registrierte er, dass Cindy ein kleines Notizbuch aus ihrer Handtasche gefummelt hatte und mitschrieb. Bestimmt vermisste sie ihr iPad, ohne das sie nicht auszukommen schien. Der blasse Mann vor ihm knetete seine Hände.
»Leider gibt es hier keine Sitzmöglichkeit.« Toni sah sich um.
»Nein. Das sind die Kasematten, die Grazer Schloßbergbühne. Im Jahr 1594 wurde das Kellergewölbe ‒ ich meine für den Schloßhauptmann wurde das damals gebaut.« Die Stimme des Guides zitterte und Toni befürchtete, er könnte jeden Augenblick anfangen zu weinen.
»Herr Sedlacek, ganz ruhig,« sagte Cindy leise. »Tief durchatmen.«
Sedlacek folgte ihrem Rat, lehnte sich an die Mauer mit dem Rücken zum alten Theater.
Toni tat es ihm gleich. »Also, Herr Sedlacek, schildern Sie einfach von Anfang an. Sie kamen zum Glockenturm und dann? Ist Ihnen sofort etwas verdächtig vorgekommen?«
»Nein, ich hätte doch niemals meine Gruppe dieser Situation ausgesetzt.« Er holte erneut tief Luft. »Die Tür war verschlossen, alles war wie immer.« Seine rechte Hand umschloss die Faust der linken, die Fingerknöchel traten weiß hervor. »Keiner von uns Guides wäre so unverlässlich, die Eingangstür offenstehen zu lassen.«
Er warf einen unsicheren Blick auf das ältere Ehepaar weiter unten.
»Ab wann wurden Sie stutzig?«
»Na ja, die zahlreichen Lampen und Lichterketten. Es war das totale Chaos. Man hat mir natürlich mitgeteilt, dass wir vorsichtig sein müssten, weil ein Künstler seine Adventsausstellung vorbereitet. Wir sind ja einiges an moderner Kunst gewöhnt, dass da absichtlich Scherben produziert werden, habe ich schon erlebt. Bei der Biennale in Venedig war einmal das Modell einer Stadt nur aus Müll aufgebaut, daher dachte ich mir nichts, zumindest zuerst.« Er zuckte mit den Achseln, tastete erneut zu seinem Bart. »Der Blickwinkel auf künstlerisches Schaffen ist eben unterschiedlich.«
»Sie erfuhren zuvor nichts über die Ausstellung? Von Ihren Kollegen beispielsweise?«
»Nein. Der Künstler arbeitet erst seit ein paar Tagen und wie gesagt, wir haben selten gebuchte Führungen im November.«
Cindy beugte sich vor. »Sie hielten das Durcheinander für eine besonders kreative Art von innovativer Kunst?«
»Ja, ich muss gestehen, zuerst schon. Ich bat die Leute, möglichst auf den Boden zu schauen, und sie waren auch alle vorsichtig.«
Behutsames Zertrampeln sämtlicher Spuren! Toni seufzte. »Sie gingen also geschlossen hinein.« Er sah sich um. »Wie groß ist die Gruppe?«
»Insgesamt zweiundvierzig, wir haben sie geteilt zu je einundzwanzig.«
»Wir?«
»Meine Kollegin Frau Summer, sie hat mit der Stadtführung begonnen und wollte anschließend mit ihrer Gruppe auf den Schloßberg.«
Das hatte sich nun wohl erübrigt. Toni wechselte einen Blick mit Cindy, die tapfer ihren winzigen Block vollkritzelte. »Sie begannen Ihre Führung unten?«, fragte sie wie auf Kommando. »Womit genau? Ich meine, gibt es da etwas Interessantes?«
»Selbstverständlich.« Der entrüstete Tonfall bewies, dass der Guide seinen Job ernst nahm. »Der Turm war als Gefängnis gebaut, genannt die Bassgeige, obwohl nicht erwiesen ist, ob da jemals Gefangene waren.«
»Sie hielten ihren Vortrag auf übliche Weise? Kamen Ihnen die zerstörten Installationen auch aus einem anderen Blickwinkel nicht eigenartig vor?«
»Nein, das ist es ja.« Er kratze sich am Kinn. »Wir haben uns noch über die eigenwillige Kunst lustiggemacht. Allein der Gedanke, dass wir herunten Spaß hatten, die Leute sind nämlich sehr humorvoll, na ja, das waren sie, vorher. Wir hatten ja keine Ahnung, dass da oben ein Toter liegt. Ich erzählte ein paar Anekdoten, das tu ich immer zur Auflockerung, alle lachten. Einer Dame ist die Tasche heruntergefallen. Wir haben gemeinsam den Inhalt aufgeklaubt. Unglaublich, was so eine Frau für Sachen in ihrer Handtasche hat. Sogar eine Taschenlampe war dabei. Und ein Haarspray.« Er brach ab und schluckte ein paarmal. »Ich erzähle das, weil sie sich fast an einer Glasscherbe geschnitten hätte, und es kam dann doch einigen komisch vor, dass Scherben Kunst seien.« Hier musste er nach Luft schnappen.
»Herr Sedlacek, es ist nicht alltäglich, was Sie erlebt haben, klar, dass Sie ein wenig neben der Spur sind. Also Sie gingen hinauf.« Toni versuchte, seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu geben, aber innerlich zappelte er vor Ungeduld.
»Ja. Wir stiegen zu den oberen Räumen im Mittelstock, hier war das Chaos unbeschreiblich. Das kam mir dann richtig eigenartig vor, daher bat ich die Gruppe zu warten, und bin allein hinauf zur Liesl.«
Aus dem Augenwinkel sah Toni, wie Cindy in ihrem kleinen Block weiterblätterte. Lange würde das winzige Ding nicht reichen. Sie hob den Kopf. »War das Chaos im Mittelstock anders als unten?«
»Wie meinen Sie das?« Sedlacek schien verwirrt.
»Weil Ihnen offenbar etwas so merkwürdig vorkam, dass Sie allein zur Liesl gingen«, half Toni.
»Äh, na ja, ich sah rote Flecken auf der Treppe und an der Wand. Natürlich hielt ich sie zuerst für Farbe.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich kann es nicht erklären, aber da war mit einem Mal ein unheimliches Gefühl da.«
»Erzählen Sie weiter.« Toni warf einen Blick hinunter zu Niklas und Franz, die von der Gruppe offenbar mit Fragen bestürmt wurden.
»Ja, ich dachte, ich wäre allein, aber das Ehepaar Hämmerle ist mir gefolgt.« Reinhold Sedlacek wies auf das Pärchen, das immer noch abseits auf der Mauer saß. Die Frau schluchzte gerade erneut auf.
»Sie erreichten gemeinsam das Glockenzimmer?«
»Das Blut, es war einfach grauenvoll. Der Boden, die Wand, sogar die Holzbalken waren bespritzt. Ich wusste nicht, woher es kam. Zuerst dachte ich an ein Tier, ob der Künstler vielleicht eine Schlachtung vorgenommen hat, bei diesen Leuten weiß man ja nie, was in ihren Köpfen vorgeht. Ich war im Moment richtig wütend und traute mich kaum hochzuschauen. Ich hatte Angst, ein Tier an der Decke hängen zu sehen, aber dann sah ich den Toten in der Ecke. Er hatte«, schlucken, flüstern, »kein Gesicht mehr.«
»Sie sind sofort umgekehrt?«
»Ich glaube, ich habe aufgeschrien, mich umgedreht und dann sah ich erst, dass die Hämmerles hinter mir waren. Frau Hämmerle begann zu kreischen und wollte nicht wieder aufhören.«
»Sie war total geschockt!« Der Grauhaarige war zu ihnen heraufgekommen und tippte dem Guide mit dem Zeigefinger an die Brust. »Sie haben ja selbst gebrüllt wie ein Stier, als Sie die verunstaltete Leiche sahen. Das ist halt kein Anblick für alle Tage.«
Sedlacek rieb sich unter der Nase über den Bart, seine Finger zitterten heftig.
»Sie haben den Toten auch gesehen? Sie sind …?«, fragte Toni.
»Doktor Manfred Hämmerle, ich bin Arzt und wusste gleich, dass da nichts mehr zu machen war. Wir gingen hinunter und haben gemeinsam den Turm verlassen. Einer von uns rief dann die Polizei an.«
Lindner kam ebenfalls näher. »Zwei Leute vom KIT sind da«, sagte er leise.
Toni atmete auf. Zum Glück würde sich das Kriseninterventionsteam um die traumatisierten Zeugen kümmern. Dennoch kam es ihm eigenartig vor, dass die Frau immer noch heftig weinte. War das allein durch den Schock bedingt? Der Tote war schließlich ein Fremder für sie.
»War außer Ihnen drei niemand beim Toten?«, hakte er nach.
»Nein. Ich habe keinen mehr hinaufgelassen. Doktor Hämmerle hat mir geholfen, die Leute aus dem Turm zu treiben.«
»Das war sehr vernünftig von Ihnen«, kam es von Cindy. Das Lob tat dem geschockten Sedlacek sichtlich gut. Seine Anspannung schien ein wenig zu weichen. Für sensible Gespräche war Cindy wirklich gut zu gebrauchen.