Todessaphir - Saskia Louis - E-Book
SONDERANGEBOT

Todessaphir E-Book

Saskia Louis

0,0
5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 5,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wenn Engel und Todesengel sich streiten ... dann freut sich niemand. Am allerwenigsten der Halbengel. Der zweite Teil der spannenden Romantasy-Trilogie um Gabe und Ella Ella hat nur noch ein Ziel vor Augen: Den Erzengel Killian zu töten. Doch dazu muss sie die Engelssteine finden, die der Schlüssel zu allem sind. Leider ist der Einzige, der ihr helfen kann, Gabe. Der blöde, geheimnistuerische Todesengel, den sie genauso oft schlagen wie küssen will. Aber die Möglichkeiten sind rar gesät, wenn Polizei und Engel einem auf den Fersen sind. Ehe sie sich versieht, befindet sie sich auf einem wahnwitzigen Roadtrip durch Italien, immer den Engelssteinen hinterher. Doch die Geheimnisse der Todesengel sind dunkler, als Ella je vermutet hätte, und auch Gabe verschweigt ihr etwas. Je näher sie der Wahrheit kommt, desto weniger möchte sie wissen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

 

Saskia Louis

Todessaphir

 

Das Vermächtnis der Engelssteine 2

 

 

 

 

© 2023 by Saskia Louis

2. Auflage Mai 2023

Lektorat: Janine Kröger

Korrektorat: Klaudia Szabo

Zeichnungen: Antonia Sanker

 

Umschlaggestaltung:Sarah Buhr - Covermanufaktur

unter Verwendung von Motiven von

© Stock.adobe.com, © Shutterstock.com

 

 

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.

Handlungen und Personen dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

 

Saskia Louis

Wegemanns Feld 16

45527 Hattingen

[email protected]

 

www.saskialouis.com

Abonniert meinen Newsletter und verpasst keine Veröffentlichung mehr!

Besucht mich auf Facebook oder werdet Teil meiner Lesergruppe und diskutiert gemeinsam über die Bücher:

www.facebook.com/Louis.Saskia

https://www.facebook.com/groups/1785939628135145/

 

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Na, schon fertig?

Du kannst Teil 3 gar nicht erwarten?

Leseprobe

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Lars,

weil er mir beigebracht hat, zu kämpfen.

 

Prolog

 

 

Menschen verlangen immer nach der Wahrheit.

Sie wollen das Verborgene sehen, suchen nach

Erklärungen und Vorhersagen. Aber sie ahnen nicht, wie schwer die Wahrheit auf ihnen lasten kann.

Ich wusste es auch nicht.

Jetzt kenne ich sie und kann nicht mehr zurück.

 

 

 

Kapitel 1

 

Blut quoll aus meinen aufgeschürften Fingerknöcheln und tropfte auf den Boden. Dumpfer Schmerz pochte auf meiner Haut, doch ich kümmerte mich nicht darum. Meine Faust fuhr erneut nach vorn und traf den Angreifer unterm Kinn.

Für den Tod meiner Mutter.

Ich rammte meinen Ellenbogen in seine Nierengegend.

Für all die Geheimnisse, die man vor mir versteckt hatte.

Ich drehte mich einmal um die eigene Achse und stieß mit dem Fuß gegen die Mitte seines Körpers. Er flog zurück und krachte gegen die Tür.

Dafür, dass ich seit drei Wochen hier unten festhing. Dafür, dass ich schon längst nach Killian suchen könnte, um ihn zu bestrafen.

Ich wollte in sein Gesicht sehen, während ich ihn tötete. Wollte Reue in seinem Blick sehen. Reue für das, was er meiner Mutter angetan hatte. Wollte ihn leiden sehen.

Meine Muskeln brannten bei jeder Bewegung – doch es war mir egal. Schwer atmend ließ ich die Arme sinken, wischte das Blut von meinem Handrücken ab und starrte auf die zusammengesunkene Gestalt vor mir.

Der Kopf der Sandpuppe, an der ich trainiert hatte, hing in einem merkwürdigen Winkel nach hinten und die Beine standen gespreizt von ihrem Körper ab. Ich wünschte mir, sie wäre ein Engel. Wünschte mir, dass ich meinen Dolch durch die starre Haut schlagen und alles, was in den letzten Wochen geschehen war, für ein paar Momente verdrängen könnte. Dass der Schmerz anderer meinen eigenen lindern könnte.

»Ella?«

Es klopfte an der Tür, doch bevor sie geöffnet werden konnte, sandte ich meinen Schild aus, um sie fest verschlossen zu halten.

»Es ist alles okay«, sagte ich laut, doch meine Stimme klang nicht nach mir selbst. Sie war kühl und schien aus weiter Ferne zu kommen. »Niemand will mich umbringen, Gabe. Lass mich in Ruhe.«

Für einen Moment war es ruhig. Nicht einmal die Türklinke bewegte sich, als wüsste Gabe, dass er ohnehin nicht würde eintreten können.

»Es gibt Mittagessen«, sagte er ruhig. »Du solltest ...«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Ella ...«

»Geh, Gabe!«, rief ich wütend und hörte nach einem kurzen Seufzer, wie sich seine Schritte entfernten. Ich hatte nicht gelogen. Ich hatte keinen Hunger. Seit dem Tod meiner Mutter fühlte sich essen wie eine Verschwendung meiner Zeit an.

Drei Wochen war es her, dass sie vor meinen Augen gestorben war. Drei Wochen, in denen meine Träume von dem Lächeln heimgesucht wurden, das der Erzengel Killian mir zugeworfen hatte, als sein Dolch nach unten in ihre Mitte gefahren war. Drei Wochen, in denen ich zwischen Verzweiflung, Hass und Wut hin- und hergerissen gewesen war. Mein Herz war fast taub von all den Empfindungen, durch die es sich jede Sekunde kämpfen musste.

Das alles fühlte sich so surreal an.

War es wirklich erst anderthalb Monate her, dass Gabe mich vor einem Zayat gerettet und verkündet hatte, ich sei ein Halbengel? Und nicht einfach nur ein Halbengel, sondern auch noch der letzte existierende. Es konnte unmöglich erst drei Wochen her sein, dass ich auf meinem Abiball mit Gabe getanzt und mit meiner Mutter gelacht hatte. Es kam mir vor, als hätte ich innerhalb der letzten Monate bereits zwei Leben hinter mich gebracht. Und ich würde alles rückgängig machen, wenn ich könnte. Ich würde meine Engel-Fähigkeiten sofort aufgeben, wenn ich nur noch einmal mit meiner Mutter sprechen könnte.

Ich hatte so viele Fragen.

Über meinen Vater, den ich nie kennengelernt hatte. Ob er lebte, von mir wusste. Darüber, warum sie so viele Einzelheiten von Killians Plan, alle Menschen Engel werden zu lassen, gekannt hatte. Wieso sich Killian überhaupt so für sie interessiert hatte.

Was es mit dem Blutopal auf sich hatte.

Automatisch fuhr ich mit der Hand an meine Brust und ertastete das Medaillon, auf dem der Kompass mit zwei Zeigern eingraviert war. Das Medaillon mit dem Blutopal darin. Der Grund, warum das alles überhaupt passiert war. Ein roter Stein, den Killian anscheinend brauchte, um seinen Plan zu verwirklichen.

›Blutopal‹ war auch das letzte Wort aus dem Mund meiner Mutter gewesen. Was hatte sie mir sagen wollen? Was der Blutopal konnte? Wofür man ihn benutzte? Und dann war da noch die wichtigste Frage: Wie konnte ich Killian vernichten?

Denn er musste sterben.

Einfach aus dem schlichten Grund, dass er die Verantwortung dafür trug, dass ich mich jeden Abend fragte, was mit der Leiche meiner Mutter passiert war. War sie gefunden worden? Begraben? Hatte es eine Beerdigung gegeben?

Ich hätte vermutlich jemanden danach fragen können, doch ich verspürte keinen Drang, mit irgendwem zu reden. Nicht mit Ian, nicht mit Gabe und nicht mit Akasha. Mit niemandem.

Alle sahen mich mitleidig oder ängstlich an und ich war es leid, mich während des Essens von allen Seiten begaffen zu lassen. Mich verfolgten schon genug Blicke bis in den Schlaf und hielten mich davon ab, meine Augen allzu lange zu schließen. Wenn ich nicht im Übungsraum war und gegen andere Todesengel kämpfte, war ich in meinem Zimmer und machte Zielübungen an der albernen Puppe, die Gabe mir aufgedrängt hatte.

Ich hatte keine Tränen mehr übrig und ich duldete sie auch nicht mehr. Ich musste besser werden. Nein, nicht besser. Die Beste. Ich musste die Beste werden. Besser als alle Engel, besser als Killian. Stärker als Killian. Ich wollte sein gleichgültiges Gesicht erbleichen sehen, weil er Angst vor mir hatte. Mein Drang nach Rache war so unendlich groß geworden, dass dieses Gefühl alle anderen überlagerte und meinem Körper als zusätzliche Energiezufuhr diente.

Normalerweise wäre ich nach einem so trainingsreichen Vormittag schnell erschöpft gewesen. Mittlerweile machte es mir kaum noch etwas aus. Vielleicht hatten alle recht gehabt, als ich vor einem Monat noch solche Probleme damit gehabt hatte, meinen Schild richtig zu verwenden. Die Motivation war einfach nicht groß genug gewesen.

Doch jetzt?

Es klopfte erneut. Diesmal war es Ians Stimme, die durch das Holz drang. »Ella, kann ich bitte reinkommen?«

Ich starrte die Tür an, unfähig zu antworten. Meinen Schild hielt ich weiterhin gegen sie gepresst. Ich ertrug es nicht, ihn anzusehen. Solange ich lebte, hatte Ian meine Mutter geliebt. Er war so etwas wie ein Vater für mich und den gleichen Verlust in seinen Augen zu sehen, den ich verspürte ...

»Ella«, sagte er wieder, diesmal leiser. »Bitte, lass mich rein.«

Doch ich ließ meinen Schild nicht sinken. Stumm stand ich mit erhobenen Händen da und zwang den Schmerz, der erneut von meinem Inneren Besitz ergreifen wollte, weiter nach hinten.

Wie gern wäre ich jetzt ein ganzer Engel gewesen. Engel hatten keine Gefühle. Sie empfanden keine Liebe, kein Mitleid, keine Reue.

Auf einmal wurden meine Beine unendlich schwer und ich ließ mich auf das Bett sinken. Die Puppe aus Sand lag immer noch vor der Tür, doch ich machte keine Anstalten, sie aufzuheben.

Ich war müde und doch wollte ich nicht schlafen. Im Schlaf konnte ich meine Gedanken nicht kontrollieren. Stattdessen griff ich nach der Handtasche, die neben meinem Kopfkissen lag, und holte ein Foto daraus hervor. Es zeigte mich im Alter von fünf Jahren, wie ich in unserem Hausflur vor meiner Mutter stand. Wir beide trugen Engelskostüme und ein breites Lächeln. Das Foto hatte mir Mama am Tag meines Abiballs geschenkt. Es war das Letzte, das sie mir je gegeben hatte.

Ich lehnte mich zurück und starrte in ihr Gesicht. Betrachtete ihren breiten Mund und die spitze Nase. Ihre hellbraunen, glatten Haare, die genauso aussahen wie meine. Ihre dunkelbraunen Augen, die so gar nicht an meine hellblauen erinnerten. Ich konnte nicht sagen, wie lange ich so dalag. Die Augen geöffnet, das Medaillon schwer auf meiner Brust lastend, das Foto in der Hand. Es war still um mich herum. Alles, was ich hörte, war mein eigener Atem.

Irgendwann schwang die Tür auf und die schwere Sandpuppe schrappte über den Boden.

»Schicker Türstopper.«

Nina und Luisa sahen herein. Sie hatten offenbar gelernt, dass sie nur in mein Zimmer kamen, wenn sie nicht anklopften.

Ich richtete mich auf und ließ das Foto in meinen Schoß sinken, sodass sie es nicht sehen konnten. »Hat mein Innenarchitekt mitgebracht«, sagte ich trocken und hob die Augenbrauen. »Was gibt’s?«

»Wir dachten, du hast vielleicht Lust, noch ein bisschen an deiner Verteidigung zu arbeiten?«

Sofort sprang ich auf, steckte das Foto in meine Handtasche und nickte. »Okay. Wartet kurz.«

Ich verschwand ins Bad, spritzte mir Wasser ins Gesicht und band die Haare zu einem Pferdeschwanz.

Ich hatte das Gefühl, dass Luisa und Nina die Einzigen waren, die mich noch wie einen normalen Menschen behandelten. Sie fragten mich nicht, wie es mir ginge, erwähnten meine Mutter nicht und blickten mich nicht mitleidig an. Zumindest nicht, wenn ich hinsah.

Vielleicht wussten sie, dass der einzige Weg, mich aus meinem Zimmer zu locken, eine Übungsstunde war. Vielleicht war das alles nur ein Trick, damit ich mich nicht vierundzwanzig Stunden am Tag in meinem Raum einschloss.

Wen kümmerte es?

Ich hatte ein neues Mantra. Der Weg war nicht das Ziel. Das Ziel war das Ziel. Und es war egal, wie man es erreichte.

Ich sah in den Spiegel über dem Waschbecken und schreckte vor meiner Erscheinung zurück. Dunkle Ringe lagen unter meinen eingesunkenen Augen und mein Gesicht war schmaler als noch vor drei Wochen. Die Wangenknochen stachen scharf unter meiner blassen Haut hervor und meine Haare hingen schlapp hinab.

Ich sah genauso aus, wie ich mich fühlte, und jedes andere Spiegelbild wäre mir falsch vorgekommen.

 

Verteidigungstechniken waren anstrengend. Den Schild für einen Angriff zu benutzen, benötigte kaum Konzentration. Ich musste lediglich ein wenig zielen. Ihn jedoch für einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten, um mich gegen Angriffe zu schützen, war zermürbend. Körperlich und geistig.

Ich übte im Moment vor allem, einen Angreifer am Boden zu halten. Es war so ähnlich, wie die Tür mit meinem Schild geschlossen zu halten. Auf die Idee hatte mich Killian gebracht. Als ich meiner Mutter zur Hilfe eilen wollte, hatte er mich mit seinem Schild auf die Erde gepresst und bewegungsunfähig gemacht. Aber das Ziel war das Ziel – und ich würde nicht davor zurückschrecken, seine eigenen Waffen gegen ihn zu verwenden.

Die Umsetzung jedoch war schwerer als ich angenommen hatte. Eine Tür geschlossen zu halten war die eine Sache, aber einen Menschen dazu zu zwingen, am Boden zu bleiben, etwas ganz anderes. Im Vergleich zu Türen waren Menschen nämlich lebendig. Sie bewegten sich und leisteten Widerstand. Es war leichter, den Schild an einer glatten Oberfläche zu verwenden, als an einem menschlichen Körper.

Immer wieder versuchte ich, den Schild um Luisas oder Ninas Konturen zu formen, um jeden einzelnen ihrer Muskeln zu lähmen. Doch sobald ich auch nur einen kleinen Finger nicht richtig festhielt, gelang es ihnen, sich unter dem Schild hervorzuwinden. Außerdem war es schwierig, auf jede Stelle ihres Körpers die gleiche Kraft und Energie anzuwenden und nicht so viel zu benutzen, dass ich innerhalb weniger Minuten zu erschöpft war, um den Schild aufrechtzuerhalten. Auch meine neu erlangten Energiekapazitäten halfen mir nicht weiter. Doch für meine Opfer war es offenbar genauso anstrengend wie für mich.

»Gott, ich kann nicht mehr.« Luisa stöhnte auf und rieb sich ihre Beine. »Möchtest du nicht noch mal, Nina?«

Die beiden hatten sich abgewechselt und Nina war genauso rot wie ihre Freundin.

»Nein«, schnaufte sie. »Wir machen am besten eine Pause.«

»Ich brauche keine Pause«, sagte ich sofort und wischte mir die schweißnassen Haarsträhnen, die sich aus meinem Zopf gelöst hatten, aus dem Gesicht.

»Du vielleicht nicht, aber wir! Das Abendessen hat schon angefangen. Wir gehen nur kurz zusammen hin und dann trainieren wir weiter, okay?«

Ich wusste, dass sie mich manipulierten. Luisas Miene war eine Spur zu unschuldig und Nina sah etwas zu auffällig nicht in meine Richtung. Aber es war egal. Ich wollte trainieren und Nina und Luisa konnten mir dabei helfen. Wenn ich mich dafür mit ihnen an einen Tisch setzen und Zoo spielen musste, dann sei es drum.

»In Ordnung«, gab ich nach und wischte mir das Gesicht mit einem Handtuch ab. »Danach können wir noch einmal die Zielübung machen.«

Unglücklich sah Nina zu mir herüber. »Zielübung? Die, bei der wir herumrennen und du versuchst, uns gegen die Wand zu schleudern?«

Ich nickte und wippte auf meine Fersen zurück. »Außer, ihr wollt nicht? Ich kann auch in mein Zimmer gehen und einfach mit der Puppe weitertrainieren.«

»Nein, nein!« Hastig öffnete Luisa die Tür. »Wir machen gleich Zielübungen. Kein Problem.«

Natürlich wusste ich, dass das ein mieser Zug von mir gewesen war. Es war nicht die feine Art, sie damit zu erpressen, dass ich essen würde, wenn sie mit mir übten. Doch was kümmerte es mich?

Es dachten doch ohnehin alle, dass ich emotional labil sei. Ich hatte kein Problem damit, das auszunutzen.

 

Der Speisesaal war voll. Fast jeder Tisch war besetzt. Ich trat hinter Nina ein und spürte die Blicke auf meinem Körper, als wären es Hände, die mich abtasteten. Die Lautstärke schwoll an und während wir uns zwischen den Tischen hindurch einen Weg zu Belao bahnten, der drei Plätze freigehalten hatte, hörte ich einzelne Todesengel tuscheln.

»... hat ihr dabei zusehen müssen zu sterben!«

»... in ihrem Zimmer. Es tut mir so leid ...«

»... ist vollkommen durch den Wind. Redet mit keinem ...«

»... nur noch am Kämpfen! Sie wird bald zusammenbrechen, das kann ich voraussehen ...«

Ich presste die Schneidezähne in meine Unterlippe und versuchte, die Stimmen auszublenden. Ich musste Ruhe bewahren. Menschen würden immer reden. Alles, was ich tun musste, war durchhalten. Besser werden. Bis ich raus konnte.

Killians Gesicht blitzte vor meinem inneren Auge auf und plötzlich schmeckte ich Blut. Schnell löste ich die Zähne aus meiner Lippe und leckte es ab. Es war keinem aufgefallen. Luisa und Nina waren viel zu sehr damit beschäftigt, mich möglichst schnell durch den Raum zu geleiten, damit ich kein Gespräch zu lange belauschen konnte. Lao stand auf, als er uns erkannte, und zog hastig einen Stuhl für mich zurück. Ich sah ihn nicht an, sonst hätte ich ihn vermutlich angeschrien, dass er mich nicht wie ein Kind behandeln solle.

»Na, erfolgreich trainiert?«, fragte er fröhlich.

Ich wusste nicht, was schlimmer war. Seine aufgesetzte, gutgelaunte Stimme oder Luisa, die mir bereits einen Teller mit Nudelauflauf füllte und ihn dann so nah vor mich schob, dass er beinahe mein T-Shirt berührte.

Ich umschloss fest die Tischplatte und sah mit angespanntem Kiefer vom Teller zu ihr hoch. Sie zuckte zurück, als hätte ich ihre Finger mit meinem Blick verbrannt.

Lao räusperte sich neben mir. »Hast du deine Prüfung jetzt eigentlich bald, Nina? Die zur Finderin?«

»Oh, ja. Nächste Woche. Ich habe ehrlich gesagt ziemlichen Schiss. Verena soll mich prüfen und die lässt drei von vier Leuten durchfallen.«

»Ach, Blödsinn! Die Prüfung ist total simpel. Du musst eigentlich nur beweisen, dass du unter dem Radar bleiben kannst und dich vor Engeln oder Menschen nicht verrätst.« Aufmunternd klopfte Luisa ihr auf die Schulter. »Ich kann dir gern noch ein paar Tipps geben.«

Sie fing an, Dinge aufzuzählen, die ihr wichtig vorkamen, und ich war dankbar, mich nicht an der Unterhaltung beteiligen zu müssen.

Ich sah auf den Teller und schob mit der Gabel Nudeln von einer Seite zur anderen. Ich hatte keinen Appetit, doch ich wusste, dass ich zumindest ein bisschen essen sollte, um beim Training nachher nicht zusammenzuklappen. Gestern war mir schwindelig geworden, als ich Luisa und Nina zum zigsten Mal mit meinem Schild angegriffen hatte.

Ich trank einen Schluck Orangensaft und schob mir eine volle Gabel in den Mund. Die Nudeln schmeckten nach nichts, doch ich nahm einen weiteren Bissen. Der war noch schlimmer als der vorherige, also ließ ich das Besteck langsam wieder neben den Teller sinken. Aus den Augenwinkeln erkannte ich Belaos Gesicht. Er sah mich besorgt an und mein Magen krampfte sich zusammen, als würde eine Hand aus Feuer ihn umschließen.

Alle waren besorgt um mich. Hatten Angst, dass ich vielleicht absprang und ihren tollen Plan zunichtemachte. Den Plan, den mir immer noch niemand erklärt hatte. Sie hatten Angst, dass ich depressiv wurde. Angst, dass ich nicht gut genug auf meine Gesundheit achtete. Und dann war da ja noch das Mitleid.

Gott, wie ich all diese Blicke hasste. Der arme Halbengel, der seine Mutter verloren hat. Der arme Halbengel, der doch sicherlich bald einen Nervenzusammenbruch haben wird – wenn er nicht schon mittendrin steckt!

Ich richtete mich auf meinem Stuhl auf und schob den Teller gänzlich von mir weg. Luisa sprach weiter, als hätte sie nichts bemerkt, doch ihr Blick wanderte von dem gefüllten Teller zu meinem Gesicht und dann zu Lao, der neben mir saß. Er räusperte sich wie auf Kommando und ich wusste sofort, dass die drei sich einen Plan zurechtgelegt haben mussten, für den Fall, dass ich wieder nicht aß.

»Schmeckt es dir nicht?«

»Ich habe keinen Hunger«, sagte ich und versuchte zu ignorieren, dass Nina Luisa einen bedeutungsschweren Blick zuwarf.

»Ähm, na ja«, fing diese prompt an, »wenn wir gleich noch die Zielübungen machen wollen, solltest du wirklich noch was essen, Ella.«

»Ich bin nicht hungrig.«

Was dachten sie eigentlich, wie dumm ich war? Glaubten sie, ich sei so mitgenommen, dass ich ihre Manipulationsversuche nicht bemerken würde? Dass ich zu blöd wäre, um sie zu durchschauen?

»Ella.« Lao senkte seine Stimme. »Du hast gestern nur einen Apfel und ein Brötchen gegessen und davor gar nichts. Du musst etwas ...«

»Ich muss überhaupt nichts«, presste ich hervor und die Faust aus Feuer drückte meinen Magen noch fester zusammen. »Mir geht es gut und ich möchte nichts mehr essen.«

»Und wenn du nur noch eine Gabel nimmst?« Nina sah mich fast flehentlich an.

Die Wut schwappte über und floss langsam in den Rest meines Körpers. Wie konnten sie auch noch versuchen, mir ein schlechtes Gewissen zu machen? Es war mein Körper und es war mein Leben und wenn ich nicht essen wollte, dann hatten sie das verdammt noch mal zu akzeptieren!

»Ich möchte nichts mehr«, erwiderte ich leise und konzentrierte mich auf meinen Atem. Meine Haut prickelte. Die Energie floss aus meinem Blut in mein Herz und staute sich dort schmerzhaft an. Ich ertrug es nicht mehr. Ihr Mitgefühl drückte auf meine Schultern. Ich wollte hier nur noch raus.

»Ella, bitte, wir wollen dir nur helfen. Wir ...«

»Ich habe gesagt: Ich möchte nichts mehr essen!«

Die Wut löste sich schlagartig. Wie ein Baum, dessen Wurzeln durch die Oberfläche einer asphaltierten Straße drangen.

Ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte.

Die vier Tische, die um uns herum standen, wurden mit der Wucht eines Schießgeschosses gegen die Wand geschmettert, Geschirr fiel zu Boden und das Kreischen der Leute vermischte sich mit dem Scharren von Holz auf Stein. Lao, Nina und Luisa hatte es von ihren Stühlen gerissen, ich konnte sie dumpf auf den Boden aufschlagen hören.

Dann wurde es still.

Meine Haut prickelte, als stände ich unter Strom und mein Körper gab unkontrolliert Hitze an meine Umgebung ab. Ich konnte mich nicht erinnern, aufgestanden zu sein, doch ich musste es wohl, denn ich war auf den Füßen und meine Knie schlugen zusammen.

Mein Atem ging stoßweise und zitternd blickte ich mich um. Alles in einem Radius von zwei Metern war in Richtung der Wände gestoßen worden und alle starrten mich an. Ihre Augen weit aufgerissenen, schockiert und verängstigt.

Die Hitze in mir verebbte augenblicklich. Ich sah zu Belao, suchte seinen Blick, doch er hatte sich von mir abgewandt und kniete neben Luisa, die sich den Kopf hielt. Blut sickerte in ihre kurzen blonden Haare.

Eine kalte Hand drückte sich auf meine Lunge und das Herz hämmerte in meiner Brust, trieb meinen Puls in die Höhe.

Was war passiert?

»Es ... es tut mir leid. Ich ...« Zitternd starrte ich auf das Blut, das an Luisas Gesicht hinabrann.

»Das wollte ich nicht«, flüsterte ich. Dann rannte ich aus dem Raum.

 

Das Rauschen in meinem Köpf hörte erst auf, als ich die Tür meines Zimmers hinter mir zuschlug. Es war ein Unfall gewesen. Ich hatte das nicht gewollt. Ich hatte nicht einmal bemerkt, wie ich meinen Schild benutzt hatte.

Am ganzen Körper bebend hockte ich mich auf die Matratze und presste die Hände auf mein Gesicht. Weiße Lichtpunkte tanzten vor meinem Auge und Kälte überzog meinen Körper, sodass ich mich fest in die Bettdecke einwickelte. Ich wiegte mich vor und zurück und wehrte mich gegen die Bilder in meinem Kopf. Gegen das Blut, das auf meinen Händen geklebt hatte, als ich versucht hatte, meine Mutter zu retten. Gegen Killians kaltes Grinsen. Gegen das Bild von Nina, die auf dem Boden lag, während ihre Wange rötlich glitzerte.

Ich konnte meinen eigenen hektischen Atemzügen lauschen und meine Emotionen – Panik, Angst, Wut, Verzweiflung – mischten sich in meinem Inneren zu einem großen schwarzen Stein. Er senkte sich auf meine Eingeweide, presste sie schmerzhaft zusammen. Bis ich gar nichts mehr fühlen konnte.

Mein Atem ging ruhiger. Alles Leid sackte aus mir heraus, verflüchtigte sich in der Luft und mein Herz wurde taub. Ich sank auf das Kissen und rollte mich auf der Seite zusammen. Die Erschöpfung ergriff von mir Besitz und ich gab ihr nach. Ich wollte lieber von Killians kaltem Lächeln träumen, als noch einmal die angsterfüllten Mienen der Todesengel sehen zu müssen.

Und genau das tat ich.

 

 

 

Kapitel 2

 

Ich blieb in meinem Zimmer.

Ich wollte niemanden sehen, niemanden hören und mit niemandem sprechen. Auf dem Bett liegend lauschte ich Van Morrison, wie er über meinen Schallplattenspieler seine verlorene Liebe besang. Dabei presste ich meinen Schild fast dauerhaft gegen die Tür.

Irgendwann hörte ich auf zu zählen, wie oft geklopft wurde. Ich gab mir gar keine Mühe mehr, die verschiedenen Stimmen den jeweiligen Personen zuzuordnen, und beließ es dabei, einfach nicht zu antworten. Nur als ich Nina hörte, horchte ich auf.

»Ella? Mir geht’s gut. Alles okay. Keiner ist verletzt und wir wissen, dass das keine Absicht war! Wir haben dich provoziert! Wir verstehen das.«

Ich presste die Lippen aufeinander und krallte die Fingernägel in meinen Unterarm. Erleichterung und Demut durchfluteten mich. Zitternd atmete ich aus. Ich war froh, dass es ihr gut ging und keiner verletzt worden war, doch ich wusste, ich hatte ihr Verständnis überhaupt nicht verdient. Es war nicht ihre Schuld.

Ich hielt meinen Schild weiterhin aufrecht.

Irgendwann musste ich wohl eingenickt sein, denn als ich das nächste Mal die Augen aufmachte, hatte die Platte aufgehört zu spielen und ich hörte laute Stimmen auf dem Gang.

»Ach, wirklich? Versuch doch, mich aufzuhalten!«

Mehrere Fußpaare klatschten auf den Stein. Stirnrunzelnd fuhr ich in eine senkrechte Position.

»Du darfst überhaupt nicht hier sein!«, rief ein Mann, den ich nicht kannte. »Du ...«

»Und? Sehe ich so aus, als würde es mich interessieren, was ich darf?«

Die zweite Stimme kam näher und wurde immer lauter. Sie war weiblich und ich glaubte, sie schon einmal gehört zu haben. Genau konnte ich das aber nicht sagen, weil sie durch die Tür gedämpft wurde und so schrill war, dass sie ganz verzerrt klang. Wie ein Mikrofon, das übersteuerte.

»Sie will niemanden sprechen und ...«

»Das ist mir egal! Es ist mir scheißegal, was ihr glaubt, was sie will und was nicht!« Die weibliche Stimme überschlug sich und war jetzt direkt vor meiner Tür. »Es ist mir egal, dass Menschen hier unten nicht erlaubt sind! Es ist mir egal, dass euer schönes Versteck eigentlich geheim sein soll! Ich will Ella sehen und ich werde sie sehen. Ich bin ihre verdammte beste Freundin, also erzählt mir nicht, es gehe ihr gut, wenn ihre Mutter gerade gestorben ist! Und wenn du mir nicht sofort den Weg freigibst, dann schwöre ich bei allem, was mir heilig ist, dass ich dir so oft ins Gesicht treten werde, bis deine Nase aussieht wie die von Voldemort! Und ja: Ich bekomme mein Bein so hoch!«

Ungläubig sah ich auf die Tür. Als ich endlich erkannte, zu wem die Stimme gehörte, war ich so überrascht, dass ich vollkommen vergaß, sie zu blockieren. Das Holz schlug laut gegen die steinerne Wand und ich sah gerade noch, wie ein hochgewachsener Junge flüchtete und Leah allein im Rahmen zurückließ.

»Was machst du denn hier?« Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich Leah an, die ihre Hände in die Hüfte gestemmt hatte und in den Raum trat.

»Was soll das heißen, was mache ich hier?«, fragte sie verwirrt und schob mit ihrem Fuß die Tür ins Schloss. »Du solltest fragen, warum ich erst jetzt hier bin.«

»Ich meine, wie hast du das Versteck gefunden?«

»Dieser Gabe hat mich geholt. Aber ... Oh, das sollte ich niemandem sagen. Er meinte, er könnte sonst Ärger bekommen von einem ... Ehrentodesengel oder so.«

»Erztodesengel«, murmelte ich und schwang die Beine über die Bettkante.

»Ah, genau. Das war es. Inuyasha oder so was?«

»Akasha.«

»Richtig. Merkwürdiger Name, wenn du mich fragst.« Leah lächelte mich an, doch ihr Lächeln reichte nicht bis zu ihren Augen. Stattdessen spiegelten sich dort die gleichen Emotionen wider, die ich schon so gut kannte. Mitgefühl, Sorge und ... Zuneigung.

Die vertraute Wut regte sich in mir und ich nickte nur. »Gabe hätte dich nicht holen müssen.«

»Tatsächlich?« Leah hob die Augenbrauen und setzte sich neben mich aufs Bett. »Er schien anderer Meinung.«

Ich schnaubte laut und stand auf, damit sie nicht auf die Idee kam, mich zu umarmen. »Ja, Gabe scheint immer anderer Meinung zu sein. Aber es ist ja auch nicht so, dass irgendwer meine Wünsche akzeptieren würde, oder?«

»Ach ... und welche Wünsche wären das?«

»Ich will einfach nur in Ruhe gelassen werden!« Meine Stimme hallte laut von den Wänden wider und ich wandte ihr den Rücken zu. »Ist das zu viel verlangt? Ich will, dass alle mich in Frieden lassen!«

»Und was dann? Wenn dich alle in Ruhe lassen. Was machst du dann?«

»Ich ...« Ich stockte und hielt in meinen Schritten inne. »Ich würde ...«

»Du würdest dich zu Tode hungern.« Leahs Stimme klang nicht vorwurfsvoll. Sie machte lediglich eine Feststellung.

»Würde ich nicht!« Wütend fuhr ich zu ihr herum. »Ich habe genug gegessen!«

Leah zog ihre Wangen ein und schüttelte langsam den Kopf. Es sah aus, als müsse sie sich zusammenreißen, nicht auf etwas einzuschlagen. »Ella, hast du mal in den Spiegel gesehen? Du siehst furchtbar aus. Als hättest du nicht nur kaum was gegessen, sondern auch kaum geschlafen.«

»Ich habe eben keinen Hunger!«

»Das ist mir egal, Ella. Du musst was essen!«

Sie hörte sich an wie alle anderen. Wie Gabe, wie Lao, wie Nina und Luisa. Ich war enttäuscht und zornig zugleich. Ich hatte erwartet, dass sie mich unterstützte. Dass sie sagte, dass ich recht hatte. Dass mich alle einfach in Ruhe lassen sollten. Dass ich verdammt noch mal meine eigenen Entscheidungen treffen konnte!

»Warum sollte ich?«, knirschte ich leise und verengte die Augen. »Ich bin noch nicht zusammengeklappt, oder? Offenbar esse ich gerade genug. Und ich komm hier sowieso nicht raus. Es ändert also überhaupt nichts!«

»Doch. Das tut es!« Leahs Stimme wurde ebenfalls lauter, sie sprang vom Bett auf und packte mich fest an den Schultern. »Deine Mutter ist gestorben, Ella. Sie ist umgebracht worden! Ich weiß, dass das wehtut. Aber sie ist nicht gestorben, damit du dich jetzt selbst aufgibst! Sie hat dich geliebt und ihr ganzes Leben damit verbracht, dich zu beschützen. Wie würdest du es ihr danken, wenn du nicht weitermachst? Denkst du, sie würde wollen, dass du dich zu Tode hungerst?«

»Ich weiß nicht, was sie denkt, Leah!«, schrie ich. »Sie ist tot! Und es ist mir egal, was du sagst! Du lebst dein kleines, mickriges Leben, ohne zu wissen, was wirklich vor sich geht, und jetzt willst du mir erzählen, dass du weißt, wie ich mich fühle? Dass du weißt, was zu tun ist? Dass du wüsstest, was meine Mutter wollen würde? Ich habe eine Neuigkeit für dich: Du weißt nichts! Du hast keine Ahnung und du hättest nicht herkommen sollen, wenn alles, was du zu sagen hast, ist, dass ich essen sollte!«

Leah ließ mich ruckartig los und machte einen Schritt zurück. Dann, ganz langsam, kniff sie die Augen zusammen, bis eine steile Falte zwischen ihren Augenbrauen erschien. »Okay, das reicht.« Ihre Stimme war genauso ruhig wie fest. »Ich habe genug davon.«

Perplex starrte ich sie an. »Was?«

»Ich habe genug von deinem Verhalten!«

Mein Mund klappte auf. »Du hast genug von meinem Verhalten?«

»Ja. Du benimmst dich scheiße, Ella! Denkst du, nur weil deine Mutter gestorben ist, lasse ich dir jetzt alles durchgehen? Du kannst traurig sein. Du darfst wütend sein, Rache wollen – aber du hast nicht das Recht, deine Wut an uns auszulassen! Wir wollen dir helfen. Wir sind für dich da, Ella! Denkst du, ich leide nicht? Denkst du, Ian leidet nicht? Du bist nicht allein mit deinem Schmerz! Aber interessierst du dich dafür, wie Ian sich vielleicht fühlt? Nein! Du schottest dich ab, suhlst dich in Selbstmitleid, Schuld und Wut und denkst, es wäre okay, alle anderen zu behandeln, als wären sie die Last, die dich runterzieht. Es tut weh, Ella!« Ihre Stimme wurde kaum merklich leiser. Sanft. »Ich weiß, dass es wehtut! Du hast wahrscheinlich recht, ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie du dich fühlen musst, aber eines weiß ich: Das Leben ist unfair. Und ich hasse es, dich leiden zu sehen. Aber ich werde nicht zulassen, dass du dich hinter deinen Rachegelüsten und deiner aggressiven Haltung versteckst, nur damit du nicht fühlen musst!« Sie sah mich fest an und ich erkannte Tränen in ihren Augen. »Es ist okay, deine Last zu teilen, Ella. Du darfst leiden, aber du musst uns auch mit leiden lassen.«

»Ich kann nicht.« Es war, als würde ich die Worte bloß ausatmen. Ich senkte den Blick und meine Augen brannten in ihren Höhlen. Fremdkörper in meinem Gesicht. »Wenn ich jetzt nachgebe, Leah, dann kann ich vielleicht nicht mehr aufstehen ...«

»Doch, kannst du.« Leah zog mich in ihre Arme und ich war zu schwach, um mich zu wehren. »Wenn du uns helfen lässt, Ella. Wenn du uns einfach für dich da sein lässt.«

Mein Hals zog sich schmerzhaft zusammen und die erste heiße Träne fiel an meiner Wange hinab. »Ich vermisse sie so.« Träne um Träne sickerte aus mir heraus und meine Stimme war so leise, dass ich sie beinahe selbst nicht verstand. »Ich vermisse sie so unglaublich. Es ist ... ich ... Ich will nicht allein sein. Sie hat mich einfach allein gelassen und ich weiß nicht mehr, was ich tun soll ...«

»Du bist nicht allein, Ella. Wirst es nie sein. Du hast mich. Und Ian.« Leah strich mir über die Haare und hielt mich so fest, dass ich zum ersten Mal seit Wochen das Gefühl hatte, ich würde nicht gleich auseinanderbrechen. »Ich weiß, dass du dich einsam fühlst, Ella. Aber das ist ein Trugschluss. Du darfst Ian nicht ausschließen. Er liebt dich wie eine Tochter. Er möchte dich trösten und er muss selbst getröstet werden.«

»Aber es ist meine Schuld, Leah.« Zitternd presste ich das Gesicht an ihre Schulter. »Es ist meine Schuld, dass sie tot ist. Was ist, wenn er mich hasst?« Die Angst war so deutlich in meinem Kopf wie die Tränen auf meinen Wangen. »Killian hat sie meinetwegen getötet. Weil ich lebe. Ich kann es mir schon kaum verzeihen, dass sie tot ist ... Wie wird sich Ian dann fühlen?«

»Es ist nicht deine Schuld, Ella.« Leah machte einen Schritt zurück und zwang mich dazu, sie anzusehen. »Hörst du? Ich mag zwar nicht viel Ahnung davon haben, was genau vor sich geht, aber wie sollte es deine Schuld sein? Du weißt erst seit einem Monat, dass du ein Halbengel bist, und solltest dich nie dafür schuldig fühlen, dass es dich gibt. Ian liebt dich. Genauso sehr, wie er deine Mutter geliebt hat. Er könnte dich nie hassen.«

Ich nickte stumm, einfach, weil ich ihr so sehr glauben wollte, und wischte mir die Tränen vom Gesicht. Doch immer wieder ersetzten neue die alten und schließlich ließ ich die Hand sinken, um mich erneut in Leahs Arme fallen zu lassen. »Was tue ich jetzt, Leah? Was mache ich hier noch?«

»Du sprichst mit Ian, Ella. Dann wirst du etwas essen und trinken und zu diesem Ehrentodesengel gehen. Gabe meinte irgendetwas davon, dass es Zeit wäre, dir alles zu erzählen. Und dann sehen wir weiter. Schritt für Schritt.«

 

 

 

Kapitel 3

 

Ich hatte geglaubt, dass ich keine Tränen mehr übrighatte. Doch als Leah Ian eine halbe Stunde später holte, ich in sein Gesicht sah und er mich fest an sich zog, fing mein Körper aufs Neue an zu zittern. Als ihm dann auch die erste Träne kam, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten.

Ich war einfach nur noch ein kleines Kind, das Trost bei seinem Vater suchte, und für einen Moment schien sich die Last, die in den letzten drei Wochen auf meine Schultern gedrückt hatte, zu heben. Es tat gut, loszulassen, und als Leah mit Essen zurückkam, starrte mir auch endlich niemand mehr die ganze Zeit auf die Finger oder den Mund, um sicherzugehen, dass ich die Bissen tatsächlich schluckte.

Ich hatte geglaubt, über meine Mutter zu sprechen wäre schlichtweg schmerzhaft – doch ich hatte mich geirrt. Ich fühlte mich leichter, nachdem wir Geschichten über sie ausgetauscht hatten und sie nicht mehr wie ein Tabu behandelt wurde. Nicht besser, aber leichter.

Mitgefühl und Mitleid waren einfacher zu ertragen, wenn die anderen auch litten. Ian wusste, wie ich mich fühlte, er verstand meinen Schmerz und gab mir genauso wenig die Schuld am Tod meiner Mutter wie am zweiten Weltkrieg. Das war befreiend. Doch so viele Gefühle sich auch verflüchtigten oder blasser wurden, eines blieb stark und rot in meiner Brust: der Drang, zu handeln. Der Wunsch nach Antworten. Und es gab nur eine Person, die mir sagen konnte, was es genau mit dem Blutopal, der um meinen Hals hing, auf sich hatte.

»Ich will mit Akasha reden«, sagte ich leise, aber bestimmt und blickte zu Leah. »Du meintest, sie will mir alles erzählen?«

»Na ja, also das weiß ich nicht von ihr. Das hat Gabe so gesagt.«

»Okay.« Ich stand auf und Ian sah mich unglücklich an.

»Es ist schon spät, Ella. Vielleicht solltest du morgen ...?«

»Nein«, widersprach ich und Ian musste die Entschlossenheit in meinem Blick gesehen haben, denn er erhob sich ebenfalls.

»In Ordnung. Aber ich komme mit.«

»Okay.«

Es musste bereits tiefe Nacht sein, denn die Gänge waren vollkommen leer. Niemand saß mehr im Aufenthaltsraum und als wir am Refugium vorbeigingen, drang kein Licht daraus hervor, obwohl der Raum so hoch war, dass tagsüber Sonnenlicht durch Ritzen an der Decke fiel. Leah versuchte den ganzen Weg über, in jedes einzelne Zimmer zu blicken, an dem wir vorbeikamen, gab jedoch bald auf, weil sie immer weiter hinter uns zurückfiel.

Als ich schließlich vor Akashas Büro stand und die Hand hob, um zu klopfen, fiel mir ein, dass sie womöglich schon im Bett war. Doch bevor ich Ian fragen konnte, ob er wisse, wo Akashas Schlafzimmer lag, hörte ich plötzlich Stimmen durch die Tür. Überrascht blickte ich auf den kupfernen Türklopfer in Form einer Faust, der etwas unterhalb meines Kopfes prangte. Unsicherheit kroch meinen Nacken hinauf. Wie würde Akasha reagieren, wenn ich mitten in der Nacht bei ihr aufkreuzte und Antworten verlangte?

Ians Miene neben mir war ebenfalls zweifelnd, doch bevor ich einen Rückzieher machen konnte, trat Leah vor und ließ ohne großes Federlesen den Klopfer auf die schwere Holztür fallen. »Du hast das Recht, alles zu wissen«, murmelte sie und machte wieder einen Schritt nach hinten, gerade als die Stimmen im Inneren verstummten. Wenige Momente lang herrschte vollkommene Stille, dann sagte eine weibliche Stimme: »Herein.«

Ich drückte die Tür auf und blieb überrascht im Eingang stehen. In dem ovalen Raum befanden sich vier Gestalten. Auf der Kante des großen, wuchtigen Schreibtischs, den ich bereits kannte, saß Akasha und sah mich neugierig an. Zu ihrer Rechten standen Lao und Tryn, während Gabe mich von ihrer anderen Seite aus anstarrte, die Arme vor dem Körper verschränkt.

Ich erwiderte seinen Blick, sah ihm in die dunklen Augen und erinnerte mich schlagartig an seine Lippen auf meinen. Es war nur ein kurzes Bild und sobald ich blinzelte, war es auch schon wieder verschwunden. Dennoch schien der Kuss so präsent zu sein, dass ich augenblicklich mein Gesicht abwenden musste.

»Ella. Ich hatte nicht erwartet, dich heute hier zu sehen.« Akasha klang ehrlich überrascht und ihr Blick wanderte von mir über Ian zu Leah, die sich schamlos umsah. »Von unserem Besucher habe ich bereits gehört. Äußerst beeindruckend von einem Menschen, ohne Hilfe unser Versteck zu finden.« Akashas Blick blieb für eine Zehntelsekunde auf Gabe ruhen, bevor sie sich wieder auf Leah konzentrierte. »Herzlich willkommen.«

Es dauerte eine Weile, bis Leah verstand, dass Akasha mit ihr gesprochen hatte, doch schließlich hob sie blinzelnd den Kopf und nickte. »Oh. Danke. Der Ort für das Versteck kam mir ... in einem Traum.« Sie räusperte sich verlegen, und als ihr bewusst wurde, dass alle sie ansahen, setzte sie noch hinzu: »Hübsches ... Quartier hier unten. Sehr gemütlich.«

»Danke.« Akasha lächelte leicht und wandte sich wieder mir zu. »Was kann ich für dich tun, Ella?«

»Ich will die Wahrheit«, sagte ich schlicht und flocht meine Finger ineinander. »Über alles. Den Blutopal, meine Rolle in dem Ganzen, warum meine Mutter ...« Ich stockte und schüttelte den Kopf. »Ich möchte einfach alles wissen.«

Akasha beobachtete mich für eine Weile reglos, dann stieß sie sich vom Tisch ab, lief um ihn herum und setzte sich in den Sessel dahinter.

»Das sollst du«, murmelte sie. »Du hast recht. Es wird Zeit, Ella, dass ich dir alles erzähle.«

Ich nickte, obwohl ich der Meinung war, dass die Zeit bereits vor sechs Wochen gewesen wäre. Damals, als ich herausgefunden hatte, dass ich ein Halbengel war. Ich wollte aber nicht diskutieren, deswegen hielt ich den Mund und beobachtete Akasha stattdessen dabei, wie sie eine Schublade aufzog, um ein rechteckiges, vergilbtes Stück Pergament daraus hervorzuholen. Sie strich es glatt, legte es vor sich auf den Tisch und drehte es dann zu mir herum.

Die längliche rechte Seite des Papiers war uneben gezackt, so als wäre sie aus einem Buch gerissen worden, und drei Steine waren darauf abgebildet. Alle mit einem Titel versehen.

Lao, Tryn und Gabe machten mir Platz, damit ich näher an den Tisch treten konnte. Mir fiel auf, dass sie nicht einmal einen Blick auf das Papier warfen. Als wüssten sie bereits sehr genau, was darauf abgebildet war. Leah jedoch stellte sich neben mich und legte ihren Kopf schief, während sie die drei Zeichnungen studierte.

Der rechte Stein war in blutroter Farbe gemalt worden. Er war kreisrund und glatt und ich wusste genau, wie er in echt aussah, denn ich trug ihn um den Hals. ›BLUTOPAL‹ stand in Großbuchstaben darunter. Der linke Stein war ultramarinblau und oval. Seine Oberfläche war in Kanten geschliffen wie die obere Seite eines Diamanten, und die Beschriftung kennzeichnete ihn als ›TODESSAPHIR‹. Doch es war der mittlere Stein, der mich fesselte.

Er war hellgelb und hatte die Form eines Tropfens. Die gleiche Form wie auch das Mal, das die Zayat an ihrem Handgelenk trugen. Mein Rücken versteifte sich und die Härchen auf meinen Armen richteten sich auf, als ich die Zeichnung des Edelsteins betrachtete. Ich glaubte, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben. ›ENGELSTROPFEN ODER ENGELSTOPAS‹ stand in derselben, geschwungenen Handschrift darunter.

»Um die Bedeutung und Wichtigkeit dieser Steine zu verstehen, musst du die Geschichte der drei Erzengel kennen. Hat sie dir schon einmal jemand erzählt?«

Ich schüttelte gedankenverloren den Kopf, den Blick immer noch gebannt auf die Abbildung des gelben Edelsteins gerichtet.

»Nun gut.« Akasha zog das Stück Pergament zu sich und zwang mich so, den Blick davon zu lösen und meine Aufmerksamkeit auf sie zu richten. »In unserer Geschichte heißt es, dass die Teilung von Engeln, Todesengeln und Menschen auf die Taten von drei Brüdern zurückzuführen ist. Sie waren die drei mächtigsten Erzengel, die je existiert haben: Michael, Gabriel und Rafael.«

Ich nickte, denn ich erinnerte mich daran, dass Gabe die drei Namen vor ein paar Wochen, als wir in der Rafaeliskirche nach dem Schlüssel für das Medaillon gesucht hatten, erwähnt hatte.

»Die drei Brüder hatten nicht viel gemein«, fuhr Akasha fort und zog nachdenklich mit ihrem Zeigefinger die Holzmaserung des Tisches nach. »Bis auf das Wissen, wie man Energie speichern und somit unbesiegbar werden konnte. Mit einer Energiezufuhr, die niemals versiegt, hätten sie zusammen die Macht über die ganze Welt an sich reißen können, doch es kam nie dazu. Ihre Definitionen einer perfekten Welt gingen zu weit auseinander. Michael, der Älteste, verachtete die Menschen. Er befand, sie seien nicht würdig, die Erde zu bewohnen. Gabriel bewunderte die Menschen dafür, dass sie das Leben so genießen konnten, allein durch den Umstand, dass sie Gefühle hatten. Er verschmähte sie jedoch für ihre Schwäche. Seine Idee war es, eine Spezies zu erschaffen, die fühlen konnte, aber die Stärke und Weitsicht eines Engels besaß. Er schuf die heutigen Todesengel. Rafael, der Jüngste, bewunderte und achtete die Menschen. Für ihn waren sie Perfektion. Das Beste, was ein Lebewesen sein konnte – denn sie waren nicht unsterblich und lebten mit besonderer Sorgfalt, Freiheit und Freude ein erfülltes Leben. Ohne jede Art von Magie oder sonstige Stärken. Als deutlich wurde, dass sie zusammen nie auf einen Nenner kommen würden, fingen sie an, sich zu bekriegen. Doch da sie einander ebenbürtig waren und nie müde wurden, war es ein endloser Kampf, der nie einen Sieger hervorbringen würde. Schließlich kamen sie zur einzigen, rationalen Lösung: Sie töteten sich selbst. Nur so, wenn keiner der Drei überlebte, um den Lauf der Welt zu beeinflussen, würde sich zeigen, wie die natürliche Ordnung der Welt sich entwickeln und wer von ihnen recht behalten würde. Eine Art natürliche Auslese, wenn du so willst. Also stießen sie sich gleichzeitig einen diamantenen Dolch ins Herz und nahmen sich das Leben.«

Mit offenem Mund sah ich Akasha an. »Was? Aber … das ist doch verrückt! Sich selbst zu töten, nur um herauszufinden, wer recht hat. Und sie werden nie mitbekommen, wer in der natürlichen Ordnung der Welt als Sieger hervorgeht! Also wer die ... die Weltherrschaft oder was auch immer an sich zieht.«

Akasha lächelte milde. »Du hast recht. Für dich erscheint dieser Schritt nicht logisch. Aber du musst verstehen, dass Engel anders denken. Am Leben zu bleiben, ist nicht ihr höchstes Ziel – gleichwohl sie ja ewig leben könnten. Für die Erzengel war ihr Tod schlichtweg die einzige Möglichkeit, einen sonst ewig andauernden Krieg zu beenden.«

Ich schnaubte laut. Sich selbst töten, um zu sehen, wie die natürliche Ordnung der Welt sich von allein bilden würde. Das klang in meinen Ohren nicht sehr rational. Eher dumm. Äußerst dumm.

Aber es gab Wichtigeres.

»Okay, und ... und warum soll das der Grund dafür gewesen sein, dass sich Todesengel, Engel und Menschen endgültig voneinander abgewandt haben?«

»Nun, die drei Erzengel hatten nicht darüber nachgedacht, dass ihre Gefolgsleute den Kampf weiterführen würden.« Akasha lächelte traurig. »Sie waren wohl zu arrogant, um in Betracht zu ziehen, dass irgendwer sich für gut genug befand, ihren Plan weiterzuverfolgen. Doch seit jeher versuchen die Engel, die Menschen auszulöschen, und wir Todesengel versuchen, sie davon abzuhalten. Am Anfang wollten die Todesengel nur den Engeln beweisen, dass sie unrecht haben. Ihnen ging es nicht wirklich um das Wohl der Menschen. Das ist heute natürlich anders. Wir haben die Menschen schätzen und lieben gelernt. Bei den Menschen ist das Wissen darum, dass es so etwas wie Engel oder Todesengel gibt, jedoch mit Rafael gestorben.«

Ja. Die Glücklichen. »Und die Steine?« Ich deutete auf das Pergament vor ihr. »Was ist denn jetzt mit den Steinen?«

»Richtig.« Akasha nickte, als erinnere sie sich erst jetzt daran, was sie hatte sagen wollen. »Nun, die Steine ... In alten Büchern ist überall vermerkt, dass mit dem Tod der drei Erzengel all ihr Wissen über das Speichern von Energie verloren gegangen sei. Doch es heißt, dass aus ihrer Asche drei Edelsteine gepresst wurden, die ihre Ziele verinnerlicht hätten. Diese drei Edelsteine.« Sie deutete auf das Pergament, dann seufzte sie. »Ich weiß nicht, ob es tatsächlich so passiert ist, aber es ist unbestreitbar, dass die Steine existieren.«

»Ziele verinnerlicht?«, unterbrach ich sie. Es fiel mir schwer, zu folgen. »Wie können Steine etwas verinnerlichen?«

»Der Legende nach besitzen die Steine eine Macht, die die drei Erzengel als besonders wichtig für ihre jeweiligen Ziele schätzten. Rafaels Stein …« Sie zeigte mit ihrem Finger auf den Blutopal. »… soll die Kraft besitzen, Menschen zu heilen. Er ist nur für die Menschen gedacht und deswegen können auch nur sie den Stein berühren. Gabriels Stein«, fuhr sie fort und zeigte auf den Todessaphir, »soll dem Träger unglaubliche Kräfte zuschreiben und seine eigenen verstärken. Dieser Stein ist allerdings nur für seine selbst erschaffene Spezies zugänglich.« Sie machte eine ausladende Geste in den Raum hinein. »Die Todesengel. Und schließlich der Engelstropfen, Michaels Stein.« Akasha hob ihren Kopf und lächelte mir zu. »Es ist bis heute nicht klar, was er kann. Die Aufzeichnungen darüber sind sehr vage und beschreiben lediglich, dass er dazu in der Lage ist, eine Art Veränderung herbeizuführen. Aber ich bin mir sicher, dass er nur von einem Engel berührt werden kann.«

Ich sah sie steif an. Jetzt wusste ich, warum die Todesengel mich so sehr brauchten. Ich war die Einzige, die den Engelstropfen berühren konnte. Ihn vielleicht sogar benutzen konnte. Aber warum brauchten sie die Engelssteine überhaupt?

Ich räusperte mich und machte einen kleinen Schritt nach hinten. »Das ist ja alles schön und gut und … Ja, es wäre toll, wenn man Menschen heilen könnte, unglaublich mächtig wäre und na ja, was auch immer der gelbe Stein bewirkt, tun könnte. Aber Killian scheint mir schon so ziemlich mächtig. Und er will bestimmt keine Menschen heilen! Warum sollte er sich überhaupt für den Blutopal interessieren?«

Akasha lehnte sich langsam in ihrem Stuhl zurück. Ihre Finger malten immer noch abwesend Muster auf den Tisch. »Allein haben die Steine schon eine unglaubliche Macht. Zusammen jedoch … Wenn man die Steine verbindet, befähigen sie ihren Herrn zu unvorstellbaren Dingen. Die Fähigkeit eines Menschen, sich immer zu heilen, führt zur Unsterblichkeit. Wenn man ihm auch noch Kraft gibt und dann das hinzufügt, was der Engelstropfen bewirkt ... eine Art Veränderung, dann ...«

»... dann könnte man Menschen zu Engeln machen«, vollendete ich ihren Satz und alles fiel an seinen Platz.

Killian brauchte die drei Steine, um seinen Plan, die Menschen zu Engeln werden zu lassen, durchzuziehen. Er brauchte mich, weil ... Moment. Wieso brauchte er mich?

»Okay. Ich verstehe, warum ich wichtig für euch bin«, sagte ich und starrte auf meine Fingerspitzen. »Aber warum braucht Killian mich? Jeder Mensch könnte den Blutopal berühren. Wieso mich nehmen?«

»Jeder Mensch kann den Blutopal berühren, das ist richtig, Ella«, nickte Akasha. »Aber nicht jeder Mensch kann die Steine verbinden. Die Menschen glauben nicht mehr an Engel. Sie sind ignorant geworden. Schwächer. Die Steine verbinden sich mit Energie und ich glaube ... Ich glaube, dass kein Mensch mehr genug Energie besitzt, um Killians Zwecken zu dienen. Du allerdings bist stärker. Mächtiger.«

»Oh.«

Also war ich die Einzige, die Killian helfen konnte, die Steine zu verbinden. Er brauchte mich lebendig wegen meiner Energie und … Moment. Heilen.

Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen und mein Mund wurde schlagartig trocken. Der Blutopal konnte Menschen heilen – und ich hatte ihn bei mir gehabt, als meine Mutter gestorben war. Hätte ich gewusst, wie man das Medaillon öffnet, hätte ich gewusst, wie man den Stein benutzt, dann hätte ich ihr das Leben retten können. Vielleicht war es das gewesen, was sie mir hatte sagen wollen. Die letzten Worte meiner Mutter waren ›der Blutopal‹ gewesen. Vielleicht hatte sie von seiner Macht gewusst. Vielleicht war das genau der Grund gewesen, aus dem ich ihn immer bei mir hatte tragen sollen. Damit er mich heilen konnte, falls die Engel mich fanden. Sie hatte ihn mir gegeben, damit er mich schützte.

Meine Augen fingen aufs Neue an zu brennen und ich biss auf die Innenseite meiner Wange, damit die Reue mich nicht taub und blind gegenüber allem machte. Ich konnte nichts daran ändern. Ich hatte nicht gewusst, wozu der Blutopal fähig war.

Doch eine kleine Stimme in meinem Kopf flüsterte mir zu, dass ich es hätte wissen können. Wenn die Todesengel und meine Mutter ihre Geheimnisse nicht für sich behalten hätten. Wenn Mama ehrlich zu mir gewesen wäre, hätte ich sie vielleicht retten können.

»... und so sind sie leicht zu fusionieren.«

Ich schreckte auf. Akasha hatte weitergesprochen, doch ich hatte kein Wort gehört. Eilig schüttelte ich meine Gedanken ab und versuchte mich wieder zu konzentrieren. Das hier war sehr wichtig. Wenn ich Rache üben und das Ganze hier beenden wollte, musste ich besser aufpassen. »Entschuldige, Akasha. Könntest du das noch einmal wiederholen?«

»Natürlich. Um die Steine verschmelzen zu lassen, müssen lediglich je einer der drei Arten – Mensch, Engel, Todesengel – zusammenkommen und die Steine zusammenpressen. Wenn diese drei verschiedenen Wesen vereint sind, so werden auch die Steine vereint. Das macht es sehr leicht, sie zu fusionieren.«

»Und das wollt ihr tun? Sie fusionieren? Damit Killian es nicht vor euch tut?«

»Oh, nein. Wir wollen sie zerstören«, erklärte der Erztodesengel. »Für immer zerstören, damit niemand je ihre Macht benutzen kann.«

Ja, das klang gut in meinen Ohren. »Und wie zerstört man sie?«

Mit leidender Miene zuckte Akasha die Schultern. »Nun, sie können nur als Ganzes zerstört werden. Alle drei Steine zusammen zur selben Zeit. Doch wie genau … das wissen wir noch nicht so ganz«, murmelte sie und ich bemerkte, wie ihr Blick einmal kurz zu Gabe huschte, der sich neben mir versteift hatte.

Stirnrunzelnd wandte ich mich zu ihm, doch er schaute auf das Pergament mit den Steinen. Ich folgte dem Weg seines Blickes und als ich den Blutopal sah, erinnerte ich mich daran, was ich vor drei Wochen und seitdem fast jeden Abend gelesen hatte.

»Um sie zu zerstören, ist ein hoher Preis zu zahlen, doch zusammen haben sie zu viel Macht.«

»Wie bitte?« Gabe starrte mich plötzlich an und ich zuckte zusammen. Ich hatte nicht vorgehabt, das laut zu sagen.

Mein Kopf fing an zu glühen. »Ich ... also. Ich ... habe ein Gedicht gelesen«, erklärte ich mit trockenem Hals. »In dem heißt es, dass ... dass die Welt aus drei Farben bestehe und ein hoher Preis zu zahlen sei, um sie zu zerstören, aber sie zusammen zu viel Macht hätten.«

Jetzt war Gabe nicht der Einzige, der mich anstarrte.

»Welches Gedicht? Und wo hast du es gelesen?«

Die Aufmerksamkeit war mir unangenehm und ich wandte mich von Gabe ab. »Na ja, also ... Die Welt besteht aus drei Farben«, fing ich an zu zitieren. Denn ich kannte die Zeilen mittlerweile auswendig. »Aus Blau und Gelb und Rot. Und es waren drei, denen wir sie gaben: Dem Engel, dem Menschen und dem Tod. Alle mit der besonderen Macht zu malen: den Wandel, die Heilung und die Kraft. Um sie zu zerstören, ist ein hoher Preis zu zahlen, doch zusammen haben sie zu viel Macht.«

Akasha war inzwischen aufgestanden und die Verblüffung, mit der sie mich bedachte, war mir noch unangenehmer als Gabes stechender Blick.

»Woher hast du das, Ella?«, fragte sie drängend.

Ich fuhr mit der Hand an meinen Hals und holte das Medaillon hervor. Zögerlich drehte ich es in den Fingern. »Es … Es steht hier drin. Unter dem Blutopal.«

Akashas Stimme wurde lauter. »Aber woher weißt du das?«

»Ich ... na ja, ich ... Ich kann es öffnen«, murmelte ich leise und löste die Kette in meinem Nacken. »Der Schlüssel war die ganze Zeit bei mir. Es ist mir vor drei Wochen aufgefallen ...«

Ich hatte den Mechanismus am Todestag meiner Mutter entdeckt, war aber nie dazu gekommen, es irgendwem zu erzählen. Ich hatte mit niemandem sprechen wollen und die Tatsache, dass ich das Medaillon öffnen konnte, war mir ...

»Du weißt seit drei Wochen, dass der Blutopal in deinem Medaillon ist und wie du es öffnen kannst, und hast es nicht für nötig gehalten, irgendetwas zu sagen?« Tryn machte erbost einen Schritt auf mich zu und ihre Augen sprühten Feuer. »Seit drei Wochen verschweigst du uns das? Wie dumm und egoistisch bist du eigentlich?!«

Sie sah so vertraut wütend und entnervt aus, dass mir gleich wohler zumute wurde. Es war schön zu wissen, dass sich ihre Einstellung zu mir nicht geändert hatte, da ich nun eine bemitleidenswerte Waise war. Genau wie sie.

»Ich wusste ja nicht, wie wichtig er ist, oder?«, verteidigte ich mich schulterzuckend. »Niemand hat mir je gesagt, wozu man ihn genau braucht. Ihr dürft euch also alle selbst die Schuld dafür geben!«

Leah grinste neben mir und klopfte mir anerkennend auf die Schulter. »Ich stimme dir da zu. Ihr solltet wirklich mal darüber nachdenken, was Geheimnisse für Konsequenzen nach sich ziehen!«

Tryns Gesicht lief so rot an wie der Edelstein in meinem Medaillon. »Wir suchen seit drei Wochen nach anderen Orten, wo sich der Schlüssel verstecken könnte, und das alles war umsonst!«, zischte sie. »Weil Miss ›Ich bin ein Halbengel und besser als ihr alle‹ es nicht für nötig hielt ...«

»Atrynna«, sagte Akasha scharf und sah sie streng an. »Unter den gegebenen Umständen ist es verständlich, dass Ella uns nicht direkt informiert hat. Konzentrier dich auf die gute Seite: Wir haben den Blutopal und können das Medaillon öffnen. Wir brauchen nur noch den Todessaphir und den Engels...«

Ich schlug eine Hand vor den Mund. »Oh mein Gott. Killian hat ihn.«

Zum zweiten Mal an diesem Abend klappte dem gesamten Raum die Kinnlade herunter, doch es war mir egal.

Ich starrte die Abbildung des gelben Steins an und wusste endlich, warum er mir so bekannt vorgekommen war. Ich hatte ihn schon einmal gesehen. »Als meine Mutter, als ... Ich habe ihn gesehen. Killian hatte ihn an einem Ring an seinem Finger. Er war tropfenförmig. Ich bin mir sicher, dass es dieser Stein war.« Ich deutete auf die Abbildung.

»Okay.« Akasha nickte und ich war froh, dass sie meine Worte nicht hinterfragte. »Das hatte ich bereits befürchtet.«

»Ja. Also, wegen des Gedichts ...«, sagte ich dann langsam. »Ist es wichtig?«

»Ich denke nicht, Ella«, murmelte Akasha entschuldigend. »Die Worte geben uns nicht mehr Informationen, als wir ohnehin schon haben.«

»Aber es sagt, dass ... dass ein hoher Preis zu zahlen ist, um die Steine zu zerstören.«

Nachdenklich nickte der Erztodesengel. »Ja, das ist wahr. Aber das könnte vieles bedeuten. Ich glaube nicht, dass wir uns zurzeit darauf konzentrieren sollten. Es gibt Wichtigeres. Wenn Killian den Engelstopas besitzt und du den Blutopal, dann müssen wir jetzt den Todessaphir finden. Und wir müssen schnell handeln, bevor Killian uns zuvorkommt. Am besten reist ihr morgen ab.«

Bevor ich fragen konnte, wer mit ›ihr‹ gemeint war und wohin genau wir denn bitte reisen sollten, legte Ian mir eine Hand auf die Schulter und zog mich zu sich heran.

»Akasha. Das ist vielleicht etwas voreilig. Lasst Ella noch ein bisschen Zeit. Sie ...«

»Nein, Ian. Ich will gehen«, unterbrach ich und sah ihn bittend an. »Ich muss etwas tun. Ich will etwas tun! Ich kann nicht weiter hier unten hocken!«

»Keine Sorge, Ian, ich pass auf sie auf.«

Ich hatte diese Worte erwartet. Allerdings aus Gabes Mund und nicht aus Leahs.

Ungläubig wandte ich mich zu ihr um. »Du kannst nicht mitkommen!«

Verärgert zog sie die Augenbrauen zusammen. »Warum denken immer noch alle, dass sie mir sagen könnten, was ich zu tun und lassen habe? Diese Todesengel, okay, aber du solltest mich besser kennen, Ella. Natürlich komme ich mit.«

»Das ist unmöglich«, rutschte es nun Lao heraus. »Du bist ein Mensch.«

Ganz langsam und mit zusammengekniffenen Augen drehte sich Leah zu ihm um. Sie war groß, über eins fünfundsiebzig, doch Lao war größer und in etwa so breit. Er bestand zu neunundneunzig Prozent aus Muskeln und dennoch sah ich, wie er überrascht einen Zentimeter zurückwich, als er die volle Kraft von Leahs abschätzigem Blick zu spüren bekam.

»Und du bist?«, fragte sie mit zuckriger Stimme.

»Ähm, Belao. Und es wäre unverantwortlich von uns, dich ...«

»Belao?« Sie legte den Kopf schief und schien kurz nachzudenken. »Ja, Ella hat dich erwähnt. Aber sie sagte eigentlich, dass du cool wärst, nicht etwa ein Schwachkopf.«

Lao sah sie so ungläubig an, dass sie ihn genauso gut mit verfaulten Tomaten beworfen haben könnte, doch bevor er etwas sagen konnte, sprach Akasha: »Belao hat recht. Du bist ein Mensch, Leah. Wir können dich nicht mitgehen lassen.«

Unwillkürlich fragte ich mich, woher Akasha ihren Namen kannte, doch Leah ignorierte diese Kleinigkeit.

»Oh, bitte!«, rief sie aus und verdrehte die Augen. »Nur weil ich keine Energie aus meinen Händen strömen lassen kann, heißt das nicht, dass ich mich nicht wehren oder durchsetzen könnte. Außerdem braucht Ella mich! Ihr Clowns wisst ja ganz offensichtlich nicht, wie man mit ihr umgehen muss. Wenn ich nicht wäre, hätte sie euch alle schon vor Wut gesprengt!«

Ich wusste, dass ich mich wohl beleidigt fühlen sollte, weil Leah mich hinstellte wie eine Verrückte, die keine Kontrolle über sich hatte. Aber ganz ehrlich: Sie hatte ein wenig recht. Ihre Anwesenheit war so vertraut, dass sie mich automatisch beruhigte. Sie kannte mich. Ich wollte sie nicht in Gefahr bringen, aber wenn sie erst einmal eine Entscheidung getroffen hatte, konnte sie sowieso niemand mehr vom Gegenteil überzeugen.

»Lasst sie mitgehen«, bemerkte Gabe, der sich seitlich an den Schreibtisch gelehnt hatte, die Arme immer noch vorm Körper verschränkt. »Sie kann kämpfen. Und es ist ihre Entscheidung, ob sie das Risiko auf sich nehmen will.«

»Danke!«, sagte Leah, während Tryn im selben Moment »Bist du verrückt?« schrie.

Tryn machte ruckartig einen Schritt auf Gabe zu. »Sie ist ein Mensch! Sie wird uns nur behindern! Ich habe keine Lust, mein Leben zu riskieren, nur weil wir noch eine Person mehr mitnehmen müssen, die überhaupt keine Ahnung von unserer Welt hat.«

»Und wer hat gesagt, dass du mitkommst?«, fauchte ich und sah wütend in Tryns graue Augen. »Ich könnte sehr gut auf dich verzichten, glaub mir. Auf eine Furie, die mich die ganze Zeit blöd von der Seite anmacht, habe ich wirklich keinen Bock. Ich habe schon genug Probleme.«

Tryn öffnete den Mund, vielleicht um mich anzuspucken, doch bevor sie dazu kam, herrschte Akasha: »Ruhe! Alle miteinander.«

Sofort schlossen wir unsere Münder. Der Erztodesengel hatte etwas an sich, das einen dazu brachte, ihr sofort zu gehorchen.

»Ihr werdet alle gehen«, beschloss sie und besah jeden Einzelnen im Raum. »Nur Ian, du wirst hierbleiben müssen.«

»Akasha, ich ...«

»Du bleibst hier!«, sagte sie mit festem Ton. »Wir können es uns nicht leisten, noch mehr Finder zu verlieren. Killian wird seine Auslese an würdigen und unwürdigen Menschen schnell vorantreiben wollen. Er hat den Engelstopas und ist sich fast sicher, dass Ella den Blutopal besitzt. Er ist seinem Ziel ganz nah und wir brauchen dich hier, um die Menschen zu schützen! Außerdem wärst du Ella ohnehin keine Hilfe. Du würdest nur versuchen, sie zu schützen, und dich selbst in Gefahr bringen. Du bleibst hier.«