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Bei einer Darts-Gala in Hannover fällt der deutsche Dartspieler David Malcolm "The Fog" Dunst auf der Bühne tot um. Hauptkommissarin Williamson wittert sogleich ein Verbrechen. Schon bald stellt sich heraus: Es war Mord. Mit ihren Kollegen Elena Grifo und Sascha Cohen nimmt sie sofort die Ermittlungen auf und kämpft mit schrägen Typen in einer verrückten Szene, geprägt von Geld, Gier und Neid. Unter der Oberfläche der glitzernden Darts-Welt lauert das Böse, bereit, jederzeit zuzuschlagen. Und tatsächlich: Es geschieht ein zweiter Mord … Williamson ermittelt in ihrem bislang verrücktesten Fall. Sie muss sich nicht nur mit vielen skurrilen Verdächtigen auseinandersetzen, sondern auch mit Problemen im Kommissariat und in der Familie. Sie ahnt: Große Herausforderungen ziehen am Horizont herauf.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Meiner dartsverrückten Familie
Der Roman spielt hauptsächlich an allseits bekannten Stätten, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2025 dotbooks GmbH, Max-Joseph-Straße 7, 80333 Mü[email protected]/dotbooks/CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Osterstraße 19, 31785 [email protected] Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von Adobe StockSatz: CW Niemeyer Buchverlage GmbHE-Pub Produktion durch CW Niemeyer BuchverlageeISBN 978-3-8271-8740-6
Susanne SchiebleTodesScheibe
Was ist denn das menschliche Leben schon anderes als ein Schauspiel, in dem die einen vor den anderen in Masken auftreten und ihre Rolle spielen, bis der Regisseur sie abruft?Erasmus von Rotterdam
Kapitel 1
Er liebte die Bühne. Sie war sein Leben, sein Ein und Alles. Alles daran war großartig: die tobende Menge davor, die ihm zujubelte, die Scheinwerfer, die seine Härchen auf der Haut erwärmten und ihn erzittern ließen, der Caller, der die erlangten Punkte ausrief und dessen Stimme sich über die Menge erhob. Es war das Größte, sich nach einem Sieg oder vor dem Start, kurz nachdem er die Bühne erklommen hatte, feiern zu lassen. Die Arme, die sich ihm entgegenstreckten, die aufgerissenen Münder, die seinen Namen grölten, aus Hunderten, Tausenden Kehlen! Ganz besonders liebte er das Spiel Mann gegen Mann, und er liebte es noch mehr, wenn er seinen Gegner besiegt hatte. Dieser Moment, der einen Adrenalinstoß durch seinen Körper jagte, war unbezahlbar, besser als alles, besser als das viele Geld, das er verdiente, besser als Sex – und er liebte Geld und Sex!
Normalerweise war er schon vorher aufgeregt, spürte die flammende Energie, die durch seine Adern schoss und seinen ganzen Körper zum Pulsieren brachte. Dann liefen seine Sinne auf Hochtouren, er war „angeknipst“, wie er zu sagen pflegte.
Nur heute nicht. Es hatte sich eine unerklärliche Schwäche in ihm ausgebreitet und verwandelte seine Arme und Beine in Pudding. Schon seit einigen Tagen ging das so, und es wurde immer schlimmer. Der Fußboden schwankte, die Wände rückten näher und schienen ihn zu erdrücken. Ständig musste er zur Toilette und sich entleeren, es war schrecklich! Und dann der Schweiß! Er lief in Strömen seinen Körper hinab, er hatte gar nicht gewusst, dass er so viel Flüssigkeit in sich barg. Auf die ständigen Bauchkrämpfe, die ihn seit einigen Tagen heimsuchten, wartete er schon und begrüßte sie inzwischen wie einen alten Freund. Sein Kopf fühlte sich schwer und heiß an, wie ein großer, gefüllter Gasballon. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, als säße er nicht mehr fest auf seinem Hals und wackelte unkontrolliert hin und her.
Nicht zu spielen, kam nicht infrage. Das war sein Leben! Das konnte er! Die Bühne rief nach ihm und zog ihn magisch an.
Das Spalier der vielen Menschen nahm er kaum wahr. Beim Abklatschen der hundertfachen Hände rechts und links griff er oftmals vorbei. Konzentrier dich, dachte er und versuchte, den Aufgang zu fixieren, der ihn zu seinem Gegner und zur Scheibe brachte. Wenn du erst einmal oben bist, schaffst du das schon. Das hatte gestern Abend auch geklappt, auch wenn er schlecht gespielt hatte. Allerdings hatte sich sein Zustand von gestern auf heute dramatisch verschlechtert. Einen Arzt hatte er abgelehnt, so etwas brauchte er nicht, er doch nicht!
Er war unbesiegbar.
Stolpernd betrat er die Bühne, begrüßte Sean und Grant. Es waren doch die beiden? Sie waren seltsam verzerrt, übernatürlich in die Länge gezogen, nur um sich dann zusammenzuziehen und als Kugeln vor ihm hin und her zu hüpfen.
Er versuchte sich einzuwerfen. Traf er das Board überhaupt? Die roten, schwarzen, weißen und grünen Felder verschwammen vor seinem Gesichtsfeld. Ein neuerlicher Krampf schüttelte seinen Körper, gefolgt von einem heftigen Schweißausbruch. Kurz krümmte er sich zusammen, richtete sich dann schnell wieder auf und atmete ein paarmal tief durch. Mit einem Tuch, das auf seinem Tisch lag, wischte er sich energisch über die Stirn und das Gesicht. Mühsam unterdrückte er den Würgereiz, der ihm inzwischen vertraut war. Er durfte keine Schwäche zeigen! Niemals!
Wasser, er brauchte Wasser! Hastig griff er nach dem Krug, schenkte sich ein, dabei verschüttete er eine Menge, so sehr zitterte er. Schnell trank er das Glas leer.
Er spürte Seans Blick in seinem Rücken. Nein! Sein Gegner durfte nicht merken, dass es ihm nicht gut ging. Es ging ihm gut! Gut! Gut! Wie ein Mantra wiederholte er das eine Wort immer wieder.
Gut! Gut!
Plötzlich bäumte sich der Boden vor ihm auf. Er wurde immer höher, zuerst ein Hügel, dann ein Berg.
Das Licht kam von oben und brachte eine Hitze mit, die ihn erzittern ließ. Augen starrten ihn an, die ihn mit ihrer Helligkeit aufzusaugen schienen. Waren das die Scheinwerfer? Er spürte etwas Hartes unter sich, und er begriff, dass er auf dem Boden lag, mitten auf der Bühne. Komischerweise verspürte er den unwiderstehlichen Reiz zu lachen. Das lag an den Augen, die immer näher kamen. Zuerst blendete ihn ihre Helligkeit, doch dann wurde er so sehr von dem strahlenden, verheißenden Weiß angezogen, dass er seinen Widerstand aufgab.
Es war wunderschön.
Das Weiß umhüllte ihn und zog ihn mit sich fort.
Kapitel 2
„Essen ist fertig!“
Bernd-Karl Williamsons sonore Stimme hallte durch das Esszimmer. Seine Frau stand mit dem Rücken zum Raum und schaute gedankenverloren durchs Fenster, ein Glas Crémant in der Hand. Die Dämmerung hatte an diesem nasskalten Sonntagabend mitten im Februar bereits eingesetzt und tauchte den Garten in ein unwirkliches Licht. Die Konturen der Sträucher verwischten, und die Pflanzen verschmolzen zu einer gestaltlosen Masse. Tatsächlich verloren sich einige Schneeflocken in den Garten und schmolzen sofort, als sie auf dem Boden aufkamen. Williamson schaute den Flocken hinterher, stieß einen langen Seufzer aus und drehte sich langsam um. Ihr Ehemann, bester Freund und engster Vertrauter strahlte sie so intensiv an, dass sie lachen musste. Er stand hinter dem Esstisch, die Arme weit ausgebreitet wie der Papst auf dem Balkon des Petersdoms, und präsentierte stolz das, was auf dem Tisch stand.
„Ach, minge Schatz, dat sieht fantastisch aus!“, rief Williamson aus und klatschte vor Begeisterung in die Hände. Bewundernd wanderte ihr Blick über den liebevoll für zwei Personen gedeckten Tisch. Bernd-Karl hatte ihr bestes Porzellan, das mit dem Goldrand, und die edelsten Gläser aus dem Schrank geholt und für ein Drei-Gänge-Menü gedeckt. Es war bis zum Schluss von ihm wie ein Staatsgeheimnis gehütet worden. Der Tisch glitzerte und blitzte aufgrund des blank geputzten Silbers und der Kristallleuchter, in denen lange, weiße Kerzen steckten, die jetzt ein heimeliges Licht verbreiteten. Die Vorspeise war bereits angerichtet.
„Et voilà“, raunte Bernd-Karl mit bedeutungsschwangerer Stimme, „Rauchlachs-Tiramisu.“
Es sah fantastisch aus, das musste Williamson zugeben. Bewundernd sah sie ihren Mann an.
„Dat du dafür die Geduld hast.“ Sie schüttelte den Kopf. „Die hätte ich nie un‘ nimmer.“ Bei ihr musste es praktisch und schnell gehen, auch beim Kochen. Vor allem beim Kochen.
„Ich weiß“, lächelte Bernd-Karl und schob einen der Stühle zurück. „Darf ich die schönste Frau des Hauses zu Tisch bitten?“
„Haha“, machte Williamson, musste dabei aber grinsen. „Dat kann man leicht sagen, wenn man die einzige Frau im Haus anspricht.“ Bernd-Karl und sie kabbelten sich gern. Das war eines der Geheimnisse ihrer langjährigen, glücklichen Ehe.
Die Hauptkommissarin ließ sich auf ihren Stuhl plumpsen, den ihr Mann augenblicklich zurechtschob. Auch er grinste.
„Dann fällt es mir noch leichter, meiner geliebten Frau ein Kompliment zu machen.“
„Is‘ ja klar, dann musst du dich nit zwischen uns dreien entscheiden. Da schneide ich schon aufgrund meines Alters am schlechtesten ab!“
„Ich liebe Frauen mit Erfahrung“, flüsterte Bernd-Karl ihr ins Ohr, schmunzelte wieder und ließ sich dann auf seinem Platz nieder. Er griff zur gut gekühlten Weißweinflasche und schenkte seiner Frau ein.
„Ein Gavi“, erklärte er nebenbei. „Das ist der richtige Wein für diese Vorspeise und ein guter Starter, bevor wir zur Hauptspeise und zum Rotwein übergehen.“
„Du willst mich wohl abfüllen“, entgegnete Williamson keck und klimperte mit ihren Knopfaugen.
„Genau!“, gab ihr Bernd-Karl mit einem spitzbübischen Grinsen recht. „Wenn ich schon einmal die Gelegenheit habe, meine Frau zu verwöhnen und ganz für mich allein zu haben, ergreife ich sie auch. Ich habe mir eine ausgefeilte Taktik überlegt, wie ich es angehe. Warte, bis wir im Schlafzimmer sind!“
„Stopp“, unterbrach ihn Williamson und hob lachend die Hände. „Ich weiß jetz‘ nit, ob dat eine Drohung oder eine Verheißung sein soll. Jedenfalls will ich keine Details hören. Ich will überrascht werden.“
Zum ersten Mal seit langer Zeit war das Ehepaar allein. Ihre beiden Töchter waren ausgeflogen. Während Carola mit ihrem Freund, dessen Namen sich Williamson nicht merken konnte oder wollte, im Kino war, übernachtete Nicola bei ihrer Freundin Ina. Sie wollte irgendwann im Laufe des nächsten Vormittags nach Hause kommen, schließlich waren Zeugnisferien.
„Sie werden beide so schnell groß!“, hatte Williamson geseufzt und der fünfzehnjährigen Nicola hinterhergeblickt, die mit ihren Übernachtungssachen geradezu fluchtartig das Haus verlassen und ihrer Mutter noch eine Kusshand hinterhergeworfen hatte. „Früher war nur Carola unterwegs, da hatte ich wenigstens noch Nicola. Jetz‘ fängt die auch schon an, wegzugehen un‘ uns allein zu lassen!“
Bernd-Karl hatte sie in seine Arme gezogen und sein Gesicht in ihrem roten Strubbelhaar, das wie immer nach allen Seiten abstand, vergraben.
„Sturmfrei für uns“, hatte er gemurmelt. „Wann hatten wir das zuletzt?“ Er wusste ganz genau, dass es seiner Frau zu schaffen machte, dass ihre Töchter flügge wurden. Daher hatte er sich, wie sich nun herausstellte, ein Programm zur Ablenkung überlegt. „Wir machen es uns so richtig schön. Ich koche!“
Es gab noch einen zweiten Grund, warum er sein „Mienchen“, wie er Williamson liebevoll nannte, ablenken wollte. Dieses Wochenende war Karneval. Na ja, zumindest im Rheinland, von wo sie beide stammten, ging es hoch her, vor allem in Köln. In der Stadt am Rhein hatten sie bis vor etwas über einem Jahr gelebt, bis sie in Hannover einen Neuanfang gewagt hatten. Er im Bauamt der Stadt Hannover und Williamson als Hauptkommissarin im Zentralen Kriminaldienst. Vor allem die temperamentvolle Polizistin hatte ihre Vorurteile bezüglich der Hannoveranerinnen und Hannoveraner über Bord werfen und aufgrund eigener Erfahrungen lernen müssen, dass es sich lohnte, in der niedersächsischen Landeshauptstadt zu leben. Und wie! Auch hier gab es nette und interessante Menschen, tolle Restaurants und schöne Ecken. Und so hatte sich Hannover ganz langsam und unaufhaltsam in das Herz der waschechten Kölnerin gestohlen, fast gegen ihren Willen. Inzwischen hatte sie längst akzeptiert, dass es zwei Herzen in ihrer Brust gab: eines für Köln und eines für Hannover. Aber am Karnevalswochenende war das etwas ganz anderes. Da in Hannover nur sehr reduziert Karneval gefeiert wurde, sehnte sich die Hauptkommissarin an diesem Wochenende nach ihrer alten Heimat – aber sie hatte Bereitschaftsdienst. Also konnte sie nicht einfach alles stehen und liegen lassen. Und so hatte Bernd-Karl sein Verwöhnprogramm entworfen.
„Streng genommen darf ich gar nix trinken, dat is‘ dir doch klar“, schnurrte Williamson und sah ihrem Mann tief in die Augen.
„Ach, Mienchen, nur ein Glas, vielleicht noch ein zweites“, beruhigte Bernd-Karl sie. „Die Verbrecher könnten doch mal eine Pause einlegen. Ich habe das Universum gebeten, dass sie dich heute in Ruhe lassen.“
„Wollen wir dat Beste hoffen“, seufzte Williamson und probierte von der wie ein Kunstwerk angerichteten Vorspeise, von Bernd-Karl eigenhändig geräuchertem Lachs, den er zuvor mit einer Beize aus Zucker, Salz, Pfeffer, Wacholder, Dill und Gin bearbeitet hatte. „Köstlich“, stieß sie aus und schob noch einen zweiten Bissen hinterher. „Du bist der beste Koch des ganzen Universums. Dann wollen wir doch mal hoffen, dat et ein Einsehen hat un‘ mich in Frieden lässt!“
Wie aufs Stichwort ertönte da eine Melodie.
„Ich ben ene Räuber, leev Marielche
Ben ne Räuber durch un durch
Ich kann nit treu sin, läv en dr Daach ren
Ich ben ne Räuber, maach mr kein Sorch.“
Das Lied von der kölschen Gruppe Höhner war der neueste Klingelton von Williamsons Diensthandy.
Bernd-Karls Augen weiteten sich vor Unglauben.
„Das kann jetzt nicht wahr sein“, presste er hervor. Williamson sah ihn an.
„So viel zum Universum. Et scheint uns nit besonders zu mögen.“
Resigniert ließ Bernd-Karl das Besteck sinken und lehnte sich zurück.
„Geh schon ran“, forderte er sie mit erstickter Stimme auf. „Es kann wichtig sein.“
Williamson war aufgesprungen und nahm das Handy auf, das auf dem Sideboard unschuldig vor sich hin trällerte, und sah auf das Display. Es war ihre liebste und engste Mitarbeiterin Elena Grifo. Sie würde nicht anrufen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre. Die Hauptkommissarin nahm das Gespräch an.
„Ja!“, bellte sie in das Gerät.
„Chefin, es tut mir leid, dich zu stören. Ich weiß, heute ist euer großer Abend. Aber …“ Elena Grifo zögerte. Es fiel ihr offensichtlich schwer, Williamson von ihrem Abendessen mit Bernd-Karl wegzureißen. Ebenso schwer fiel es ihr, ihre Vorgesetzte zu duzen. Doch darauf bestand die Hauptkommissarin seit den Vorgängen im Herbst des vergangenen Jahres. Auch wenn sich eine neue, noch tiefere Vertrautheit zwischen den beiden Frauen eingestellt hatte, so respektierte und bewunderte Elena Grifo Williamson so sehr, dass sie nicht einfach so zum Du und zum Vornamen übergehen konnte. Also hatte sie sich angewöhnt, Williamson mit „Du“ und „Chefin“ anzusprechen. Das Angebot ihrer Vorgesetzten, sie Wilhelmine zu nennen, nutzte sie dagegen selten.
„Aber wat?“, schnaubte Williamson. „Wat is‘ los?“
„Wir haben einen Toten“, antwortete Elena Grifo. „In der Innenstadt, im Eventsaal Catch 42.“
„Catch 42? Klingt wie’n Boxring!“
Grifo musste lachen. „So ähnlich. Wie gesagt, ein Eventsaal in der Nähe vom Bahnhof mit angeschlossenem Hotel, in dem der ganze Tross untergebracht ist. Ich erkläre dir, wie du fahren musst. Es betrifft einen der Spieler.“
„Wie, einen der Spieler?“, fragte Williamson zurück. „Wat spielen die denn da? Poker?“
„Schon wär’s“, seufzte Grifo. „Aber nein, sondern Darts.“
„Darts? Is‘ dat nit dat mit der Scheibe un‘ den Pfeilen?“, hakte die Hauptkommissarin nach.
„Ganz genau. Du kennst dich gut aus“, antwortete Grifo mit vorgeschobener Anerkennung, die die leichte Ironie in ihren Worten fast verdeckte. Aber nur fast.
„Jetz‘ sage ich dat, wat du eben gesagt hast: Schön wär’s. Bernd-Karl guckt dat ab un‘ zu im Fernsehen. Ich weiß nur, dat da dicke Männer auf dat Ding schießen.“
„Scheibe“, verbesserte Grifo sie. „Es ist eine Scheibe oder auch Dartboard. Und die Pfeile werden geworfen, nicht geschossen.“
„Von mir aus. Wat is‘ denn jetz‘ mit dem Spieler?“
„Er ist tot“, sagte Grifo trocken. „Er ist mitten auf der Bühne umgefallen. Vor Tausenden von Menschen.“
Kapitel 3
Die Schneeflocken wurden dichter. Es war das erste Mal, dass Williamson in Hannover Schnee erlebte. Langsam bildete sich eine dünne, weiße Decke links und rechts der Fahrbahn, und die Scheibenwischer ihres Ford Fiesta, den die Kommissarin liebevoll „Marianne“ nannte, huschten hin und her. Angestrengt starrte sie durch die Frontscheibe auf die Straße.
„Wir schaffen dat, Mariannchen“, flüsterte sie und kam sich vor wie eine berühmte deutsche Politikerin, die das auch immer von sich gegeben hatte. „Wir kommen schon an. Irgendwie. Un‘ … irgendwann.“
Bernd-Karl hatte sie mit großen traurigen Augen angesehen, als sie ihm eröffnet hatte, dass sie, statt sein Menü zu genießen, in die Stadt und zu einem Todesfall fahren musste. Er hatte die Mundwinkel fallen lassen und wie ein trauriger Basset ausgesehen. Es hatte Williamson fast das Herz gebrochen, als er sich dann auf seinen Stuhl am Esstisch hatte fallen lassen und wortlos in seiner Vorspeise herumgestochert hatte.
„Et tut mir leid“, hatte sie angefangen sich zu entschuldigen, obwohl sie nichts dafür konnte, doch er hatte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen gebracht.
„Schon gut, Mienchen“, hatte er mit einem resignierten Unterton in der Stimme erwidert. „Wir werden in diesem Jahr fünfundzwanzig Jahre verheiratet sein, und genauso lange bist du bei der Polizei. Ich kenne das, und ich respektiere es. Aber manchmal … manchmal ist es echt hart.“ Dann war er abrupt aufgesprungen und hatte angefangen, den Tisch abzuräumen. Williamson waren seine Bewegungen merkwürdig verlangsamt vorgekommen. Sie kannte ihren Mann gut genug, um zu wissen, wie enttäuscht er war, und war hinter ihm her in die Küche gelaufen. Von hinten hatte sie sich an ihn geschmiegt und die Arme um ihn geschlungen.
„Du weißt, dat ich daran nix ändern kann“, hatte sie geflüstert. „Ich verspreche dir, dat wir dat nachholen. Sobald ich kann.“
Bernd-Karl hatte sich in ihren Armen umgedreht und sein Gesicht in ihr Strubbelhaar versenkt.
„Ich weiß“, hatte er dumpf geantwortet. „Manchmal wünschte ich mir nur, du wärest Lehrerin oder Beamtin oder so … irgendetwas, von dem ich weiß, dass es verlässlich ist, sodass ich mich darauf einstellen kann, wann du bei mir bist und wann nicht.“
„Ich bin Beamtin“, hatte sie ihn lachend erinnert und den Kopf gehoben, sodass er ihr in die Augen hatte blicken müssen. „Schon vergessen?“
Da hatte auch ihr Ehemann schmunzeln müssen. Langsam hatte er den Kopf geschüttelt.
„Nein, natürlich nicht. Du weißt schon, was ich meine!“
„Un‘ du weißt, dat dat nun mal meine Arbeit is‘. Ich komme so schnell zurück, wie ich kann.“
„Pass auf dich auf“, hatte er nur gesagt und sie sanft geküsst. Das war ein Ritual zwischen ihnen. Wenn sie zu einem neuen Fall gerufen wurde, sagte er immer: „Pass auf dich auf.“
Als sie nun von ihrer Marianne durch die purzelnden Schneeflocken hindurch in Richtung Innenstadt geschaukelt wurde, hatte sich auf ihren Lippen ein leichtes Lächeln ausgebreitet, als sie an diese kleine Szene zurückdachte. Sie wusste, dass sie sich auf die Loyalität ihres Mannes verlassen konnte. Immer. Unweigerlich musste sie an vergangenen Herbst denken. Da war dieses Wissen tatsächlich ins Schwanken geraten, denn Bernd-Karl war auf eine Weise in den Fall, der maßgeblich ihre liebste und engste Kollegin Grifo betroffen hatte, involviert, die Williamson nicht tolerieren konnte. Da hatte es tatsächlich eine kleine Ehekrise gegeben, die erst durch eine dramatische Wendung des Falles und eine daraufhin folgende klärende Aussprache aus der Welt geschafft werden konnte. So weit wollte es Williamson nie wieder kommen lassen. Und Bernd-Karl auch nicht, das wusste sie.
„Denn schließlich is‘ die Familie dat Wichtigste, nit, Mariannchen?“, versicherte sich Williamson gerade bei ihrem Auto, als die Höhner durch das Innere des Wagens dröhnten.
„Ich ben ene Räuber, leev Marielche, ben ne Räub…“
Williamson nahm das Gespräch an und bellte in den Hörer: „Ja!“
Es war wieder Grifo.
„Chefin, es ist am besten, du kommst zum Hintereingang. Ich hole dich da ab.“ Dann erklärte sie ihrer Vorgesetzten, wie sie fahren musste.
„Warum denn zum Hintereingang?“, fragte Williamson ihre Oberkommissarin. „Et is‘ doch wohl kein Geheimnis, dat ich komme, oder nit?“
„Es ist wegen der Zuschauer“, erklärte Grifo. „Es ist wirklich besser, wenn du zum Hintereingang kommst.“
„Wieso wegen der Zuschauer? Wat soll dat denn heißen?“, hakte die Hauptkommissarin nach.
„Warte nur ab, bis du es selbst erlebst“, konterte Grifo, und bevor Williamson noch einmal nachfragen konnte, legte sie auf.
„Wat soll denn dat?“, brummte die kleine Polizistin ungehalten, befolgte aber die Anweisungen von Grifo und fuhr so, wie es ihr ihre Oberkommissarin beschrieben hatte. Sicher war nun einmal sicher.
Elena Grifo erwartete sie bereits am Hintereingang, als sie vorfuhr. Auch einige uniformierte Kollegen tummelten sich dort und befragten das Personal des Eventsaales. Das schloss Williamson daraus, dass die zumeist jungen Leute in schwarze Hosen und weiße Hemden oder Blusen gekleidet waren. Diejenigen, die auf oder an der Hintertreppe standen, schienen entsetzlich zu frieren. Williamson konnte es ihnen nicht verdenken und kuschelte sich umso tiefer in ihren nagelneuen Steppmantel, den ihr ihre Töchter zu Weihnachten geschenkt hatten, damit sie „endlich einmal etwas Schickes“ hatte, das zugleich warmhielt, wie sie betonten.
Eine junge Polizistin war sogleich an ihrer Seite. Ihr weizenblonder Pferdeschwanz wippte dynamisch bei jeder ihrer Bewegungen. „Frau Hauptkommissarin, geben Sie mir den Schlüssel, ich fahre das Auto auf den Innenhof!“, rief sie Williamson zu. Diese war wie immer von der Energie der jungen Frau beeindruckt. Deren Namen hatte sie nicht parat, ebenfalls wie immer.
„Ja, danke, Frau … äh … Dings, dat is’ nett. Aber passen Sie jut auf meine Marian… mein Auto auf, dat is‘ mir heilig, kapiert!“, wies sie die Kollegin an. Sie gab ihr Auto nur ungern aus der Hand, aber in diesem Fall war sie ganz dankbar, denn sie hätte nicht gewusst, wohin damit.
„Ihrer Marianne wird nichts geschehen, ich verspreche es!“, versicherte ihr die Polizistin und ließ sich in den Sitz fallen, bevor die Hauptkommissarin etwas entgegnen konnte. Williamson sah ihr stirnrunzelnd nach. Woher wusste die Frau nur, dass sie ihr Auto Marianne nannte?
Bevor sie länger darüber nachdenken konnte, kam Elena Grifo auf sie zu.
„Du hast es geschafft, super!“, begrüßte sie sie überschwänglich. Fast glaubte Williamson, Elena würde sie in die Arme nehmen, aber dann ließ sie es, weil dies in der Öffentlichkeit dann doch des Guten ein wenig zu viel gewesen wäre. Der letzte Fall hatte sie sehr nahegebracht und ihre Beziehung verändert, vor allem, weil Williamson Grifo gestanden hatte, dass sie sie als ihre dritte Tochter betrachtete. Das bedeutete beiden viel, und beide wussten das.
Williamson musterte ihre Oberkommissarin genauer. Diese trug einen schmal geschnittenen schwarzen Hosenanzug, darunter einen Rollkragenpulli, der über und über mit Pailletten bestickt war. Ihre langen braunen Haare hatte sie zu einem kunstvollen Knoten hochgebunden. Ihre schlichte Eleganz beeindruckte die Hauptkommissarin immer wieder aufs Neue.
„Schick“, kommentierte sie und deutete auf das Outfit von Elena. „Du hattest wohl auch wat anderes vor, als hier zu stehen un‘ zu frieren, wat?“
„Kann man wohl sagen“, nickte Grifo und lächelte leicht. „Wobei das Frieren daher kommt, dass ich auf dich gewartet habe. Claire und ich waren in der Oper, als ich die Nachricht bekam.“
„Wat haben die denn gespielt?“, fragte Williamson nach und lächelte. Sie mochte Elenas Freundin Claire sehr gern.
„Aida. Wir waren gerade mittendrin, als mein Handy klingelte.“
„Ah“, machte Williamson. Sie mochte Opern nicht besonders, aber wat soll et? Die Menschen waren eben verschieden. „Da hatten wir beide wohl wat Schönes vor, oder nit?“
Elena nickte und verzog die Lippen. Verschwörerisch beugte sie sich zu ihrer Vorgesetzten hinunter und flüsterte ihr zu: „Ehrlich gesagt, mag ich die Oper gar nicht so gern, aber Claire findet sie einfach toll. Was tut man nicht alles für die Liebe?“
Williamson nickte und musste lachen.
„Dat kann man wohl sagen. Aber meinetwegen brauchst du nit so zu flüstern, ich sage et keinem weiter, vor allem nit Claire.“
Inzwischen hatten sie den Eingang erreicht, der in einen schmalen Korridor führte. Auch hier waren uniformierte Polizisten damit beschäftigt, das Personal des Eventsaales zu befragen. Da kam ein großer, massiger Mann auf sie zu, der in einer Jeans, einem wollenen Pullover und einer Lederjacke steckte, das spärliche Haar sorgsam um seine Glatze gekämmt.
„Da bist du ja, Wilhelmine“, schnaufte er und wischte sich mit einem großen Taschentuch über die Stirn, die vor Schweiß glänzte. „Hier ist der Teufel los!“
„Ganz ruhig, Sascha, so schlimm kann et doch nit sein“, versuchte Williamson ihren zweiten Oberkommissar, Sascha Cohen, zu beruhigen.
„Doch, noch viel schlimmer! Du hast ja keine Vorstellung“, widersprach der im Kommissariat aufgrund der Namensähnlichkeit mit dem Schauspieler Sacha Baron Cohen „Baron“ genannte Kommissar brüsk. Die Ähnlichkeit erschöpfte sich allerdings im Namen, Williamson wurde nie müde, sich dies immer wieder vor Augen zu führen.
„Die mache ich mir ja jetz‘!“, raunzte sie zurück und besah sich Cohen näher. Sein Gesicht war rot wie das einer Tomate, und er wirkte sehr aufgeregt.
„Alles in Ordnung mit dir, Sascha?“, erkundigte sie sich. So aufgelöst hatte sie den Baron nur selten erlebt. Vielleicht beim Doppelmord in Kleuthen oder aber als Elena verschwunden war und vielleicht noch, als er seine Chefin vor einer Mörderin hatte retten müssen, aber sonst?
„Darts, Chefin!“ Glückselig verzog Sascha Cohen die Lippen. „Dass ich einmal die Stars der Branche persönlich treffen darf! Ich fasse es nicht!“
„Reiß dich zusammen!“, herrschte Williamson ihren Mitarbeiter an. „Hier is‘ schließlich ein Mensch gestorben, da erbitte ich mir ein wenig mehr Respekt!“
Auch wenn sie und Cohen sich durch die Ereignisse im letzten Herbst sehr viel nähergekommen waren, brachte der Baron sie hin und wieder immer noch auf die Palme. Jetzt war wieder so ein Moment.
Doch der Oberkommissar hörte sie schon nicht mehr. Er hatte sich auf dem Absatz umgedreht, was bei ihm wie ein Brummkreisel aussah, und war davongestürmt in Richtung der großen Halle, wie Williamson vermutete.
Ratlos wandte sich die kleine Kommissarin an Grifo, die still danebengestanden und vor sich hingelächelt hatte.
„Wat hat er denn? Er is‘ noch seltsamer als ohnehin schon.“
Wieder nahm Grifo sie beim Arm und schob sie in Richtung der Tür, durch die Cohen verschwunden war.
„Er ist ein absoluter Darts-Fan und dementsprechend aus dem Häuschen, weil hier viele Spieler der Top Ten versammelt sind.“
„Der Top Ten?“, echote Williamson ratlos. „Ich dachte, dat gibt et nur beim Tennis.“
„Du wirst dich wundern!“, antwortete Grifo geheimnisvoll und stieß die Tür zum großen Saal auf, der eher einer riesigen Halle glich.
Abrupt blieb Williamson stehen und riss vor Überraschung die Augen auf. Sie kamen seitlich von der Bühne, die links von ihnen lag und sehr lang und, wie sich die Hauptkommissarin mit einem schnellen Blick versicherte, auch sehr tief war. Scheinwerfer tauchten sie in ein diffuses Licht und heizten die Luft auf, die von Bierdunst und Würstchenduft erfüllt war. Eine Mischung, gegen die niemand ankam, und das bei mindestens fünfunddreißig Grad Lufttemperatur. Unwillkürlich strich sich die Kommissarin über die Stirn, weil ihr sofort der Schweiß ausbrach. Vor der Bühne war ein Sichtschutz errichtet worden, um das Geschehen, das auf ihr stattfand, vor dem Publikum zu verbergen.
Das war überhaupt das Schärfste – das Publikum. Williamson starrte in Tausende von Augenpaaren, die sie regungslos und zugleich erwartungsvoll anstarrten. Die Zuschauer saßen an langen Biertischen, auf denen sich Plastikbecher mit alkoholischen Getränken tummelten, und waren wie erstarrt. Viele von ihnen waren verkleidet, wie im Kölner Karneval. Auf die Schnelle sah Williamson Bananen, Harry Potters, Seemänner und -frauen, Pippi Langstrumpfs und vieles, das sie nicht erkannte, das aber sicherlich eine tiefere Bedeutung hatte, die sich ihr nicht erschloss. Einige schwankten auf ihren Bierbänken bedenklich und äußerten in verwaschener Sprache ihren Unmut, dass sie nicht gehen konnten. Das hatte einen einfachen Grund: Uniformierte Kolleginnen und Kollegen waren dabei, die Personalien aufzunehmen. Erst dann konnten die Leute die Halle verlassen. Das dauerte bei den vielen Menschen natürlich. Williamson ahnte, dass es sonst nicht so ruhig zuging. Von den Fernsehübertragungen wusste sie, dass das Publikum grölte, sang, schunkelte und tanzte – und das bei einer immensen Lautstärke. Wenn sie einen Blick auf den Bildschirm riskierte, war sie erstaunt, wie gut sich die Spieler bei dem Lärm konzentrieren konnten. Genau so eine Veranstaltung war wohl auch hier heute Abend geplant gewesen. Nur dass nun ein Todesfall dazwischengekommen war. Nun wirkten die Verkleidungen lächerlich, ein wenig ramponiert und fehl am Platz. Statt Feiern war Frust angesagt.
Als sie sich umwandte, um die Treppe zur Bühne zu erklimmen, grölte ein Cowboy mit rotem Gesicht, Schnurrbart und einem Stoffpferd, das vor ihm in die Höhe stieg: „Hey! Wann können wir denn hier raus? Das ist Freiheitsber… also Freiheitsberie… berauschung ist das, jawoll!“
Beifall heischend sah er sich um. Seine Kameraden, alle als Kühe verkleidet, stimmten ihm kreischend zu und klopften ihm auf die Schulter.
Williamson musterte den Cowboy von oben bis unten. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass seine Beine in den Hinterbeinen des Pferdes steckten und der Rest des Oberkörpers aus dem Pferd herausragte.
„Freiheitsberaubung is‘ dat, wat Sie mit Ihrem Körper machen, wenn Sie den in so’n Dings“, sie wedelte mit ihrer rechten Hand herum und deutete die Konturen des Kostüms an, „stecken. Un‘ geschmacklos noch dazu. Dafür können Sie uns nit verantwortlich machen! Un‘ wenn Sie schon keinen Respekt vor der Polizei haben, sollten Sie ihn wenigstens vor dem Tod haben!“
Damit fuhr sie mit ihrer ganzen wohlbeleibten Würde herum und stapfte die Treppe hinauf. Sie hätte den Kerl mit seinem eigenen verdampten Lasso erwürgen können!
Sie hörte die Kuh-Kameraden hinter sich grölen.
„Dem hast du es aber gegeben, Wilhelmine!“, flüsterte ihr Cohen zu. „Der ist vor Schreck von der Bank gefallen!“
„Jut so! Wat is‘ hier überhaupt los? Der reinste Wahnsinn!“
„Das kann man wohl sagen!“, stöhnte der Baron und wischte sich mit einem großen Taschentuch über das Gesicht. „Die Leute sind zum größten Teil angetrunken, und das macht sie aggressiv. Nicht einfach für die Kollegen.“ Er machte eine kleine Pause, und dann strahlte er. „Aber die Spieler zu treffen, ist echt cool!“
„Reiß dich zusammen, Sascha!“, zischte Williamson zurück. „Wir sind hier wegen eines Mordfalls, Herrjott noch mal. Einer deiner geliebten Stars is‘ mausetot, soviel ich weiß!“
Cohen versuchte, eine bedröppelte Miene aufzusetzen, aber es gelang ihm nicht so ganz. Wat soll et, dachte die Hauptkommissarin. Sollte er doch seinen Spaß haben, verbieten konnte sie es ihm nicht, es nützte ja nichts.
Inzwischen waren sie bei einer kleinen Gruppe von Menschen angekommen, die sich ziemlich mittig vor der Dartscheibe befand, vor der eine rechteckige Erhöhung, die sich farblich vom Rest der Bühne unterschied, angebracht war. Genau auf dieser kleinen Erhöhung lag das Opfer auf dem Rücken, alle viere von sich gestreckt. Auf seinem Gesicht hatte sich nicht nur ein Ausdruck des Erstaunens, sondern auch der … ja, der seligen Erlösung breitgemacht. Williamson war selbst erstaunt darüber, dass ihr dieser Begriff in den Sinn kam. Es schien fast, als ob er zu den Scheinwerfern emporblickte und … lächelte. Sie war erstaunt, wie jung er war. Seine Gesichtszüge waren weich und pausbäckig, ein kleiner Flaum zeichnete sich über der Oberlippe und am Kiefer ab. Die Kommissarin hatte immer gedacht, dass die Dartspieler schon etwas gesetzter wären, sowohl vom Alter als auch vom Aussehen her. Aber dieser Spieler hier, der Williamson vollkommen unbekannt war, war höchstens Mitte zwanzig gewesen, wenn auch genauso füllig wie viele andere Stars der Szene.
Neben dem Toten kniete ein schlaksiger junger Mann, der sich gerade mit dem Unterarm die verschwitzten blonden Locken aus der Stirn strich. Als er die kleine Kölnerin bemerkte, richtete er sich schnell auf.
„Frau Kommissarin“, begrüßte er sie mit einem kleinen Lächeln, wurde dann aber sofort wieder ernst. „Was für eine Knaller-Party hier!“
Williamson berührte ihn leicht am Arm. „Dat hätte et sein können, wenn da nit einer zusammengeklappt wäre, Michel. Wat kannst du mir auf die Schnelle sagen?“
Dr. Sven Michellsen, trotz seines jugendlichen Alters Leiter der Rechtsmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover, von der Kommissarin liebevoll „Michel“ genannt und ein großer Fan der kölschen Polizistin, runzelte die Stirn.
„Es wird Ihnen nicht gefallen, da ich fast gar nichts sagen kann. Der junge Mann ist mitten im Spiel einfach zusammengebrochen – tot. Das kann natürlich mehrere Gründe haben. Eine natürliche Ursache ebenso wie eine unnatürliche. Ungewöhnlich ist es für einen fünfundzwanzigjährigen Mann allemal, auch wenn er übergewichtig war. Wenn er zum Beispiel einen Herzfehler oder dergleichen hatte, der nicht erkannt worden war, dann kann der Tod eine natürliche Ursache haben. Auch ein Schlaganfall ist nicht auszuschließen oder ein allergischer Schock oder auch …“
„Jaja, Michel, dat is‘ mir klar“, unterbrach Williamson den Redeschwall des Rechtsmediziners. „Un‘ wenn sein Tod keine natürliche Ursache hat? Wat dann?“
Michellsens Blick schweifte von ihr zu Grifo, die, wie immer, ihr Notizbuch gezückt hatte und eifrig mitschrieb. Kurz trafen sich ihre Blicke, dann sah der junge Arzt weg und Williamson in die Augen. Die Kommissarin wusste, dass er Grifo sehr mochte und es für ihn schwer zu akzeptieren war, dass sie eine Lebensgefährtin hatte, mit der sie sehr glücklich war. Er versuchte sein Bestes, professionell damit umzugehen und eine emotionale Distanz aufzubauen. Manchmal bekam diese Fassade aber Risse. So wie eben.
„Das kann ich Ihnen im Moment nicht sagen, Frau Kommissarin. Er könnte natürlich vergiftet worden sein, wobei ich auf die Schnelle keine Einstichstellen oder dergleichen gefunden habe, aber das kann sich bei einer genauen Untersuchung noch ergeben. Das Gift könnte er natürlich auch mit Speisen oder Getränken zu sich genommen haben. Das wird sich zeigen, wenn ich ihn auf dem Tisch habe.“
„Brrr“, Williamson schüttelte sich. „Wann weißt du dat genau?“, fragte sie den Rechtsmediziner.
„Morgen definitiv, wenn ich mich beeile“, antwortete er und wischte sich wieder die blonden Locken aus der Stirn.
„Jut, dann weiß ich Bescheid. Dann kann ich die Spieler zumindest so lange auffordern, in Hannover zu bleiben.“ Williamson sah zu dem Toten hinüber, der gerade in einen Leichensack gepackt wurde. „Wer is‘ er eigentlich?“
Das war Grifos Stichwort. Sie blätterte in ihren Notizen, bis sie die richtige Stelle gefunden hatte.
„Sein Name war David Malcom Dunst, fünfundzwanzig Jahre alt, wie Sven schon gesagt hat. Er hatte eine englische Mutter und einen deutschen Vater und besaß sowohl die deutsche als auch die englische Staatsbürgerschaft, startete aber für Deutschland. Er galt als vielversprechendes, aufstrebendes Talent des deutschen und internationalen Darts. Auf The Fog hat die deutsche Darts-Szene gesetzt und gehofft, dass er es in die absolute Weltspitze schafft. In der erweiterten war er schon.“
„The Fog? Wat soll dat denn sein?“, unterbrach Williamson erstaunt. „Dat heißt doch ‚Nebel‘, oder nit?“
Grifo nickte. „Allerdings. Jeder Spieler hat einen Spitznamen. Seiner leitete sich von seinem Nachnamen her. Diese sogenannten Nicknames beziehen sich auf die Persönlichkeit des Spielers oder Gegebenheiten, die ihnen passiert sind – oder sie werden einfach per Zufall an den Spieler vergeben. Das ist ganz unterschiedlich.“
Williamson schüttelte so heftig den Kopf, dass die Strubbelhaare flogen. „Dat is‘ mir eindeutig zu bunt hier, im wahrsten Sinne des Wortes.“
„Eine ganz eigene Welt“, pflichtete Grifo ihr bei. „Laut, trashig und total verrückt.“
Eine kleine, zierliche Frau mit kurz geschnittenem braunem Haar, das ihre feinen Gesichtszüge perfekt umrahmte, trat zu ihnen.
„Jedenfalls brauchen wir uns über den Todeszeitpunkt keine Sorgen zu machen“, meinte Alina Walter, die Leiterin der Kriminaltechnik, trocken. „Den wissen wir genau. Schließlich ist er vor Tausenden von Leuten umgekippt und war nach Aussagen des Gegners und des Callers sofort tot.“
Ungläubig starrte Williamson ihre Kollegin an. Caller? Was war das nun wieder? Ihr schwante, dass es nicht leicht sein würde, sich in diesem Mikrokosmos zurechtzufinden.
Der reinste Wahnsinn!
Kapitel 4
„Caller?“, fragte die kleine Kommissarin zurück. „Wat is‘ dat jetz‘ wieder?“
„So nennt man die Leute, die die Punktzahl ausrufen, die die Spieler geworfen haben. Sie achten auch darauf, dass alles mit rechten Dingen zugeht“, mischte sich Cohen ein. Er kannte sich offensichtlich bestens aus. „Sie sind eine Art Schiedsrichter.“
„Aha“, machte Williamson und schaute sich demonstrativ um. „Sag mal, Sascha, gibt et in dem ‚Sport‘“, sie betonte das Wort ganz besonders, „eigentlich auch Frauen?“
Sie hatte mit einer verneinenden Antwort gerechnet, aber zu ihrem Erstaunen nickte ihr Oberkommissar eifrig.
„Oh ja!“, bejahte er und strahlte über das ganze Gesicht. „Und ob! Es ist sogar eine Spitzenspielerin hier! Sie heißt Shannon O’Braga und wartet, genau wie die anderen Spieler, hinter der Bühne. Außerdem sind einige Schreiber weiblich, also eher gesagt Schreiberinnen.“
„Wat sind denn nun wieder Schreiberinnen?“, fragte seine Vorgesetzte zurück, winkte dann aber ab, als Cohen den Mund aufmachte und zu einer längeren Erklärung ansetzte.
„Nein, halt, erklär et mir später, et bleibt mir ja wohl nit erspart. Kümmern wir uns erst mal um den Toten.“
Genau vor dem standen sie.
„Eigentlich kann ich im Moment nicht viel mehr sagen“, nahm Sven Michellsen den Faden wieder auf. „Ich brauche ihn wie gesagt erst auf dem Tisch.“
„Jaja, schon jut“, winkte Williamson ab und beobachtete, wie sich Alina Walter an einem kleinen, runden Tisch zu schaffen machte, der am rechten Bühnenrand stand. Auf ihm befanden sich ein Glas Wasser, ein Krug, ebenfalls mit Wasser gefüllt, eine kleine, geöffnete Tasche, aus der einige Dartpfeile und Zubehör hervorlugten, sowie ein großes Tuch. Die Kriminaltechnikerin und einer ihrer Mitarbeiter, in weiße Schutzanzüge gehüllt, sicherten diese Utensilien. Die Kriminalkommissarin sah, dass am linken Bühnenrand noch ein Tisch stand, der genauso aussah, ebenfalls bestückt mit Wasser und Glas. Nur das kleine Darttäschchen sah ein wenig anders aus.
„Jeder Spieler hat einen eigenen Tisch, auf dem Wasser zur Verfügung steht“, erklärte Cohen, der ihrem Blick gefolgt war. „Sie können dort auch ihr Ersatzequipment ablegen, das sind die Dartsets, die du hier siehst.“
„Verstehe“, brummelte Williamson, obwohl sie nichts verstand. In diese Welt musste sie sich erst einmal „hineinfriemeln“, wie sie das in solchen Fällen bezeichnete.
Dann fiel ihr etwas ein. Sie hob den Kopf.
„Wann war denn der genaue Todeszeitpunkt?“, fragte sie, an Alina Walter gewandt. „Sie haben gesagt, dat er vor Tausenden von Leuten umgekippt is‘. Wann war dat denn genau?“
Die Kriminaltechnikerin hielt in ihrer Arbeit inne. „Genau um 20:47 Uhr.“
„Dann wissen wir dat wenigstens“, brummte Williamson wieder. Ein leichter Schwindel hatte sie erfasst, was vermutlich an der schlechten Luft, den vielen Eindrücken und dem Toten lag. „Dat Wasser muss genau untersucht werden. Un‘ auch dat vom Gegner. Wenn Michels Verdacht stimmt, dann könnte Gift so in den Körper vom Nebel …“ „Dunst“, warf Cohen ein. „Äh, ja, danke, Sascha, also so in den Körper vom Dunst gelangt sein.“
„Klar“, kommentierte Alina Walter knapp. Natürlich war ihr dieser Gedanke auch schon gekommen, mutmaßte Williamson, und sie fühlte sich nun in ihrer Kriminaltechnikerin-Ehre verletzt, weil die Kommissarin genau das aussprach, was sie selbst vermutete.
„Apropos Gegner“, nahm Williamson den Faden wieder auf, „den müssen wir als Erstes befragen. Dafür brauchen wir einen Raum, wo wir Ruhe haben. Keiner der Spieler, der Verantwortlichen, der Veranstalter, dat Servicepersonal un‘ überhaupt nix un‘ niemand verschwindet hier, klar?“
„Klar“, riefen Cohen und Grifo wie aus einem Munde aus. Es fehlte nur noch, dass sie salutierten. Williamson sah das Grinsen von Michellsen und Alina Walter nicht, die sich vielsagende Blicke zuwarfen. Keiner konnte behaupten, dass die aus Köln stammende Kommissarin ihre Truppe nicht im Griff hatte. Und das tat auch niemand.
„Ich habe schon einen Raum geordert“, sagte Grifo und deutete mit einer Handbewegung hinter die Bühne. „Dort können wir uns in Ruhe aufhalten und die Gespräche führen. Das Servicepersonal wird von unseren uniformierten Kollegen befragt, ebenso das Publikum.“
„Ein ganz schöner Aufwand“, stöhnte Cohen.
„Der aber sein muss“, betonte Grifo. „Nütz‘ ja nix.“ Damit zwinkerte sie ihrer Vorgesetzten zu.
„Dat is‘ mein Spruch, such dir wat Eigenes!“, beschwerte sich diese und drohte Elena spielerisch mit dem Finger.
In diesem Moment wurde die Leiche von David Malcom Dunst von der Bühne getragen. Die Hauptkommissarin sah den Trägern und dem Leichensack einen Moment hinterher. So ein junges Leben, das viel zu früh geendet hatte! Kurz musste sie an ihre Töchter denken, die ihre ganze Zukunft noch vor sich hatten. Sie hoffte innig, dass sie ein langes und erfülltes Leben führen durften. Williamson verdrängte den Gedanken und straffte sich. Melancholie konnte sie sich im Moment nicht erlauben.
„Also los, dann wollen wir mal, nütz‘ ja nix.“
Grifo führte sie und Cohen von der Bühne herunter und um diese herum in einen nur den Spielern und Verantwortlichen zugänglichen Bereich. An der Tür zu den Eingeweiden der Location wurden sie von zwei Männern aufgehalten, die dort wie zwei Zerberusse den Durchgang bewachten. Groß, breitschultrig und muskelbepackt standen sie links und rechts des Ausgangs mit stoischer Miene und stellten sich, als Williamson und ihre Oberkommissare anrückten, direkt vor die Tür.
„Hier kommt keiner durch!“, sagte der ältere von beiden, ein Kahlkopf mit platter Boxernase überflüssigerweise. Es war die Aufgabe der Sicherheitsleute, die Stars der Szene zu beschützen, und genau das taten sie.
„Wir schon!“, entgegnete die Hauptkommissarin energisch und hielt der Plattnase ihre ID-Karte genau unter diese. Kleine stechende Augen musterten erst sie, dann die Karte und zu guter Letzt ihre Mitarbeiter, die ebenfalls ihre Ausweise gezückt hatten.
„Bitte entschuldigen Sie, das konnten wir ja nicht wissen“, murmelte der Kahlkopf betont höflich und bedeutete seinem Kollegen, dass er Platz machen sollte. Er selbst trat ebenfalls einen Schritt zur Seite.
„Macht ja nix, deshalb sage ich et ja“, antwortete Williamson ebenfalls betont höflich und marschierte, Grifo und Cohen im Schlepptau, an den beiden Riesen vorbei in einen dämmrigen Korridor. Sofort hatte sie das Gefühl, als ob die Temperatur um zehn Grad gefallen wäre. Der Schweiß, der sich auf ihrer Stirn ob der Hitze auf der Bühne gebildet hatte, schien zu gefrieren. Sie fröstelte und drehte sich zu ihren beiden Oberkommissaren um.
„Hier gibt et anscheinend eine jut funktionierende Klimaanlage“, stellte sie trocken fest. Grifo und Cohen nickten stumm.
„Es ist gleich der Raum hier links, Chefin“, erklärte Grifo und drängte sich neben Williamson. „Den habe ich für die Befragungen reservieren lassen.“
„Jut, Elena, dann haben wir ja die Ruhe, uns die Herren un‘ die Dame intensiv vorzuknöpfen.“ In der kleinen Kommissarin machte sich eine vibrierende Energie breit, die sie immer dann spürte, wenn sie an einem neuen Fall arbeitete und selbst tätig werden konnte. „Mal sehen, wat die Herrschaften zu sagen haben!“
Sie stürmte in den kleinen Raum und – prallte zurück. Die Kommissarin hatte erwartet, dass das Zimmer leer wäre und sie und ihre Kollegen sich erst einmal auf die Befragung vorbereiten konnten. Stattdessen saßen dort zwei Männer an mehreren kleineren Tischen, die zu einem großen zusammengestellt worden waren. In der Mitte des Ensembles standen Plastikbecher und Wasserflaschen. Unwillkürlich musste Williamson daran denken, dass diese Flaschen hoffentlich nicht vergiftet waren. Aus irgendeinem Grund hatte sich bei ihr festgesetzt, dass das Wasser von Dunst, das für ihn auf der Bühne bereitgestanden hatte, kontaminiert worden war.
Die beiden Männer starrten sie an und sahen dabei aus wie ein Gemälde oder eine Fotografie. Der eine war ein großer, massiger Kerl mit vollem Haar und Pausbäckchen, der andere war klein, drahtig und kahlköpfig. Was beide vereinte, war ein genervter Gesichtsausdruck, der aber noch etwas anderes beinhaltete: eine Spur von Angst.
„Hoppala, wer sind denn Sie?“, entfuhr es der Kommissarin, als sie sich ein wenig gefangen hatte. Sie spürte, wie Cohen hinter ihr unruhig wurde und sich zu ihr hinunterbeugte.
„Chefin, das sind …“, begann er, wurde aber von dem korpulenten Mann mit dem dichten Haar unterbrochen.
„Theodor Hügel“, stellte er sich kurzatmig vor. „Ich bin der Geschäftsführer der europäischen GUD. An diesem Wochenende habe ich hier auch die Moderation übernommen. Das …“, er ruckte mit dem Kinn in Richtung des kleinen Mannes, „… ist Hannes Rieder. Er ist …“
„Ich bin der Geschäftsführer des Catch 42“, unterbrach der schmale Mann Theodor Hügel. Seine Stimme kiekste vor Aufregung und wanderte während des Sprechens eine Oktave nach oben. „Schrecklich, was passiert ist, schrecklich. Wissen Sie schon, was genau vorgefallen ist?“
„Natürlich wissen wir, wat passiert ist, Herr Rieder! Ein junger Mann is‘ auf Ihrer Bühne vor Tausenden von betrunkenen Leuten umgekippt, un‘ is mausetot. Dat is‘ passiert!“ Als Rieder sie fassungslos anstarrte, unschlüssig, ob sie es ernst meinte oder nicht, fügte sie hinzu: „Ja, wat glauben Sie denn? Dat wir den Fall innerhalb von einer halben Stunde gelöst haben? Nee“, Williamson schüttelte so heftig den Kopf, dass die Strubbelhaare flogen, „dat is‘ nit der Fall, denn zaubern können wir nun mal nit!“
„Jaja, natürlich, das ist … klar, bitte entschuldigen Sie!“ Er fuhr sich mit zwei Fingern zwischen Hemdkragen und Hals, eine nervöse Geste. „Es ist nur so, wir sind alle geschockt. Das sollte ein unterhaltsamer und für das deutsche und internationale Darts erfolgreicher Abend werden. Eine Exhibition mit so vielen Stars, und das kurz nach der WM – das hat es in Hannover in der Form noch nicht gegeben!“ Konsterniert ließ er sich in seinen Stuhl zurückfallen und schlug die Hände vors Gesicht. „Stattdessen fällt einer der besten deutschen Spieler mitten im Match tot um. Das ist eine Katastrophe!“, fügte er dumpf hinzu. Theodor Hügel nickte bekräftigend mit dem Kopf.
„So ist es, Frau Kommissarin. Wir wollten mit dieser Veranstaltung Darts in Deutschland noch weiter nach vorne bringen. Es ist eine aufstrebende Sportart, müssen Sie wissen, da ist noch viel Potenzial, das herausgekitzelt werden kann.“
Williamson sah von einem der Männer zum anderen.
„Verstehe“, sagte sie knapp. Eigentlich verstand sie nichts. Angefangen davon, Darts als Sportart zu bezeichnen, über sein angebliches Potenzial, das herausgekitzelt werden müsste, bis hin zur kultischen Verehrung der Stars und den merkwürdigen Verkleidungen des Publikums. Aber wat soll et? Da musste sie jetzt durch. Sie schnappte sich einen Stuhl und setzte sich zu den Männern an den Tisch. Grifo und Cohen taten es ihr nach. Beide hatten ihre Notizbücher gezückt, die sie auf akkurate Weise führten, ganz im Gegensatz zu Williamson selbst.
„Also jut“, nahm sie den Faden wieder auf und sah Theodor Hügel in die kleinen dunkelbraunen Augen, die zwar tief in den Höhlen lagen, aber vor wacher Intelligenz blitzten. „Eigentlich wollten wir die Spieler un‘ die Spielerin befragen, die hier antreten, aber wenn Sie schon mal hier sind, dann fangen wir mit Ihnen an. Vor allem können Sie mir als Darts-Laiin ein paar Begriffe un‘ Zusammenhänge erklären. Zuallererst: Wat sind Exhibitions, un‘ wat is‘ die GUD?“
„Eine Darts-Exhibition ist im Gegensatz zu den regulären Wettkämpfen wie einer Weltmeisterschaft oder einem anderen Major-Turnier eine Art Showwettkampf“, erklärte Hügel und legte die Hände übereinander auf den Tisch. Er war jetzt in seinem Element, das drückte sich allein schon in der Körperhaltung aus, die auf einmal ganz entspannt wirkte. „Das heißt, dass Stars der Szene zu einem Event eingeladen werden und gegen lokale Spieler antreten, wie hier in diesem Fall gegen Dunst und den zweiten deutschen Spieler Kurt Anselm. Die Fans haben dann auch die Gelegenheit, ganz nah an die Spieler heranzukommen, mit ihnen Fotos zu machen, es werden Autogramme gegeben, und meistens gibt es noch ein Showprogramm.“
„Das Tolle an diesen Exhibitions ist, dass die Fans nicht nur nah an die Spieler herankommen können, was bei den großen Majors oder GUD-Europe-Turnieren schwerer möglich ist“, mischte sich Hannes Rieder kurzatmig ein, „sondern auch, dass sie dann Würfe machen, die man bei den Turnieren fast gar nicht sieht. Da wird ein Rest von 150 auch schon mal mit dreimal Bull gespielt.“ Seine Stimme überschlug sich fast. Bei Williamson war das anders. Da überschlugen sich ihre Gedanken in ihrem Kopf. Major? GUD-Europe-Turnier? Rest von 150 über dreimal Bull? Hätten die beiden Chinesisch gesprochen, es hätte für sie keinen Unterschied gemacht. Cohen, der ihren ratlosen Blick wahrgenommen hatte, beugte sich nach vorn. Mit einem Seitenblick auf die beiden Männer erklärte er: „Die Major-Turniere sind die höchstdotierten Turniere der GUD und zählen für die Rangliste. Das höchstdotierte Turnier ist natürlich die WM. Zudem gibt es eine Turnierreihe auf dem europäischen Festland, die ebenfalls für die Rangliste zählt, die sogenannten GUD-Europe-Turniere. Und Auschecken über dreimal Bull – also das, Chefin, ist ganz hohe Schule.“
Williamson hörte ihm gebannt zu. Es war offensichtlich, dass sich Cohen nicht nur auskannte, sondern die Spieler auch bewunderte.
„Du musst wissen, dass der Ausgangswert bei jedem Durchgang, den man hier ‚Leg‘ nennt, 501 Punkte ist, die so schnell wie möglich genau auf 0 heruntergespielt werden müssen. Jeder Spieler hat im Wechsel drei Würfe, dann kommt wieder der andere dran. Abzuschließen ist ein Leg mit einem sogenannten Doppel. Dabei muss man den äußersten Ring auf dem Dartboard treffen, der doppelt zählt. Also beispielsweise bei 40 Punkten Rest die Doppel-Zwanzig ganz oben auf dem Board, aber auch das Bulls Eye, also der kleine Punkt in der Mitte, ist ein Doppel. Es zählt 50 Punkte. Bei 150 Punkten Rest spielt man aber normalerweise nicht dreimal Bull, weil der Punkt viel kleiner ist als ein Doppel- oder Triple-Feld.“
„Triple-Feld?“, warf Williamson dazwischen. „Wat is‘ dat schon wieder?“
„Die Triple werden von dem inneren Ring auf dem Board gebildet“, mischte sich Hügel ein. „So ist zum Beispiel unter dem Doppel-Feld der Zwanzig ein großes Feld mit einer einfachen Zwanzig, dann kommt das deutlich kleinere Triple-Feld der Zwanzig, das zählt dreifach, also 60 Punkte, dann kommt wieder ein größeres einfaches Feld, das entsprechend wieder 20 Punkte zählt.“
„Aha“, machte die Kommissarin. Ihr schwirrte der Kopf nur noch mehr. „Un‘ dat Bulls Eye? Zählt dat nit mehr?“
„Nein“, Hügel schüttelte den Kopf. „Es zählt wie gesagt nur 50 Punkte. Das Triple-20-Feld ist mit 60 Punkten das ergiebigste auf der Scheibe.“
„Dat lerne ich nie!“, stöhnte Williamson und fuhr sich durch die Strubbelhaare, die danach nur noch mehr nach allen Seiten abstanden.
„Ich auch nicht“, fügte Grifo tonlos hinzu.
„So schwer ist das gar nicht“, beschwichtigte Cohen seine Kolleginnen. „Wenn man ein paarmal Darts geguckt hat, hat man die meisten Regeln drauf.“
„Aber wie macht man denn dann 150 Punkte Rest auf 0?“, fragte Williamson fast gegen ihren Willen. Es interessierte sie zu ihrem eigenen Erstaunen wirklich.
„Da gibt es mehrere Möglichkeiten“, erklärte Cohen und richtete sich auf. „Zum Beispiel mit Triple 20, wieder Triple 20 und am Ende Doppel 15 oder Triple 20, Triple 18 und am Ende Doppel 18 oder auch Triple 19, Triple 19 und am Ende wieder Doppel 18.“
Williamson versuchte nachzurechnen, gab es dann aber auf. Hügel sah unterdessen den Oberkommissar an.
„Sie kennen sich gut aus“, sagte er anerkennend.
Cohen wurde rot. „Wie gesagt, ich bin ein großer Fan.“
„Haben Sie einen Lieblingsspieler?“, fragte Hügel weiter und lächelte.
Bevor der Baron antworten konnte, fuhr die Hauptkommissarin dazwischen.
„Ich will die Fachsimpelei der Herren nit stören, aber wir haben hier einen Toten. Deshalb sind wir hier!“ Den letzten Satz hatte sie an Cohen gewandt gesprochen, der darauf schuldbewusst den Kopf einzog.
„Bevor wir aber zu dem jungen Mann kommen, der jetz‘ auf dem Weg in die Rechtsmedizin is“, Williamson hatte diesen Satz bewusst so ausgesprochen, „kommen wir noch mal zu Ihrer Funktion. Sie organisieren also die Turniere auf dem Festland und auch diese Exhi… Dings.“
„Exhibitions“, half Hügel aus. Seine Stimme klang freundlich, aber die kleine Polizistin machte sich keine Illusionen darüber, dass er ein knallharter Geschäftsmann und mit allen Wassern gewaschen war. „So ist es, Frau Kommissarin. In Hannover sind wir allerdings zum ersten Mal.“
„Wir haben uns so darüber gefreut, dass zu unserem Event so viele Superstars gekommen sind“, fuhr der kleine Rieder dazwischen und rang die Hände. „Und dann das!“ Seine Stimme machte große Kiekser vor Aufregung.
„Dat tut mir wirklich leid, Herr Rieder“, flötete Williamson, während sich Grifo und Cohen vielsagend anschauten. Sie wussten, was jetzt kam, denn sie kannten ihre Chefin. Und so kam es auch. Die Hauptkommissarin schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Aber Herrjott noch mal, haben Sie mal an die Angehörigen von dem jungen Mann gedacht? An seine Eltern zum Beispiel? Wat die durchmachen müssen?“ Ihre Stimme war immer lauter geworden und hatte einen bedrohlichen Unterton angenommen.
Hannes Rieder zog den Kopf zwischen die Schultern und wurde noch kleiner in seinem Stuhl. Unruhig rutschte er hin und her.
„Sie haben recht, Frau Kommissarin.“ Dann sah er auf. „Und dennoch. Wir verlieren eine Menge Geld, vom Renommeeverlust gar nicht zu sprechen.“ Er war mutig, das musste man ihm lassen.
„Dat darf doch nit wahr sein!“ Das Magma stand kurz vor dem Ausbruch.
„Äh, Chefin, vielleicht kann uns Herr Hügel noch etwas über die GUD erzählen“, versuchte Grifo ihre Vorgesetzte abzulenken.
„Gern.“ Der Geschäftsführer lehnte sich zurück, verschränkte die Hände und wippte mit dem Stuhl. Er war jetzt ganz in seinem Element.
„Die GUD wurde Mitte der 90er-Jahre gegründet“, hob er an. „Den Anstoß gaben die Spieler selbst.“
„Wat meinen Sie damit?“, fuhr Williamson dazwischen.
„Na ja“, der GUD-Chef zuckte mit den Schultern, „damals hatte Darts einen schlechten Ruf. Es gab Alkohol und Zigaretten auf der Bühne, die Spieler waren nicht selten angetrunken und gingen sogar manchmal aufeinander los – oder auf die Zuschauer.“
„Dat muss ja ein noch größeres Spektakel als jetz‘ gewesen sein“, kommentierte die kleine Kommissarin sarkastisch, was Cohen einen Schnaufer entlockte.
„Das kann man wohl sagen!“, bekräftigte Hügel und nickte dazu mit dem Kopf. „Das sorgte dafür, dass sich immer mehr Sponsoren zurückzogen. Darts hatte einfach einen schlechten Ruf, und niemand wollte einen Sport sponsern, der negativ beleumdet war. Das führte dazu, dass die damaligen Topspieler eine Professionalisierung anstrebten, nicht nur was das Verhalten der eigenen Zunft betraf, sondern auch in Bezug auf das Marketing, das sowohl die Vermarktung der Spieler selbst als auch die Turniere betraf, und natürlich in Bezug auf die Gewinne. So wurde die GUD gegründet – die Global Union of Darts. Sie wird wie ein Unternehmen geführt, nicht wie ein Kaninchenzüchterverein um die Ecke.“
„Aha“, machte Williamson. Sie nahm sich eine Wasserflasche vom Tisch und schenkte sich einen Becher voll ein. Die Luft war verdamp trocken in Niedersachsen!
„Heute ist die GUD die wichtigste Darts-Organisation, alle anderen kleineren sind quasi verschwunden“, fuhr Hügel fort, nicht ohne Stolz in der Stimme, wie die Hauptkommissarin bemerkte. „Alle großen Spieler sind in dieser Organisation vertreten, was dazu geführt hat, dass das Niveau extrem gestiegen ist und immer weiter steigt, weil es mehr Spitzenspieler gibt – und auch Spielerinnen, die inzwischen ihre eigenen Turniere austragen und auch bei gemischten Turnieren vertreten sind.“
„Wie hier“, fiel ihm die Hauptkommissarin ins Wort.
„Wie hier“, nickte Hügel, „wobei das hier ja eine Exhibition ist, also kein richtiges Turnier, sondern eher eine große Show.“
Williamson wischte den letzten Satz mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite. „Jaja, dat haben Sie ja schon erklärt. Aber mal wat anderes …“ Sie beugte sich vor und sah dem Unternehmer in die Augen. „Sie sprechen immer von Sport, aber wenn ich mir die Herrschaften – die Frau kenne ich nit – im Fernsehen anschaue, dann sehen die ja nit gerade sportlich aus.“
„Nicht schon wieder das Thema“, murmelte Cohen und verdrehte theatralisch die Augen. Das brachte ihm einen Fußtritt von Grifo ein.
Williamson fuhr herum und sah ihn an. Ihre Augen sprühten Funken.
„Doch schon wieder ‚dat Thema‘, Sascha. Wie kann dat ein Sport sein?“
Cohen antwortete nicht, sondern rieb sich mit hochrotem Kopf das Schienbein.
„Das ist ein Vorurteil, werte Frau Kommissarin“, riss Hügel die Unterhaltung wieder an sich. Die kleine Polizistin öffnete den Mund zu einer scharfen Entgegnung, doch der Geschäftsmann fuhr ungerührt fort: „Der Trend geht dahin, dass es immer mehr durchtrainierte Dartspieler gibt. Das liegt daran, dass es immer mehr Turniere gibt, die ganz schön kräftezehrend sind. Manchmal gehen sie über ein Wochenende, manchmal über eine Woche oder mehr. Hinzu kommt die Darts Champions League, die über rund zehn Wochen einmal in der Woche gespielt wird. Der Tourkalender wird immer voller.“ Er zog den Kopf zwischen die Schultern. „Es ist halt ein Geschäft“, fügte er fast entschuldigend hinzu. „Allein dadurch gewinnen Themen wie Fitness und gesunde Ernährung an Bedeutung. Die übergewichtigen Spieler gehören bald der Vergangenheit an, das ist sicher, denn sie brauchen eine gute Kondition, um das alles zu bewältigen und ihre Konzentration trotzdem hochzuhalten. Ganz abgesehen davon, dass es auf den Bühnen meist sehr heiß ist, wie Sie vielleicht auch hier bemerkt haben werden.“
Das entlockte Williamson ein bekräftigendes Nicken. Hügel war aber noch nicht fertig.
„Hinzu kommt, dass es sich um einen Präzisionssport handelt, der enorme mentale Kraft und Fokus erfordert. Haben Sie schon einmal vor einem Dartboard gestanden?“
„Der Abstand zur Scheibe beträgt genau 2,37 Meter“, fuhr Cohen eifrig dazwischen, während er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht immer noch sein Bein rieb, „und das Bulls Eye hängt auf einer Höhe von 1,73 Meter. Das ist eine ganz schöne Herausforderung, die Felder zu treffen, die getroffen werden müssen und die immer kleiner werden und zu verschwimmen scheinen, wenn man davorsteht …“ Sein Blick verlor sich in der Ferne, doch dann fokussierten sich seine großen blauen Augen wieder auf seine Vorgesetzte. „Es ist so, Chefin. Ich hab’s mehr als einmal versucht.“