Todesschweigen - Claire Askew - E-Book

Todesschweigen E-Book

Claire Askew

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Beschreibung

In Edinburgh ist Detective Helen Birch auf dem Weg zu ihrer neuen Dienststelle, als sie zu einem Einsatz gerufen wird, der sie zutiefst erschüttert: ein Amoklauf am Three Rivers College. Der junge Ryan Summers hat dreizehn Studentinnen erschossen, dann die Waffe gegen sich selbst gerichtet. Was bleibt, ist die quälende Frage nach dem Warum. Während sich die Medien mit Spekulationen überschlagen, führen ihre Ermittlungen Helen Birch zu Ryans Mutter Moira sowie zu den verzweifelten Angehörigen der Opfer. Doch beide Seiten verbergen Geheimnisse, und die Wahrheit scheint Helen immer mehr zu entgleiten …

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Buch

In Edinburgh ist Detective Helen Birch auf dem Weg zu ihrer neuen Dienststelle, als sie zu einem Einsatz gerufen wird, der sie zutiefst erschüttert: ein Amoklauf am Three Rivers College. Der junge Ryan Summers hat dreizehn Studentinnen erschossen, dann die Waffe gegen sich selbst gerichtet. Was bleibt, ist die quälende Frage nach dem Warum. Während sich die Medien mit Spekulationen überschlagen, führen ihre Ermittlungen Helen Birch zu Ryans Mutter Moira sowie zu den verzweifelten Angehörigen der Opfer, unter ihnen Ishbel Hodgekiss, die Mutter der toten Abigail. Doch beide Seiten verbergen Geheimnisse, und die Wahrheit scheint Helen immer mehr zu entgleiten …

Autorin

Claire Askew studierte an der University of Edinburgh Kreatives Schreiben und arbeitet neben der Schriftstellerei im Bildungsbereich. Sie wurde u. a. mit dem New Writers Award des Scottish Book Trust ausgezeichnet und für ihren Debütroman »Todesschweigen« mit dem Lucy Cavendish Prize. Claire Askew lebt in Edinburgh.

Claire Askew

Todesschweigen

Kriminalroman

Aus dem Englischenvon Michael Benthack

Die englische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »All the Hidden Truths« bei Hodder & Stoughton, an Hachette UK company, London. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2018 Copyright © Claire Askew 2018 Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: Bianca van der Werf / Trevillion Images Redaktion: Susanne BartelKS · Herstellung: kw Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-22926-9V001 www.goldmann-verlag.de Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für alle Studierenden, mit denen ich am Edinburgh College zusammengearbeitet habe. Ihr habt mich viel mehr gelehrt als ich euch.

Der Tag davor

13. Mai, 12:30 Uhr

Das Gesicht in die Sonne gestreckt wie eine Katze, saß Moira Summers auf dem Oberdeck des Dreiundzwanziger-Busses – es war der erste richtigwarme Tag im Jahr. Sie spürte, wie der Bus ruckelte, als er sich den Mound hinaufquälte. Den Blick aus dem Dreiundzwanziger hatte sie immer schon besonders gemocht: rechts das Castle, schwarz und aus Stein gehauen, wobei es schien, als würde es aus den ausschlagenden Bäumen in den Princes Street Gardens emporwachsen. Links die New Town mit ihrem klug angelegten Straßennetz. Im Sonnenschein sahen das Kaufhaus Jenners und das Balmoral Hotel aus wie vergoldete Pralinenschachteln, und das Scott Monument wirkte wie aus einem Modellbaukasten zusammengesetzt. Alles unwirklich.

Widerwillig drückte Moira die Klingel, erhob sich von ihrem Sitz, ging den Mittelgang entlang, kletterte im schaukelnden Bus die Treppenstufen hinunter und stieg an der National Library of Scotland aus. Die doppelflügelige Eingangstür des Bibliotheksgebäudes wurde von einer Gruppe Schulkinder belagert. Moira war angespannt. Sie war hergekommen, um in der Bibliothek in Ruhe für ihr Open-University-Examen zu lernen. Doch schon bei dem Gedanken, an einem so schönen Tag im dunklen, bedrückenden Lesesaal zu sitzen, machte sich ein düsteres Gefühl in ihr breit. Und wenn auch noch eine ganze Schulklasse im Lesesaal herumlief, würde sie so gut wie nichts schaffen.

»Stellt euch zu zweit auf!« Die junge blonde Lehrerin stand oben an der Eingangstreppe. »Zu zweit, zu zweit!«, rief sie den Teenagern zu, die sie nicht beachteten. Die Schülerinnen und Schüler waren um die dreizehn Jahre alt; allerdings konnte Moira in letzter Zeit das Alter von Kindern immer schlechter schätzen. Sie hielt sie stets für jünger – ihr eigener Sohn, Ryan, war zwanzig, und obwohl er wie ein Mann aussah, war er in ihren Augen zehn. Höchstens. War die Zeit so schnell vergangen?

»Zu zweit!«, rief die Lehrerin wieder. Auch sie sah jung aus. Moira dachte an ihren Ehemann, Jackie: Er war Lehrer gewesen, als sie sich zum ersten Mal begegneten. Jahrzehntelang hatte er Kinder in diesem Alter in Sport unterrichtet, und sie malte sich aus, dass er dabei ähnlich geklungen hatte wie die Lehrerin. Sie versuchte, ihn sich vorzustellen: den jungen Mann, der er gewesen war, als sie sich kennenlernten – aber vergebens. Es ist noch nicht so lange her, dachte sie. Ich will ihn noch nicht verlieren.

Moira blinzelte die aufsteigenden Tränen weg, und da wurde ihr plötzlich bewusst, dass die junge blonde Lehrerin über sie redete. Sie zeigte – einen schweren türkisfarbenen Ring an einem Finger ihrer Hand – die Treppe hinunter auf Moira. »Kinder, die Frau will in die Bibliothek.«

Moira schrak zusammen. »O nein, nicht doch!«, rief sie über die Köpfe der Kinder hinweg. Dann lachte sie – denn es stimmte ja. Sie wollte nicht. Immerhin stellten die Kids sich auf eine Seite der Treppe.

Moira zauderte. Der Ring an der Hand der Lehrerin sah aus wie diese bunten, zuckersüßen Dauerlutscher, nach denen Ryan im Eckladen gebettelt hatte, damals, als er wirklich zehn gewesen war. Die Kinder vor ihr schienen keine Ähnlichkeit mit ihm zu haben – auch nicht mit den Kindern, mit denen er zur Schule gegangen war. Vor allem die älteren wirkten heutzutage viel tougher, irgendwie schlauer. Die Mädchen, die auf den Stufen vor ihr warteten, trugen alle die gleichen schwarzen, elastischen Leggings, die kurzen Röcke darüber saßen so eng, dass Moira sehen konnte, welches Mädchen Spitzen- und welches Feinrippunterwäsche trug. Sie kam sich gleichzeitig vor wie eine Voyeurin und prinzipienfeste Oma.

»Wir gehen jetzt rein!«, rief die Lehrerin über die Köpfe der durcheinanderredenden Kinder hinweg.

Die Jungen oben auf der Treppe aus falschem Marmor schubsten einander und drängelten. Moira sah, dass einer einen langsamen, kalkulierten Blick über die Schulter warf und dann mit seinem ganzen Gewicht einen kleineren Jungen, der auf der Stufe darunter stand, anrempelte. Der große Junge hielt sich am Geländer fest, damit er nicht fiel – aber sein Opfer verlor die Balance und stürzte auf die Steintreppe.

»Jason!« Die junge Lehrerin rief den Namen offenbar nicht zum ersten Mal. Moira zuckte zusammen und betrachtete den Jungen, der jetzt, alle viere von sich gestreckt, auf den Stufen lag. Noch so ein Jason, dachte sie. Die Schlimmen heißen immer Jason, hatte Jackie oft gesagt.

Moira wandte sich von der Treppe und der Bibliothek ab und ging rasch ein paar Schritte, bis sie das Gekicher der Mädchen mit den engen Röcken hinter sich gelassen hatte. Sie dachte an die Mutter des Jungen – daran, mit welcher Laune ihr Sohn später vermutlich nach Hause kommen würde: missmutig, stumm die Treppe hinaufstapfend, ohne sie anzusehen. Hatte auch diese Mutter aufgegeben, danach zu fragen, was mit ihm los war? Nahm auch sie mittlerweile an, dass dies der Mann war, zu dem ihr Sohn heranwachsen würde? Und vermutete auch sie, in Momenten schamloser Ehrlichkeit, dass ihr eigenes Verhalten daran schuld sein könnte?

Wieder blinzelte sich Moira das salzige Brennen aus den Augen: Hör auf damit. Immerhin war sie drauf und dran, das Lernen zu schwänzen, und es war so ein schöner Tag. Genieß ihn doch.

Auf der anderen Straßenseite sah sie einen Sandwich-Shop mit orangefarbener Fassade, kaum mehr als ein Raum, in dem zwei, drei Personen stehen konnten. Moira ging hinein und bestellte ein Sandwich mit Bacon, Salat, Tomaten und Mayo. Wie altmodisch, dachte sie, während sie in der Auslage die Sandwiches mit Quinoa, Hummus und Granatapfelkernen betrachtete. Den kleinen Imbiss in einer braunen Papiertüte, schlenderte sie dann hinauf zum Greyfriars Kirkyard.

Der Kirchhof war ein beliebter Picknickplatz: Büroangestellte in schicken Klamotten saßen allein oder zu zweit auf dem Rasen, einige hatten ihre Schuhe ausgezogen. Ein Grüppchen schoss Fotos vom Grab von Greyfriars Bobby und fügte Stöckchen zu dem bereits bestehenden kleinen Haufen von Stöckchen hinzu: Geschenke für das Hundegespenst. Moira wandte sich von der Kirche ab und ging auf dem gekiesten Weg weiter. Ihr Atem stockte. Vor ihr leuchtete ein schlanker, kräftiger Goldregen: Die strahlend gelben Blüten hingen so dicht, dass sich die Zweige anmutig hinabbogen. Unfassbar, dass niemand hier war, um dies zu fotografieren. Sie holte ihr Handy hervor und machte selbst ein paar Bilder. Sie wurden dem wirklichen Anblick des Baums nicht gerecht.

Mit ihrem Lunch in der Hand bückte sich Moira, setzte sich unter die Goldregenzweige ins Gras und lehnte sich an den Stamm. Kein sonderlich bequemer Platz, aber im Sonnenlicht, das durch die kanariengelben Blüten fiel, fühlte sie sich geschützt und geborgen. Als ob sie in ihrer eigenen Minikathedrale säße oder – Moira lächelte – in einer dieser Schneekugeln aus Plastik. Sie aß ihr Sandwich und blickte über den Kirchhof. Viele der Grabsteine waren verfallen, nachdem sie jahrhundertelang dem berühmten Edinburgher Horizontalregen getrotzt hatten. Einer war mit der Vorderseite auf das Grab gestürzt. Doch an weniger dem Wetter ausgesetzten Stellen waren immer noch ein paar filigran gemeißelte Wasserspeier, geflügelte und grinsende Totenschädel und Stundengläser zu sehen … und hin und wieder sogar ein Engel. Die reicheren Edinburgher Familien besaßen Mausoleen – halb im Gras versunkene gusseiserne Gitter schützten die unterirdischen Kammern, in die seit Jahren kein Sterblicher mehr einen Fuß gesetzt hatte.

Lautes Gelächter schallte über den Kirchhof. Moira hob den Kopf. Ein Junge, ungefähr in Ryans Alter, saß auf dem Dach eines der Mausoleen und ließ die Beine über dessen Eingang baumeln. Ihm gegenüber balancierte ein Mädchen mit hellen Haaren, den Rücken Moira zugekehrt, auf einem Grabstein. Sie hatte sich dem Jungen entgegengestreckt, um ihm etwas zu reichen, und es war auf den Gehweg gefallen. Die Stimmen der beiden hallten über den Friedhof: das Lachen zweier Menschen, die ziemlich betrunken waren, vielleicht auch high von irgendwelchen Drogen. Moira beobachtete, wie der Junge langsam von seinem Platz herunterkletterte; den vorsichtigen Schritten auf dem Kies nach zu urteilen, trug er keine Schuhe. Das Etwas, das er aufhob, war weiß, und er hielt es in beiden Händen wie ein Kätzchen. Eine Fish-and-Chips-Tüte. Er ging über den Weg, reichte die Tüte seiner Freundin und lehnte offenbar gleichzeitig deren Angebot zu teilen ab. Die beiden strahlten: erhellt vom Sonnenschein, umrahmt von den wehenden gelben Blütenzweigen und jung, so unfassbar jung. Der Junge blieb neben dem Grabstein stehen und massierte dem Mädchen die Füße, während sie aß. Selbst aus dieser Entfernung erkannte Moira, dass der Junge, abgesehen von den nackten Füßen, teuer und schick gekleidet war. Die Sonne spiegelte sich in seiner Brille. Die Flipflops, die das Mädchen abgestreift hatte, lagen im Gras nahe der Stelle, wo ihre Mahlzeit heruntergefallen war. Im Stillen dankte Moira ihren ruhigen Händen, die ihr Sandwich in der sauberen braunen Tüte festhielten.

Sie verließ den Kirchhof wie benommen; außerhalb des Kokons aus Goldregen wirkte alles zu grell. Sie wandte sich nach rechts und kam an Läden vorbei, deren Schaufenster für den Sommer dekoriert waren: Sonnenhüte, Schals aus Gaze, Zehensandalen mit bunten Strasssteinen. Ich gehe zur Arbeit, dachte Moira. Aber es war fast ein Jahr her, dass sie vorzeitig in Rente gegangen war – zwei Jahre, seit Jackie gestorben war und seine Lebensversicherung ihr das erlaubt hatte –, und sehr viel länger, seit sie hier gearbeitet hatte. Als sie um die Ecke bog, erinnerte am Royal Infirmary natürlich nichts mehr an das Gebäude, in dem sie als junge Krankenschwester fast täglich gewesen war. Hinter den ursprünglichen Krankenhausgebäuden aus Sandstein hatten Stadtentwickler und Architekten Häuserblocks errichtet, die aussahen, als wären sie komplett aus Glas. In den unteren Stockwerken hingen sieben Meter lange Jalousien vor den Fenstern, um vor neugierigen Blicken zu schützen. Die obersten Etagen dagegen schienen überhaupt keine Vorhänge oder Jalousien zu haben: Die Wohnungen glichen durchsichtigen Kisten – als wohnte man unter freiem Himmel. Moira seufzte. Sie war froh, dass ihr ehemaliger Arbeitsplatz sinnvoll genutzt wurde, jetzt, da das inzwischen hochmoderne Krankenhaus an den Stadtrand, nach Little France, umgezogen war. Sie wünschte sich nur, dass die Wohnungen etwas erschwinglicher wären: Vor einiger Zeit hatte eine kurze Internetrecherche ergeben, dass selbst ein Einzimmerapartment in den Neubauten schon eine Viertelmillion kostete.

Moira überquerte die Straße und trat in den fleckigen Schatten der Platanen am Rande der Meadows. Hier gab es kein Tor, dafür aber ein Sandsteinmonument, das den Eingang markierte: haushoch, mit einem steinernen Einhorn obendrauf. Moira nickte dem Einhorn zu, so wie sie es auf ihrem Weg vom und zum Krankenhaus immer getan hatte. Wieder dachte sie an Jackie – kleine Erinnerungen an ihn schienen ihr heute überall zu begegnen –, wie er im Schatten des Denkmals stand und wartete, dass sie von der Arbeit kam, damit sie ins Kino oder durch den Park zu der Eisdiele gehen konnten. Sie hatte seine hohe, drahtige Gestalt immer schon von Weitem erkannt, selbst am Abend, wenn ihm das orangefarbene Licht der Straßenlaternen schräg über die Schulter fiel und sein Gesicht im Halbdunkel lag. Und genau so sah sie ihn jetzt: halb verborgen hinter dem gefallenen Vorhang der Zeit. Sie war so achtsam gewesen – jede einzelne Erinnerung hatte sie zu bewahren versucht.

Ein wenig innerlich aufgewühlt ging sie den Hügel hinab und an der Ostseite des ehemaligen Krankenhausgeländes entlang durch den Park. Sie betrat einen kleinen, mit Steinplatten gepflasterten Innenhof mit Setzlingen in quadratischen Beeten und winklig aufgestellten, dunklen Marmorbänken. Moira erkannte den Ort wieder – und auch nicht. Viele der sogenannten modernen Gebäude, aus denen das Krankenhaus bestanden hatte, waren abgerissen oder entkernt worden: Nur die denkmalgeschützten Sandsteinfassaden hatte man stehen lassen. Sie setzte sich auf eine der harten Bänke und legte den Kopf in den Nacken – als wollte sie den aufziehenden Erinnerungen lauschen. Sie dachte an die Nachtschichten, die sie im Sommer gemacht hatte, wie sie mal wieder die Treppe hochlief, weil der Aufzug voll, kaputt oder einfach nur zu langsam war – und kurz auf dem Treppenabsatz stehen blieb. An den langen Sommerabenden fiel das letzte Tageslicht in den Park, und der Staub wirbelte die Treppe hinauf und herunter. Sie hatte die kleinen, stillen Augenblicke inmitten ihrer chaotischen Umgebung immer über die Maßen genossen. Inzwischen fragte sie sich, ob sie die Fähigkeit verloren hatte, so lebhaft wie damals als junge Frau zu empfinden: dass es vielleicht am Alter lag, wenn sie sich nicht mehr wirklich an Jackie erinnerte, nicht mehr für ihren Open-University-Kurs lernte oder Ryan danach fragte, weswegen er in letzter Zeit so launisch war. Selbst jetzt, als sie auf einer Bank in diesem hübschen Innenhof saß, an einem schönen Tag im Frühling, an dem es absolut nichts gab, was zu erledigen gewesen wäre, fühlte Moira sich nicht so ruhig und erfüllt wie damals, als sie während ihrer Schicht im Treppenhaus eine Pause gemacht hatte.

Irgendwo war ein Krankenwagen zu hören. Kurz dachte sie, dass das Geräusch aus ihrer Erinnerung stammte; Krankenwagensirenen hatten hier schließlich einen großen Teil der Hintergrundgeräusche ausgemacht. Vielleicht war es eine Art Geisterambulanz, ein Nachklang eines der Krankenwagen, die früher ständig hier, vor dem alten Gebäude, gehalten hatten. Aber nein – Moiras Verstand setzte wieder ein. Das Geräusch kam von irgendwo hinter ihr, vermutlich war der Rettungswagen an der Tollcross-Kreuzung aufgehalten worden und kam jetzt näher.

Die Sirene wurde lauter, bis es schien, als wäre das Fahrzeug fast direkt über ihr. Beinahe rechnete Moira damit, dass es mit quietschenden Reifen um die Ecke biegen und in den kleinen, geschützten Innenhof fahren würde. Jetzt hörte sie außer der Sirene auch den Motor – der Wagen konnte nur ein paar Meter entfernt sein. Als Krankenschwester hatte Moira erfahren, dass nichts die Aufmerksamkeit von Passanten so sehr weckte wie der Klang einer Sirene – dass es im Menschen etwas gab, das von Schreien, Blutspritzern und Tragödien angezogen wurde. Die Leute wollten sehen, wer hinten aus einem Krankenwagen herausgezogen wurde. Sie wollten, dass das Unglück jemand anderem geschah, denn wenn es jemand anderem geschah, passierte es nicht ihnen. Aber noch während ihr dieser Gedanke kam, stand Moira unvermittelt auf und ging Richtung Geräuschquelle.

Als sie um die Ecke bog, war die Sirene verstummt, und die Hecktür des Krankenwagens wurde gerade aufgerissen. Drei junge Männer in Warnwesten und mit Schutzhelmen schrien den Sanitätern etwas zu, ermahnten sie, sich zu beeilen, gestikulierten mit weit ausgebreiteten Armen. Die sehen alle so jung aus, dachte Moira. Sie blieb an der Ecke des Gebäudes stehen, im Vertrauen darauf, dass ihr Status als Frau in den mittleren Jahren verhindern würde, dass man sie entdeckte. Die Bauarbeiter trugen Werkzeuggürtel um die Taille, und während sie die Sanitäter mit der Rolltrage zur Baustelle dirigierten, klirrten ihre D-Ringe und Werkzeuge wie die Schlüssel einer Schlossherrin.

Ich sollte gehen, dachte Moira. Mehrere Passanten waren stehen geblieben, um zu gaffen, was irgendwie geschmacklos war, wie sie fand. Aber auch sie rührte sich nicht vom Fleck. Sie blickte hoch, vorbei am Bauzaun, der von den sichtbaren Teilen der Baustelle überragt wurde. Eine riesige Pfahlramme, hellgelb und merkwürdig galgenähnlich mit ihren Stützstreben. Ein gewaltiger Kranarm schwang durch die Luft, nur partiell sichtbar zwischen den Gebäuden. Teile des gitterähnlichen Hauptmastes waren zu sehen, mit der Leiter darin, die jetzt ein Mann langsam hinabstieg. Unübersehbar waren alle Arbeiten eingestellt worden. Der Kranführer wirkte winzig in der luftigen Höhe. Moira verspürte einen Kitzel der Angst: Es gab so viele Möglichkeiten, sich an einem Ort wie diesem schwer zu verletzen. Wollte sie wirklich sehen, wer in den Rettungswagen gebracht wurde?

Es war zu spät. Die Sanitäter kehrten in ihre Sichtweite zurück, zogen ratternd ihren Patienten auf der Trage hinter sich her. Moira hielt den Atem an. Auf ihr lag ein dunkelhaariger junger Mann – die gleiche Warnweste, der gleiche Werkzeuggürtel –, sein Oberkörper rechts oben durchbohrt von einer eisenfarbenen Stange.

»Ryan«, hörte sie sich sagen. Es war nicht so, dass der junge Mann Ähnlichkeit mit ihrem Sohn hatte, aber er war ungefähr im gleichen Alter und von ähnlicher Statur. Eine Sekunde lang überlagerten in ihrer Fantasie die Züge ihres Sohnes das Gesicht dieses Fremden, der die Zähne zusammenbiss. Obwohl ihm ein Anschlusseisen in der Schulter steckte, war er entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. Tapfer zu sein.

»Kennen Sie den jungen Mann?« Noch eine Schaulustige – eine junge Frau mit blonden Haaren, jung genug, um eine Schwesternschülerin zu sein – erschien neben Moira.

»Nein«, sagte Moira, unfähig, den Blick von der Rolltrage abzuwenden, »nein, ich dachte nur …«

Aber die junge Frau war bereits zum Rettungswagen gelaufen und winkte, um die Sanitäter auf sich aufmerksam zu machen. »Hey! Hier ist eine Frau, die den Mann kennt!«

Die beiden Männer schoben die Trage in den Wagen. Der hintere Mann, der sich noch nicht im Inneren befand, wandte sich um. Moira zuckte zusammen und eilte der jungen Frau hinterher, sodass sie beide gleichzeitig am Rettungswagen ankamen.

»Hören Sie, es tut mir leid.«

»Kennen Sie den Mann?«

Der Sanitäter wirkt erschöpft, aber das tun sie ja immer, dachte sie. »Nein.« Moira brachte es nicht fertig, ihm in die Augen zu sehen. Stattdessen beging sie den Fehler, ins Wageninnere zu blicken, wo der junge Mann – jetzt vor den Blicken der Arbeitskollegen geschützt – vor Schmerzen schnell und stoßweise atmete. »Sie irrt sich.« Moira fixierte die junge Frau – vielleicht allzu streng, denn sie wich hinter die offene Hecktür zurück, wo sie nicht mehr zu sehen war. »Ich … bin Krankenschwester.« Moira wurde rot. Als könnte diese Information die letzten dreißig Sekunden erklären.

Der Sanitäter hob den Blick himmelwärts. Moira wollte sich erneut bei ihm entschuldigen – sich immer und immer wieder entschuldigen –, aber sie fand einfach nicht die richtigen Worte.

»Okay, aber ich glaube, wir haben das hier im Griff. Bitte machen Sie den Weg frei. Sofort.« Er stieg in den Rettungswagen und knallte die Tür zu. Wieder heulte die Sirene auf, und Moira sprang zurück. Geschickt wendete der Fahrer, dann fuhr er in hohem Tempo davon, braunen Baustellenstaub aufwirbelnd.

Moira lauschte der Sirene, während sich das Geheul durch die Innenstadt bewegte. Um das niederschmetternde Gefühl der Scham abzuschütteln, versuchte sie sich die Route vorzustellen, die der Krankenwagen nahm, um den jungen Mann nach Little France zu transportieren. Sie horchte, während er um das andere Ende der Quartermile bog und dann die lange Strecke bis zum Lauriston Place fuhr, wo er noch mehr Geschwindigkeit aufnehmen konnte. Schließlich hörte sie nur noch, wie das Sirenengeheul allmählich leiser wurde, bis es gänzlich vom Verkehrslärm verschluckt wurde.

Sie blickte auf und sah, dass die drei Bauarbeiter zurückgekehrt waren und das Gleiche taten wie sie – sie standen reglos und still da, mit gereckten Köpfen, und lauschten. Moira stellte sich vor, wie sie wohl auf sie wirkte: mit ihrem mausgrauen Wash-and-go-Haar und den ausgeblichenen Jeans, die sie bereits getragen hatte, als sie mit Ryan schwanger war. Für die sehe ich bestimmt aus wie jemandes Mum. Jemandes Mum, jemandes Ehefrau. Nichts, was sie identifizierte, bis auf den Ehering, den ihr verstorbener Ehemann ihr geschenkt hatte. Moira verfluchte sich, weil sie in jenem entscheidenden Moment den Namen ihres Sohnes ausgesprochen und damit die Aufmerksamkeit der jungen Frau und dann der Sanitäter auf sich gelenkt hatte – weg von dem verletzten jungen Mann. Sie stellte sich dessen Mutter vor, die in diesem Moment vermutlich irgendwo im Büro saß – wie sie an einem Laptop arbeitete oder ein Meeting leitete. Diese Frau ahnte noch nicht, dass sie gleich einen schrecklichen Anruf bekommen würde. Dann erinnerte sich Moira an den Jungen von vorhin – den Teenager, der die harten Steinstufen runtergeschubst worden war. Sie richtete sich auf, schüttelte den Kopf, um den Rest ihrer Scham loszuwerden. Dann drehte sie sich um und ging denselben Weg zurück, den sie gekommen war, jetzt mit einem Ziel für den restlichen Tag: Ob es ihrem Sohn gefiel oder nicht, es war Zeit. Sie hatte es allzu lange aufgeschoben, aber damit war jetzt Schluss. Sie würde nach Hause gehen und mit ihm reden.

13. Mai, 16:55 Uhr

Als Helen Birch endlich am Gayfield Square eintraf, stand Banjo-Robin vor der Wache, als hätte er auf sie gewartet. Sie hatte gehofft, im Schatten der Bäume auf dem Platz vielleicht wie eine anonyme Fußgängerin zu wirken, doch im Näherkommen wurde ihr klar, dass er sie abgepasst hatte. Sie atmete tief ein und machte sich auf das verbale Sperrfeuer gefasst, das gleich einsetzen würde.

»Fang gar nicht erst an, Robin«, sagte sie, sobald sie in Hörweite war. »Ich arbeite nicht mehr hier, okay?« Am besten, sie ging gar nicht auf ihn ein.

»Seit wann denn das? Diesmal hast du mich echt gefickt. Hast mich echt total gefickt.«

Banjo-Robin war die lokale Nervensäge. Er war Anfang sechzig und hing mit etwa gleichaltrigen Folkmusikern ab, die sich, dem offiziellen Sprachgebrauch zufolge, in einer prekären Wohnsituation befanden. Diese Leute waren nicht obdachlos im eigentlichen Sinne – Robin hatte eine Freundin in jedem Postleitzahlbezirk und wohnte bei jeder, die er in der Woche noch nicht geschlagen hatte –, aber hatten keine feste Adresse. Wenn Robin ausnahmsweise mal nüchtern war, konnte er erstaunlich gut Banjo spielen. Das Problem war nur, dass er sein Hutgeld gerne durch den Verkauf verbotener Substanzen aufbesserte. Diese waren in aller Regel von zweifelhafter Qualität und winziger Menge, sodass er es bislang hatte vermeiden können, in den Knast zu kommen. Dafür war er ein regelmäßiger Besucher der Ausnüchterungszelle. Wenn ein Anruf über einen etwa sechzig Jahre alten Mann reinkam, der auf der Straße urinierte, verdächtig in der Nähe geparkter Autos herumlungerte oder in den frühen Morgenstunden irgendeiner Frau durch ein erleuchtetes Fenster vom Gehsteig aus Obszönitäten zurief, war es ziemlich wahrscheinlich, dass der herbeigerufene Streifenwagen von dem Einsatz mit Banjo-Robin auf dem Rücksitz zurückkehrte. Wenig überraschend, kannte dieser auf den Wachen Gayfield Square und St. Leonards sämtliche Beamte mit Namen. Im Moment nuschelte er irgendwas vor sich hin.

Birch trat auf ihn zu und hob eine Hand mit der Innenfläche nach vorn, als wollte sie den Verkehr anhalten. »Ich meine es ernst«, sagte sie. »Erzähl das nicht mir, ich arbeite nicht mehr hier. Wenn du mit jemandem reden willst, musst du mit reinkommen.«

Verärgert sagte er: »Drinnen war ich schon. Die Mistkerle wollen nichts für mich tun.« Er begann, seine Taschen abzutasten. Mit zitternden Händen holte er von irgendwo einen Tabakbeutel und Zigarettenpapier hervor.

»Geh ich recht in der Annahme«, sagte Birch, während Robin kleine Tabakkrümel zu einer dürren Zigarette drehte, »dass meine Kollegen dich gebeten haben zu gehen?«

»Nee.« Robin steckte seine dünne graue Zunge raus, um die lange Kante des Zigarettenpapiers anzulecken. »Na ja, ja, aber das ist doch nicht fair, oder? Ich meine, verdammt, ist so ein Verhalten überhaupt professionell?«

Birch rollte mit den Augen. »Okay. Aber wenn man sich da drin geweigert hat, dir zu helfen, und dich gebeten hat zu gehen, kann ich auch nichts mehr für dich tun. Geh jetzt nach Haus, Robin.«

»Sehen Sie, das ist ja das ganze Scheißproblem«, antwortete Robin. Er versuchte vergebens, seine Zigarette anzuzünden: Das Feuerzeug funkte und funkte und funkte. »Ich hab keine Bude. Bee hat mich rausgeschmissen, ohne echten Grund, und mir dann euch Bullen auf den Hals gehetzt.«

Birch schüttelte den Kopf. Vor Jahren hatte sie Bee, seine Freundin in Tollcross, ein paarmal getroffen und war bei Robins häuslichen Streitereien sogar dabei gewesen. Bee hatte auf sie einen freundlichen, sanften Eindruck gemacht. Sie hatte einen sympathischen Nordwestküsten-Akzent, hennagefärbte Haare und mehrere Katzen. Wieso sie sich dann und wann mit diesem Kerl abgab, war Birch ein Rätsel.

»Ich geh da jetzt rein«, sagte sie. »Und ich würde dir raten, mir nicht zu folgen.«

Endlich funktionierte das Feuerzeug. Als sie an ihm vorbeiging, brummte er irgendetwas Unverständliches.

»Viel Glück, Robin«, sagte sie. Komisch, dachte sie. Ich glaube fast, er wird mir fehlen.

Der Eingangsbereich war trotz der Neonleuchten schummrig. Die Polizeistation, ein niedriges, modernes Gebäude, stand zwischen Reihen hoher, alter Wohnhäuser. Wegen der großen Bäume auf dem Vorplatz waren die Räume dunkel. Das einzige natürliche Licht wurde von den auf der Straße geparkten Polizeiautos in Signalfarben reflektiert und fiel in hellen Rechtecken auf den Boden.

»Na, alles klar?«

Birch drehte sich um. »Hallo, Sergeant.«

Al Lonsdale kannte Birch länger als irgendjemand sonst. Er war einer der Revierbeamten, stand im Moment links von der Glastür des Eingangsbereichs und spähte von der Seite durch sie hindurch – wie ein Kind, das Verstecken spielt.

»Behalten Sie Banjo im Auge?«, fragte Birch.

Al nickte. »Ich möchte sicher sein, dass er seiner Wege geht, der Faulpelz.«

Birch lächelte. Al stammte aus Wakefield, aber obwohl er schon seit Jahrzehnten nicht mehr in jener Stadt lebte, hatte er den Akzent, den man dort sprach, noch nicht abgelegt.

»Wir haben ihn gestern Abend in seiner gewohnten Suite untergebracht«, fuhr Al fort. »Nur wegen des üblichen Blödsinns – er hatte wieder ganz schön getankt. Wir sollten ihm Treuepunkte geben, so oft, wie er bei uns ist.«

Al verließ den Türbereich, und als er an Birch vorbeiging, sah er ihr ins Gesicht und drehte dabei den Kopf wie ein neugieriger Vogel. »Geht’s Ihnen gut? Sie sehen ein bisschen … durcheinander aus.«

Birch lächelte und wollte schon etwas darauf erwidern, aber Al wartete nur selten eine Antwort ab.

»Natürlich«, sagte er, »sollte ich in Ihrem Beisein meinen Ton dementsprechend anpassen. Jetzt, wo Sie in höheren Kreisen verkehren, wäre die Anrede Ma’am wohl die richtige.«

Birch lachte. Bei Al klang das Wort ein wenig wie das Blöken eines Schafes. »Maa-am?«, ahmte sie ihn nach. »Bitte tun Sie’s nicht.«

Al grinste breit. »Also gut, Detective Inspector. Ich wollte mich nicht lustig machen.«

Er war im Begriff, hinter dem Empfangstresen zu verschwinden, aber Birch hielt ihn am Arm zurück. »Sie werden mir fehlen«, sagte sie. »So wie der alte Laden hier.«

Sie sahen einander an, während Birch immer noch seinen Ellbogen festhielt. Dann umarmte Al sie fest. Sie schniefte.

»Ist ja gut.« Seine Stimme in ihrem Haar klang gedämpft. »Nicht weinen, Kleine.«

Hinter ihm erblickte Birch die Kartons, die man auf ihren Wunsch hin heruntergetragen hatte.

»Das reicht jetzt.« Al löste sich von ihr. »Noch länger, und ich könnte wegen sexueller Belästigung belangt werden. Außerdem bin ich alt genug, um Ihr Vater zu sein.«

Birch lächelte und versuchte gleichzeitig, nicht in Tränen auszubrechen. »Nicht gerade politisch korrekt von Ihnen, Al.«

Er zuckte die Achseln. »Na ja, wissen Sie – diese ganzen Gleichstellungsgesetze, die ändern sich derart oft, dass wir Alten das gar nicht mehr mitkommen. Apropos – ich ruf mal ein paar kräftige Jungs, die Ihnen beim Tragen helfen.«

Birch grinste. »Geht schon. Mein Wagen steht nicht weit weg.«

Al trat hinter den Tresen. »Nehmen Sie mit, was Sie mitnehmen können. Im Präsidium, wo Sie arbeiten werden, weht ein anderer Wind. Da kümmert sich doch keiner um den andern.«

Birch schüttelte den Kopf. »Hey, Sergeant. Erstens: Das heißt nicht mehr Präsidium – wir sind jetzt alle gleich, schon vergessen? Und zweitens: Es ist okay. Die Leute da sind in Ordnung. Bislang waren sie sehr nett zu mir.«

Al nickte einmal kaum wahrnehmbar. »Aye, na ja, dann hoffe ich, dass das so bleibt. Ich möchte nicht vorbeikommen müssen, um mit Ihrem Chief Inspector ein Wörtchen zu reden.«

Einen Augenblick lang stellte sich Birch vor, wie Al ins Büro von DCI McLeod stürmte, entschlossen, ihre Ehre zu verteidigen. Sie lächelte, aber es war nur ein schwaches Lächeln. Denn Al hatte recht. Ihr neuer Arbeitsplatz war wirklich unpersönlich. Mist. Habe ich das Richtige getan?

Al hatte sich schon den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt. »Sie bleiben einfach hier stehen und sehen dekorativ aus«, sagte er zu Birch. »Und ich lass mal einen der hübschen jungen Constables runterkommen. Ist doch das Mindeste, was wir an Ihrem letzten Tag für Sie tun können.«

Die Kartons waren voll mit Dingen, die aussortiert werden mussten – seit Jahren hätten aussortiert werden müssen. Birch hatte es immer vor sich hergeschoben und die Kartons deshalb erst ganz zum Schluss gepackt. Die Rücksitze ihres Wagens hatte sie nach vorn geklappt, um hinten die Ladefläche zu vergrößern. Das letzte Band, das sie mit der Wache am Gayfield Square verband, war durchschnitten.

Al hatte einen Hausmeister aufgetrieben, der ihr beim Tragen half. Als der bedauernswerte Kerl den Fehler gemacht hatte, im Eingangsbereich aufzutauchen, hatte Al gerufen: »Das ist mein Mann!« Und hatte damit ganz richtiggelegen: Der Hausmeister besorgte einen alten Rollwagen, mit dem sich die Sache – auch wenn draußen auf dem Kopfsteinpflaster das Schieben etwas mühsam war – schnell erledigen ließ.

»Haben Sie irgendwas von dem jungen Mann gehört?«, fragte der Hausmeister, bevor er den nächsten Umzugskarton ins Auto wuchtete. »Von dem, der aufgespießt wurde?«

Birch stutzte.

»Aufgespießt?«

»Ja. Ich hatte den Polizeifunk im Büro an. Es heißt, der Junge habe auf einer Baustelle gearbeitet und sei drei Meter tief gestürzt. Direkt auf ein Anschlusseisen, das ihn durchbohrt hat.«

»Autsch«, sagte Birch. Und dann, nach einer Pause: »Was ist das, ein Anschlusseisen?«

»Eine Stange, die ungefähr so weit aus dem Fundament eines Gebäudes ragt.« Der Hausmeister zeigte die Länge mit der Hand an. »Ist ein bisschen gedreht. Wie eine altmodische Zuckerstange. Aber Sie sind wohl zu jung, um so was noch zu kennen.«

Birch war dafür zwar durchaus alt genug, hielt aber diesbezüglich den Mund. »Aha, so was also. Der arme Kerl …«

»Aye.« Der Hausmeister sah sie ein wenig misstrauisch an. »Überrascht mich, dass Sie davon nichts über Funk mitbekommen haben.«

»Ich war heute schwer erreichbar. Aber wahrscheinlich ist jemand von der Wache dort gewesen.« Sie nickte in Richtung Polizeistation. Ihr kam ein Gedanke. »Ist der junge Mann denn tot?«

Wieder hob der Hausmeister einen Karton vom Rollwagen auf die Ladefläche des Autos. »Noch nicht.«

Jetzt, auf der Fahrt nach Hause, hatte Birch keine Mühe, nicht allzu sehr über die Kartons nachzudenken – der aufgespießte junge Mann nahm in ihrer Vorstellung viel zu großen Raum ein.

Hoffentlich landet der Fall nicht auf meinem Schreibtisch. Wie ein Mantra kam der Satz immer wieder zurück. Klingt nach Albtraum.

Sie fragte sich, wie der junge Mann den Unfall wohl erlebt hatte. Eine schnelle Internetrecherche auf dem Handy vor dem Losfahren hatte ergeben, dass er erst zwanzig war. Im selben Alter wie mein Bruder, dachte sie, was jedoch nicht ganz stimmte. In ihrer Vorstellung war ihr Bruder Charlie ewig zwanzig. Tatsächlich würde er, wenn er noch am Leben wäre, in diesem Jahr seinen vierunddreißigsten Geburtstag feiern. Birch stellte sich den Mann von der Baustelle vor, auf dem Gerüst, hinter ihm ging es in die Tiefe, während er an irgendetwas arbeitete und seinen privaten, belanglosen Gedanken nachhing. In ihrer Fantasie war er attraktiv, so wie alle zwanzigjährigen Männer – auf diese schlaksige Art, die sie selber nicht bemerken. Sie malte sich aus, dass er Charlies Gesicht hatte. Und dann stellte sie sich vor, wie er stürzte. Rückwärts fiel, als wäre er gestoßen worden, mit weit aufgerissenen Augen, während seine Hände ins Nichts griffen. Wie lange dauerte es, drei Meter tief zu fallen? Vermutlich eine halbe Sekunde, wenn überhaupt. Kaum lang genug, um zu begreifen, was passierte. Ein Sturz, bei dem man mit einer beeindruckenden Schramme oder zwei davonkommen konnte. Aber nicht diesmal. Ihr fiel ein, dass sie gegenüber dem Hausmeister Autsch gesagt hatte. So unpassend.

Auf dem Leith Walk herrschte dichter Verkehr. Birch fuhr an den polnischen Läden und den Handyshops vorbei, an der Bio-Doughnut-Bäckerei und dem Lebensmittelgeschäft der Sikhs. An einer besonders lange auf Rot stehenden Ampel bewunderte sie die in allen Regenbogenfarben schillernden Saris hinter dem Panzerglasfenster einer kleinen Boutique. Sie versuchte, die Gedanken an den verunglückten jungen Mann zu verdrängen, und dachte dann doch wieder an Charlie. Er war nun schon so lange fort. Wie kann jemand in der heutigen Zeit einfach spurlos verschwinden? Die Frage war ihr so vertraut, dass sie mit keinerlei Gefühl verbunden war – außer der nervigen Verärgerung darüber, keine Antwort darauf zu haben. Seit dreizehn Jahren lebte Charlie im Hintergrund ihres Bewusstseins, und dorthin verbannte sie ihn auch jetzt wieder, das Gesicht des Einundzwanzigjährigen, wie ein altes, leicht vergilbtes Foto.

War der Verkehr an sonnigen Tagen immer so dicht? Eigentlich unlogisch – die Leute sollten doch eher Lust haben spazieren zu gehen, wenn das Wetter schön war. Vielleicht kam Birch die Straße aber auch nur deshalb so voll vor, weil sie unbedingt nach Hause und die Schuhe ausziehen wollte. Zu dieser Tageszeit ähnelten die Salamander Street und die Seafield Road Parkplätzen, ganz egal, wo man auf ihnen unterwegs war. Birch zuckelte im Schritttempo am Friedhof vorbei und beobachtete dabei die Fahrradfahrer, die durch den stehenden Verkehr kurvten. Der Geruch nach heißem Fett aus einem McDonald’s-Drive-in vermischte sich mit dem süßlichen der Verwesung der Seafielder Kläranlage und dem der Hunderte von Motoren im Leerlauf, die ihre Abgase hinter sich pusteten. Edinburgh, wie es die Touristen nicht zu Gesicht bekommen, dachte Birch und verfluchte die vermaledeite Ampelschaltung, die seit Jahren niemand in Ordnung gebracht hatte. Doch schon bald hatte sie die Kreuzungen hinter sich gelassen und konnte in den vierten Gang hochschalten, während das Meer – blau wie aus einem Reisekatalog – zwischen den Gebäuden hindurchschimmerte.

Ein Geheimnis, von dem Birch nie jemandem erzählt hatte: Sie hatte schon immer an der Promenade von Portobello wohnen wollen. Seit ihrer Kindheit, als sie mit ihrem kleinen Bruder für Eselritte und Eiscreme dort gewesen war, sehnte sie sich danach, in einem der Häuschen mit Blick aufs Meer zu Hause zu sein. Der Traum war zu einem Plan und dann – erst vor zwei Monaten – Wirklichkeit geworden. Ein Mittelreihenhaus in Joppa, am Ende des Strands, war auf den Markt gekommen, zu einem vernünftigen Preis wegen seines renovierungsbedürftigen Zustands. Birch war dort am Tag ihrer Beförderung zum Detective Inspector eingezogen. Die meisten Sachen befanden sich noch in Kartons. Und während sie die Portobello High Street entlangfuhr, geriet sie wieder in diese Hochstimmung, die sich noch immer nicht gelegt hatte. Ich fahr nach Hause.

Sie parkte halb auf dem Gehsteig. Zu Birchs neuem Domizil gehörte in einer schmalen, kopfsteingepflasterten Straße auf der Rückseite zwar auch eine Garage, aber die war noch voll mit den Sachen des Vorbesitzers. Der alte Mann, der in dem Haus gewohnt hatte, war verstorben, und obwohl seine Kinder sich bereit erklärt hatten, aus London zu kommen, um das Haus leer zu räumen, waren sie vor der baufälligen Garage zurückgeschreckt, die fast bis zum Dach mit Kisten vollgestopft war. Und ehrlich gesagt war auch Birch davor zurückgewichen – sie wusste immer noch nicht, was sich in den Boxen befand. Sie redete sich ein, dass in der Garage noch genügend Platz für ihre Kartons wäre, die sie gerade vom Gayfield Square abgeholt hatte – sie konnten warten bis zu irgendeinem Wochenende, an dem sie Zeit hätte, alles durchzusehen. Ja, dachte sie, so mache ich das, obwohl sie bereits jetzt ahnte, dass das nicht passieren würde.

Sie ging um das Haus herum zum China Express – ein preiswerter Imbiss, der anstelle des einstigen Cafés am Ende der Promenade eröffnet hatte. Zu ihrer Rechten war das Wasser zurückgewichen. Ebbe. Kinder, winzig wie Käfer aus dieser Entfernung, sprangen in den Wellen herum und bespritzten sich. Fahrräder flitzten die Straße rauf und runter, und überall waren Hunde: Hunde, die stolz Treibholz im Maul trugen, und Hunde, die aus dem Wasser preschten und einen feinen, salzigen Sprühnebel auf die Passanten schüttelten. Links von ihr erstreckte sich die gepflegte Reihe der Vorgärten, die die Promenadenbewohner in Schuss hielten. In einigen Gärten saßen Nachbarn auf Campingstühlen im Schatten, Radiomusik dudelte leise in der warmen Luft. Birch grüßte und winkte. Ihr Garten war der einzige ungepflegte in der Reihe.

Die kleine Pforte aus Holz musste gestrichen werden, an der Seite des Weges aus Backsteinen wucherten zwei Stockrosen und streckten ihre fast drei Meter hohen Blütentürme in die Höhe. Der Garten war früher einmal hübsch gewesen: Bei den Pflanzen handelte es sich nicht um vom Wind gesätes Unkraut, sondern um verholzte und verwilderte Versionen ihres früheren, gepflegten Selbst. Birch widerstrebte es, sie auszureißen. Der Garten war nicht ansehnlich, aber alt, und sie fand, das sollte respektiert werden. Außerdem roch es in ihm wunderbar. Grund war eine hellgelbe Rose, deren Ranken schon längst über das Spalier hinauswucherten. Um das Wohnzimmerfenster wuchs eine Heckenkirsche, die im Begriff war aufzublühen. Das Blattwerk war so dick, dass Birchs Arm, hätte sie ihn denn hineingesteckt, ellbogentief darin versunken wäre, ehe ihre Finger die Hausmauer berührt hätten.

Bevor sie die Tür aufschloss, stellte sie sich mit dem Rücken zum Haus und sah sich um. Von hier war die Erhebung des North Berwick Law zu sehen, dort, wo die Grafschaft East Lothian sich in den Firth of Forth hineinwölbte. Am Horizont zogen riesige Frachter langsam durch ihre Fahrrinnen. Dahinter lag Fife, ein graugrüner, in der Abenddämmerung von stecknadelgroßen Lichtern erhellter Flecken.

Eine mit einem knallrosa Hemd bekleidete Frau ging an Birch vorbei, ein dicklicher, alter, schokobrauner Labrador trottete schwerfällig neben ihr her. »Wunderschöner Abend!« Die Frau hob eine Hand zum Gruß und neigte sie dann in Richtung Birch. »Irgendwas in Ihrem Garten riecht ganz wunderbar.«

Birch grinste.

»Die Rosen!«, rief sie von der Tür aus zurück. »Sie genießen die Sonne.«

Die Frau war nicht stehen geblieben, sondern hinter den Stockrosen verschwunden – ein rosafarbener Hintergrund zwischen den Blättern – und erwiderte: »Möge die Sonne noch lange scheinen. Bis dann!«

Den Hausschlüssel in der Hand, drehte sich Birch lächelnd um.

Sie hatte den verunglückten Jungen ganz vergessen. Erst als sie es sich für den Abend bequem gemacht hatte, fiel er ihr wieder ein. Sie hatte ihre Schuhe weggekickt, ihre Yogahose angezogen und eine Flasche Wein geöffnet. Das Haus war nach Osten ausgerichtet, und nachdem sie beschlossen hatte, dass ihr ein bisschen Sonne guttun würde, ging sie in den Hintergarten, wo die Wärme des Tages noch spürbar war. Das einzige Stück Garten, das Birch bis jetzt gerodet hatte, war der hintere Teil: nur wenige Steinplatten breit, aber groß genug für eine Gartenbank, die, wie alles hier, schon bessere Zeiten gesehen hatte. Birch hatte einen kleinen Ikea-Tisch aus dem Haus geholt und dazugestellt. Sie hatte für ihn nur fünfzehn Pfund bezahlt, weshalb ein paar kleine Regenschäden nichts ausmachen würden. Jetzt blickte sie auf einen flackernden roten Lichtfleck auf der Tischfläche, während die Abendsonne durch ihr halb volles Glas schien.

Lieber Gott, dachte sie wieder, als sie sich an den jungen Mann erinnerte, bitte lass die Sache nicht auf meinem Schreibtisch landen.

Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf die wärmende Sonne und das Rauschen der Wellen, mit dem sich die Flut langsam wieder dem Haus näherte. Hinter der Gartenmauer fuhren hin und wieder Autos vorbei, sie klangen wie das Gesumm von Bienen. Irgendwo hatte jemand einen Grill angeworfen – der Qualmgeruch zog in der Dämmerung vom Strand her über die Hausdächer.

Es gibt genug, worüber ich im Moment nachdenken muss, dachte Birch und schlug die Augen wieder auf. Wie aufs Stichwort ertönte – irgendwo weit weg in der Stille des Abends – der panische Klang einer Sirene.

13. Mai 20:59 Uhr

Über dem Kunstrasen auf dem Sportplatz der High School und den bezopften Köpfen der jugendlichen Fußballerinnen wirbelten und tanzten die Motten und Mücken. Aus dieser Distanz sahen sie aus wie Glitterstückchen, die in einer Flüssigkeit schwammen. Mauersegler tauchten in die Strahlen des Flutlichts und verschwanden wieder daraus, ihre Schreie hallten an diesem milden Abend über den Parkplatz. Ishbel Hodgekiss ließ die Fensterscheiben ihres Nissan Quashqai elektrisch hochfahren. Sie wollte keine Mückenstiche riskieren.

Die Uhr im Armaturenbrett zeigte zwanzig Uhr neunundfünfzig, also schaltete sie das Autoradio ein, um die Nachrichten zu hören. Sie hatte den Sprecher von Radio 2 erwartet, stattdessen aber dröhnte ihr ein billiger Jingle entgegen: Abigail hatte mal wieder einen der lokalen Sender eingestellt.

Es ergeben sich einige Fragen, sagte der Nachrichtensprecher, hinsichtlich eines Unfalls, der sich heute auf einer Baustelle im Zentrum Edinburghs ereignet hat.

Ishbel beugte sich über das Lenkrad, um den gewünschten Sender wieder einzustellen. Die künstlich gut gelaunte Stimme des Nachrichtensprechers tat ihr in den Ohren weh.

Das Bauunternehmen behauptet, sagte er, der Mann habe sich nicht an die Sicherheitsvorschriften gehalten, als er aus drei Metern Höhe auf das Fundament des Gebäudes stürzte.Unsere Reporterin Jenna Buckie hat mehr …

Irgendwie hatte Ishbel den richtigen Knopf gefunden und klickte durch die Sender, bis sie eine Stimme fand, die sie wiedererkannte. Sie lehnte sich zurück und suchte die Fußballfelder nach Abigail ab. Das Training war eben zu Ende gegangen – sie hatte den Schlusspfiff gehört –, ihre Tochter müsste bald durch das Tor im hohen grünen Maschendrahtzaun geschlendert kommen, herüber zum Auto.

Das noch immer bestehende Interesse ihrer Tochter an Fußball fand nicht ganz Ishbels Zustimmung. Gegen Sport am Abend war zwar nichts einzuwenden, aber seit Abigail aufs College ging, sollten die außerschulischen Aktivitäten, wie ihre Mutter meinte, eigentlich akademischer sein. Dass Abigail noch zu Hause wohnte, erfüllte hingegen Ishbel mit leiser, wenngleich schuldbewusster Freude: Es war vielleicht das einzig Positive an der Entscheidung ihrer Tochter, nicht die Universität zu besuchen. Trotzdem hatte Ishbel das Gefühl, dass sich ihre Tochter mit diesem wöchentlichen Training an der High School – noch dazu mit einer U-25-Mannschaft, zu der weitaus jüngere Mädchen gehörten – keinen Gefallen tat.

»Das Fußballtraining bringt nichts für deine zukünftigen Bewerbungen«, hatte Ishbel bereits mehr als einmal gesagt.

»Doch«, hatte ihre Tochter geantwortet. »Es zeigt, dass ich ein Teamplayer bin.«

Darauf hatte Ishbel noch immer nicht die richtige Antwort gefunden.

Die Mädchen strömten aus den lang gestreckten, niedrigen Gebäuden und gingen quer über den Kunstrasen zu den Autos, die auf sie warteten. Die jüngeren von ihnen stiegen in ähnliche Autos wie dasjenige, das Ishbel fuhr: Familien-Limousinen und Kombis, in denen Taxi-Eltern saßen. Die älteren Mädchen, diejenigen in Abigails Alter, begaben sich oftmals zu Autos, die auf sie warteten – kleine Ford Kas und verrostete Citroën-Kleinwagen –, warfen ihre Sporttaschen auf den Beifahrersitz und fuhren selbst. Abigail hatte ihre Führerscheinprüfung noch nicht bestanden, auch wenn das ständige Umstellen des Radiosenders bewies, dass sie übte. Ein paar Mädchen wurden allwöchentlich von nicht gerade vertrauenerweckenden Jungen abgeholt. Die jungen Männer saßen bei laufendem Motor und aufgedrehter Musik in ihren aufgemotzten Imprezas, um dann mit laut quietschenden Reifen davonzurasen. Ishbel fand das schrecklich.

»Es gibt da einen Jungen«, hatte Aidan eines Abends nebenbei bemerkt, vor rund einer Woche. Mit atemloser Stimme, ähnlich wie die, mit der, in Ishbels Erinnerung, Mädchen an der Schule Informationen weitergeben, wenn sie auf der Toilette ihre Lippenstifte tauschen. Als wäre er ein Mitverschwörer – ohne den Hauch von väterlicher Sorge.

»Was soll das heißen – es gibt da einen Jungen?« Sie hatte genau gewusst, was er meinte, es aber nicht zugeben wollen.

»Unsere Tochter hat vielleicht einen Freund.«

Ishbel schwieg. Natürlich hatte Abigail schon Freunde gehabt. Aber das war auf der High School gewesen – damals, als Ishbel noch die Zeit festlegte, zu der Abigail nach Hause kommen musste, und Aidan bitten konnte, ihr bei der Durchsetzung ihrer Regeln zu helfen. Inzwischen war Abigail neunzehn. Im Geiste hörte sich Ishbel sagen: Nein, nein, nein.

»Woher weißt du das?«

Aidan grinste sie nur an. Er stand vor der Frisierkommode, trug ein sauberes Hemd, und Ishbel sah seinen Oberkörper im Spiegel, dreimal reflektiert. Aus irgendeinem Grund dachte sie damals – wohl zum ersten Mal seit Jahren –, dass er ein sehr gut aussehender Mann war. Noch immer war. Und kurz befiel sie eine altbekannte Angst.

»Sie hat es mir gesagt«, entgegnete er. »Sie redet nämlich mit mir.«

Ishbel hatte die Wäsche zusammengelegt. Jetzt erinnerte sie sich, auf das weiße Baumwoll-T-Shirt in ihren Händen hinuntergeblickt und gesehen zu haben, wie es sich rosa verfärbte, weil Wut ihren Blick trübte. In letzter Zeit war sie ziemlich oft wütend auf Aidan – sie waren wütend aufeinander. »Bist du denn nicht wütend?«, hatte sie ihn angeblafft.

»Wütend?« Er fand das offenbar lustig.

Sie atmete tief durch. Erfindet er das nur, damit ich mich aufrege? »Ich meine … früher warst du einer von diesen Keiner-ist-gut-genug-für-meine-Tochter-Vätern. Du hast ihre Freunde gehasst. Wir haben Witze darüber gemacht.«

Er wandte den Blick ab und strich mit den Händen an der Vorderseite seines Hemdes hinunter, um es zu glätten. »Stimmt«, sagte er. »Und wenn dieser junge Mann ihr das Herz bricht, zertrümmere ich ihm die Kniescheibe ganz bestimmt.«

Ishbel verdrehte die Augen. Als junge Frau hatte sie Aidans Gefühllosigkeit, seine männliche Angeberei gemocht. Mittlerweile empfand sie beides nur noch als nervtötend, und das wusste er.

»Aber jetzt ist sie erwachsen«, redete er weiter. »Auch ein beschützender Vater muss wissen, wann er einen Schritt zurücktreten muss.« Er hielt inne und warf ihr einen Blick zu. »Und eine neurotische Mutter sollte lernen, ein bisschen runterzukommen.«

Ishbel schloss die Augen. In letzter Zeit gehörten diese kleinen Spitzen zu ihrer täglichen Routine, zu dieser Komikernummer, deren Schauspieler sie offenbar beide waren. Warum bleibe ich?, hatte sie sich mehr als einmal laut gefragt. Wegen Abigail, lautete immer die Antwort. Abigail, die ihren Dad abgöttisch liebt. Sie würde es dir niemals verzeihen.

Es entstand eine lange Stille. Die vertraute Angst schwappte in Ishbel, als wäre sie schmutziges Wasser, bis sie fand, dass sie endlich etwas sagen musste. »Sie redet auch mit mir.«

Aidan zog ein Vielleicht-Gesicht, und nicht zum ersten Mal juckte es ihr in den Fingern, ihm eine Ohrfeige zu geben.

»Natürlich«, hatte er dann gesagt. »Aber in letzter Zeit warst du oft ziemlich abgelenkt.«

Ishbel schüttelte die Gedanken ab. Auf der anderen Straßenseite verschwamm der Inverleith Park im Schatten seiner Bäume zu einer dunklen Masse. Wenn sie in den Rückspiegel blickte, zeichneten sich die spitzen Türmchen der Fettes School als Silhouette vor dem dämmrigen Himmel ab. Erst nach zehn Uhr würde es richtig dunkel werden, doch hinter dem Fußballfeld und seinem Ring aus künstlichem Licht war die Stadt ein ineinander verlaufenes Durcheinander aus Giebeln und Türmen. Die Straßenlaternen gingen an, und die Wolken färbten sich rosa. Morgen wird wieder ein schöner Tag, dachte Ishbel.

Und Aidan hatte ja recht. Der Fall Telford – die größte Rechtsbeschwerde, mit der sie in ihrer Arbeit je konfrontiert gewesen war – hatte sie völlig aus dem Gleichgewicht geworfen. Auch wenn jetzt, fast drei Jahre nach der ersten Rechtsbeschwerde seitens eines privaten Altersheimbetreibers, alles überstanden war, fiel es ihr immer noch schwer, ihre frühere Work-Life-Balance wiederzufinden. Sie war tatsächlich abgelenkt gewesen. So zerstreut, dass sie seit jenem Gespräch mit ihrem Mann eine Woche hatte verstreichen lassen. Sie hatte noch immer nicht mit Abigail über die Freund-Problematik gesprochen. Aidan hatte ihr erzählt, dass der Junge aufs selbe College gehe und ein Auto und irgendeine Art Job habe. »Er scheint aus einer netten Familie zu kommen«, hatte Aidan gesagt und dabei seine Stimme wie eine Parodie von Ishbels klingen lassen. »Ich weiß ja, dass dir so etwas wichtig ist.« Sie hatte die besondere Spitze schulterzuckend abgetan – in letzter Zeit achtete sie sorgfältig darauf, auf welchen Streit sie sich einließ. Aber sie hatte sich erlaubt, mit den Augen zu rollen. Ihr Ehemann warf ihr immer wieder vor, zu statusbewusst zu sein, aber manchmal fand sie seine Positionierungen und Neupositionierungen zu ermüdend, um noch auf dem aktuellen Stand zu sein. »Also, das ist mal ein richtiger Mann«, sagte er dann über irgendeinen Sportler oder Promi, der seinen Gefallen fand. Jahrelang hatte Ishbel das charmant, ja sogar sexy gefunden. Aufregend. Jetzt war sie zwar erleichtert, dass sie eine Tochter hatten – nicht einen Sohn –, machte sich jedoch auch Sorgen, was Aidans Begeisterung für diesen neuen Freund bedeutete. Sie hatte auf mehr Informationen gedrängt, aber Aidan behauptete, nicht mehr zu wissen.

»Immerhin habe ich ein Foto gesehen«, hatte er schließlich doch gesagt und sich mit einer Ich-weiß-etwas-was-du-nicht-weißt-Geste aufgeplustert. »Er ist ein großer, dunkler, attraktiver Typ. Hat etwas.« Damit hatte er seinen Hausschlüssel geschnappt, um wieder einmal zu irgendeinem Treffen zu gehen, über das Ishbel nichts Genaueres wusste. »Du solltest dir Sorgen machen«, hatte er noch gesagt.

Um Ishbel herum leerte sich der Parkplatz. Die mit einem Mantel bekleidete Fußballtrainerin lief noch einmal über das Spielfeld, um es nach zurückgelassenem Abfall, Pullis oder Smartphones abzusuchen. Ishbel beobachtete die Frau: eine kleine, kompakte Gestalt, die jetzt am Zaun entlangging. Bald würde das Flutlicht ausgeschaltet werden, und die Mauersegler auf Futtersuche würden den Fledermäusen weichen. Abigail war bisher nicht aus der Umkleide gekommen. Ishbels Auto war das einzige, das noch auf dem Parkplatz stand.

Inzwischen zeigte die Uhr einundzwanzig Uhr neunzehn. Ishbel zog ihr Handy aus der Handtasche und wählte die Nummer ihrer Tochter. Es klingelte, bis die Mailbox ansprang. Wie erwartet – wenn Abigail sich mit dem Umkleiden beeilte und sah, dass ihre Mutter anrief, ignorierte sie sie. Sie würde wissen, dass der Anruf eine unausgesprochene Kritik enthielt: Komm endlich! Ishbel erblickte ihr Gesicht im Rückspiegel. Sie wirkte blass, die kurzen dunklen Haare, getönt in letzter Zeit, waren etwas zerzaust. Mein Gott, wie alt ich aussehe. In ihrer Vorstellung war sie noch immer in Abigails Alter und wunderte sich immer ein wenig, wenn sie ihr Spiegelbild anschaute und die schmalen Lippen und Krähenfüße einer älteren Frau sah.

Sie dachte daran, eine Nachricht zu hinterlassen. »Abigail, hier ist deine Mutter. Erinnerst du dich an mich? Ich muss heute Abend noch an einem Bericht arbeiten und hatte gehofft, inzwischen zu Hause zu sein. Was immer du gerade tust, bitte beeil dich damit, okay?« Sie wischte über das Display, um den Anruf zu beenden, und hatte gleichzeitig das Gefühl, nichts erreicht zu haben. Die Grausamkeit von Smartphones: Sie boten einem nicht die Genugtuung, wutentbrannt den Hörer auf die Gabel knallen zu können.

Ishbel steckte das Handy nicht zurück in ihre Tasche, sondern legte es aufs Armaturenbrett, nur für den Fall, dass es klingelte. Als sie den Kopf hob, registrierte sie in der Ferne eine Bewegung, ein verschwommenes Licht. Einen Häuserblock weiter den Hügel hinunter verlief die Comely Bank Road am Parkplatz vorbei: Von ihrem Platz im Auto aus sah Ishbel die erleuchtete Front eines Zeitschriftenladens und hin und wieder ein Auto, das über die Kreuzung fuhr.

Was ihre Aufmerksamkeit geweckt hatte, war ein einstöckiger City-Bus – mit großen Fenstern, von innen erhellt. Irgendeine Verkehrsstörung hatte dazu geführt, dass der Bus mitten auf der Kreuzung anhielt, bis schließlich jemand hupte. Stehend, sich an die Haltestange klammernd, war im Bus Abigail zu sehen. Ishbel war zwar ein ganzes Stück weg, und der Bus fuhr beinahe so schnell wieder an, wie er gestoppt hatte, aber das Profil ihrer Tochter erkannte Ishbel überall. Unsicher, was sie tun sollte, saß sie, die Hände am Lenkrad, im Auto und stellte sich immer wieder dieselben Fragen. Was machte Abigail in dem Bus? War sie nicht beim Training gewesen? Wenn nicht, wieso nicht? Und wo war sie dann gewesen? Es muss dafür einen Grund geben, dachte Ishbel. Aber ihr fiel keiner ein.

Es dauerte eine Minute, bis ihre Tochter schließlich etwas entfernt um die Ecke eines Häuserblocks bog. Sie war anscheinend aus dem Bus gestiegen. In der Dämmerung war die kleine Gestalt nur undeutlich zu sehen, aber Ishbel wusste sofort, dass es Abigail war. Das helle Haar, die nach vorn gezogenen Schultern – auch wenn Ishbel sie immer wieder ermahnte, sich gerade zu halten –, der gestreifte, auf Hüfthöhe baumelnde Sportbeutel. Die Gestalt, von der sie sicher war, dass es sich um Abigail handelte, schlüpfte durch ein Seitentor aufs Schulgelände und entschwand aus ihrem Blickfeld.

Ishbels Handy summte, doch die SMS kam nicht von ihrer Tochter. Sondern von Aidan.

ENDE DER LESEPROBE