Todestango auf Mallorca - Roderic Jeffries - E-Book
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Todestango auf Mallorca E-Book

Roderic Jeffries

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Beschreibung

Ein Mallorca-Krimi von Roderic Jeffries Alles deutet auf einen Unfall hin, als man den Alten tot in den Klippen findet. Doch Alvarez traut nichts und niemandem … Sein Mißtrauen scheint bestätigt, als er auf einen Engländer stößt, der in letzter Zeit verschiedenen Leuten verdächtig viele Fragen über Jahrzehnte zurückliegende Ereignisse gestellt hat. Und der Tote hatte offensichtlich ein Elefantengedächtnis. Als nun auch noch Beweismaterial verschwindet und man Alvarez unter Druck setzt, den Fall als abgeschlossen zu betrachten, da schaltet Alvarez auf stur, mit mörderischen Folgen ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Roderic Jeffries

Todestango auf Mallorca

Aus dem Englischen von Ingrid Herrmann

FISCHER E-Books

Inhalt

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1

Sage nie, ein Mann sei verflucht, bevor er gestorben ist, schlimmstenfalls hat er nur Pech gehabt. An einem Montag im Januar hatte Madge ihn verlassen, um zu Aubrey zu ziehen, der sein bester Freund gewesen war. Es war sehr traurig, den besten Freund zu verlieren. Am Mittwoch erfuhr er, daß seine Verliebte Nubierin nicht den ersten Preis von fünftausend Guineen gewonnen hatte; den bekam Konsum in Rot, eine rotangemalte Anhäufung von alten Konservendosen und Hühnerknochen. Am Samstag starb dann unverhofft seine Mutter, und zu seiner Bestürzung stellte er fest, wie sehr ihn mit seinen fünfzig Jahren dieser Verlust schmerzte.

Steven Armitage sah sich im Wohnzimmer des kleinen, ländlichen Anwesens um, in dem seine Mutter die letzten fünfundvierzig Jahre gelebt hatte. Noch war nichts verändert worden, und es fiel ihm leicht, sich vorzustellen, wie sie ins Zimmer träte und ihn fragte, ob er eine Tasse Kaffee wolle, obschon sie genau wußte, daß er einen guten Whisky vorgezogen hätte. Auf dem obersten Regalbrett rechts von dem Eckkamin standen drei gerahmte Fotografien. Das Foto links zeigte seinen Vater in Marineuniform. Es war ein sonderbarer Gedanke, daß er ihn nie kennengelernt hatte. Das Bild in der Mitte war am Hochzeitstag aufgenommen worden; sie war nie eine schöne Frau gewesen, doch dieses Foto gab sowohl ihren ausgeprägten Sinn für Humor als auch ihren Hang zur Loyalität wieder. Er selbst befand sich auf dem rechten Bild, vier Jahre alt und mit dem Aussehen eines Engels – was nur beweist, daß die Kamera immer lügt, hatte seine Mutter oft gesagt.

Es klopfte, und er ging durch die Diele an die Vordertür.

»Guten Tag, Mr. Armitage. Hoffentlich komme ich nicht zu spät.«

»Sie sind pünktlich. Ich kam ein bißchen früher.«

»Ja, gewiß doch. Die Erinnerungen.«

Shankley, von der Firma Brade und Elliott, war vermutlich ein liebevoller, fürsorglicher Ehemann und Vater, aber Armitage mochte ihn nicht leiden.

»Eine sehr traurige Zeit«, sagte Shankley feierlich.

»Stimmt«, entgegnete Armitage kurz angebunden; er war nicht bereit, mit diesem Mann über seinen Kummer zu reden. »Sollen wir hineingehen?«

Im Wohnzimmer setzte sich Shankley in einen Sessel und stellte die Aktentasche auf seine Knie. »Ich finde, in einer solchen Zeit …«

»Wir könnten eigentlich etwas trinken. Was möchten Sie?«

Shankley gab weder zu erkennen, ob er sich vor den Kopf gestoßen fühlte, weil Armitage ihm so brüsk das Wort abschnitt, noch ob er es mißbilligte, daß diesen der Tod seiner Mutter offenbar kaltließ. »Einen Sherry, bitte, wenn Sie welchen da haben.«

Armitage ging zu einem Schränkchen, das in der hinteren Ecke rechts neben einem wohlgefüllten Bücherschrank stand. In dem Schränkchen standen mehrere Flaschen. Seine Mutter hatte immer gern Alkohol getrunken und im Gegensatz zu den meisten Frauen nie ein Geheimnis daraus gemacht, doch sie trank niemals mehr als zwei Glas, nicht einmal auf seiner Hochzeit. Vielleicht hatte sie damals schon mehr gewußt als er. »Süß oder trocken?«

»Trocken, wenn es recht ist.«

Er schenkte ein kleines Glas La Ina ein und für sich selbst einen doppelten Whisky. Sowohl Madge als auch seine Mutter hatten ihm oft vorgehalten, er tränke zuviel; Madge wütend, seine Mutter traurig. »Rauchen Sie?« fragte er, als er Shankley das Glas Sherry reichte.

»Nein, danke. Ich hab’s vor mehreren Jahren aufgegeben.«

Armitage setzte sich in den anderen Sessel und zündete sich eine Zigarre an. »Wie weit sind wir jetzt?«

Shankley stellte sein Glas auf dem Tisch rechts vom Sessel ab. Er öffnete die Aktentasche, holte eine Mappe heraus, legte sich die Tasche flach auf die Knie und die Mappe darauf. »Alles läuft reibungslos ab, und bezüglich der Testamentsbestätigung dürfte es keine ungebührliche Verzögerung geben. Sämtliche Schätzwerte sind akzeptiert worden.« Er schlug die Mappe auf und suchte in den Papieren herum, bis er das gewünschte Blatt fand. »Da gäbe es ein besonderes Möbelstück. Der Schreibtisch im ersten Schlafzimmer wurde auf fünftausend Pfund geschätzt, und der Taxator vertraute mir an, daß er wesentlich mehr wert sein könnte. Außerdem meinte er, falls Sie daran dächten, ihn zu verkaufen, sollten Sie sich ruhig an eines der großen Londoner Auktionshäuser wenden.«

»Ich hatte keine Ahnung, daß er so wertvoll ist.«

»Das Haus wurde auf zweihunderttausend Pfund geschätzt. Sollten Sie sich entschließen, es zu verkaufen, kommt es natürlich auf die jeweilige Marktsituation an; aber historische Häuser, die einen bestimmten Zeitstil repräsentieren, behalten immer ihren Wert, selbst wenn die Lage auf dem Immobilienmarkt nicht rosig aussieht … Ich habe Ihnen eine Kopie von allen Preisen angefertigt, die Sie sicher haben möchten.« Ein wenig linkisch stand er auf und beugte sich vor, um Armitage zwei zusammengeheftete Blätter zu geben.

Armitage studierte die Zahlen und staunte über die Summe. Anscheinend erbte er beträchtlich mehr, als er sich vorgestellt hatte. Er war froh, daß Madge ihn verlassen hatte, bevor ihm dieses Glück zuteil wurde.

»Werden Sie das Haus verkaufen, Mr. Armitage?«

»Ich habe noch nicht darüber nachgedacht.«

»Nein, natürlich nicht; dazu ist es noch viel zu früh. Aber wenn Sie sich Gedanken darüber gemacht haben und zu dem Entschluß gekommen sind, es zu verkaufen, dann möchte ich Ihnen vorschlagen, die Firma damit zu beauftragen, die die Abschätzung vorgenommen hat. Ich kann sie wärmstens empfehlen, und dort wird man sich bemühen, den höchstmöglichen Preis herauszuholen.«

»Ich werde darauf zurückkommen.«

»Im Frühling verkauft sich ein Haus am besten; den Winter sollte man möglichst vermeiden. Ein grauer Himmel drückt den Preis.«

»Ich werd dran denken.«

»Solche geringfügigen Aspekte können einen Unterschied bis zu mehreren tausend Pfund ausmachen«, beharrte Shankley.

»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte Armitage und bemühte sich, dankbar zu klingen.

Shankley hüstelte. »Da wäre noch etwas, worüber wir reden sollten – wenn es Ihnen recht ist?«

»Natürlich.«

»Es geht um die Einkünfte Ihrer Mutter. Sagten Sie mir nicht, sie bezöge lediglich ihre beiden Pensionen und die Zinsen aus der Anlage bei der Baugesellschaft?«

»Das ist richtig.«

»Sind Sie sich dessen ganz sicher?«

»Ja.«

»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich will damit nicht andeuten, daß etwas verheimlicht wird. Ich meine nur … Na ja, um es ganz offen zu sagen, ältere Damen werden manchmal so geheimniskrämerisch in Gelddingen, daß nicht einmal ihre eigenen Kinder über sämtliche Einkommensquellen Bescheid wissen. Und wir müssen natürlich präzisere Angaben machen, sollte der Nachlaßbeamte die Zahlen in Frage stellen, obwohl die Schätzwerte akzeptiert worden sind. Das könnte dann sehr unangenehm werden. Zum Beispiel könnte er verlangen, daß der Schreibtisch zu einem höheren Wert erfaßt wird, den der Ermessensspielraum zuläßt.«

»Meine Mutter hatte nirgendwo Geld versteckt.«

»Das Problem ist die Höhe ihrer Witwenpension, die sie von der Marine erhielt.«

»Wieso?«

»Als Ihr Vater starb, stand er doch im Rang eines Lieutenants, nicht?«

»Ja, das stimmt.«

»Aber die Pension, die die Witwe eines Marinelieutenants bezieht, der im letzten Krieg fiel, liegt bedeutend unter dem Betrag, den sie dem Finanzamt jedes Jahr angab.«

»Tatsächlich?« fragte er überrascht.

»Das wußten Sie nicht?«

»Sie regelte alle ihre finanziellen Angelegenheiten selbst.« Sie hatte ihm oft gesagt, daß er von Geld soviel verstünde wie ein Cherub von der Hölle.

»Dann sollten wir schlafende Hunde wohl lieber nicht wecken.«

Offenbar glaubte Shankley, in finanzieller Hinsicht sei etwas »faul« gewesen. Anwälte waren wie Polizisten, sie nahmen immer gleich das Schlimmste an. Armitage leerte sein Glas und stand auf. »Trinken Sie aus, auf einem Bein steht man schlecht.«

»Für mich nichts mehr, vielen Dank. Ich trinke nie mehr als ein Glas.«

So sah er auch aus, fand Armitage. Er ging zu dem Schränkchen mit den Flaschen und schenkte sich noch einen doppelten Scotch ein.

 

Steven Armitage stand im Schlafzimmer seiner Mutter und sah durch das bleiverglaste, bunte Fenster, wie Shankley in einem Rover davonfuhr. Dann drehte er sich um. Seine Mutter war des Nachts im Bett gestorben, und am nächsten Morgen hatte ihr Gesicht einen ruhigen, zufriedenen Ausdruck gehabt. Er hatte nicht geweint, und auch jetzt war ihm nicht nach Weinen zumute, doch der Schmerz über den Verlust wurde immer stärker, anstatt abzunehmen. Die Vergangenheit war von ihm gerissen worden, und jetzt hatte er niemanden mehr, an den er sich um Hilfe wenden konnte. Das Ironische daran war, daß er sich niemals um Hilfe an seine Mutter gewandt hatte. Sie hatte ihn gelehrt, daß man mit seinen Fehlern leben mußte. Aber der Verlust einer Zuflucht, die er niemals in Anspruch genommen hätte, erzeugte in ihm ein Unbehagen, wenn nicht gar Angst …

Dieser Raum war der kleinste von den drei Schlafzimmern, aber sie hatte ihn wegen der Morgensonne gewählt. Hier gab es ein Bett, einen Nachttisch, eine Kommode, eine Frisierkommode, einen Stuhl mit besticktem Sitzkissen, einen indischen Teppich, den sein Vater in Bombay gekauft hatte, den Schreibtisch, von dem Shankley so begeistert war, und einen gerahmten Druck, der eine Landschaft in Yorkshire darstellte. Gegenüber dem Bett stand ein Schrank, den man in den freien Raum zwischen dem wuchtigen Kamin und der Zimmerwand eingebaut hatte. Er war voller Kleider. Armitage hatte die Sachen dem Roten Kreuz angeboten, dann einer Organisation, die sich um verarmte Adlige kümmerte, und zum Schluß der Zugehfrau, aber keiner wollte sie haben. Anscheinend verschmähten heutzutage selbst die Bedürftigen getragene Kleidung, vor allen Dingen, wenn sie von einer älteren Frau stammte.

Er ging an den Schreibtisch. Auf dem schmalen Oberteil stand noch ein Foto von seinem Vater; dieses Mal trug er ein Hemd und eine Hose mit Bügelfalte. Lachend, das gelockte Haar windzerzaust, stand er auf einem Kiesstrand, hinter sich die stürmische See. Vom Aussehen und auch vom Charakter her waren Armitage und sein Vater völlig verschieden. Seine Mutter, die mit ihrem Sinn für Humor so manches Mal Anstoß erregte, hatte hin und wieder gesagt, er sei in jeder Hinsicht so vollkommen anders als sein Vater, daß er vielleicht ein untergeschobenes Kind sei. Steckte hinter dieser flapsigen Bemerkung womöglich ein Bedauern, daß er von seinem Vater so gar nichts hatte?

Er öffnete die gewölbte Klappe des Schreibtisches, die gleichzeitig als Arbeitsplatte diente. Die hintere Wand enthielt vier Fächer und sechs Schubladen, drei an jeder Seite. Die Fächer hatte er bereits geleert, nur die Schubladen noch nicht. Sie enthielten eine Menge Andenken und den üblichen Krimskrams einer unverdrossenen Briefeschreiberin. Die Andenken und ein paar Schreibstifte legte er zur Seite, alles übrige kippte er in den Papierkorb. Er stellte sich vor, wie jemand nach seinem Tod bei ihm aufräumte. In den Müll mit der Verliebten Nubierin …

Ihm fiel ein, daß es ein Geheimfach gab, aber er wußte nicht genau, wo. Er brauchte ein paar Minuten, um herauszufinden, daß es hinten in der untersten Schublade rechts war, und es vergingen noch ein paar genauso frustrierende Minuten, bis er herausfand, wie man die Sprungfeder an der falschen Rückwand löste. Drinnen lagen zwei Umschläge. Der erste enthielt einen Block Vier-Penny-Blacks. Verdutzt starrte Steven sie an und fragte sich, woher sie wohl kämen, denn seine Mutter hatte nie das leiseste Interesse am Briefmarkensammeln gezeigt. Dann fand er, das einzig Wichtige sei, daß der grundehrliche Shankley nichts von ihnen wußte.

Der zweite Umschlag war adressiert an Mrs. G. Lance, c/o Mrs. R. Hammer, 75A Hopecroft Rd, Hanwell, London, W7. Er trug eine portugiesische Briefmarke und war in Lissabon abgestempelt worden, an irgendeinem nicht entzifferbaren Tag im Oktober 1942. Die Handschrift war die seines Vaters. Er zog den Brief heraus, der in dem Umschlag steckte. Er begann mit »Liebste Guinevere …«; unterschrieben war er »Mit all meiner Liebe, Merlin«. Der Brief handelte davon, daß er sie mehr vermisse, als er es für möglich gehalten hätte, und daß die Sehnsucht nach ihr am größten gewesen sei, als er an den verzauberten Ort zurückkehrte, wo sie gepicknickt hätten. Während er auf das Fischerdorf Exchaux hinunterblickte, das von Orangenhainen und Mandelbäumen umgeben war, habe er sich daran erinnert, wie glücklich sie gewesen seien … Und was sonst außer der Erinnerung an ihre Liebe hätte plötzlich Pedro den Eismann auftauchen lassen, der seinen Esel mit den beiden Tragekörben aus Stroh am Zügel führte. Pedro habe ihn erkannt und sich erkundigt, wie es der hübschen Lady ginge …

Der Name seines Vaters war Peregrine gewesen, und seine Mutter hieß Charlotte. Dies war ein Liebesbrief an eine andere Frau. Sein Vater, dessen Andenken er in Ehren hielt, so wie man es ihn gelehrt hatte, war ein untreuer Zeitgenosse gewesen. Die Erkenntnis, daß seine Mutter von diesem Verrat gewußt hatte, daß sie damit hatte leben müssen, machte ihn traurig. Seinen Eltern gestattete man nicht die Schwächen, die man selbst hatte …

Dann begann Steven sich zu fragen, weshalb seine Mutter den Brief aufbewahrt hatte. Als einziger Grund fiel ihm ein, daß sie den Schmerz hatte wachhalten wollen. Diesen Charakterzug hatte er früher nie an ihr bemerkt; vor allen Dingen stempelte er sie als Heuchlerin ab, weil sie seinen Vater immer als einen Mann von absoluter Ehre gepriesen hatte. Oder hatte sie trotz allem die Hoffnung nie aufgegeben, daß er sich bemühen würde, dem falschen Bild nachzueifern, anstatt das wahre zu kopieren?

Er wünschte sich, er hätte diesen Brief nie gefunden und gelesen. Ohne einen besonderen Grund legte er ihn in das Geheimfach des Schreibtisches zurück und ging wieder nach unten, wo er sich einen dritten und noch großzügigeren Whisky einschenkte.

2

An dem Montag, an dem Madge ihn verlassen hatte, steigerte sie sich in eine hysterische Wut hinein, denn nur so konnte sie ihr Verhalten vor sich selbst rechtfertigen. Sie war eine unsichere Person, die sich ständig Sorgen machte, andere Leute könnten ihr Verhalten mißbilligen oder ihr schlechte Manieren vorwerfen. In ihrer Wut hatte sie geschrien, sie würde ihn verlassen, weil sie nicht länger in einem Schweinestall leben wolle. Dandor Cottage war zwar alles andere als das, aber verglichen mit dem georgianischen Anwesen, in dem Aubrey wohnte, war es nicht vornehm genug. Es lag am Ende einer düsteren Sackgasse und war vor fast zweihundert Jahren mit billigen Mitteln gebaut worden. Seitdem hatte man an dem Haus nichts verbessert. Die alten Dachziegel waren stellenweise durch moderne Ziegel von einem ausnehmend häßlichen Rot ersetzt, so daß das Dach aussah, als sei es von einem Ekzem befallen; die Fenster waren sehr klein, und eine von Madges Freundinnen hatte einmal gesagt, sie glichen Augen mit dem bösen Blick; im unteren Zimmer roch es muffig. Doch der Mietzins war niedrig, und die angrenzende Scheune befand sich in einem überraschend guten Zustand, so daß sie ein ausgezeichnetes Atelier abgab.

Steven saß in dem winzigen, niedrigen Wohnzimmer und überlegte, ob er den Fernseher einschalten sollte. Er wußte, jetzt, wo Madge nicht mehr da war, brauchte er sich noch nicht einmal die Nachrichten anzusehen; seinetwegen konnte die Welt ohnehin im Chaos versinken. Noch etwas fiel ihm ein. Jetzt durfte er soviel trinken, wie er wollte, ohne sich anhören zu müssen, für seine Laster sei immer Geld da, aber sie könne sich nicht mal anständige Kleider kaufen …

Der Whisky in der Flasche reichte gerade noch für einen ordentlichen Schluck. Er ging ins Wohnzimmer zurück und zündete sich seine fünfte Zigarre an diesem Tag an – als wohlhabender Mann konnte er sich diesen Luxus leisten. Er blies eine Rauchwolke aus. Was sollte er tun? Ins Haus seiner Mutter ziehen oder es verkaufen? Das Kapital anlegen und von den Zinserträgen leben? Gutbetuchte Bildhauer hielt man allgemein für talentierter als mittellose.

Galeriebesitzer bevorzugten jene, die bereit waren, einen Teil der Kosten für eine Ausstellung selbst zu tragen; potentielle Käufer kreuzten bei einer Champagnerparty auf, denn wenn sie reich waren, durften sie nirgendwo fehlen, wo es etwas umsonst gab; und jeder Kunstkritiker auf der Welt schwärmte für die Werke des Bildhauers, der ihm eine Kiste Mouton Rothschild ins Haus hatte liefern lassen. Und wenn der Erfolg erst einmal da war, ließ er sich durch nichts mehr aufhalten …

Steven brauchte noch einen Drink, doch die Whiskyflasche war leer. Ob vielleicht noch eine in der Scheune versteckt war? Bedauernd fiel ihm ein, daß er sie schon vor zwei Tagen leergetrunken hatte. Als eine der letzten Beleidigungen hatte Madge ihm noch entgegengeschleudert, er sei ein Alkoholiker geworden. Sie hatte nie verstanden, daß es Zeiten gab, in denen ein Künstler seine künstlerische Frustration betäuben mußte.

Während er rauchte, dachte er über sich nach, und er fand sich nicht besonders sympathisch. Klammheimlich freute er sich darüber, daß sein Vater auch Schwächen gehabt hatte; es war ja viel einfacher, sich an einem gestürzten Idol zu messen. Aber was für ein Triumph war das!

Abrupt stand er auf und ging in die Speisekammer, die hinter der Küche lag. Er hatte sich nicht getäuscht, da stand noch eine halbvolle Flasche Dubonnet. Einen Tag nachdem Madge gelesen hatte, es sei das Lieblingsgesöff eines Mitglieds der königlichen Familie, hatte sie auch angefangen, Dubonnet zu trinken.

Eine Stunde später, nachdem er gemerkt hatte, daß Whisky und Dubonnet sich in ihrer Wirkung gegenseitig verstärkten, stieg er auf wackeligen Beinen die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Als er in der Tür stand und aus trüben Augen die beiden Einzelbetten anstarrte, fragte er sich, ob sie in Aubreys Anwesen wohl auch auf ein Einzelbett bestanden hatte.

Er zog sich den Pyjama an und legte sich ins Bett. Die Welt fing an sich zu drehen, und er machte die Augen zu. Aus irgendeinem Grund, für den es keine logische Erklärung gab, fiel ihm ein, daß sowohl Merlin als auch Peregrine[1] Falken waren. Er fiel in einen schweren, trunkenen Schlaf.

 

Wenn er mit Korinjora zusammen war, vergaß er, daß sie nur halb so alt war wie er, daß graue Fäden sein Haupthaar und seinen Bart durchzogen, daß die Falten in seinem Gesicht tiefer wurden, daß sich sein Teint verschlechterte und daß er einen Bauch ansetzte, während er ihre Taille mit beiden Händen hätte umspannen können …

Sie stammte aus einem Dorf im nördlichen Sudan, dessen Name ihm entfallen war und den er ohnehin nicht hätte aussprechen können, selbst wenn er ihn gewußt hätte. Ihre Eltern waren nach England gekommen, als sie noch in der Wiege lag, und seitdem wohnten sie in Torrington. Sie war großgewachsen, geschmeidig und besaß eine unglaubliche erotische Anziehungskraft. Selbst im heiligen Simeon, wie er so auf seinem Pfahl hockte, hätte sie erotische Phantasien erwecken können. Aber in ihrem Stamm ging eine Frau unberührt auf ihr Brautlager; andernfalls wäre die Schande so groß gewesen, daß nur ihr Tod die Familienehre hätte wiederherstellen können.

Sie liebte es, ihren glatten, vollkommenen Körper zur Schau zu stellen, denn Nacktheit war kein Grund, sich zu schämen. Sie posierte mit einer herausfordernden, aufreizenden Sinnlichkeit.

Und genau dieser Eindruck, daß sie etwas anbot, was sie in Wirklichkeit nie geben würde, machte die Verliebte Nubierin zu einer so hervorragenden Skulptur. Denn hervorragend war sie, nur konnten diese kurzsichtigen, ignoranten Richter das nicht erkennen.

»Du bist so still heute morgen«, sagte sie. Sie sprach ein idiomatisches Englisch mit einem trällernden Akzent und einer rhythmischen Betonung, die selbst dem gewöhnlichsten Satz etwas Pikantes gaben. »Bist du böse auf mich?«

Er arbeitete an einer Büste, und sie hätte sich nicht ganz auszuziehen brauchen, aber als er es ihr sagte, hörte sie nicht auf ihn, und deshalb war sie nackt. »Hätte ich denn einen Grund dazu?«

»Männer können aus sehr sonderbaren Gründen böse werden.«

Sie hob die Hand und berührte ihre rechte Brust.

»Halt still.«

»Es kitzelt mich. Wenn ich mich nicht selbst kratzen darf, dann mußt du es für mich tun.«

»Ich hab keine Zeit.« Mit dem Daumen glättete er eine Wölbung.

»Ich glaube, du haßt mich«, sagte sie traurig. Es war ein Spiel mit endlosen Variationen, das immer nach demselben Schema ablief.

»Glaub, was du willst.«

»Vielleicht wäre dir ein Junge lieber? Ich habe einen sehr hübschen Freund, der gern hierherkommen würde. In meinem Stamm sind die Jungen anders als die Mädchen.«

»Wie originell!«

Sie lachte, und ihre weißen Zähne blitzten. »Die Jungen müssen bei ihrer Hochzeit nicht jungfräulich sein. Soll ich ihn zu dir schicken, damit du glücklich bist und nicht herumläufst wie ein Bär mit Kopfschmerzen?«

»Ich verdresche dir den Arsch, wenn du das tust.«

Wieder lachte sie. Sie liebte diesen derben Umgangston.

Er trat einen Schritt zurück und betrachtete die Büste, die sich noch in einem ziemlich unfertigen Zustand befand. »Na schön, wir machen eine Kaffeepause.«

Sie kam zu ihm und stellte sich dicht vor ihn hin. »Sehen meine Brüste wirklich so aus?«

»Ich krieg sie einfach nicht hin«, erwiderte er gereizt. Auch ohne ihre Frage hatte er gewußt, daß ihm an diesem Vormittag die Arbeit nicht von der Hand ging. An manchen Tagen wollte ihm einfach nichts gelingen. Er drehte sich um und ging zur hinteren Wand der Scheune, wo sich ein Kaltwasserhahn, ein einflammiger Kocher und ein wurmstichiger Schrank befanden. Er holte einen verbeulten Kessel heraus, füllte ihn mit Wasser, stellte ihn auf den Kocher und entzündete das Gas. »Möchtest du rauchen?« »Ja, Massa.« Sie liebte es, eine Rolle zu spielen. Oftmals war sie eine Sklavin und er ihr Besitzer, der mit ihr machen konnte, was er wollte.

Aus einer Jackentasche holte er ein Päckchen mit zwei Zigarren. Sie nahm sich eine, rollte sie zwischen den Fingern und steckte sie sich zwischen die Lippen. »Gibst du mir Feuer, Massa?«

»Zünde sie dir selbst an.« Er warf ihr eine Schachtel Streichhölzer zu. Er fragte sich, ob sie wohl wußte, wie heftig er sie manchmal begehrte, doch dann wurde ihm klar, wie naiv dieser Gedanke war. Sobald er sich seine Leidenschaft anmerken ließe, würde sie ihn dafür verachten. Sie respektierte Charakterstärke.

Sie zündete sich die Zigarre an. »Steven …« Sie legte eine Pause ein, als sie ihm die Streichhölzer zurückgab. »Was hast du? Ist was passiert?« Ihr quecksilberiges Temperament war umgeschlagen, und jetzt wirkte sie vollkommen ernst.

»Weshalb fragst du?«

»Du bist so anders heute.«

»Ich hab gestern abend zuviel getrunken.«

»Weil sie dich verlassen hat, um mit diesem Bastard abzuhauen?«

Sie sprach Madges Namen niemals aus. Vielleicht wußte sie, daß Madge sie immer nur »diese Wilde« genannt hatte.

»Nein.«

»Weshalb dann?«

»Es gab keinen besonderen Grund.«

»Sei doch nicht dumm, Mann. Irgendwas macht dir schwer zu schaffen.«

»Und wenn schon, es geht dich nichts an.«

»Bei uns gibt es ein Sprichwort. Teilen heißt, daß man die Hälfte abgibt.«

»Das gilt nur für Missionare.«

Sie kam zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich bin doch deine Freundin. Sag’s mir.«

Für einen Außenstehenden hätten sie ein sehr ungewöhnliches Bild abgegeben – ein nacktes schwarzes Mädchen, das sich in einer bittenden Geste an einen Weißen in mittleren Jahren wendet. Aber ein so ernstgemeintes Hilfsangebot hatte er nur selten bekommen. Er räusperte sich. Leichtfallen würde es ihm nicht, denn er war ein sehr verschlossener Mensch. »Gestern habe ich etwas erfahren, das mich tief getroffen hat.«

Das Wasser im Kessel begann zu sieden. Er drehte das Gas ab, öffnete noch einmal den Schrank und holte zwei Becher, eine Dose Pulverkaffee, eine Zuckerschale und einen Teelöffel heraus. Er brühte den Kaffee auf und gab ihr einen Becher. »Wir wollen uns hinsetzen.«

Es gab eine alte Chaiselongue, die benutzt wurde, wenn er eine ruhende Gestalt darstellen wollte, und einen Küchenstuhl. Sie setzte sich auf die Chaiselongue. Sie dachte nicht daran, in den alten, wollenen Morgenmantel zu schlüpfen, der an einer Wand hing, und den die Modelle anzogen, die nicht so stolz auf ihren nackten Körper waren wie sie. Er konnte das Spiel ihrer Muskeln beobachten.

Sie trank und schnippte Asche auf den Fußboden. »Was hat dich so tief getroffen.«

Er fing an zu erzählen, anfangs stockend, dann immer flüssiger.

»Wie ist dein Vater gestorben?«

»Er wurde in Frankreich von den Deutschen als Spion erschossen. Nach dem Krieg verlieh man ihm posthum die George-Medaille.«

»Dann war er also ein großer Held?«

»Wie Hunderte von anderen Männern auch.«

»Warum sagst du das? Ihre Tapferkeit schmälert nicht die seine.«

»So hatte ich das nicht gemeint. Ich wollte nur …« Er unterbrach sich.

»Als typischer Brite verunglimpfst du das, was du am meisten bewunderst. Deine Mutter hämmerte dir ein, er sei ein großer Held gewesen, deshalb hast du zu ihm aufgeblickt. Und jetzt hältst du ihn für schlecht, nur weil er auch eine andere Frau geliebt hat?«

»Ich halte ihn nicht für schlecht, natürlich nicht … Aber er ist auch nicht mehr der Ritter in der strahlenden Rüstung, weil er meiner Mutter das angetan hat.«

»In meinem Volk gibt es so was wie Ehebruch nicht. Nach ihrer Heirat dürfen sich die Männer und Frauen vergnügen, mit wem sie wollen. Ein Mann kann mit hundert verschiedenen Frauen schlafen, ohne daß das seinem Ruf schadet.«

»Es ist etwas anderes, wenn man sein Leben lang geglaubt hat, sein Vater habe nur gute Eigenschaften besessen, und auf einmal entdeckt, daß er auch schlechte Charakterzüge hatte.«

»War deine Mutter eine naive Frau?«

»Bis zuletzt hatte sie einen messerscharfen Verstand.«

»War sie in moralischen Dingen genau?«

»Genauer als sie kann man gar nicht sein.«

»Warum hätte sie dich dann belügen sollen?«

»Wahrscheinlich wollte sie die Wahrheit vor mir verheimlichen.«

»Ein intelligenter Mensch versucht das erst gar nicht, weil er weiß, daß die Wahrheit eines Tages ohnehin herauskommt. War sie denn rachsüchtig?«

»Ich habe ihr oft gesagt, daß sie viel zu nachgiebig war in einer Welt, in der Nachgiebigkeit oft mit Schwäche verwechselt wird.«

»War sie masochistisch veranlagt?«

»Was für eine blöde Frage ist das denn?«

»Bei uns gibt es ein Sprichwort. Wenn man jemanden von einem Schlangenbiß heilen will, muß man ihm ins Fleisch schneiden.«

»Dein Stamm hat mehr Sprichwörter parat als ein irischer Komiker … Meine Mutter war nicht masochistisch veranlagt – und um deine Neugier zu stillen, sie war auch nicht sadistisch. Sie war eine Frau mit einer höheren Moral, als die meisten Menschen sie haben.«

»Warum hat sie den Brief dann fast fünfzig Jahre lang aufbewahrt?«

»Wenn ich das wüßte, dann bräuchte ich mir jetzt nicht den Kopf zu zerbrechen.«

»Wieso bist du dir so sicher, daß es sich um einen Liebesbrief handelt?«

»Weil die Menschen damals zurückhaltender waren als heute und sich keinen leidenschaftlichen Phantasien hingaben, wenn sie lediglich Brieffreunde waren.«

»Dann stimmt irgend etwas nicht.«

»Irgend etwas ist wirklich faul, aber was nur, um Gottes willen? Mutter erzählte immer, mein Vater habe sich mehrere Wochen lang in Frankreich aufgehalten, bevor man ihn schnappte; aber dem Brief zufolge war er drei Wochen zuvor in Portugal. Und …«

»Und was?«

»Und wieso Merlin?«

»Wer ist Merlin?«

»Ich sagte doch schon, daß Vater den Brief so unterschrieb. Mit Vornamen hieß er Peregrine. Und beides sind Falken, sowohl Peregrine als auch Merlin.«

»Ein Mann …« Sie unterbrach sich.

»Du brauchst mir nicht zu sagen, daß ein verheirateter Mann, der an eine andere Frau schreibt, manchmal einen Decknamen benutzt, um seine wahre Identität zu verschleiern. Das weiß ich auch. Aber ich glaube nicht, daß es so simpel ist. Merlin war am Hofe von König Arthur, dessen Gattin Guinevere hieß.«

»Willst du damit sagen, daß es ein Code ist?«

»Meine Mutter liebte die Legenden um König Arthur. Aber warum zum Teufel benutzte mein Vater einen Code, wenn er an meine Mutter schrieb?«

»Wenn es wirklich ein Code ist, dann würde das doch erklären, weshalb sie den Brief so lange aufbewahrte, nicht wahr?«

»Das Happy-End. Ihr Frauen sehnt euch immer nach einem sentimentalen Schluß.«

»Warum sollen wir uns nicht wünschen, daß das Leben schöner ist? … Wirst du nachforschen, was es mit diesem Brief auf sich hat?«

»Was, nach fünfzig Jahren?«

»Sei doch nicht so pessimistisch.«

»Dann verrate mir mal, weshalb ich das tun sollte? Indem ich König Arthur ins Spiel brachte, kann ich an eine harmlose Erklärung glauben und muß nicht gleich das Schlimmste annehmen.«

»Also wünschst du dir auch ein Happy-End?«

»Kannst du nicht mal für zehn Sekunden den Mund halten? … Angenommen, ich finde die Wahrheit heraus und merke, daß ich mich mit meiner König-Arthur-Interpretation geirrt habe und der Brief doch an eine andere Frau geschrieben wurde … dann habe ich mir selbst die Möglichkeit genommen, das zu glauben, was ich glauben will.«

»In meinem Stamm gibt es da ein Sprichwort.«

»Dein Stamm leidet an verbaler Diarrhöe.«

»Es ist besser, dem Teufel ins Gesicht zu sehen, und wenn er noch so häßlich ist, als es zu riskieren, daß er sich einem von hinten nähert … Du mußt versuchen, die Wahrheit herauszufinden, damit du Bescheid weißt. Du bist doch ein cleverer Bursche, und du kannst einen Menschen durchschauen. Hätte deine Mutter den Brief verwahrt, um sich an dem Schmerz zu weiden, den er ihr verursachte, dann hättest du das gewußt und keine so hohe Meinung von ihr gehabt. Also bitte, bitte, geh der Wahrheit auf den Grund, damit du dich nicht mehr mit Zweifeln herumquälst.« Sie stand von der Chaiselongue auf und stellte sich vor ihn hin; ihr Ausdruck war befehlend und beschwörend zugleich, und ihre Muskeln spannten sich, als wolle sie gleich körperliche Gewalt anwenden.

Er wünschte sich, er besäße das Talent, sie so abzubilden, wie er sie in diesem Augenblick sah; doch er bezweifelte, ob selbst ein Michelangelo das fertiggebracht hätte.

3

An einem grauen, bedeckten, regnerischen Tag in einem von Londons weniger zuträglichen Vororten fiel es Steven Armitage schwer, einen Sinn in seinem Vorhaben zu entdecken. Im Postamt wartete er in der Schlange, bis er an die Reihe kam, dann ging er zum Informationsschalter. Bald stellte sich heraus, daß die Frau, die dahinter saß, wesentlich hilfsbereiter war, als ihr Aussehen vermuten ließ.

»Von der Hopecroft Road habe ich noch nie etwas gehört. Sind Sie sicher, daß sie hier sein soll und nicht in West Ealing oder vielleicht sogar in Southall?«

»Die Adresse lautet eindeutig Hanwell, West Seven.«

»Dann muß ich in den Büchern nachschauen.«

Sie blieb nicht lange fort. Als sie zurückkam, sagte sie: »Es tut mir leid, aber in Hanwell gibt es keine Hopecroft Road. Für alle Fälle habe ich mal die anderen Vororte überprüft, doch in ganz London findet sich keine Hopecroft Road, nur Hopetown und Hopewell. Könnte es eine von diesen Straßen sein, obwohl auf dem Umschlag West Seven steht?«

»Nein, bestimmt nicht.«

»Ich glaub’s auch nicht … Vielleicht wenden Sie sich an die Person, die die Adresse geschrieben hat, und erkundigen sich noch einmal?«

Er deutete ein Lächeln an. »Das geht leider nicht. Der Brief wurde vor fast fünfzig Jahren geschrieben, und sowohl der Absender als auch der Adressat sind mittlerweile tot.«

Sie sah ihn neugierig an und wunderte sich, weshalb er diese Angelegenheit erst jetzt nach so langer Zeit verfolgte. »Natürlich werden Namen auch geändert, und das ist in diesem Fall vielleicht passiert. Es gab hier eine Joseph Pierce Street, bis der arme Mann etwas tat, was die Verwaltung aufregte, und ganz plötzlich wurde der Name geändert.«

»Wie kann ich feststellen, ob es damals in den vierziger Jahren eine Hopecroft Road gab?«

»Sie könnten die alten Straßenverzeichnisse durchgehen. Ich würde das gern für Sie tun, aber wir bewahren sie nur zehn Jahre lang auf. Und auf Anhieb kann ich Ihnen auch nicht sagen, wo Sie die alten finden … Das beste wäre, Sie unterhielten sich mal mit dem alten Charlie Brane. Er hat lange Zeit die Post ausgetragen, und er könnte wissen, ob es irgendwann einmal eine Hopecroft Road gab.«

»Wo finde ich ihn?«

»Seine Adresse muß in den Pensionsbüchern stehen. Warten Sie, ich schau mal nach.«

Sie blieb fast fünf Minuten lang fort, und als sie zurückkam, gab sie ihm einen Zettel, auf dem sie die Adresse notiert hatte. Er bedankte sich und ging, wobei ihn die Leute, die hinter ihm in der Schlange standen, wütende Blicke zuwarfen.

Sein Metro parkte vierzig Meter weiter die Straße entlang. Bei der ersten Drehung des Zündschlüssels sprang er an. Der Wagen sah vielleicht schrottreif aus, aber technisch war er in einwandfreiem Zustand.

Steven Armitage fuhr durch die Church Road und die Greenford Avenue und bog dann in ein Gewirr aus schmalen, kurzen Gäßchen ein. Er verfuhr sich nur einmal, bis er die Glenmorrie Avenue fand. Als er aus dem Wagen stieg, fragte er sich, wer der Straße wohl diesen unpassenden Namen gegeben hatte. Die schottischen Täler waren eine Million Meilen von dieser finsteren, häßlichen Gegend entfernt.

Eine etwas pummelige Frau in mittleren Jahren machte ihm die Tür auf. Zuerst sah sie ihn feindselig an, vielleicht hielt sie ihn seines Bartes wegen für einen religiösen Spinner, doch sobald er ihr den Grund für seinen Besuch nannte, wurde sie freundlich. »Dad sitzt im Vorderzimmer und sieht fern. Das ist so ziemlich das einzige, womit er sich noch beschäftigt. Aber dann ist er wenigstens ruhig. Und das ist schon was, wo er und die Jungs sich andauernd streiten.«

Nach dem, was sie sagte, stellte er sich einen senilen Greis vor, der wegen seiner Tatterigkeit und Nörgelei von den Enkeln verachtet wurde. Doch in Wirklichkeit war Charlie Brane ein rüstiger und geistig reger Mann, der höchstens ein zu loses Mundwerk hatte. Es dauerte eine Weile, bevor Armitage die Gelegenheit bekam, ihm den Grund für seinen Besuch zu erklären.

Brane schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Hopecroft Road.«

»Das sagte mir schon die Dame im Postamt. Aber sie meinte, Sie wüßten es, wenn es vor fünfzig Jahren mal eine solche Straße gegeben hätte, deren Name später geändert wurde.«

»Solange ich im Dienst war, hat es nie eine Hopecroft Road gegeben. Wahrscheinlich hat sich jemand mit dem Namen geirrt, so was kommt nämlich häufig vor. Was glauben Sie, wie viele falsch adressierte Briefe ich hatte, und nur weil ich meinen Verstand gebrauchte, konnte ich sie richtig zustellen. Die Leute sagen, bald würde alles maschinell erledigt. Aber welche Maschine weiß, daß mit B.P. Smith in der Mullins Street eigentlich B.P. Smith in der Murrins Street gemeint ist?«