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Der junge Fahrradkurier Jace Damon erledigt gerade den letzten Auftrag vor Feierabend, als er plötzlich von einem Auto gejagt wird. Schüsse fallen und Jace kommt nur knapp mit dem Leben davon. Was immer in dem Umschlag steckt, den Jace für den Strafverteidiger Lenny Lowell ausliefern soll – irgendjemand ist bereit, ihn dafür zu töten. Als er Lenny Lowell zur Rede stellen will, findet Jace ihn tot in seinem Büro – ermordet. Für Jace beginnt ein verzweifelter Wettlauf mit der Zeit. Denn der skrupellose Killer hat längst wieder seine Fährte aufgenommen, und es gibt nur einen Menschen, der Jace retten kann: die Polizistin Renee Ruiz. Doch leider hält auch sie Jace für Lenny Lowells Mörder …
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Seitenzahl: 654
Veröffentlichungsjahr: 2025
Der junge Fahrradkurier Jace Damon erledigt gerade den letzten Auftrag vor Feierabend, als er plötzlich von einem Auto gejagt wird. Schüsse fallen und Jace kommt nur knapp mit dem Leben davon. Was immer in dem Umschlag steckt, den Jace für den Strafverteidiger Lenny Lowell ausliefern soll – irgendjemand ist bereit, ihn dafür zu töten. Als er Lenny Lowell zur Rede stellen will, findet Jace ihn tot in seinem Büro – ermordet. Für Jace beginnt ein verzweifelter Wettlauf mit der Zeit. Denn der skrupellose Killer hat längst wieder seine Fährte aufgenommen, und es gibt nur einen Menschen, der Jace retten kann: die Polizistin Renee Ruiz. Doch leider hält auch sie Jace für Lenny Lowells Mörder …
Über Tami Hoag
Tami Hoag (* 20. Januar 1959 in Cresco, Iowa) ist eine US-amerikanische Schriftstellerin.1988 machte sie ihre Leidenschaft zum Beruf und verfasste ihr erstes Buch. Zunächste verfasste sie Liebesromane und widmetee sich später dem Schreiben von Thrillern. Lange Zeit lebte sie mit ihrem Mann auf einer Pferderanch in Virginia, bevor sie nach Los Angeles, Kalifornien umzog.
Außerdem lieferbar
Die Hitze einer Sommernacht (35395), Engel der Schuld (36430), Sünden der Nacht (36377), In aller Unschuld (36429)
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Tami Hoag
Tödlich ist die Nacht
Roman
Aus dem Englischen von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck
Titelinformationen
Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Impressum
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Der Verkehr von L. A.
Rushhour.
Vier Stunden Rushhour und kein Ende. Jeder Angelino beeilte sich, nach Hause zu kommen, bevor der Himmel seine Schleusen öffnete und es zu schütten begann. Den ganzen Tag über hatte eine drückende bleierne Wolkendecke über der Stadt gelegen. Endloses diffuses Dämmerlicht in den Betonschluchten zwischen den Wolkenkratzern von Downtown. Die Luft elektrisch geladen vor Erwartung.
In die Pedale treten. Hände fest um die Lenkergriffe geklammert. Taube Fingerspitzen. Augen auf die Lücke zwischen einem Jaguar und einem FedEx-Transporter gerichtet. Schmerzende Oberschenkel. Steinharte Waden. Der Geschmack von Abgasen. Trockene, brennende Augen hinter der Schwimmbrille. Eine Tasche voller Blaupausen in Pappröhren auf dem Rücken.
Aus dem Funkgerät, das wie ein Revolver an seinen Oberschenkel geschnallt war, kam ein Knistern und dann die heisere Stimme von Eta Fitzgerald, der Disponentin in der Zentrale. Er kannte ihren richtigen Namen nicht. Sie nannten sie Eta, weil es das war, was sie den ganzen Tag, jeden Tag, von ihr hörten: ETA? ETA Sechzehn? Zentrale an Jace. ETA? Wo steckst du, Herzchen?
Ihm blieben drei Minuten, um es bis in das Planungsbüro im siebzehnten Stock eines Gebäudes zu schaffen, das noch mehrere Blocks entfernt lag. Der Wachmann am Empfang war ein Idiot. Er verriegelte Punkt sechs die Türen und scherte sich nicht darum, ob noch jemand draußen auf der Straße stand und hineinwollte. Der Kerl hätte ohne mit der Wimper zu zucken seine eigene Mutter da stehen lassen, falls er eine hatte, was Jace bezweifelte. Er sah aus wie etwas, das aus irgendeinem Erdloch gewachsen war. Ein menschlicher Giftpilz.
Gewicht nach rechts verlagern. Knapp vor dem Jaguar einscheren.
Hinter ihm ertönte die Hupe des Jaguars, während er noch schneller in die Pedale trat, um ein paar Zentimeter Abstand zwischen sein Hinterrad und die Stoßstange des Wagens zu bringen. Die Ampel vor ihm war auf Gelb umgesprungen, aber der FedEx-Transporter gab noch einmal Gas. Jace fuhr rechts neben den Wagen, dann streckte er die Hand aus, hielt sich oberhalb des Radkastens fest und ließ sich von dem Transporter über die Kreuzung und weiter die Straße hinunterziehen.
Er war der Meister des toten Winkels. Wenn der Typ hinter dem Lenkrad einen Fahrradkurier entdeckte und etwas, gegen den blinden Passagier hatte, konnte es passieren, dass der Kurier, ehe er sich’s versah, wie eine Fliege an der Windschutzscheibe klebte. Die Fahrer von FedEx waren für gewöhnlich cool. Simpatico. Von Kurier zu Kurier. Sie stellten beide die Verbindung zwischen Leuten dar, die es einen Dreck interessierte, wer sie waren, solange sie sich nicht mit einer Sendung verspäteten.
Das Gebäude kam in Sicht. Jace warf kurz einen Blick über die Schulter, ließ den Transporter los und schwenkte nach rechts, quer über eine zweite Fahrspur, was erneut wütendes Gehupe nach sich zog. Er setzte zwischen einem Hydranten und einem Cadillac, der im Halteverbot stand, zum Sprung über die Gehsteigkante an. Die Beifahrertür des Wagens wurde genau in dem Augenblick aufgerissen, als das Fahrrad mit beiden Reifen in der Luft war.
Scheiße!
Jace riss den Lenker nach rechts und verlagerte sein Gewicht nach links, als das Fahrrad wieder auf dem Boden landete. Die alte Dame, die gerade aus dem Cadillac steigen wollte, schrie auf und fiel zurück auf den Sitz. Der Vorderreifen des Fahrrads traf hart auf dem Pflaster auf.
Jace hielt sich auf seinem Rad wie eine Zecke auf dem Rücken eines Hundes. Er berührte die Bremsen kaum, aber es reichte, um die Situation wieder in den Griff zu bekommen.
Bloß keine Panik. Panik ist tödlich. Bleib cool, J. C. Du schaffst es. Konzentrier dich. Ganz ruhig.
Er hielt die Augen auf sein Ziel gerichtet. Er konnte sehen, wie der Idiot von Wachmann mit den Schlüsseln in der Hand auf die Eingangstür zusteuerte.
Scheiße!
Panik. Nicht wegen der Gefahr, verletzt zu werden, sondern wegen der Gefahr, ausgesperrt zu werden. Den Kunden würde es nicht interessieren, dass er die Sendung viel zu spät losgeschickt hatte oder dass der Kurier um ein Haar von der Tür eines Cadillac niedergestreckt worden wäre. Wenn die Sendung nicht rechtzeitig ankam, war der Teufel los.
Drei Meter vor der Tür sprang er ab und ließ das Rad auf den Boden fallen. Er hatte keine Zeit, es abzuschließen, er musste einfach hoffen, dass es noch da war, wenn er wieder herauskam. Er rannte zur Tür, stolperte, verlor das Gleichgewicht und schlug mit wild rudernden Armen und Beinen hart auf dem Pflaster auf. Die Pappröhren mit den Blaupausen flogen in hohem Bogen aus seiner Tasche und rollten über den Gehweg.
Keine Zeit, um nachzusehen, ob er sich verletzt hatte oder sich Gedanken über Schmerzen zu machen.
Er rappelte sich hoch und stolperte und taumelte weiter, während er gleichzeitig versuchte, die Pappröhren einzusammeln. Der Wachmann starrte ihn durch die Glasscheiben an. Ein grobknochiges, graues Gesicht, missmutig verzogen. Er drehte den Schlüssel im Schloss um und ging weg.
»Hey!«, schrie Jace und trommelte gegen die Scheibe. »Hey, machen Sie auf!«
Der Wachmann tat so, als würde er ihn nicht hören. Schwein. Es war eine Minute vor sechs, und der Kerl dachte an nichts anderes als daran, auf den Freeway zu kommen und nach Pomona oder ins Valley zu zuckeln oder in welchem langweiligen, beschissenen Vorort auch immer er sich jeden Abend verkroch. Wie käme er dazu, drei Minuten länger zu bleiben, um eine Sendung entgegenzunehmen? Die Macht wegzugehen war vermutlich die einzige, über die er in seinem armseligen Leben verfügte.
»Arschloch!«, schrie Jace. Am liebsten hätte er gegen die Tür getreten, aber bei seinem Glück würde das bescheuerte Ding sicher zerbrechen, und er würde sich in einer Zelle wiederfinden. Wobei er ein bisschen Ruhe und drei Mahlzeiten am Tag durchaus hätte brauchen können. In Jace Damons Leben war Ruhe nicht vorgesehen.
Die Pappröhren unter den Arm geklemmt, hob er sein Fahrrad auf und schwang sich in den Sattel. Die Einfahrt zur Tiefgarage des Gebäudes befand sich in der Seitenstraße. Vermutlich war das Gitter heruntergelassen, aber sobald ein Wagen herausfuhr, konnte er hineinschlüpfen. Wenn es einen Gott gab – was er außer in Zeiten größter Bedrängnis bezweifelte –, dann war noch jemand in dem Planungsbüro im siebzehnten Stock. Er hoffte auf die blonde Lori am Empfang, die immer gut gelaunt war und ihm ein Snickers aus ihrem Vorrat in der untersten Schreibtischschublade schenken würde. Er hatte seit dem Frühstück – einem Bagel vom Vortag und einem geklauten Powerriegel – nichts mehr gegessen.
Er postierte sich rechts neben der Einfahrt zur Tiefgarage und drückte sich gerade so weit auf die Seite, dass ihn jemand, der aus der Tiefgarage kam, nicht sehen konnte. Er hatte bereits vor langer Zeit gelernt, sich unsichtbar zu machen, sich im Verborgenen zu halten, ständig auf der Hut zu sein. Strategien, um auf der Straße zu überleben.
Aus seinem Funkgerät drang ein Geräusch wie vom Abreißen eines Klebebands. »Sechzehn? Bist du irgendwo da draußen? Zentrale an Jace. Zentrale an Jace. Hey, Lone Ranger, wo steckst du? Ich hab hier Probleme mit Knete.«
Knete war Etas Bezeichnung für Kunde. Der Inhaber des Planungsbüros war auf der anderen Leitung und brüllte herum.
»Ich bin im Aufzug«, sagte Jace. Er schaltete das Funkgerät ein paarmal an und aus. »Zentrale? Ich habe keinen Empfang mehr, Zentrale!«
Das Gitter setzte sich rasselnd in Bewegung. Aus der Tiefgarage kam ein hässlicher, schleimgrüner Chrysler. Hinter dem Lenkrad saß der Wachmann. Jace zeigte ihm den Mittelfinger, während er an ihm vorbei in die Garage bog und sein Fahrrad über die Rampe nach unten rollen ließ.
Der Koreaner an der Kasse warf Jace nur einen flüchtigen Blick zu, als er um die heruntergelassene Schranke schoss, die verhinderte, dass irgendwelche fremden Autos in die Tiefgarage fuhren. Jace steuerte den Aufzug an und sprang von seinem Fahrrad, als im gleichen Augenblick die Türen aufgingen und ein Grüppchen gut gekleideter Angestellter heraustrat, die ihren Bürozellen für diesen Tag entkommen waren. Eine blonde Frau, die einen helmartigen Pagenschnitt und einen Regenmantel mit Leopardenmuster trug, sah ihn an, als sei er ein Hundehaufen und presste ihre Designerhandtasche an die Brust, während sie an ihm vorbeiging.
Jace grinste sie an. »Wie geht’s?«
Sie schnaubte und eilte davon. Leute, die Anzüge und Kostüme trugen und in Büros saßen, begegneten Fahrradkurieren für gewöhnlich mit Misstrauen. Sie waren Rebellen, Krieger der Straße, Außenseiter der Gesellschaft in merkwürdiger Aufmachung, die in die geregelte, ehrenwerte Geschäftswelt eindrangen. Die meisten Kuriere, die Jace kannte, waren von Kopf bis Fuß tätowiert und hatten mehr Piercings als ein Sieb Löcher. Sie liefen Reklame für ein Leben außerhalb geordneter Bahnen, Individualisten, denen das Anderssein auf die Stirn geschrieben war.
Jace verzichtete auf derartige Statements. Er zog das an, was er billig oder umsonst im Selbsthilfeladen bekam – weite Shorts und Sweatshirts mit abgeschnittenen Ärmeln, die er über Radlerhosen und langärmeligen T-Shirts trug. Seine Haare standen wie Stacheln durch die Schlitze in seinem Fahrradhelm. Die Schwimmbrille ließ ihn wie einen Außerirdischen aussehen.
Er nahm die Brille ab und rieb sich den Staub aus den Augen, während er sein Rad in den Aufzug schob und die 17 drückte. Sein Geruch stieg ihm in die Nase – alter Schweiß und Abgase. An diesem Tag hatte er dreiundzwanzig Sendungen ausgeliefert und konnte spüren, dass der Dreck der Stadt wie ein Film auf seiner Haut klebte. Er hatte sich draußen vor der Tür auf dem Gehweg das Knie aufgeschlagen. Blut lief in langsamen, dicken Tropfen über sein schmutziges, nacktes Schienbein und wurde von seiner ausgeleierten, grauen Socke aufgesogen.
Wenn er endlich zu Hause war und sich unter die Dusche stellen konnte, würde er diesen Tag von sich abwaschen und wieder zu einem blonden weißen Jungen werden. Er würde ein paar Stunden mit seinem kleinen Bruder Tyler verbringen und sich dann hinter seine Bücher setzen, bis er über ihnen einschlief. Nur allzu bald würde es wieder halb sechs sein und ein weiterer Tag damit beginnen, dass er in dem Fischmarkt in Chinatown, über dem sie wohnten, Eis in die Kühlboxen schaufelte.
Mein Leben ist beschissen.
Er erlaubte sich nur selten, sich das einzugestehen. Was hatte es für einen Sinn, lange darüber nachzudenken? Er hatte nicht die Absicht, sein Leben ewig auf diese Weise fortzuführen. Das war es, worauf er sich konzentrieren musste: Veränderung, Verbesserung, die Zukunft.
Er hatte eine Zukunft. Tyler hatte eine Zukunft – dafür hatte Jace bisher gesorgt, und er würde auch weiterhin dafür sorgen. Und ihre Zukunft würde tausendmal besser sein als alles, was ihnen das Leben bis jetzt geboten hatte. Es war nur eine Frage der Zeit und der Zielstrebigkeit und des Willens.
Ein Gong ertönte und die Türen des Aufzugs gingen auf. Das Planungsbüro lag am Ende des Korridors auf der linken Seite. Nr. 1701. Planung und Entwicklung. Lori, die niedliche Empfangsdame, war schon weg, und damit war auch die Chance auf ein kostenloses Snickers dahin. Mr. Planung und Entwicklung stand an ihrem Schreibtisch und brüllte ins Telefon. Er hielt abrupt inne und knallte den Hörer auf die Gabel, als Jace mit den Blaupausen hereinkam.
»Das wird aber auch Zeit, verdammt noch mal!«, schrie er. »Da wäre ja meine achtzigjährige Mutter mit ihrer Gehhilfe schneller hier gewesen!«
»Tut mir Leid«, sagte Jace und hielt ihm die Empfangsbestätigung entgegen. Er verzichtete auf weitere Entschuldigungen oder Erklärungen. Er wusste aus Erfahrung, dass Mr. Planung und Entwicklung sich nicht dafür interessierte. Ihn interessierte nur, dass er jetzt seine Blaupausen hatte und sein Leben weiterleben konnte.
Er riss Jace die Empfangsbestätigung aus der Hand, kritzelte eine Unterschrift darunter und warf sie ihm wieder zu. Kein Danke, kein Trinkgeld, kein gar nichts. Lori hätte vielleicht sein aufgeschlagenes Knie bemerkt und ihm außer dem Snickers noch ein Pflaster gegeben und ihn ein bisschen bedauert. Jetzt musste er sich mit der Vorstellung zufrieden geben. Wenigstens in seiner Fantasie führte er ein Leben, in dem er es sich leisten konnte, ein Mädchen in ein nettes Restaurant auszuführen.
Zurück auf der Straße funkte er die Zentrale an, um die Lieferung zu bestätigen. Bis ins Büro brauchte er fünfzehn Minuten, dort würde er eine halbe Stunde damit verbringen, seine Empfangsbestätigungen mit Etas Laufzetteln abzugleichen, auf denen sie notierte, welchen Auftrag sie welchem Kurier erteilt hatte. Viertel nach sieben könnte er unter der Dusche stehen.
»Sechzehn an Zentrale. Jace an Zentrale. Sendung an Mr. Riesenarmleuchter geliefert und quittiert.«
»Verstanden, mein Engel. Der Platz im Himmel ist dir sicher.«
»Ich glaube nicht, dass es einen Himmel gibt.«
»Herzchen, du musst aber an eine bessere Welt als diese hier glauben.«
»Klar. Die heißt Malibu. Ich werd mir ein Haus dort kaufen, wenn ich reich und berühmt bin.«
»Prima, dann komm ich und lass mich von dir aushalten. Kriegst dafür auch jede Menge Schokoküsse von mir, Baby.«
Eta wog zweihundert Pfund, hatte fünf Zentimeter lange, knallrosa lackierte Fingernägel und ein Medusenhaupt voller Zöpfchen.
»Da wirst du dich hinter Claire Danes und Liv Tyler anstellen müssen.«
»Mein Schatz, solche mageren kleinen weißen Mädchen verspeise ich zum Frühstück und ihre Knöchelchen benutze ich als Zahnstocher.«
»Eta, du machst mir Angst.«
»Das ist gut. Wie sollte ich dich sonst rumkommandieren und dir beibringen, dass ich noch eine Fahrt für dich habe?«
Sein Seufzer kam aus tiefster Seele. »Kommt nicht in Frage. Nicht heute Abend. Funk jemand anders an.«
»Ist keiner mehr da. Nur noch du, Lone Ranger, und Baby, du bist der Beste.«
Sie gab ihm die Adressen durch, wo er die Sendung abholen und wo er sie abgeben sollte, und schlug ihm dann noch vor, dass er ihr von dem Trinkgeld, das er bekommen würde, einen Diamantring kaufen könnte.
Jace saß im Licht der Notbeleuchtung neben der Garageneinfahrt auf seinem Fahrrad und starrte auf den Zettel, auf dem er Namen und Adresse notiert hatte, und ihm ging durch den Kopf, dass er nur ein einziges Mal von jemandem etwas bekommen hatte, das wirklich etwas wert war, und das war kein Trinkgeld, sondern ein weiser Spruch: Gut zu sein ist gut, Glück zu haben ist besser.
Als er den Zettel zusammenfaltete, begann es zu regnen.
Der Fernseher, der in dem voll gestellten Bücherregal auf der anderen Seite des Zimmers stand, lief vor sich hin, während Lenny Lowell das Päckchen für den Kurier fertig machte. Die gedämpfte Beleuchtung verwandelte sein Büro in eine Oase des Lichts inmitten einer ansonsten dunklen Reihe billiger Geschäfte – eine Yogaschule, eine Wahrsagerpraxis, ein Nagelstudio, das von Prostituierten besucht wurde. Das Kautionsbüro ein Stück weiter auf der anderen Seite der Straße hatte noch geöffnet, und dahinter warf eine Tankstelle gleißende Lichtkegel wie auf einem Gefängnishof.
Der Tankwart hatte sich vermutlich schon hinter mehreren Zentimetern kugelsicherem Glas in seinem Kabuff verbarrikadiert. Aber heute Nacht würden nicht viele Verbrechen passieren, deretwegen sich der Tankwart oder der Betreiber des Kautionsbüros Sorgen machen müssten. Es regnete. In L. A. bleiben bei Regen sogar die Kriminellen zu Hause.
Im Fernsehen berichtete eine attraktive brünette Sprecherin gerade über das jüngste Jahrhundertverbrechen. Für den bevorstehenden Prozess gegen den Schauspieler Rob Cole, der beschuldigt wurde, auf brutale Weise seine Ehefrau Tricia ermordet zu haben, fand zurzeit die Auswahl der Geschworenen statt.
Lennys Mandantenliste dagegen las sich wie ein Who is Who der berüchtigtsten Stammkunden des Los Angeles Police Department.
Nicht dass er sich hätte beklagen können. Die Welt war voller Gewohnheitstäter, die zu viel Geld hatten, um einen Pflichtverteidiger gestellt zu bekommen, und zu wenig Verstand, um sich nicht erwischen zu lassen. Lenny betrieb eine florierende Kanzlei. Und seine neueste Nebentätigkeit hatte ihm einen Cadillac und ein Flugticket auf die Cayman-Inseln eingebracht. Trotzdem hatte er Anwälte wie Martin Gorman, Johnny Cochran und Robert Shapiro immer darum beneidet, dass sie im Rampenlicht standen. Er hatte nur nie eine Möglichkeit gefunden, ohne Talent und Verbindungen dorthin zu gelangen.
Der Bildschirm wurde jetzt von einem Foto von Tricia CrowneCole ausgefüllt. Sie war nicht besonders attraktiv, sie wirkte irgendwie plump und unscheinbar mit den braunen Haaren, die für eine Frau ihres Alters zu lang waren (sie musste über fünfzig sein – erheblich älter als Cole, vorausgesetzt, dass er Anfang vierzig war, wie er immer behauptete). Außerdem trug sie eine Brille, die sie wie eine altjüngferliche Bibliothekarin aussehen ließ.
Man hätte meinen sollen, dass die Tochter eines Milliardärs einen Teil des vielen Geldes darauf verwendete, mehr aus sich zu machen. Vor allem in einer Stadt, in der Frauen die Telefonnummern ihres Schönheitschirurgen und ihres Lieblingsdesigners als Kurzwahl gespeichert hatten. Ein paar Millionen Dollar konnten aus einem schlichten Äußeren etwas Umwerfendes machen.
Als ganz normaler Bürger konnte man sich nur schwer vorstellen, welches Interesse jemand an ihrem Tod haben könnte. Sie hatte ihr Leben der Aufgabe gewidmet, die gemeinnützige Stiftung ihres Vaters zu verwalten. Es gab keine Krankheit, die Norman Crowne nicht zu heilen versuchte, kein soziales Anliegen, für das er nicht eintrat, keine Extravaganzen in der Kunst, die er nicht unterstützte – durch Tricia. Sie stellte das soziale Gewissen ihres Vaters dar.
Als Durchschnittsbürger konnte man sich überhaupt nicht vorstellen, dass irgendjemand fähig war, sie auf so brutale Weise zu ermorden, indem er sie zuerst erwürgte und anschließend mit einer Skulptur von der Größe einer Bowlingkugel auf ihr Gesicht einschlug. Lenny war kein Durchschnittsbürger. Er hatte all das schon tausendmal gehört und wusste nur zu gut, wozu Menschen fähig waren, wozu Eifersucht und Hass sie treiben konnten.
In der Stadt kursierte das Gerücht, dass Tricia, der ständigen Seitensprünge ihres Mannes und der ewigen Auseinandersetzungen überdrüssig, kurz davor gestanden hatte, Rob Cole vor die Tür zu setzen. Cole hatte mit Starallüren, Dummheit und einem letztlich bescheidenen Talent seine Karriere verspielt. Er hatte sein ganzes Geld durchgebracht und dazu noch eine Menge von ihrem. Einen beträchtlichen Teil davon hatte er sich in die Nase gezogen. Ein weiterer beträchtlicher Teil war in Entzugskliniken geflossen – in Form von wohltätigen Spenden, wie sich herausstellte. Rob Cole besaß nicht genug Charakter, um sich selbst aus dem Sumpf herauszuziehen, und nicht genug Verstand, um seine Schwächen vor der Öffentlichkeit zu verbergen.
Der maßgeschneiderte Mandant für Leonard Lowell, dachte Lenny mit Bedauern. Er hätte sich einen Namen damit machen können, Rob Cole aus dieser Sache herauszupauken – einen Namen, der dann selbst den Leuten etwas gesagt hätte, die kein Vorstrafenregister hatten. Stattdessen würde Rob Cole Martin Gorman Kopfschmerzen bereiten. Lenny hatte ein paar andere Schäfchen ins Trockene zu bringen.
Das Läuten der Türglocke verkündete, dass der Kurier da war. Als Lenny um seinen Schreibtisch herumging, warf er einen Blick auf die Prospekte, die ihm der Rotschopf aus dem Reisebüro im ersten Stock gegeben hatte, und fragte sich, ob er sie wohl dazu überreden könnte, ihn zu begleiten. Palmenstrand und eine heiße Braut. Paradiesisch.
Jace drückte ein zweites Mal auf die Klingel, obwohl er sehen konnte, dass Lenny Lowell aus dem Büro in das dunkle Vorzimmer trat, in dem tagsüber seine Sekretärin saß – eine Frau mit strohblonden Haaren und einer Schmetterlingsbrille, die jeder nur »Doll« nannte. Lenny hatte etwas von einer Figur aus einem dieser alten Filme, in denen alle Männer Hüte und weit geschnittene Anzüge trugen und jeder rauchte und schnell redete.
Jace war schon oft in Lennys Büro gewesen. Ein großer Teil der Kuriersendungen wurde von irgendwelchen Anwälten losgeschickt oder in Empfang genommen – sehr zum Missvergnügen der Kuriere. Anwälte waren bekannt für ihre Knauserigkeit, und man konnte es ihnen nie recht machen. Für ihre alljährliche Feier an Thanksgiving bastelten die Kuriere immer eine große Strohpuppe, die dem meistgehassten Anwalt des Jahres nachgebildet war. Sie stopften das Ding besonders fest aus, damit jeder die Chance hatte, mehrmals darauf einzudreschen.
Jace spielte das Spiel mit, ohne zu verraten, dass er die Absicht hatte, eines Tages zur Kaste der Verachteten zu gehören. Er war in Verhältnissen aufgewachsen, in denen er die Erfahrung gemacht hatte, dass das Gesetz oft gegen die Menschen arbeitete – vor allem gegen Kinder. Er hatte vor, das Blatt zu seinen Gunsten zu wenden – seinem Leben eine andere Richtung zu geben und hoffentlich auch dem einiger anderer Menschen. Da er jedoch am College nur zwei Seminare pro Semester belegen konnte, wären die meisten seiner Kollegen vermutlich schon tot oder weggezogen, wenn er endlich das Examen ablegte. Falls jemals eine Strohpuppe für Jace gebastelt werden sollte, dann würden es Fremde sein, die so lange darauf einschlugen, bis die Füllung herausquoll.
In der Zwischenzeit ließ er keine Gelegenheit aus, mit jedem Anwalt, mit dem er zu tun hatte, ein paar Worte zu wechseln, er wollte einen guten Eindruck machen und so viel wie möglich über den Beruf und die Leute, die ihn ausübten, in Erfahrung bringen. Netzwerke schaffen. Auf den Tag hinarbeiten, an dem er auf der Suche nach einem Job war, eine Empfehlung brauchte, einen Rat.
Lowell machte die Tür auf, sein langes Pferdegesicht verzog sich zu einem Lächeln, das zwei Reihen unnatürlich weißer Zähne sehen ließ.
»Weder Wind noch Smog noch finstere Nacht«, dröhnte er. Er hatte getrunken. Jace roch den Bourbon, den auch das billige Rasierwasser nicht überdecken konnte.
»Hallo, Lenny«, sagte er und schob sich an ihm vorbei. »Das schüttet vielleicht, Mann.«
»Deshalb kriegst du ja auch so viel Geld, mein Junge.«
»Ja, klar, ich wälze mich drin«, sagte Jace und widerstand dem Drang, sich zu schütteln wie ein nasser Hund. »Das hier mache ich nur, weil’s so spannend ist.«
»Dein Leben ist einfach«, meinte der Anwalt, während er zurück in sein Büro ging. »Das hat wirklich einiges für sich.«
»Ja, zum Beispiel, dass es beschissen ist. Glauben Sie mir, Lenny, ich würde lieber in Ihrem neuen Cadillac rumfahren als auf meinem Fahrrad. Vor allem heute Abend. Mann, ich hasse diesen Regen.«
Lowell wedelte ihm mit seiner großen knochigen Hand vor der Nase herum. »Ach was, Regen ist gut für die Haare. Es sei denn, du bist so ein armes Schwein wie Rob Cole. Dem steht das Wasser schon bis zum Hals.«
Jace sah sich in dem Büro um, in dem sich Bücher und Papiere und Aktenordner stapelten. Auf dem Schreibtisch standen neben einem Bowlingpokal von 1974 zwei gerahmte Fotografien – die eine zeigte ein Rennpferd mit einem Siegerkranz um den Hals, die andere eine hübsche junge Frau mit langen, dunklen Haaren und einem zuversichtlichen Lächeln, Lennys Tochter Abby. Jurastudentin, wie Lenny ihm erzählt hatte.
»Gorman wird ihn raushauen«, sagte Jace und nahm den Bowlingpokal in die Hand, um die Inschrift zu lesen: 2. MANNSCHAFTSPLATZ, HOLLYWOOD BOWL, 1974. Es war nicht schwer, sich Lenny in einem dieser Bowlinghemden aus den Fünfzigern vorzustellen, die Haare mit viel Pomade nach hinten gekämmt. »Gorman ist gut. Er ist besser als gut.«
»Gut zu sein ist gut, Glück zu haben ist besser, mein Junge«, gab Lowell zurück. »Martin tritt in einem abgekarteten Spiel an. Geld ist Macht. Daran musst du immer denken.«
»Würde ich, wenn ich welches hätte.« Jace stellte den Pokal zurück und kratzte sich unter seiner billigen Regenjacke aus Plastik am Arm. Er hatte im Neunundneunzigcentladen gleich ein halbes Dutzend davon gekauft, weil sie sich auf die Größe einer Geldbörse zusammenfalten ließen und in seiner Tasche nicht viel Platz beanspruchten. So eine Jacke hielt selten mehr als einen Regenguss aus, aber die Chancen standen gut, dass sechs davon über den Winter reichen würden.
»Hier«, sagte Lowell und drückte ihm einen Zwanzigdollarschein in die Hand. »Für deine Mühe, Junge. Aber hau nicht gleich alles auf einmal auf den Kopf.«
Jace machte Anstalten, den Schein gegen das Licht zu halten.
Lowell ließ ein Schnauben hören. »Der ist echt. Mein Gott. Der letzte Geldfälscher, den ich verteidigt habe, ist 1987 nach San Quentin gewandert. Das Geschäft ist jetzt fest in der Hand der Russen. Damit will ich nichts zu tun haben. Im Vergleich zu diesen Scheißkerlen wirkt Hannibal Lecter wie eine trübe Tasse mit Essstörung.« Er hob sein Glas. »Auf ein langes Leben. Meins. Wie wär’s mit einem kleinen Schluck, mein Junge?«
»Nein danke, ich trinke nicht.«
»Fahrer mit Verantwortung, hm?«
»So was in der Art.«
Erwachsener mit Verantwortung, so lange er denken konnte, aber das erzählte er Leonard Lowell nicht. Er erzählte nie jemandem etwas über sein Leben. Keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Je weniger die Leute wussten, desto weniger interessierten sie sich für ihn und desto weniger waren sie darauf versessen, ihm zu »helfen«. Zwanzig Dollar extra waren die einzige Art von Hilfe, die Jace brauchte.
»Danke, Lenny, das ist wirklich nett von Ihnen.«
»Schon gut, Junge. Sag deiner Mutter, sie hat einen anständigen Jungen großgezogen.«
»Tu ich.«
Würde er nicht tun. Seine Mutter war vor sechs Jahren gestorben. Er hatte sich zum größten Teil selbst großgezogen und Tyler auch.
Lowell überreichte ihm einen zwölf mal siebzehn Zentimeter großen gepolsterten Umschlag. Er klemmte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, die auf und ab wippte, während er weitersprach und gleichzeitig in den Taschen seiner weiten Hose nach einem Feuerzeug suchte. »Es ist nett von dir, dass du das noch für mich erledigst, Junge. Hast du die Adresse?«
Jace wiederholte sie aus dem Gedächtnis.
»Achte darauf, dass es trocken bleibt«, sagte Lowell und blies den Rauch an die vergilbte Decke.
»Als hinge mein Leben davon ab.«
Berühmte letzte Worte, dachte Jace später jedes Mal, wenn er sich an diesen Abend erinnerte. Doch als er jetzt in den Regen hinaustrat und das Bügelschloss an seinem Fahrrad aufschloss, dachte er nichts.
Statt den Umschlag in seine Tasche zu stecken, schob er ihn unter sein T-Shirt und stopfte ihn zusammen mit dem Stoff in den Bund seiner Radlerhose. Warm und trocken.
Unter der blauen Neonschrift, die für SPIRITISTISCHE SITZUNGEN warb, stieg er auf sein Rad und begann in die Pedale zu treten, mit müden Beinen, schmerzendem Rücken und kalten Fingern, die keinen Halt an den nassen Lenkergriffen fanden. Sein Gewicht verlagerte sich von Pedal zu Pedal, das Fahrrad pendelte von einer Seite zu anderen, bis die Bewegung zur vorwärts treibenden Kraft wurde, während er an Geschwindigkeit zulegte. Die Schmerzen wichen allmählich dem vertrauten Taubheitsgefühl.
Eine letzte Fahrt.
Er würde den Papierkram bis zum nächsten Morgen liegen lassen. Diese Sendung ausliefern, nach Hause fahren und sich unter die heiße Dusche stellen. Er malte es sich aus: warmes Wasser, das auf seine Schultern prasselte, die Knoten in seinem Nacken löste, heißer Dampf, der den Gestank der Stadt aus seiner Nase vertrieb und seinen Lungen, die den ganzen Tag über Autoabgase eingesogen hatten, Linderung brachte. Er dachte an die scharfe, süß- saure Suppe von Madame Chen und an die sauberen Laken auf dem Futon, und er bemühte sich nach Kräften, den kalten Regen zu ignorieren, der ihm ins Gesicht schlug und die Ölschicht vom Asphalt der Straße wusch.
Auf Autopilot gestellt fuhr er weiter, während er seine Gedanken schweifen ließ. An der Tankstelle vorbei, nach rechts. Zwei Blocks geradeaus, dann nach links. Die Nebenstraßen waren verlassen, finster. Niemand hielt sich um diese Zeit in diesem Teil der Stadt auf, wenn er nicht einen sehr guten Grund dafür hatte. Die Geschäfte in den heruntergekommenen Flachbauten – eine Glaserei, ein Laden für Klimaanlagen, ein Möbelrestaurator, eine Autowerkstatt – schlossen um sechs.
Er hätte sich vielleicht Gedanken darüber gemacht, dass es eine merkwürdige Empfängeradresse für eine Sendung von einem Anwalt war, wenn es sich bei diesem Anwalt nicht um Lenny gehandelt hätte, und Lennys Klientel bestand nun mal aus Kriminellen, die es auf der Karriereleiter nicht besonders weit nach oben geschafft hatten.
Im spärlichen Licht der Straßenbeleuchtung warf er einen Blick auf die Hausnummern. Es musste das erste Haus auf der rechten Seite nach der nächsten Kreuzung sein. Nur dass an der Stelle des ersten Hauses auf der rechten Seite nach der nächsten Kreuzung ein Loch gähnte.
Jace fuhr daran vorbei, warf einen Blick auf die Nummer des Nachbarhauses, das abgesehen von der Notbeleuchtung über der Eingangstür dunkel dalag.
Jace beschlich ein unbehagliches Gefühl, als würde ihm jemand mit dem Fingernagel über den Nacken kratzen. Er wendete und fuhr noch einmal langsam an dem unbebauten Grundstück vorbei.
Scheinwerfer leuchteten auf und blendeten ihn eine Sekunde lang.
Was für eine bescheuerte Lieferung war das denn? Drogen? Eine Geldübergabe? Was auch immer es war, Jace wollte nichts damit zu tun haben. Nur ein Idiot würde da reinfahren und um eine Unterschrift auf einer Empfangsbestätigung bitten.
Wut überkam ihn. Und Angst. Man hatte ihn mitten in der Nacht zu einem verlassenen Grundstück geschickt. Zum Teufel damit. Zum Teufel mit Lenny Lowell. Er konnte seine Sendung nehmen und sie sich sonst wohin schieben.
Jace stemmte sich in die Pedale, um zu verschwinden.
Der Wagen schoss vorwärts, der Fahrer ließ den Motor wie ein sprungbereites Raubtier aufbrüllen, als er direkt auf ihn zukam.
Für den Bruchteil einer Sekunde hielt Jace mitten in der Bewegung inne – unfähig, sich zu rühren. Dann trat er in die Pedale, seine Beine stampften wie Kolben auf und ab, die Reifen seines Fahrrads schlitterten über die nasse Straße. Wenn er geradeaus fuhr, würde ihn der Wagen auf die Motorhaube nehmen. Also riss er den Lenker stattdessen nach links herum. Das Hinterrad rutschte auf dem schmierigen Straßenbelag seitlich weg. Er stemmte sein linkes Bein auf den Boden, um den Sturz zu verhindern, und richtete das Rad wieder auf. Dann fuhr er direkt auf den Wagen zu.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er nach rechts auswich, beinahe zu spät, und über den Gehweg zurück auf das unbebaute Grundstück fuhr, vorbei an dem Wagen – groß, schwarz, amerikanisches Fabrikat. Er hörte das Schaben von Metall auf Stein, als der Wagen über den Bordstein donnerte und hinten aufsetzte. Die Reifen quietschten auf dem nassen Pflaster, als er schlingernd in einem großen Bogen wendete.
Jace fuhr so schnell er konnte den Weg neben dem Grundstück entlang und betete darum, dass es keine Sackgasse war. Das Zentrum von Downtown kannte er wie eine Ratte ihr Revier, jedes Abflussrohr, jede Mülltonne, jeden Spalt in einer Mauer, die als Abkürzung, Fluchtweg, Schutz oder Versteck dienen konnten. Hier war er verletzbar, schutzlos wie ein Kaninchen im offenen Gelände. Beute.
Der Wagen kam hinter ihm her. Der Jäger. Die Lichtkegel der Scheinwerfer schwenkten in der Dunkelheit kurz nach oben und nach unten, als der Wagen erneut über die Bordsteinkante rumpelte.
Jace war schon öfter von irgendwelchen Autos verfolgt worden – Teenager, die sich einfach einen Spaß daraus machten, Männer in einem Anfall von Jähzorn, weil er sie geschnitten hatte oder sich bergauf hatte ziehen lassen oder an ihren Seitenspiegel gestoßen war. Arschlöcher, die es ihm zeigen wollten, ihm Angst machen wollten. Er hatte nie Angst gehabt. Er war auch noch nie gejagt worden.
Wenn er es bis ans andere Ende des Weges schaffte, bevor ihn der Wagen einholte und mit seinen Scheinwerfern erfasste, hatte er eine Fifty-fifty-Chance zu entkommen. Das Ende des Wegs schien Kilometer entfernt zu sein.
Und es war bereits zu spät.
Das Licht der Scheinwerfer strich über seinen Rücken wie eine Pranke, die ihn packen wollte. Der Wagen kam mit dem Getöse eines Schnellzugs angeprescht und ließ dabei Mülltonnen wie Kegel in alle Richtungen fliegen.
Scheiße, Scheiße, Scheiße.
Sein Glück reichte nicht einmal bis ans Ende des Wegs. Er konnte den Wagen nicht abschütteln. Er konnte nicht umkehren und daran vorbeiflitzen. Zu seiner Linken: ein Gebäude ans andere gereiht, davor Mülltonnen und leere Kartons und anderes Gerümpel – ein Hindernisparcours. Zu seiner Rechten: ein Maschendrahtzaun mit Stacheldraht am oberen Ende. Hinter ihm: der Engel des Todes.
Jace griff mit einer Hand nach hinten und zerrte das Bügelschloss aus seiner Tasche. Die Stoßstange des Wagens rammte sein Hinterrad. Um ein Haar wäre Jace auf der Motorhaube gelandet. Er fuhr so nah wie möglich an den Zaun heran und bremste, so dass er hinter die Stoßstange seines Verfolgers zurückfiel.
Mit der linken Hand schleuderte er das schwere Bügelschloss gegen die Windschutzscheibe. Auf der Scheibe breitete sich ein Netz von Rissen aus. Der Wagen schwenkte nach rechts und drückte ihn gegen den Zaun. Jace machte eine rasche Bewegung zur Seite, zog sich mit beiden Händen an dem Maschendraht hoch und hielt sich fest, als das Fahrrad unter ihm weggezerrt wurde. Die Kappe seines rechten Schuhs blieb im Pedal hängen und sein Körper wurde zur Seite gerissen, als der Wagen das Fahrrad vor sich herschob.
Der Draht schnitt in seine Finger, als das Fahrrad versuchte ihn mitzuziehen. Es fühlte sich an, als würden ihm die Arme ausgekugelt, als würde ihm der Fuß am Knöchel abgerissen, dann war er plötzlich frei und stürzte zu Boden.
Er landete rücklings auf dem rissigen Asphalt, rollte sich herum und richtete sich auf den Knien auf, die Augen starr auf den Wagen gerichtet, während sein Fahrrad unter dessen rechtem Hinterreifen ein schreckliches Ende fand.
Sein einziges Transportmittel. Sein Lebensunterhalt. Hin.
Er war völlig auf sich gestellt. Zu Fuß. Und an einem Fuß fehlte der Schuh. Ein stechender Schmerz zuckte durch seinen verrenkten Knöchel, als er sich aufrappelte und auf die Häuser zurannte, bevor der Wagen ganz zum Stehen kam.
Eine Stimme dröhnte in seinem Kopf: Lauf, lauf, lauf!!!
Er war jung, er war schnell, er rannte um sein Leben. Sein Blick fiel auf eine halbhohe Mauer, die einen schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern versperrte. Er würde darauf zurennen, über die Kante flanken und verschwunden sein. Knöchel hin oder her, er konnte das Arschloch hinter dem Lenkrad immer noch locker abhängen.
Aber er konnte keine Kugel abhängen.
Im selben Augenblick, in dem Jace den Schuss knallen hörte, schlug die Kugel in die Mülltonne links neben ihm ein.
Scheiße!
Er musste über diese Mauer. Er musste einfach. Nichts wie rüber und weg von hier.
Hinter sich hörte er rasch näher kommende Schritte.
Der zweite Schuss ging weit rechts an ihm vorbei und traf eine andere Mülltonne.
Eine Männerstimme brüllte: »Verdammt!«
Zu nah. Zu nah.
Rasch näher kommende Schritte.
Jace zog sich an der Mauer hoch und wurde heftig zurückgerissen, als sein Verfolger die Kuriertasche zu fassen bekam, die er quer über den Rücken geschnallt hatte.
Er fiel auf den Mann und riss ihn mit sich zu Boden. Der Körper des Verfolgers dämpfte seinen Sturz. Jace versuchte sich loszureißen, auf die Füße zu kommen. Der Mann klammerte sich an die Tasche.
»Verfluchter kleiner Wichser!«
Jace stieß mit aller Kraft den Ellbogen nach hinten und traf den Kerl ins Gesicht. Das Krachen des zersplitternden Knochens war beinahe so laut wie das des Schusses, und der Kerl lockerte fluchend für den Bruchteil einer Sekunde seinen Griff. Jace beugte sich vor, schüttelte den Riemen der Tasche ab und hechtete auf die Mauer zu.
Der Verfolger bekam mit einer Hand Jaces Regenjacke am Rücken zu fassen und holte mit der anderen weit aus. Das billige Teil zerriss wie ein nasses Papiertaschentuch. Der Griff der Pistole prallte von Jaces Helm ab. Vor seinen Augen tanzten Sterne, aber er gab nicht auf.
Über die Mauer! Über die Mauer!
Er warf sich dagegen, zog sich hoch und schwang sich über die Kante, kopfüber landete er auf der anderen Seite und rollte durch Schlamm und Wasserpfützen und Abfall.
In dem Durchgang zwischen den beiden Häusern war es stockfinster, nur am Ende des Tunnels ein schwacher silbriger Lichtschein, der von einer entfernten Straßenlaterne kam. Er rannte auf das Licht zu, ohne damit zu rechnen, dass er es jemals erreichen würde, er vermeinte bereits den scharfen, brennenden Schmerz zu spüren, wenn die Kugel seinen Rücken traf, seinen Körper durchschlug, Organe und Adern zerfetzte. Wahrscheinlich wäre er tot, bevor er auf dem Boden auftraf.
Aber er lief weiter.
Die Kugel kam nicht.
Er erreichte das Ende des Durchgangs, wandte sich nach links und rannte an der dunklen Häuserreihe entlang, sprang über Sträucher und niedrige Büsche, die von halbherzigen Verschönerungsversuchen zeugten. Als er nach dem Sprung über eine Hecke auf dem Boden landete, gab sein verletzter Knöchel unter ihm nach, und er fiel hin, der Kies schürfte ihm die Handflächen auf, die er vorgestreckt hatte, um den Sturz abzufangen. Er wartete darauf, hinter sich Schritte zu hören, den Knall eines weiteren auf seinen Rücken gerichteten Schusses, aber nichts geschah.
Jace erhob sich, keuchend, benommen, und taumelte den schmalen Durchlass zwischen zwei Häusern entlang. Er blieb stehen und sank gegen die raue Betonwand, ihm war nach Kotzen zumute, aber er hatte Angst, das Geräusch könnte ihn an seinen Verfolger verraten und ihn das Leben kosten.
Weit vorgebeugt, hielt er sich die Hände vor den Mund und versuchte, langsam zu atmen. Sein Herz schlug so schnell, als würde es jeden Moment aus seiner Brust springen und auf dem Boden zappeln und sich winden wie ein an Land gezogener Fisch. In seinem Kopf drehte sich alles. Sein Gehirn fühlte sich an, als würde es in einer Kloschüssel herumgewirbelt und gleich in den Abfluss gesaugt werden.
Oh Gott. Oh mein Gott.
Der Gott, an den er nicht glaubte.
Jemand versucht, mich umzubringen.
Hilf mir.
Er zitterte am ganzen Leib, plötzlich war ihm kalt, plötzlich spürte er den eisigen Regen, der auf ihn niederprasselte, seine Kleidung durchdrang. In seinem Knöchel pochte und brannte es. In seinem Fuß ein noch stechenderer Schmerz. Er tastete an der nassen Socke entlang und zog eine Glasscherbe aus seiner Fuß- sohle. Er kauerte sich auf den Boden, schlang die Arme um seine Beine und lehnte den Kopf gegen die Wand.
Er hatte immer noch das Funkgerät an den Oberschenkel geschnallt. Er könnte versuchen, die Zentrale anzufunken, aber Eta war inzwischen längst zu Hause bei ihren Kindern. Wenn er ein Handy gehabt hätte, hätte er die Polizei rufen können. Aber er konnte sich kein Handy leisten, und er hatte kein Vertrauen zur Polizei. Er hatte zu niemandem wirklich Vertrauen außer zu sich selbst. Das war immer so gewesen.
An die Stelle des Schwindelgefühls trat Erschöpfung, eine Nachwirkung des anfänglichen Adrenalinstoßes. Er lauschte angestrengt, ob irgendetwas außer seinem Atem zu hören war, außer seinem Pulsschlag, der ihm in den Ohren dröhnte. Er versuchte festzustellen, ob Geräusche von seinem Verfolger zu vernehmen waren. Er versuchte darüber nachzudenken, was er als Nächstes tun sollte.
Am besten blieb er, wo er war. Er befand sich außer Sichtweite, und es gab einen Fluchtweg, falls der Angreifer ihn aufspürte. Es sei denn, sie waren zu zweit – die Angreifer, Plural. Einer an jedem Ende des Tunnels, dann war er geliefert.
Er dachte an Tyler, der sich inzwischen fragen würde, wo er blieb. Nicht dass der Kleine irgendwo allein herumsäße und wartete. Tyler war nie allein. Ein kluger kleiner weißer Junge, der in Chinatown lebte und fließend Mandarin sprach, war etwas Besonderes. Tyler war ein Unikum. Die Leute mochten ihn und gleichzeitig verwirrte er sie. Die Chens behandelten ihn wie eine Art goldenes Kind, das gesandt worden war, um ihnen Glück zu bringen.
Trotzdem, die einzige richtige Familie, die die Damon-Brüder hatten, waren sie selbst. Und die Beziehung zu Tyler war die stärkste Bindung, die Jace jemals gekannt hatte. Sie war das, wofür er lebte, Motivation für alles, was er tat, sein einziges Ziel.
Ich muss hier raus.
Das Geräusch von Schritten auf Asphalt. Jace konnte nicht sagen, aus welcher Richtung es kam. Vom anderen Ende des Tunnels her? Von der Straße? Er machte sich so klein wie möglich, ein festes Bündel, das sich an die Hauswand presste, und zählte seine Herzschläge, während er wartete.
Eine dunkle Gestalt erschien an der Ecke des Hauses zur Straße hin und blieb stehen, die Arme leicht vom Körper weggestreckt, die Bewegungen zögerlich, als sie sich zuerst in die eine Richtung drehte und dann in die andere. In der Dunkelheit war nicht mehr als die Silhouette eines Mannes zu erkennen. Er hatte kein Gesicht. Er hatte keine Hautfarbe.
Jace legte die Hand auf seinen Bauch, auf den Umschlag, den er unter sein T-Shirt gesteckt hatte, um ihn zu schützen. In was für eine beschissene Sache hatte Lenny ihn da mit hineingezogen?
Die dunkle Gestalt am Ende des Tunnels drehte sich um und ging in die gleiche Richtung davon, aus der sie gekommen war.
Jace wartete und zählte stumm, bis er sicher war, dass der Verfolger nicht zurückkommen würde. Dann kroch er an der Wand entlang über Abfallhaufen, durch Pfützen und Glasscherben und spähte vorsichtig hinaus auf die Straße. Eine Mülltonne versperrte ihm die Sicht. Er konnte nur ein einzelnes Rücklicht sehen, das in einiger Entfernung wie ein bösartiges rotes Auge in der Dunkelheit glühte.
Sein Fahrrad lag irgendwo hinter dem Wagen platt gewalzt auf dem Boden. Jace hoffte wider jedes bessere Wissen, dass der Rahmen nicht verzogen war, dass vielleicht nur ein Rad kaputt war. Das konnte er reparieren. Er konnte vieles reparieren. Aber keinen verzogenen Rahmen.
Er konnte Mojo hören, wie er ihm erklärte, auf dem Fahrrad läge ein Fluch. Mojo, der große, knochige Jamaikaner mit den Dreadlocks, die ihm bis zum Hintern reichten, und der tiefschwarzen Sonnenbrille, wie sie Blinde trugen. Mojo war ungefähr dreißig, was uralt war für einen Kurier. Für manche war er ein Schamane. Er hätte eine ganze Menge über dieses Fahrrad zu sagen.
Jace hatte das Ding sozusagen geerbt. Genauer gesagt hatte es niemand sonst anrühren wollen, als es zwei Jahre zuvor plötzlich zu haben gewesen war. Sein ehemaliger Besitzer, ein Typ, der sich King nannte und nachts als strippender Elvis auftrat, hatte beim Überholen die Kontrolle über das Rad verloren und war unter ein Müllauto geraten. Das Fahrrad hatte den Unfall heil überstanden. King nicht.
Kuriere waren ein abergläubischer Haufen. King war während der Arbeit gestorben. Niemand wollte das Fahrrad von jemandem, der während der Arbeit gestorben war. Es stand eine Woche in der Zentrale im Hinterzimmer herum und wartete, dass einer von Kings nächsten Verwandten Anspruch darauf erhob, bis sich schließlich herausstellte, dass er keine nahen Verwandten hatte, jedenfalls keine, denen irgendetwas an ihm lag.
Jace war nicht abergläubisch. Er glaubte, dass jeder für sein Glück selbst verantwortlich war. King war unter die Räder geraten, weil er die meiste Zeit auf Speed war und Situationen nicht gut einschätzen konnte. Jace glaubte an Voraussicht und Geschick. Er hatte einen Blick auf das Fahrrad geworfen und einen soliden Cannondale-Rahmen gesehen, zwei gute Reifen und einen gel-gepolsterten Sattel. Er hatte kürzere Lieferzeiten gesehen, die Möglichkeit, mehr Fahrten zu machen, mehr Geld zu verdienen. Er hatte alle Warnungen in den Wind geschlagen, den Schrotthaufen, den er bis dahin gefahren hatte, für jeden, der ihn klauen wollte, an einen Verkaufsständer der LA Times gelehnt stehen lassen, und war auf dem Cannondale nach Hause gefahren. Er hatte es auf den Namen Silberpfeil getauft.
Der Motor des Wagens heulte auf, und das Rücklicht entfernte sich. Der Jäger fuhr nach Hause, dachte Jace, für ihn war Feierabend nach einem harten Arbeitstag, den er mit dem Versuch zugebracht hatte, Leute umzubringen. Ein kalter Schauer überlief ihn, wegen des Regens und vor Erleichterung. Als er dieses Mal dachte, dass er sich gleich übergeben müsste, tat er es auch.
Auf der Straße leuchteten Scheinwerfer auf. Der Jäger fuhr vorbei, der große Wagen fauchte wie ein Panter, als in der Ferne das Geheul von Sirenen ertönte.
Jace ging zurück zu der Stelle, an der sein Fahrrad lag, das Hinterrad war hoffnungslos verbogen. Wenn es ein Pferd gewesen wäre, hätte man ihm den Gnadenschuss gegeben, um es von seinen Qualen zu erlösen. Aber es war ein Fahrrad, und der Rahmen hatte nichts abbekommen. Ein Wunder Gottes, hätte Preacher John gesagt. In den Pausen zwischen seinen Fahrten stand Preacher John an der Ecke Fourth und Flower vor dem Eingang des vornehmen Bonaventure Hotel und rezitierte aus der Bibel für all diejenigen, die das Pech hatten, an ihm vorbeizumüssen.
Jace glaubte nicht an Wunder. Er hatte Glück gehabt. Zwei Mal, in Anbetracht dessen, dass er noch lebte.
Er sah sich nach seiner Tasche um, aber sie war verschwunden. Der Jäger hatte sie als Trophäe mitgenommen, als Trostpreis. Oder vielleicht dachte er auch, er hätte sein eigentliches Ziel erreicht. Irgendjemand wollte haben, was auch immer in Lenny Lowells Päckchen steckte und von der Radlerhose gegen Jaces Bauch gepresst wurde.
Was es auch war, Jace würde es herausfinden. Lenny war ihm eine Menge Erklärungen schuldig.
Er hob das Fahrrad auf, stellte es auf den Vorderreifen und setzte sich in Bewegung.
»Treten Sie nicht in sein Gehirn«, rief Kev Parker warnend. Kev Parker, 43, Detective 2, strafversetzt in eine der untergeordneten Abteilungen, um seine Laufbahn in Unehren und Vergessenheit zu beenden.
Renee Ruiz, sein derzeitiger Trainee, sah auf ihren modischen Wildlederschuh mit Leopardenmuster hinunter. Der Pfennigabsatz steckte bereits in einer glibberigen grauen Masse, die sich in einiger Entfernung um die Leiche herum verteilt hatte.
»Mein Gott, Parker«, kreischte sie, »sagen Sie doch was!«
»Hab ich doch gerade.«
»Ich hätte mir den Schuh ruinieren können!«
»Ach ja? Also Ihr Schuh ist das geringste Ihrer Probleme. Und da Sie offensichtlich nicht anwesend waren, als der gesunde Menschenverstand verteilt wurde, sage ich es Ihnen noch einmal: Ziehen Sie bei der Arbeit keine Stöckelschuhe an. Sie sind schließ- lich bei der Polizei und nicht auf dem Straßenstrich.«
Ruiz sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an und schleuderte ihm ein paar Worte auf Spanisch entgegen.
Parker ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Hat Ihnen so was Ihre Mutter beigebracht?«, fragte er und richtete den Blick wieder auf die Leiche, die auf dem Fußboden des Büros lag.
Detective Trainee Ruiz machte einen weiten Bogen um die Leiche und baute sich vor Parker auf. »Sie sollten mich mit etwas mehr Respekt behandeln, Parker.«
»Werd ich tun«, sagte er, ohne sie anzusehen. Seine Aufmerksamkeit galt jetzt einzig und allein dem Toten. Schwere Kopfverletzung. Wer immer den Typ umgebracht hatte, hatte Spaß daran gehabt. »Wenn Sie es verdienen«, fügte er hinzu.
Ein neuer spanischer Wortschwall.
Parker bereitete jetzt seit vier Jahren neue Detectives auf ihre künftigen Aufgaben vor, und diese Frau hier stand auf seiner schwarzen Liste an erster Stelle. Er hatte kein Problem mit Frauen.
Er hatte kein Problem mit Hispanos. Er hatte ein Problem mit Arroganz, und bei Renee Ruiz verbreitete sogar ihr knackiger Jennifer-Lopez-Hintern Arroganz. Oder er hätte es getan, wenn ihr Rock nicht so verdammt eng gewesen wäre. Parker arbeitete noch nicht einmal seit einer Woche mit ihr zusammen und verspürte bereits den Drang, sie zu erwürgen und ihre Leiche in die La-Brea-Teergruben zu werfen.
»Könnten Sie Ihre Aufmerksamkeit jetzt vielleicht mal auf die Sache hier richten?«, fragte er ungeduldig. »Falls Sie es noch nicht gemerkt haben sollten, wir haben es mit einem Mord zu tun. Da liegt ein Toter auf dem Fußboden, und sein Kopf ist zermatscht wie ein verfaulter Blumenkohl. Was sollten Sie also tun, statt mir wegen Ihrer Schuhe die Ohren voll zu jammern?«
Ruiz schob die Unterlippe vor. Sie war eine Wucht. Ein Körper, dessen Anblick jeden heterosexuellen Mann, der noch einen Funken Leben in sich hatte, in einen sabbernden Idioten verwandeln konnte. Ihre Lippen waren voll und sexy. Sie betonte sie mit einem Konturenstift, der drei Nuancen dunkler war als das glänzende Lipgloss, das sie zum Ausfüllen verwendete. Detective Kray fand, sie sah aus wie eine »Vorzeigemexikanerin«.
Kray, der ebenfalls zu ihrem Team im Morddezernat gehörte, hatte Probleme mit Frauen und Hispanos, und mit Schwarzen und Juden und jeder anderen ethnischen Gruppe, die nicht aus dummen, rassistischen, engstirnigen Hinterwäldlern aus irgendeinem Kaff in Louisiana bestand – wie Parker Kray beschreiben würde.
»Wo haben Sie Ihr Notizbuch?«, fragte er. »Sie müssen alles aufschreiben. Und mit alles meine ich jede noch so kleine Kleinigkeit. Sie hätten damit bereits in der Sekunde anfangen müssen, in der man Sie benachrichtigt hat. Wann der Anruf kam, wer was gesagt hat, wann Sie Ihren Hintern in diesen Rock gequetscht und diese albernen Schuhe angezogen haben. Wann Sie am Tatort eingetroffen sind, mit wem Sie als Erstes gesprochen haben, was Sie gesehen haben, als Sie zur Eingangstür hereinkamen, was Sie gesehen haben, als Sie diesen Raum betraten. Position der Leiche, Fundort der Mordwaffe, in welche Richtung und wie weit die einzelnen Teile seines Gehirns geflogen sind, ob sein Hosenschlitz offen ist oder nicht. Jede verdammte Einzelheit hier im Raum.
Wenn Sie irgendetwas weglassen, garantiere ich Ihnen, dass irgendein mieser kleiner Verteidiger Sie in den Zeugenstand ruft und über dieses eine vermeintlich unbedeutende Detail ausquetscht, und er wird den Fall des Staatsanwalts aufdröseln wie einen billigen Pullover. Die beiden schlimmsten Worte vor Gericht, Baby: begründeter Zweifel.«
Parker weigerte sich, sie auch nur eine Sekunde bevor sie ihre Polizeimarke in der Hand hatte, mit »Detective« Ruiz anzusprechen. Sie war ihm nicht gleichgestellt und daran würde er sie während des Trainee-Programms jeden Tag auf subtile und nicht ganz so subtile Weise erinnern. In seinem Job hatte er über nicht sehr viele Dinge die Kontrolle, aber solange er mit Ruiz zusammenarbeiten musste, wollte er sich wenigstens der Illusion hingeben können, dass er die Kontrolle über sie hatte.
»Und messen Sie die Entfernungen«, sagte er. »Wenn Sie auf dem Teppich einen Popel entdecken, will ich genau wissen, wo er sich im Verhältnis zur Leiche befindet. Vermerken Sie die genauen Angaben in Ihren persönlichen Notizen, die ungefähren Angaben in den Notizen, die Sie zum Gericht mitnehmen. Wenn Sie die genauen Angaben in Ihren offiziellen Notizen festhalten und Ihre Messungen nicht auf den Millimeter genau mit denen der Spurensicherung übereinstimmen, macht Ihnen der Verteidiger die Hölle heiß.«
»Sie leiten die Ermittlung«, sagte Ruiz mit gewohnter Arroganz. »Es ist Ihr Fall. Warum machen Sie nicht die Routinearbeit, Parker?«
»Das werde ich«, erwiderte Parker. »Weil ich Ihnen nämlich nicht zutraue, dass Sie es können. Aber Sie werden es ebenfalls machen, damit es wenigstens so aussieht, als wüssten Sie, was Sie tun, wenn der nächste Mord passiert und Sie die Ermittlung leiten.«
Er sah sich in dem voll gestellten Raum um, in dem sich mittlerweile die Leute von der Spurensicherung drängten. Einer der beiden Streifenpolizisten, die nach dem Anruf als Erste eingetroffen waren, stand an der Eingangstür und notierte, wer den Tatort betrat. Der andere – älter, von kräftiger Statur und mit beginnender Glatze – stand auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers und zeigte einem der Spezialisten von der Spurensicherung etwas, das er für ein möglicherweise wichtiges Beweisstück hielt. Jimmy Chewalski. Jimmy war ein guter Mann. Er redete zu viel, aber er war ein guter Polizist. Jeder nannte ihn Jimmy Chew.
Ruiz schenkte den Leuten von der Spurensicherung und den Streifenpolizisten keinerlei Beachtung. Nachdem sie die schriftliche Prüfung bestanden hatte, hielt sie sich offensichtlich für etwas Besseres. Es spielte keine Rolle, dass sie vor nicht allzu langer Zeit selbst noch Uniform getragen hatte, jetzt war sie die Prinzessin unter dem gemeinen Fußvolk. Ruiz verband mit dem Namen Jimmy Chew nur ein Paar bescheuerte Schuhe.
Parker ging zu dem uniformierten Polizisten hinüber und überließ es Ruiz, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie sich bücken und Beweisstücke in Augenschein nehmen konnte, ohne jedem der Anwesenden ihren Hintern zu präsentieren.
»Jimmy, wo bleibt der Leichenbeschauer?«, fragte Parker und umrundete vorsichtig die Leiche, darauf bedacht, nicht auf die Papiere zu treten, die über den Boden verstreut lagen. Der Leichenbeschauer hatte den Vortritt. Niemand durfte auch nur die Hosentaschen des Toten ausleeren, bevor der Leichenbeschauer seinen Job erledigt hatte.
»Kann noch eine Weile dauern«, sagte Chewalski. »Sie ist bei einem Mord mit anschließendem Selbstmord eingesprungen.«
»Nicholson?«
»Ja. Irgendein Kerl hat seine Frau und seine beiden Kinder abgeschlachtet, weil die Frau die Hähnchen von Kentucky Fried Chicken normal gegrillt statt extra knusprig nach Hause gebracht hat. Danach geht er ins Badezimmer und pustet sich den Kopf weg. Es soll so schlimm gewesen sein, dass die Detectives Schirme ins Badezimmer mitnehmen mussten. Das Gesicht des Kerls klebte zum größten Teil an der Decke. Und wir alle kennen ja das Gesetz der Schwerkraft. Ich hab gehört, dass Kray ein Auge auf den Kopf gefallen ist.«
Parker lachte. »Schade, dass er nichts von den kleinen grauen Zellen abbekommen hat. Dann hätte er wenigstens ein bisschen Hirn.«
Chew grinste. »Wenn Dummheit wehtäte, müsste er den ganzen Tag schreien.«
Parker wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Leiche zu. »Also, mit wem haben wir es hier zu tun?«
Chew verdrehte die Augen. »Na ja, Kev, tot vor uns auf dem Boden liegt unbeweint ein unehrenwertes Mitglied der Anwaltskammer.«
»Aber Jimmy, nur weil jemand ein skrupelloses Arschloch war, heißt das doch nicht, dass er es verdient hat, ermordet zu werden.«
»Entschuldigung. Wer ist hier zuständig?«
Parker drehte den Kopf und erblickte eine hübsche brünette Frau Anfang zwanzig in einem teuren Burberry-Trenchcoat, die etwa einen Meter von ihm entfernt stand, in der Nähe der Tür, die zum Hinterausgang führte.
»Das bin ich. Detective Parker. Und Sie sind?«
