Tödliche Delikatessen - Thomas Askan Vierich - E-Book

Tödliche Delikatessen E-Book

Thomas Askan Vierich

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Beschreibung

"Wer nicht an die Karotte glaubt, ist verloren." Eröffnung eines Gourmet-Tempels in Berlin: Der gefürchtete Gastropapst Heinrich Pompl kippt tödlich vergiftet in seinen Pudding. Eine Katastrophe für das Restaurant. Kommissar Stubenrauch, seines Zeichens stilbewusster Lebemann, nimmt die Ermittlungen auf. Zur Seite steht ihm dabei Pompls Nachfolger, der Journalist Alfred Brinkmann, der im Lauf der Handlung so einiges über seine Familie, die Liebe, das Essen und wahre Freunde lernt.

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Seitenzahl: 318

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Ähnliche


Thomas A. Vierich

Tödliche Delikatessen

Roman

Atlantik

Für Andrea, Gina und Cornelien

»Wer nicht an die Karotte glaubt, ist verloren.«

Heinrich Pompl

1Brot und Salz

Kommt er oder kommt er nicht?

Sie hatten Einladungen an alle wichtigen Leute geschickt. Angefangen beim Regierenden Bürgermeister über Senatoren, Bundesminister, Vertreter aus Wirtschaft, Hochfinanz und der Werbebranche, Kritiker, Schauspielerinnen, Musiker, Literaten – bis hin zum unvermeidlichen Vorsitzenden des Clubs »Freunde der Hauptstadt«. Prominenz eben, Leute mit Geld, Leute, die Leute kennen. Wichtige Leute.

Jo Jasper seufzte. Er konnte diese Leute nicht ausstehen. Und musste für sie kochen. Andere konnten und wollten sich seinen Aufwand zu selten leisten. Immerhin, der Staatsanwalt zeigte sich schon im gläsernen Lift hinauf in den sechsten Stock entzückt. Der Senator für Stadtentwicklung äußerte beim Betreten des Simple im Dachgeschoss des Grandhotels am Potsdamer Platz seine gewohnt vollmundige Zustimmung. Der Regierende ließ sich mit den besten Wünschen für dieses »ehrgeizige Projekt, das der Stadt nur guttun kann« entschuldigen. Pia Graf, die omnipräsente Primadonna von Deutschlands führendem Boulevardtheater, wogte ihr bahnbrechendes Dekolleté zu einem der sparsam, aber sorgfältig dekorierten Tische und plapperte dabei unentwegt auf einen öffentlichkeitsscheuen, aber angesehenen Dramatiker aus dem Umland ein. Sogar der Vorsitzende des Clubs der Hauptstadtfreunde, Otto Stolzenburg, glaubte beim Niederlassen auf einem der schlicht, aber bequem mit sehr hellem Stoff gepolsterten Stühle der Rettung seiner Herzensstadt aus dem kulinarischen Mittelmaß nahe zu sein. Er stellte erleichtert fest, dass hier niemand tätowiert war.

»Wo haben Sie Ihre reizende Gattin gelassen?«, fragte Jasper pflichtbewusst den zufrieden vor sich hin lächelnden Vorsitzenden, als dieser das ausliegende Besteck von Binger & Crollfuss befühlte. Diese Linie kannte Stolzenburg noch gar nicht. Obwohl er und seine Frau grundsätzlich alle Bestecklinien von Binger & Crollfuss kannten. Schließlich fuhren sie jedes Jahr mindestens einmal auf dem Weg nach Süden an der Binger & Crollfuss-Fabrik im Fränkischen vorbei, wo es im Abverkauf so manches edle Stück zu einem überraschend günstigen Preis gab. Ein Lob dem Fabrikverkauf. Man musste ja niemandem sagen, woher man seine edlen Stücke bezog. Doch so eine Gabel hatte er noch nie in der Hand gehalten. Sie wog schwer. Als Stolzenburg mit dem Daumen über die Klinge des Messers fuhr, spürte er, wie scharf geschliffen sie war. Eine Exklusivanfertigung für das Simple? Kein Wunder, dass dieser verrückte Kerl Jo Jasper hier sechs Millionen verballert hatte. Die er, Stolzenburg, persönlich bei den richtigen Leuten während etlicher gemeinsamer Runden im Golfclub locker gemacht hatte. Stolzenburg untersuchte Messer und Gabel auf das Vorhandensein einer Gravur, als er bemerkte, dass der junge Maestro immer noch neben ihm stand und auf eine Antwort wartete.

»Meine Gattin …? Ach, Herr Jasper, sie konnte nicht kommen, ihre Rückenschmerzen waren wieder so schlimm. Und neuerdings leidet sie ja auch unter diversen Lebensmittelunverträglichkeiten …«

»Wie schade, wo Sie beide doch so viel für unser gemeinsames Baby getan haben.«

»Aber, aber, Herr Jasper, das war doch selbstverständlich. Man muss doch junge Leute mit Ideen unterstützen.«

Stolzenburg nickte etwas gönnerhaft.

Jo Jasper lächelte und strich sich nervös über den streng nach hinten gebundenen Zopf. Ohne die Unterstützung Stolzenburgs hätte er kaum Geldgeber gefunden, die in die sechste Etage eines Hotels in bester Lage sechs Millionen Euro investierten, um an nur zwölf Tischen eine Oase der Ruhe und des Genusses zu errichten. Eine »Rückkehr zu den einfachen und wirklich guten Dingen des Lebens«, wie Gundel griffig in der Einladung formuliert hatte. Ihm sollte es recht sein, wie sie es nannten, solange sie ihn kochen ließen, was er schon immer kochen wollte.

Stolzenburg und seine Gattin hin oder her. Wo blieb, verdammt noch mal, der Pompl? Auf die Senatoren und Minister gepfiffen. Reine Staffage. Entscheidend war der fette Pompl. Er gab den Ton vor. Wenn er beim Löffeln der Topinamburschaumcrème anerkennend nickte, wäre der Rest der Meute auch begeistert. Die wussten eh nicht, was Topinambur ist. Seit mehr als zwanzig Jahren war Pompl die unumstrittene Koryphäe für Kulinarisches beim Abendblatt. Und er hatte eine eigene Fernsehsendung, in der er einmal die Woche kurz vor Mitternacht mit Gästen über Essen, Trinken und den Genuss des Lebens plauderte.

Pompl zu widersprechen war schlecht für die Karriere. Der hat schon so einige Konkurrenten weggebissen, die dann entweder zu einer anderen Zeitung gegangen wurden oder ganz in der Versenkung verschwanden. Was er wohl mit diesem Alfred Brinkmann machen würde? Den kannte Jasper noch gar nicht, musste ein neuer Autor beim Abendblatt sein. Dieser Brinkmann hatte die Frechheit besessen, seinem Chefkritiker in die Suppe zu spucken. In einem Artikel über diesen neuen Schickimicki-Italiener in der Motzstraße hatte er geschrieben, der Oktopussalat sei längst nicht so zart, wie der große Heinrich Pompl in seiner Fernsehshow behauptet hatte: Vermutlich hätten die Betreiber des Zillo ihren zartesten und teuersten Pulpo für den großen Meister aufgehoben. »Wir Normalsterbliche hingegen werden mit Durchschnittsware abgespeist. Oder hat der große Pompl etwa nicht so genau hingebissen …?«

Klasse, fand Jo Jasper, das hatten der aufgeblasene Signore Settembrini vom Zillo und erst recht der noch aufgeblasenere Pompl verdient. Deshalb hatte Jasper den jungen Brinkmann auch eingeladen und zu Pompl und Stolzenburg an den Tisch gesetzt. Kontraste verfeinern den Geschmack.

Jasper beobachtete, wie Gundel die Herren von der Bank, denen man einen Tisch gleich neben dem von Pompl hingestellt hatte, bei Laune hielt. Ihre Blicke trafen sich. Er versuchte, die Panik in ihren Augen zu ignorieren, und nickte ihr aufmunternd zu. Alles in Ordnung, alles im Griff. Paul und Andrea hatten die Amuse-Gueules schon fertig. Passierte Jakobsmuscheln an istrischem Olivenöl, das er und Gundel von ihrer letzten Fahrt an die Kvarner Bucht mitgebracht hatten. Ein wirklich fantastisches Öl, besser als jedes italienische. Sie brauchten sich keine Sorgen zu machen. Selbst wenn das Fleisch der Muscheln etwas fad sein sollte. Er war sich beim Einkauf bei Lindenberg nicht wirklich sicher gewesen, und die Menükarten waren schon gedruckt. Aber beim Improvisieren war er schon immer zu Großform aufgelaufen. Und mit diesem Öl konnte er nichts falsch machen.

Als er sich umdrehte, sah er Rebecca an der riesigen, massiven Anrichte aus Granit stehen und Brot schneiden. Auch das ein beruhigender Anblick. Ihre zarten Hände umfassten das selbst gebackene Weißbrot mit schwarzen Oliven und schnitten es schwungvoll in Scheiben. Eine fast biblische Zeremonie. Er hätte wirklich lediglich Brot und Salz zur Eröffnung reichen sollen. Das wäre noch biblischer, noch archaischer gewesen. Und hätte seinen Anspruch unterstrichen. Aber das hätte wahrscheinlich wieder keiner verstanden. Stolzenburg als Letzter. Und auf dessen Meinung kam es leider auch an.

Vielleicht hätte es Pompl verstanden. Die Askese. Die Zurückhaltung. Die Reduktion auf das Wesentliche. Das Weglassen aller Showeffekte. Doch wo blieb Pompl? Gundel hatte ihm noch heute Morgen wiederholt versichert, dass Pompl zugesagt habe. Doch er kam nicht. Vielleicht war es besser so. Was konnte an so einem Premierenabend nicht alles schiefgehen. Und was konnte Pompl nicht alles quer in den Hals rutschen. Vielleicht wäre ihm Olivenbrot zu Jakobsmuscheln an Olivenöl zu viel des Mediterranen? Und warum hatte Jasper die Muscheln eigentlich passiert? Waren Jakobsmuscheln im Ganzen nicht klassischer, ursprünglicher? Immerhin habe er sie nicht molekular geschäumt, würde Pompl wohl gönnerhaft murmeln. Warum haben Sie nicht einfach Brot und Salz zur Begrüßung gereicht, Herr Jasper? Und Jasper müsste ihm recht geben.

Doch wenn er nicht käme, würde das einen kaum wiedergutzumachenden Gesichtsverlust bedeuten. Jasper konnte die hämischen Kommentare der lieben Konkurrenz schon hören, die auch gerne ein paar Millionen von Stolzenburg bekommen hätte: »Pompl ignoriert die ehrgeizigste Restaurantgründung der Saison!« – »Na also, der Möchtegern-Aufsteiger Jo Jasper fällt mit der Ausrufung einer neuen Askese schon beim Start auf die Nase!«

Ein junger Mann näherte sich der riesigen Glastür, neben der Gundel Jasper die neu eintreffenden Gäste begrüßte. Er wirkte fast so, als befürchtete er, er habe seine Einladung vergessen und man könne sich nicht mehr an seinen Namen erinnern oder dass er überhaupt eingeladen worden war. Jetzt nestelte er in den Taschen seines Jacketts. Das konnte doch nur der Brinkmann sein. Warum ließ ihn Gundel nicht einfach herein? Mein Gott, was für Umstände! Immerhin war endlich jemand vom Abendblatt erschienen.

Als Jasper sich unauffällig der Eingangspforte seines Luxustempels näherte, sah er, dass der junge Mann nicht allein gekommen war: Hinter ihm tauchte eine auffallend attraktive Frau auf, deren Augen vor Wut blitzten.

»Hast du denn nicht Bescheid gesagt, Alfred?«, zischte sie.

»Äh, hören Sie, gnädige Frau«, nuschelte der junge Mann in Richtung Gundel. »Stand auf der Einladung nicht ›plus eine Person‹?«

»Lieber junger Mann …«, setzte Gundel an zu widersprechen, als Jasper schnell hinzutrat.

»Wo liegt das Problem, meine Herrschaften?«

»Ach Jo, das ist Alfred Brinkmann vom Abendblatt, und er hat vergessen, uns mitzuteilen, dass er in Begleitung kommt. Jetzt haben wir gar keinen Platz mehr an eurem Tisch. Und die junge Dame hat wiederholt versichert, dass sie auf keinen Fall an einem anderen Tisch sitzen möchte.«

»Ah, Herr Brinkmann, hocherfreut!« Jasper schüttelte dem jungen Journalisten kräftig die Hand. Man muss auf die Jugend setzen. Dieser arrogante, fette Pompl konnte ihm gestohlen bleiben.

»Das macht gar nichts, Gundel. Wir legen einfach ein Gedeck zusätzlich auf. Überhaupt kein Problem, Herr Brinkmann, für so eine kompetente Kraft des Abendblatts lassen wir nichts unversucht, kommen Sie, kommen Sie beide, treten Sie näher!« Er bat seine Auszubildende Andrea, die beiden zu ihrem Tisch zu begleiten.

Bei allem Respekt vor den Elaboraten Brinkmanns, Jasper musste jetzt an der Tür die Stellung halten. Denn aus dem Augenwinkel hatte er eine massige Gestalt entdeckt, die sich gerade keuchend durch die Lifttür quetschte. Pompl! Nun also doch! Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke, und Jasper lief es kalt den Rücken herunter. Dieser Mann war sich seiner Macht bewusst. Und das ließ er seine Umgebung spüren. Schnell flüsterte Jasper Gundel zu, dass Frau Stolzenburg krankheitsbedingt ausfalle und also Frau Brinkmann ihren Platz einnehmen könne.

»Das ist nicht seine Frau«, sagte Gundel und blickte dem Paar nach: Sie marschierte mit stolz erhobenem Kopf vorweg, und er taperte hinterher, darum bemüht, beim Vorbeigehen nicht mit seinen überlangen Armen ein leeres Weinglas von einem der Tische zu wischen. »Wenn er die blöde Pute heiratet, ist er selbst schuld.«

Jasper musste lachen. Und Gundel fiel mit ein.

»Naaaa? Haben Sie schon Grund zur Heiterkeit, bester Jasper? Das sollte mich doch wundern.« Pompl baute sich schnaufend vor den Jaspers auf und zog seine dichten Augenbrauen nach oben, die verblüffend an einen bayrischen Ex-Politiker erinnerten.

»Entschuldigen Sie, lieber Herr Pompl, ein kleiner interner Scherz. Ich begrüße Sie in unserer bescheidenen Hütte.«

»Aber Herr Jasper, so bescheiden wird sie schon nicht sein, bei allem, was man hört.« Pompl schüttelte Jasper die Hand, ohne zu lächeln. Dann fuhr er mit seinem in diversen TV-Auftritten geschulten Bass fort:

»Darf ich Ihnen meine Gattin vorstellen, die mich heute ausnahmsweise einmal begleitet?«

Pompl schob seinen massigen Körper zur Seite und präsentierte seine Frau: sehr schwarze, lange Haare, etwas abgezehrte, aber interessante Gesichtszüge, um den Hals eine uralte, sicher wertvolle schwere Halskette aus Gold. Sie trug ein einfaches, hochgeschlossenes schwarzes Kleid, das wahrscheinlich ein bekannter Modedesigner entworfen hatte. Jasper kannte sich da nicht aus. Auf alle Fälle wirkte Frau Pompl wesentlich distinguierter als ihr Gatte, der sichtbar schwitzte und sich eben mit einem nicht mehr ganz sauberen Taschentuch über den Nacken fuhr. Der Bauer und die Herzogin, musste Jasper denken.

»Willkommen, Frau Pompl, schön, dass Sie uns die Ehre geben«, sagte Gundel und begleitete die beiden zum Ehrentisch.

»Sie entschuldigen mich einen Augenblick, aber ich muss schauen, dass in der Küche nichts anbrennt«, murmelte Jasper, holte kurz tief Luft und verschwand hinter den matt schimmernden Schwingtüren aus unbehandeltem Metall. Nein, Brot und Salz, das hätte Pompl auch nicht verstanden. Eher schon seine asketische Gattin.

2Stilfragen

»Soll ich das Samtkleid anziehen oder das kleine Schwarze?«

»Keine Ahnung.«

»Ach komm, Alfred, du weißt viel besser als ich, was die da für einen Dresscode haben.«

Alfred hatte keine Ahnung. Alfred hatte ohnehin viel weniger Ahnung, als alle glaubten. Seine wunderschöne Freundin inbegriffen. Er machte allen was vor. Zumindest überkam ihn diese Vorstellung, wenn er nachts grübelte statt zu schlafen. Heute war dieses Gefühl besonders stark. Es drohte wieder einer dieser Abende, mit denen er noch nie klargekommen war und die Cordula so liebte. Da spürte man den Einfluss ihres Elternhauses. Sie war in der besseren Gesellschaft aufgewachsen, während seine Eltern höchstens einmal im Jahr essen gegangen waren. »Zu Hause schmeckt’s am besten«, war das Credo seiner Mutter gewesen. Er hatte wirklich keine Ahnung, wie der Dresscode dort aussah. Obwohl er in letzter Zeit berufsbedingt bei einigen Restauranteröffnungen gewesen war. Er hatte sich jedes Mal deplatziert gefühlt.

»Liebe Cordula, du siehst in jedem Kleid reizend aus.« Das sagte Alfred immer, wenn er in Mode- und Stilfragen von seiner etwas prätentiösen Freundin um Rat gefragt wurde. Viel mehr hätte ihn interessiert, wie man aus diesem popelig kleinen Knoten in seiner dezent gemusterten Krawatte etwas Feierlicheres machte.

Die Einladung und das Angebot Pompls waren überraschend gekommen. Sehr überraschend. Nach seinem ungewollt aufrührerischen Artikel hatte er eigentlich mit seinem Rausschmiss gerechnet. Als ihn Pompl telefonisch in sein Büro beorderte (»Brinkmann, kurz mal raufkommen!«), legte er sich auf dem Weg in den dritten Stock alle möglichen Rechtfertigungen zurecht: Zuerst wollte er alles auf seine Unerfahrenheit schieben und mit vorgeschützter Naivität die letzten Sympathiereserven bei seinem Vorgesetzten aktivieren. Pompl war schließlich auch stellvertretender Chefredakteur.

»Sehen Sie, lieber Herr Pompl …«

Nein, das »lieber« sollte er besser weglassen.

»Also, sehr geehrter Herr Pompl, ich war etwas ungestüm …«

Schon drei Jahre war er beim Abendblatt, mein Gott, und was war aus ihm geworden? Nichts. Man hatte ihn durch alle Redaktionen und Abteilungen geschleust, und nirgends konnte er Fuß fassen. Zuletzt nahm ihn Heinrich Pompl unter seine Fittiche und ließ ihn Restaurantkritiken schreiben.

»Also, Herr Pompl …«

Oder sollte er »Herr stellvertretender Chefredakteur« sagen? Hatte er nicht auch die Ehrendoktorwürde einer renommierten Universität? Oder sogar mehrere?

»Hochverehrter Herr Doktor Pompl, ich weiß auch nicht, welcher Teufel mich bei meinem ersten längeren gastronomischen Artikel für Ihr angesehenes Blatt geritten hat. Aber ich muss wohl so überwältigt von der Vornehmheit des Zillo gewesen sein …«

Blödsinn. Pompl würde denken, dass Alfred ihn auf den Arm nehmen wollte. Seitdem er öfter zu den abendlichen Soireen des großen Meisters eingeladen wurde, standen sie doch auf recht vertrautem Fuß. Soweit das zwischen dem stellvertretenden Chefredakteur der wichtigsten Zeitung des Landes und einem unerfahrenen Redakteur ohne besondere Aufgaben überhaupt möglich war. Und außerdem: Er war ganz und gar nicht überwältigt von der Vornehmheit des Zillo gewesen, sondern enttäuscht von der Biederkeit dieses Etablissements, das Pompl nach der Eröffnung in seiner Fernsehshow so überschwänglich gepriesen hatte. Nichts vom »Timbre der großen Küchen dieser Welt« konnte er auf seinem Teller wiederfinden. Und schon gar nicht »sinfonische Dichtungen nie gekannter Komplexität« aus den eher biederen Pasta- und Fleischgerichten herausschmecken.

»Herr Pompl, Herr Herausgeber, ich hatte wohl einfach das Falsche bestellt. Oder Signore Settembrini hatte einfach einen schlechten Tag. So kurz nach der Eröffnung gab es wohl noch allzu verständliche Unstimmigkeiten in der Küche.«

Nein, Mittelmäßigkeiten dürfen in einem Restaurant dieser Preisklasse nicht vorkommen. Und selbst wenn Herr Settembrini schlecht geschlafen haben oder von seiner Ehefrau bei einem Seitensprung erwischt worden sein sollte – das dürfte sein hoch bezahltes Küchenteam nicht weiter tangieren. Es ist ja nicht so, dass Settembrini die Pasta wirklich selbst al dente kocht. Er fungiert nur als großer Zampano auf der Bühne seines Gourmettempels. Zur Belustigung seiner eingeschüchterten Gäste und zur Rechtfertigung der exorbitanten Preise.

»Alfred!« Cordulas Stimme kippte ins Quengelnde. »Das Samtkleid ist doch viel zu bieder. Und das Schwarze zu kurz.«

Also das konnte er alles nicht sagen, das hätte ihn als Fachmann desavouiert. Aber war das nicht längst egal? War er nicht schon durch seinen präpotenten Artikel im ehrwürdigen Abendblatt blamiert bis auf die Knochen? Er hätte auf keinen Fall im Zillo den Oktopussalat bestellen sollen …

»Liebe Cordula, ich würde ganz einfach etwas Dezentes anziehen. Solche Restauranteröffnungen sind ja keine Modeschauen. Und wer weiß, wer mit uns am Tisch sitzt. Vielleicht die Bundeskanzlerin nebst Gatten. Und du willst doch nicht ernsthaft die mächtigste Frau Europas ausstechen wollen? Wobei das, ehrlich gesagt, leicht passieren könnte. Verhülle also am besten dezent deine Reize und halte dich im Hintergrund. Auch wenn dir das schwerfällt.«

»Du brauchst gar nicht so schnippisch zu werden, Alfredito. Ihr Männer habt’s leicht: Anzug, Oberhemd, Krawatte, fertig. Welchen Anzug ziehst du an?«

»Den grauen Boss.«

»Den trägst du immer.«

Den Boss hatte er auch an, vor drei Tagen, als hätte er gewusst, dass er ins Allerheiligste des Abendblatts gerufen werden würde. Als er mit tatsächlich zittriger Hand gegen die überraschend dünne Holztür von Pompls Büro klopfte, dröhnte ihm von drinnen gleich das berüchtigt joviale Organ entgegen:

»Immer hereinspaziert, wenn’s kein Lektor ist!«

Alfred öffnete mit viel Selbstbewusstsein demonstrierendem Schwung die Pforte zum Jüngsten Gericht. Und wäre dabei fast über den Rand des dicken Teppichs gestolpert, der die fünf Meter bis zu Pompls Schreibtisch zentimeterdick dämpfte.

»Hoppla, Brinkmann! Das liebe ich an der Jugend, immer voller Elan.«

War das eine von Pompls gefürchteten Anspielungen? Aber Alfred hatte keine Zeit, darüber nachzudenken.

»Brinkmann, Brinkmann, aus Ihnen wird noch mal was«, dröhnte Pompl unbeirrt weiter. Seine gute Laune war angsteinflößend.

»Ähm, Herr …« Alfred nahm all seinen Mut zusammen. Aber noch bevor er sich für »Chefredakteur« oder »Doktor« entscheiden konnte, fiel ihm Pompl schon ins Wort.

»Hätten Sie Lust, mit zur Eröffnung des Simple zu kommen? Ich dreh da was, wenn Sie wollen. Das wird ein Mordsauftritt von allem, was Rang und Namen hat in dieser Stadt, wo eh alle glauben, sie hätten Rang und Namen. Da muss sich der Hund, der Jasper, mächtig anstrengen. Und ob der vor Ihrer strengen Zunge Gnade findet, ist ja wohl am allerungewissesten, was, Brinkmann?«

Jetzt war es so weit, jetzt kam die Gardinenpredigt: »Was fällt Ihnen eigentlich ein, Sie kleiner Nichtsnutz, mich, den großen Pompl, Deutschlands, ach was, Mitteleuropas größten Kenner der Restaurantszene, Inhaber von Ehrendoktorwürden der Humboldt-Universität Berlin, der Franz-Josef-Strauß-Hochschule München und der ernährungstechnischen Fakultät der Universität Leuven, also den bekanntesten Autor von Kochbüchern seit Wolfram Siebeck, den umworbenen Star aller Talkshows, mich, Heinrich Pompl den Großen, der es vom Reporter der Pegnitz Zeitung zum stellvertretenden Chefredakteur und Mitherausgeber der größten deutschsprachigen Zeitung gebracht hat, also ausgerechnet mich in Ihrer allerersten Restaurantkritik, die Sie nach diversen höchstens halb gelungenen Artikeln im Lokalteil, der Kultur, dem Sport und sogar der Wirtschaft als hospitierender Praktikant für dieses traditionsreiche und ehrwürdige Blatt unverdientermaßen schreiben durften, schlecht recherchiert und schlampig runtergerotzt zudem, so rüde anzupinkeln?«

Aber das sagte der große Pompl nicht. Er sagte:

»Jetzt glotzen Sie doch nicht so, Brinkmann! So dolle ist so eine Fresstempeleröffnung nun auch wieder nicht. Aber ich verstehe schon, wenn man noch jung und hungrig ist wie Sie, hehe, hungrig in jeder Beziehung, was? Na ja, hat mir jedenfalls prima gefallen, wie Sie diesem eitlen Fatzke Settembrini in die Parade gefahren sind. Ich muss da leider etwas mehr Rücksichten nehmen, schließlich ist sein Schwager Vorstandsvorsitzender bei der Schlesing AG, und Sie wissen ja, wenn wir die als Anzeigenkunden verprellen in diesen schwierigen Zeiten … Ich höre schon den Maleschka von den Anzeigen zetern. Aber Sie können ruhig mal gegen den Baum pinkeln. Was glauben Sie, was ich mir von der Schlesing-PR-Abteilung anhören durfte. Aber ich habe alles auf Ihren jugendlichen Leichtsinn geschoben und darauf, dass dieser Text dem Chef vom Dienst irgendwie im Wochenendstress durchgerutscht sein muss. Die werden sich schon wieder beruhigen, was? Und der kleine Hieb gegen meine Person … nun, lieber Brinkmann, erstens schmeckte mein Oktopussalat wirklich viel besser als der, den sie jetzt im Zillo auf der Karte haben. Habe ich gleich nachgeprüft. Und zweitens, was glauben Sie, wie ich in meinen jungen Jahren über die Leute hergefallen bin? Was ein rechter Kritiker werden will, der darf auch vor Vorgesetzten nicht zurückschrecken. Ihre Waffen werden noch früh genug stumpf werden. Je höher Sie steigen, desto mehr Rücksichten müssen Sie nehmen. Also wetzen Sie die Messer, solange Sie noch können. Und den Artikel über das Simple schreiben jetzt auch Sie. Aber legen Sie ihn mir diesmal persönlich vor, damit ich Ihnen alle eventuellen Rücksichtnahmen rausstreichen kann!«

Der fette Pompl war aufgestanden, um seinen tischtennisplattengroßen Schreibtisch herumgewatschelt und tätschelte jetzt Alfreds Schulter, während er ihn sanft wieder aus seinem Büro hinausschob.

»Also nehme ich das Grüne.«

»Gut, Cordula, nimm das Grüne. Und kannst du mir mal bei diesem blöden Knoten helfen?«

3Nach Grönland

»Haben Sie schon gehört, das Hartmann macht auch zu«, sagte der Landwirtschaftsminister und tunkte sein schräg geschnittenes Stück Baguette in den Rest des grün schimmernden Olivenöls, das von seinem Amuse-Gueule noch übrig war.

Otto Stolzenburg wiegte bedächtig seinen Kopf. Obwohl er finanziell an diesem Sternelokal nicht beteiligt war, tat es ihm doch leid, dass es schließen musste.

»Wieder ein Alteingesessener weniger«, sagte er.

»Und das, wo unsere Hauptstadt ohnehin kaum Tradition hat – nicht nur in kulinarischen Angelegenheiten«, ergänzte Jasper.

»Das ist es ja, deshalb machen die zu«, sagte Pompl und nippte an seinem Chardonnay. »Kein Humus zum Wurzelnschlagen. Keine Kundschaft, die die deutsche Küche nachfragt. Und ich spreche von der ernsthaften deutschen Küche. Die hat’s ja mal gegeben. Aber wohl eher nicht in Berlin. Ist übrigens ganz anständig, Ihr Chardonnay. Kaufen Sie den wie das Olivenöl auch selbst vor Ort?«

»Nein, nein«, sagte Jasper. »An der Loire haben wir schon lange nicht mehr Urlaub gemacht.«

»Was heißt Urlaub!«, dröhnte Pompl. »Ihnen geht es doch wie mir: immer im Dienst. Egal, wo wir auftauchen, immer müssen wir schmecken und probieren, immer wartet das Notizbuch in der Innentasche auf neue Adressen, immer will einem ein Winzer seine neueste Kreation aufschwatzen oder ein Konditor sein Sahnetörtchen. Herr Pompl, Monsieur Pompl, Signore Pompl! Das müssen Sie probieren, excusez-moi, pardon, das müssen Sie gegessen oder getrunken haben! Und warum? Nur damit ich es irgendwo irgendwann lobend erwähne … Dieser Zirkus kann einen schon anöden.«

»Um wirklich auszuspannen müsste man in die kulinarische Diaspora reisen«, seufzte Jasper.

»Nach Grönland!«, sagte Alfred mehr für sich.

»Oder Idaho«, sagte Cordula etwas lauter.

»Oh, da gibt es ganz gute Burger, habe mal an der Interstate 204 in einem grässlich eingerichteten Diner mit Autonummernschildern an der Wand einen köstlichen Viertelpfünder verdrückt.« Pompl wischte sich mit der Serviette den Mund ab.

»Sie essen Hamburger?«, fragte Cordula erstaunt.

»Klar. Das Einzige, was man in den Staaten zu sich nehmen kann. Vergessen Sie Little Italy. Jeder Araber bei uns kann besser Pizza backen als die Sizilianer in New York. Das ist auch wieder bezeichnend für unsere liebreizende Heimatstadt: Hier backen Araber Pizza, und die Touristen halten Döner Kebab für eine heimische Spezialität. Und sie haben recht: Döner ist die einzige kulinarische Errungenschaft, die Berlin der deutschen Speisekarte hinzugefügt hat. Danke, ihr türkischen Gastarbeiter und Mitbürger, danke, dass ihr die Bulette und die Currywurst überflügelt habt!«

»Nun, eine Currywurst kann auch gut schmecken«, sagte Jo Jasper und grinste.

»Ja, logisch, morgens um halb drei, halb besoffen am Mehringdamm oder an dieser berühmten Bude am Ku’damm, wo die Wichtigtuer sich ’ne Flasche Schampus zu ihrer Wurst bestellen.«

»Stimmt, Herr Pompl«, lachte Pia Graf. »Das haben wir mal nach einer Premierenfeier im Theater am Ku’damm gemacht. Muss in den siebziger oder achtziger Jahren gewesen sein. Eine Flasche Dom Pérignon für zweihundertfünfzig Mark für alle im Stehen und aus Plastikbechern.«

»Toll, Frau Graf, was waren wir wieder dekadent, was?« Pompl stieß mit seinem Glas an das von Pia Graf. »Ich sage ja: Diese Stadt ist nachgerade berühmt für ihre Mittelmäßigkeit.«

»War berühmt, Herr Pompl, war«, verfügte kraft seines Amtes als Vorsitzender der Freunde der Hauptstadt Otto Stolzenburg. »Seit dem Mauerfall hat sich doch einiges getan. Immerhin bin ich froh, dass Sie der deutschen Küche eine Lanze brechen.«

»Mögen Sie wirklich Königsberger Klopse und Falschen Hasen, Herr Pompl? Ist das für Ihre verwöhnte Zunge nicht etwas grobe Kost?«, mischte sich Cordula ein.

»Natürlich! Ich kann diese ganze französische Haute Cuisine nicht ausstehen. Wenn ich einen Koch mit Sternen sehe, mache ich einen großen Bogen um ihn. Außer er kocht deftig. Wie der wilde Hund in dieser umgebauten Brauerei, der tatsächlich Königsberger Klopse auf die Tische knallt und einen Dirty Urbanism pflegt.«

»Ach, hören Sie doch auf, Herr Pompl«, widersprach Pia Graf, die Einzige am Tisch, die in Berlin geboren war. »Wenn Sie nicht meckern können, geht es Ihnen nicht gut. Ihre kulinarischen Kenntnisse in allen Ehren, aber mit Dirty Urbanism kann ich nichts anfangen. Und der wird hier im Simple Gott sei Dank nicht gepflegt.«

»Ja, leider«, Pompl lachte, drehte sich um und rief aus: »Na also, jetzt bekommen wir endlich was Warmes in den Bauch: Die Suppe naht.«

Gundel Jasper dirigierte das Personal mit den dampfenden Terrinen und verteilte am Tisch der Ehrengäste eigenhändig die Cremesuppe aus Topinambur.

»Raffiniert unraffiniert, Herr Jasper?«, fragte Pompl und tauchte seinen Löffel in die schaumige zartgelbe Creme. »Dafür aber umso teurer, was?«

»Also, ich kann nur unterstützen, dass hier mit heimischen Produkten gekocht wird«, sagte der Landwirtschaftsminister.

»Klar«, erwiderte Pompl, »besonders vorhin die Jakobsmuscheln aus dem Wannsee.«

»Alles kann man eben nicht vor Ort erzeugen.« Der Minister lächelte. »Und wir wollen ja bei aller berechtigten Kritik an den Globalisierungstendenzen nicht in Volkstümelei verfallen.«

»Was ist denn an gesundem Patriotismus auszusetzen, Herr Minister? Ich finde, gerade daran mangelt es in Deutschland und vor allem in Berlin«, sagte Stolzenburg.

»Die Vokabel ›gesund‹ höre ich in diesem Zusammenhang eigentlich nicht so gerne, Herr Stolzenburg«, erwiderte der Landwirtschaftsminister. »Gesund bleiben hoffentlich meine Kinder und Ihre Enkelkinder, Herr Stolzenburg, aber nicht unsere Gefühle gegenüber Deutschland.«

»Sehr richtig, Herr Minister«, pflichtete ihm Pia Graf bei. »Obwohl ich selbst ja leider keine Kinder habe.«

»Dazu reichen vermutlich weder Energie noch Zeit einer über Jahrzehnte so erfolgreichen Schauspielerin wie Ihnen, Frau Graf«, sagte Cordula. »Sind Sie nicht sogar Kammerschauspielerin am Wiener Burgtheater?«

»Ist sie, ist sie, auch das«, rief Heinrich Pompl etwas schnippisch. »Trotzdem haben Sie sich für meinen Geschmack und Ihr Talent zu sehr dem Boulevard ergeben, Madame.«

»Was haben Sie gegen den Boulevard, Herr Pompl? Vorhin haben Sie noch Döner Kebab und Königsberger Klopse verteidigt. Und das ist nicht mal Boulevard.« Sie wischte sich energisch den Mund ab. »Sie entschuldigen mich bitte, ich muss mich kurz frisch machen.« Damit rauschte der alternde Star der Ku’damm-Bühnen davon. Pompl nahm einen Schluck aus seinem Weinglas und beugte sich zum Landwirtschaftsminister. »Bei aller Sympathie für Ihren Kampf gegen Legebatterien und genmanipulierte Lebensmittel, Ihre Wiederwahl ist ja keineswegs in trockenen Tüchern. Wie man hört, wird Ihnen sogar Ihr sicherer Listenplatz innerparteilich streitig gemacht?«

Der Kopf des Ministers lief leicht rot an.

»Aber lassen wir die Politik lieber beiseite«, schwadronierte Pompl weiter. »Das verdirbt einem den Appetit. Ein Hoch auf das brandenburgische Gemüse! Gönnen Sie uns auch noch revanchistische Königsberger Klopse, Herr Jasper?«

Nachdem Alfred schon seit zehn Minuten mit seinem Harndrang zu kämpfen hatte, beschloss er, nun sei der Zeitpunkt gekommen, um unauffällig auf die Toilette zu gehen. Er knüllte seine Serviette zusammen, schob den Stuhl zurück, fing den Blick seines Chefs auf, der ihm zuzunicken schien, und machte sich auf den Weg. Dabei bemerkte er, dass am Tisch der Bankiers und Werbeleute auffallende Ruhe herrschte. Oder konzentrierte man sich hier auf das Trio aus heimischen Flussfischen, das gerade serviert wurde? Wahrscheinlich warteten alle auf das Ende des Essens, um sich endlich ihre Havannas anstecken und darüber fachsimpeln zu können. Kein Jungdynamiker, der etwas auf sich hielt, kannte sich heutzutage nicht mit Zigarren aus.

Als Alfred an der altarähnlichen Anrichte vorbeikam, sah er, wie eine junge Frau damit beschäftigt war, eine Reihe von Tellerchen mit Schokoladenpudding aufzustellen. Er stutzte. Pudding in einem Toprestaurant wie dem Simple? Geformt wie beim Backe-backe-Kuchen-Spielen im Sandkasten? Oder war der fürs Personal bestimmt? Und unter all den Tellern mit gestürzter brauner Wabbelmasse, die ihn an seine Kindheit mit Dr. Oetker erinnerte, befand sich einer mit weißem Pudding. Wie bei den Schafen, nur umgekehrt.

Da erinnerte er sich an Heinrich Pompls letzte Kolumne im Abendblatt. Deutschlands größter lebender Gourmet hatte sich leidenschaftlich zum Schokoladenpudding bekannt und alle Spitzengastronomen aufgefordert, Pudding auf die Karte zu setzen. Er habe genug von all den Mousses au Chocolat und Crèmes Caramel. Die Patissiers sollten endlich einmal versuchen, den guten alten Schokoladenpudding auf Vordermann zu bringen. Und wenn es nach ihm ginge, unbedingt mit weißer Schokolade und dunkler Schokoladensoße. Denn er hasse Vanillesoße und liebe die distinguierte weiße Schokolade. »Aber bitte keine weiße Mousse, meine Herren und Damen, bitte keine Mousse!« So endete Pompls Pamphlet.

Als Alfred am Urinal stehend vor sich hin grinste, stellte sich jemand Voluminöses direkt neben ihn.

»Natürlich, das Ding zum Pissen ist von Philippe Starck. Zum Kotzen.«

»Aber Herr Pompl, was haben Sie jetzt wieder an Starck auszusetzen? Sieht doch gut aus, schön reduziert.«

»Schön reduziert! Wenn ich das schon höre. Es gibt wahrscheinlich eine Million Designer auf der Welt. Aber alle feiern Philippe Starck und zwei oder drei andere Big Player wie diese französischen Brüder mit dem unaussprechlichen Namen, Bouroullec oder so ähnlich. Diese Lampen aus Papier über den Tischen sind bestimmt von Issey Miyake. Die kosten so viel, als wären sie aus reiner Seide. Alles Angeberei. Hätte dem Jasper eigentlich etwas mehr Individualität zugetraut.«

»Wahrscheinlich hat er sich von seinem Innenarchitekten oder seiner Frau überreden lassen.«

Pompl lachte: »Da könnten Sie recht haben, Brinkmann, die Gundel ist eine bemerkenswert resolute Frau. Ohne sie gäbe es das Simple nicht. Jasper kann zwar exzellent kochen, aber er ist kein guter Geschäftsmann. Die ganzen Verhandlungen mit Stolzenburg und Konsorten hat die Gundel geführt.«

Alfred ging zum Waschbecken: »Haben Sie den Pudding gesehen?«

»Habe ich.« Pompl trat neben Alfred. »Tolle Idee vom Jasper, hat er bestimmt extra meinetwegen gemacht.«

»Wahrscheinlich, um Sie sanftmütiger zu stimmen.«

»Hehe, er kann ja nicht ahnen, dass Sie die Kritik schreiben. Mögen Sie Schokoladenpudding?«

»Ich hasse ihn. Bei uns zu Hause gab’s den jeden Sonntag.«

»Mit Vanillesoße?«, fragte Pompl, als sie gemeinsam die edlen Erfrischungsräume des Simple verließen, und legte väterlich eine Hand auf die Schulter des jungen Kollegen.

»Mit Vanillesoße«, sagte Alfred.

»Schrecklich«, seufzte Heinrich Pompl.

4Blut im Pudding

Nach den heimischen Fischen, bei deren zügigem, weil verspätet begonnenem Verzehr sich Pompl zu keinem Kommentar hinreißen ließ, widmete man sich nun dem Fleisch: einem sauber auf den Punkt gebratenen Wildschweinfilet mit einer kräftigen Rotweinsoße und leicht süßlich schmeckenden Schalotten.

»Wie Sie sehen«, erklärte Jo Jasper, als alle ihren Teller vor sich stehen hatten, »versuche ich, nicht mehr als drei verschiedene Dinge auf einem Teller zu vereinen: Fleisch, Soße, Zwiebeln. Vorhin waren es drei verschiedene Fische: Zander, Saibling und Hecht. Die Beilage diente mehr zur Dekoration. Reduktion ist mein Ziel. Mehr als drei verschiedene Geschmacksnuancen kann unsere Zunge nicht gleichzeitig wahrnehmen. Die meisten Köche begehen den Fehler, uns mit ihrer Raffinesse zu überfordern. Nehmen Sie nur die Spinner der Molekularküche, technisch irre aufwändig, und dann ist der Gast vor lauter Aromaexplosionen total überfordert. Diese Mode habe ich nie mitgemacht, bei allem nötigen Respekt vor der Kunstfertigkeit der Kollegen. Zum Wildschweinfilet empfehle ich einen burgenländischen Rotwein! Kräftig, ehrlich, unverfälscht. Prost, meine Gäste, ich hoffe, es hat Ihnen bis jetzt geschmeckt!«

Jasper hob sein Glas und versuchte, nicht sofort zu Heinrich Pompl zu blicken. Stattdessen blieb er in den grünen Augen von Cordula hängen, die seinen Blick einige Sekunden erwiderte und dann lächelnd zu Heinrich Pompl sagte:

»Und was meint nun der große Kritiker, vor dem sich alle fürchten?«

Alfred trat ihr unter dem Tisch gegen das Schienenbein.

»Der große Kritiker sagt gar nichts, gnädige Frau«, antwortete Pompl. »Erst wenn der Kaffee getrunken ist und der letzte Löffel des Nachtischs und das letzte Stückchen Käse verzehrt ist, frühestens dann bin ich bereit, ein Fazit zu ziehen.« Er zwinkerte Alfred zu und flüsterte: »Reduktion …«

»Aber zum Wein könnten Sie doch schon mal etwas sagen«, bat Stolzenburg. »Unser Gastgeber ist so berühmt für seinen Weinkeller. In dem übrigens auch seltene und köstliche Schnäpse auf ihre Verkostung warten.«

Pompl steckte seine Nase tief in sein Glas, zog etwas Luft ein, nahm dann einen Schluck, ließ ihn im Mund hin und her rollen, schmatzte deutlich vernehmbar und schluckte endlich. Pia Graf und der Landwirtschaftsminister blickten sich leicht indigniert an. Pompl seufzte.

»Aus Österreich sagten Sie, Jasper? Wusste gar nicht, dass die Ösis so tolle Weine machen.«

»Sie haben doch selbst auf der Weinmesse im Logenhaus den Bordeaux gegen einige rote Cuvées vom Neusiedler See ausgespielt, Herr Pompl«, sagte Stolzenburg.

»Hab ich das?« Pompl grinste. »Hab ich vergessen.«

Stolzenburg lachte. Pia Graf hob skeptisch die Augenbrauen.

»Aber der ist nicht vom Neusiedler See, sondern etwas weiter südlich aus dem Mittelburgenland, aus Horitschon. Da machen sie die allerbesten Rotweine. Oft in so kleinen Mengen, dass sich der Export nicht lohnt«, erklärte Jasper.

»Die saufen den lieber selbst«, sagte Pompl. »Wie die Steirer ihren berühmten Morillon. Recht haben sie. Das Gute soll man behalten. Selbst in Kroatien gibt es mittlerweile tolle Weine. Aber die werden Sie nie in einem hiesigen exjugoslawischen Grill-Restaurant bekommen. Wahrscheinlich, weil sie gegen irgendeine EU-Vorschrift verstoßen. Ist der Korken kroatischer Weine zwei Millimeter zu dick oder zu lang, Herr Minister?«

Das Gesicht des Ministers drohte sich erneut zu verfärben, und der Gastgeber warf schnell ein: »Ich habe einen schönen Istrier in meinem Weinkeller.«

»Hier im Restaurant oder privat zu Hause?«, fragte Pompl.

»Hier im Simple, natürlich. Wir haben einen Extraraum für unsere Weine. Kein Keller im strengen Sinn, ein Raum neben der Küche, vollklimatisiert mit Luftbefeuchter. Ideale Bedingungen für unsere besten Tropfen.«

»Die vielen Millionen Investitionssumme kommen nicht ganz von ungefähr«, sagte Stolzenburg und blinzelte verschmitzt. »Zeigen Sie doch dem Fachmann Ihr ganz besonderes Reich, Herr Jasper, und lassen Sie ihn von dem Nussschnaps probieren, Sie wissen schon!«

»Ach ja, dieser Nussschnaps, eine Spende der Hauptstadtfreunde, fünfundzwanzig Jahre alt, davon die meiste Zeit im Eichenfass gelegen.« Jasper geriet ins Schwärmen. »Ganz mild, leicht bitter, trotzdem mit einer süßen, erdigen Note. Und diese Farbe: goldgelb wie alter Whisky.«

»Aber mit Whisky nicht wirklich zu vergleichen«, sagte Stolzenburg. »Und bringen Sie uns eine schöne Flasche Süßwein zum Dessert. Bleiben wir österreichisch. Ich schlage vor, einen Eiswein von Alois Kracher aus Illmitz am Neusiedler See.«

»Kommen Sie, Herr Pompl, es ist mir eine Ehre.« Jasper stand auf. »Wenn uns die Damen einen Augenblick entschuldigen würden …« Jo Jasper strich sich mit beiden Händen über seinen modischen Zopf und geleitete Pompl gestenreich in Richtung Küche.

»Gott, diese Weinfetischisten!«, stöhnte Pia Graf.

»Da haben Sie recht«, seufzte der Landwirtschaftsminister, dem es sichtlich Spaß machte, neben der berühmten Schauspielerin zu sitzen. »Aber die Österreicher haben immerhin aus ihrem Glykolskandal gelernt und setzen jetzt auf Qualität statt Quantität. Das könnte einigen Regionen in Deutschland auch guttun.«

Als Pompl und Jasper wiederkamen – Stolzenburg war unterdessen aufgestanden, um am Tisch der Bankiers alte Bekannte zu begrüßen, und Cordula hatte eine Kollegin entdeckt, zu der sie kurz hinüberging –, sah es fast so aus, als gingen sie Arm in Arm: Zwei Männer, die im Weinkeller ihre freundschaftlichen Gefühle füreinander oder überhaupt irgendwelche Gefühle entdeckt haben.

»Na, Herr Pompl«, fragte Pia Graf, »was haben Sie uns zum Dessert ausgesucht?«

»Natürlich den Eiswein, schöne Frau.«

»Und wie hat der Nussschnaps gemundet?«, fragte Stolzenburg.

»Köstlich. Nur schade, dass Herr Jasper nicht mittun wollte beim Verkosten.«

»Ja, mein Magen verträgt keine hochprozentigen Sachen. Wein ist okay, aber alles über 30 Prozent hat mir mein Arzt strengstens verboten.«

»Probieren wir zuerst den Eiswein«, rief Heinrich Pompl, sich behaglich den Bauch reibend. »Nach dem vielen Essen braucht der Magen eine kleine Pause, um Platz für die Süßspeise zu schaffen. Und für die ist unser Jo Jasper nachgerade berühmt.«

»Na, Herr Pompl, so riesige Portionen waren das nun auch wieder nicht«, sagte Stolzenburg. »Das stört mich an der Haute Cuisine, dass die immer an der Menge sparen.«

»Ist aber gut für die Linie«, lachte eine merklich besser gelaunte Pia Graf.

»Herr Stolzenburg hätte wahrscheinlich Lust auf Grünkohl mit Pinkel oder eine andere deftige Spezialität seiner niedersächsischen Heimat gehabt«, sagte Jasper.

»Nein, nein, so was lasse ich mir von meiner Frau kochen. Ich stecke doch nicht mehrere Millionen in diesen Laden, um dann Hausmannskost vorgesetzt zu bekommen. Bei aller Liebe zu Grünkohl mit Pinkel. So was isst man im Gasthaus, nicht in einem Sternerestaurant.«

»Noch hat es keinen einzigen«, sagte Pompl und lehnte sich lässig in seinem Stuhl zurück.

Jo Jasper zuckte nicht mit der Wimper: »Wird nicht mehr lange dauern. Und wenn nicht, kann ich damit auch leben.«

»Können Sie das auch, Herr Stolzenburg? Bei all dem Geld, das Sie hier ins Besteck und in diverse Klimatisationen gesteckt haben, muss sich das Simple doch auch rechnen, irgendwann. Oder soll das hier so eine Sternschnuppe werden wie die vielen anderen Neugründungen, die erst zweimal ihre mit reichlich Vorschusslorbeeren bedachten Köche wechseln, um dann ganz dichtzumachen? Das wollen wir doch dem talentierten Jo Jasper nicht wünschen. Die exorbitanten Preise jedenfalls, die Sie natürlich bei dem Aufwand und den wenigen Tischen verlangen müssen, das ist mir schon klar, werden Sie ohne die Rückendeckung internationaler Feinschmecker nicht halten können. Die kommen nur, wenn sie der Michelin und andere Gourmetbibeln herschicken.«

»Ach Gott, Herr Pompl, natürlich wäre es für das Renommee des Simple und der Hauptstadt insgesamt nicht schlecht, wenn wir hier ein paar Sterne zusammenbekämen. Warum darf es nur im Süden und im Westen der Republik ausgezeichnete Feinschmeckerlokale geben? Aber Berlin holt gerade auf. Nicht zuletzt deshalb konnte ich so schnell so viel Geld für das Simple auftreiben. Jetzt will jeder dabei sein, wenn in Berlin die Sterne aufgehen.«

»Naja, aber extra anreisen aus München oder Paris würde ich wegen eines Sterns nicht. Es müssten schon zwei sein, oder?«, fragte Pompl und grinste maliziös. »Am besten gleich drei, was, Stolzenburg?« Er schlug lachend mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Nun«, erwiderte Stolzenburg und nickte Jasper zu. »Bei allem Respekt vor Ihrem Handwerk, wir wollen ja nicht gleich unverschämt werden. Und wenn unser heimischer Gourmetpapst weiterhin so offensichtlich guter Laune ist, haben wir ja nichts zu befürchten.«

»Bravo, Stolzenburg«, sagte Pompl. »Darauf erheben wir unser Glas mit diesem köstlichen Eiswein. Auf Ihr Wohl, lieber Jo Jasper, und das Ihrer tüchtigen Frau – und das prächtige Angebot Ihres Kellers, natürlich. Ich bin sicher, die Sterne werden nicht lange auf sich warten lassen – ob es mir passt oder nicht.«

Alle anderen taten es ihm gleich und prosteten dem lächelnden Jasper zu. Sogar die stumme Gattin von Pompl ließ