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Mit schweren Verletzungen wird eine junge Frau ins Krankenhaus eingeliefert und schnell erhärtet sich der Verdacht, dass jemand versucht hat, sie zu ermorden. Doch wer und warum? Fragen, die die junge Frau zunächst selbst nicht beantworten kann, denn sie hat, außer ihrem Vornamen, alles vergessen. Nach und nach kann sie jedoch Licht in das Dunkel bringen. Sharon gehört einer privaten Einheit an, die, von staatlicher Seite geduldet, Verbrecher zur Strecke bringt, wenn die Polizei personell und finanziell an ihre Grenzen stößt. Doch einige aus den eigenen Reihen spielen ein falsches Spiel. Allerdings ist Sharon nicht mehr allein. Neue Freunde unterstützen sie. Sie alle helfen ihr, das Netz aus Lügen und Intrigen zu entwirren und den wahren Feind zu entlarven. Leicht ist das nicht, denn Sharon, von kleinauf darauf gedrillt, das Gefühle tödlich für das Geschäft sind, muss den schwierigsten Kampf von allen meistern. Den Kampf gegen sich selbst.
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Veröffentlichungsjahr: 2011
Es war mal wieder einer dieser Nachtdienste, die sich endlos hinzogen, selbst hier in der Notaufnahme. Der Zeiger der Uhr kroch wie eine träge fette Fliege über das Ziffernblatt. Die diensthabenden Ärzte und Schwestern gähnten manchmal verstohlen hinter vorgehaltener Hand und griffen nach einer frischen Tasse Kaffee. Eigentlich tat es ganz gut, wenn es mal ruhiger war, aber so? Es schien, als würde das überaus schöne, sonnige Wetter der letzten Tage die Leute davon abhalten, krank zu werden oder Unfälle zu haben. Auch der Betrieb auf den anderen Stationen hielt sich in Grenzen. Wachleute drehten pünktlich ihre Runden. Der Zeiger der Uhr näherte sich unendlich langsam der Drei. Plötzlich – Alarm. Alle schreckten auf. Eine der Schwestern ging ans Funkgerät und nahm die Informationen des Rettungswagens entgegen, der auf dem Weg hierher war. Anschließend gab sie den Fall an den diensthabenden Arzt und sein Team weiter. „Der Krankenwagen ist gleich hier. Weiblich, weiß, Alter unbekannt. Mehrere Schusswunden, Kopfverletzung, bewusstlos. Zustand kritisch.“ Dann ratterte sie noch weitere Informationen herunter. Im OP wurde sofort alles vorbereitet. Kurze Zeit später wurde die Patientin eingeliefert, untersucht und unverzüglich operiert. Obwohl mit einem hohen Risiko verbunden, entschieden sich die Ärzte dafür. Es dauerte lange, bis man die Instrumente weglegte. Jetzt hieß es abwarten.
Am Morgen herrschte in der Notaufnahme wieder die übliche Hektik, ebenso wie im restlichen Krankenhaus. Mittlerweile war auch der Fall der letzten Nacht bekannt geworden. Eine junge Frau lag auf der Intensivstation und kämpfte um ihr Leben. Niemand konnte sagen, wer sie war, es wurden bei ihr keine Papiere gefunden. Natürlich war die Polizei schon in der Nacht im Krankenhaus gewesen, hatten aber kaum etwas tun können. Der Tatort war untersucht worden, wobei festgestellt wurde, dass dies nicht der wirkliche Tatort sein konnte. Das Verbrechen war woanders begangen worden, was den Polizisten ihre Arbeit nicht erleichterte. Jetzt war nur noch einer der Beamten im Krankenhaus. Er saß bei einem der Ärzte im Büro. Er sah etwas müde aus, kein Wunder, war er doch schon seit der Nacht an diesem Fall dran. Der Arzt ihm gegenüber war der jungen Frau zugeteilt worden. Dies war indes nicht ungewöhnlich, als dass die beiden Vater und Sohn waren. Zumindest auf dem Papier, denn eigentlich waren die beiden Onkel und Neffe. Steves Eltern waren vor vielen Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen und um Steve nicht noch mehr Schmerz zuzufügen, hatte Devon sich dazu entschieden, seinen Neffen zu adoptieren. Steve verstand sich ohnehin schon sehr gut mit seinem Onkel und mit der Zeit begann Steve, ihn Dad zu nennen. Das freute Devon und bis zum heutigen Tag war er der Meinung, richtig gehandelt zu habe, in dem er seinem Neffen eine Pflegefamilie ersparte. Nicht, dass er der Meinung gewesen wäre, die Institution Pflegefamilie wäre schlecht, doch wenn es auch anders ging, umso besser. So kam es, dass jeder nur davon sprach, dass der Vater der Arzt und der Sohn der Polizist war. Zusammen hatten sie schon viele knifflige Kriminalfälle gelöst, wobei sich besonders Dr. Devon Knight hervorgetan hatte, nicht immer zur Freude seines Sohnes, Steve Knight. So müde, wie Steve aussah, so ernst wirkte Devon. Man hatte die junge Frau nach der OP in ein künstliches Koma gelegt, um ihre Heilungschancen zu vergrößern. Die Ärzte hatten insgesamt drei Kugeln aus ihrem Körper geholt. Dazu kamen ein glatter Durchschuss am linken Oberarm und eine schwere Kopfverletzung. Wie es aussah, war sie auch niedergeschlagen worden. Der Blutverlust war hoch. Dies berichtete Dr. Knight jetzt seinem Sohn, als dieser fragte. Steve seufzte: „Heute Nacht, gegen halb drei, ging der Anruf bei uns ein. Ein paar Obdachlose hatten sie gefunden, in einer schmuddeligen Seitenstraße. Wir können von Glück sagen, dass es Leute waren, die sich noch um das Wohl anderer scheren. Andernfalls hätte man sie wohl kaum mehr lebend gefunden.“ „Aber ich nehme an, gesehen haben sie nichts, oder?“ „Nein. Außerdem hat die Spurensicherung festgestellt, dass das unmöglich der Tatort sein kann. Zu wenig Spuren, zu wenig Blut. Die entfernten Kugeln sind schon im Labor, das Ergebnis wird heute Mittag erwartet. Im Moment können wir nur darauf hoffen, dass sie es schafft und uns Informationen geben kann. „Und wenn sie das gar nicht will?“ Steve zog fragend die Augenbrauen hoch. Es war immer ein beunruhigendes Gefühl, wenn sein Vater so anfing. Dieser verstand den Blick ganz gut und wiegelte ab. „Meine Fantasie geht mal wieder mit mir durch. Warten wir einfach ab, bevor wir anfangen zu spekulieren.“ Steve nickte und sie verfielen wieder in nachdenkliches Schweigen. Erst ein Klopfen an der Tür unterbrach die Stille. Die Tür ging auf und eine hübsche Frau mit dunkler Hautfarbe trat ein. Auch sie trug einen Arztkittel. „Ah, Helen, kommen sie herein.“ Helen schloss behutsam die Tür. Sie bemerkte sogleich die gedrückte Stimmung. „Was ist los mit ihnen beiden? Oh“, sie hob die Hand, „ich weiß schon, es geht um die junge Frau, die heute Nacht hier eingeliefert wurde.“ Sie trat näher an den Schreibtisch. „Jetzt hören sie mir mal gut zu. Solange ich dieses junge Ding nicht auf meinem Tisch habe, gibt es keinen Grund, so niedergeschlagen zu sein.“ Helen war mal wieder der Optimismus in Person und sie hatte allen Grund dazu. Arbeitete sie doch in der Pathologie und ihren Patienten war nun wirklich nicht mehr zu helfen. Devon und Steve grinsten sacht. Helen schien zufrieden.
Die nächsten Tage brachten keine neuen Erkenntnisse. Einzig über die Tatwaffe konnte man etwas mehr sagen. Es gab noch einige offene Fragen, doch es stand mit Sicherheit fest, dass es sich bei den Geschossen um ein 38’ er Kaliber handelte, genauer gesagt ein 38’ er Spezial. Registriert war die Munition nicht, was jedoch lediglich bedeutete, dass noch nie an einem Tatort Kugeln aus der verwendeten Waffe gefunden worden waren. Doch dann, nach nunmehr eineinhalb Wochen, klingelte bei Dr. Knight das Telefon. Draußen brach gerade die Morgendämmerung an und Dr. Knight hatte eine anstrengende Schicht im Krankenhaus hinter sich. Trotzdem wachte er auf und ging verschlafen ans Telefon. Er lauschte kurz und war dann plötzlich hellwach. „Ich komme sofort.“ Dr. Knight sprang aus dem Bett, zog sich an und tätigte noch einen kurzen Anruf, ehe er losfuhr. Fast zeitgleich mit seinem Sohn kam er im Krankenhaus an, denn ihn hatte er noch von zu Hause aus angerufen. „Wie sieht es aus?“ Devon zuckte mit den Schultern: „Ich habe um Anruf gebeten, wenn sich bei der jungen Frau etwas ändern sollte. Am Telefon hieß es aber nur, ich solle kommen. Du weißt ja, dass wir angefangen haben, die Medikamente nach und nach zu reduzieren, um sie aus dem künstlichen Koma zurückzuholen.“ Sie eilten zum Fahrstuhl und fuhren hinauf zur Intensivstation. War der Anruf ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Gleich würden sie es wissen und ihnen war unwohl zumute, obgleich der Möglichkeit, es könnte etwas Schlimmes sein. Kaum waren sie aus dem Fahrstuhl gestiegen, als ihnen auch schon eine Schwester entgegeneilte. „Gut, dass sie so schnell kommen konnten. Dr. Bräker erwartet sie bereits. Die junge Frau ist aufgewacht.“ Devon und Steve schauten sich mit vorsichtiger Erleichterung an und eilten dann der Schwester nach. In dem Krankenzimmer war einiges los. Dr. Bräker kam ihnen an der Tür entgegen. Er schüttelte ihnen kurz die Hand. „Ah, gut, gut, dass sie gleich beide da sind. Wir machen gerade ein paar Untersuchungen aber es scheint, als hätte es die Patientin geschafft. Es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Fragen haben wir ihr bisher nur bezüglich ihres Gesundheitszustandes gestellt. Wir wollten warten, bis die Polizei anwesend ist. Aber nun ...“ Er lächelte etwas zerstreut und wandte sich dann wieder der Patientin zu. „Weiß man schon, wer sie ist?“ „Nein, sie ist noch sehr verwirrt und verstört. Na, kein Wunder, wenn sie mich fragen. Wir sollten sehr behutsam sein.“ Dr. Bräker trat zum Bett und jetzt erst hatten Devon und Steve Knight freie Sicht. Das erste, was ihnen später immer wieder zu diesem Anblick einfiel, war – einsam. Einsam und verlassen wirkte sie trotz Schwestern und Ärzte um sich herum. Unter den Schläuchen und Kabeln sah sie zart und zerbrechlich aus. Und sehr blass. Ihr Blick irrte von einer Person zur nächsten, bei niemandem blieb er länger als ein paar Sekunden hängen. Auf Dr. Bräkers Wink hin trat Devon ans Bett. „Hallo, ich bin Dr. Knight. Schön, dass sie wieder bei uns sind.“ Der unstete Blick richtete sich auf ihn und – blieb. Dr. Knight wertete das als gutes Zeichen und lächelte. „Gut. Können sie sprechen?“ „Ja“, sagte die junge Frau, wenn auch nur leise und etwas mühsam. „In Ordnung, strengen sie sich nicht an. Ich würde ihnen gern ein paar Fragen stellen. Bei Antworten, die nur eines ja oder nein bedürfen, reicht es, wenn sie mit dem Kopf nicken oder ihn schütteln. Sachte versteht sich. Ist ihnen das recht?“ Ein Nicken. Devon wandte sich an seinen Kollegen: „Was hat sie bisher gegen die Schmerzen bekommen?“ Dr. Bräker nannte ihm das Medikament und die Dosis. „Gut. Mehr sollte sie im Moment auch nicht bekommen.“ Er sah wieder die Patientin an: „Wissen sie, wo sie hier sind?“ Ein erneutes Nicken, dann: „Im Krankenhaus.“ „Richtig. Ist ihnen auch bekannt, wieso?“ Sie runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf. „Ist nicht so schlimm, das wird schon.“ Dr. Knight warf einen Blick auf einen Monitor. Dieser gab einen regelmäßigen Piepton von sich, der jetzt etwas schneller wurde. „O.K.“, versuchte er die Patientin zu beruhigen, „es ist nicht ungewöhnlich, dass sich Patienten nach dem Aufwachen nur schwer an etwas erinnern können. Haben sie das verstanden?“ Ein Nicken. „Alles klar. Wissen sie dann, wer sie sind? Ihren Namen?“ Jetzt konnte man deutlich sehen, wie die Angst in ihre Augen flackerte und das Piepsen wurde eindeutig schneller. „Nein“, sie schüttelte heftig den Kopf. Zu heftig, denn sie schloss im gleichen Moment die Augen und verzog das Gesicht. Dr. Knight legte ihr die Hand auf die Stirn. Sie glühte. Dr. Knight gab einer Schwester ein Zeichen. Sie verstand und zog eine Spritze mit einem Beruhigungsmittel auf. Devon wandte sich erneut der Patientin zu. „Hören sie gut zu. Ich kann verstehen, dass sie die ganze Situation überfordert. Das ist normal, aber ich bin mir sicher, morgen sieht die Welt ganz anders aus. Ruhen sie sich aus, dann sehen wir weiter.“ Die Patientin schaute ihn nur aus großen Augen an und bekam nicht mit, wie die Schwester das Mittel spritzte. Zusammen mit seinem Sohn verließ Devon das Zimmer. Draußen meldete sich Steve erstmals zu Wort: „Was glaubst du, spielt sie uns was vor?“ Er musste daran denken, was sein Vater vor einigen Tagen gesagt, oder vielmehr gefragt hatte. Doch dieser schüttelte den Kopf. „Dann müsste sie schon eine sehr gute Schauspielerin sein. Ihr Puls ist so plötzlich in die Höhe geschnellt. Nein, sie hat sich wirklich aufgeregt.“ Sie waren schon fast wieder am Fahrstuhl angekommen, als ihnen eine Schwester hinterher rief. „Dr. Knight, kommen sie bitte noch mal schnell zurück.“ Vater und Sohn blickten sich alarmiert an und hasteten zurück. Inzwischen konnte man sehen, dass das Beruhigungsmittel zu wirken begann. Dennoch schaute die junge Frau Devon geradewegs an, als er zur Tür herein trat. Sie versuchte sogar, ihm die Hand entgegenzustrecken. Er nahm sie in die Seine. „Ich glaube ... Sharon.“ Sie stockte kurz, die Zunge wurde ihr schon schwer. „Ich glaube, Sharon ist mein Name.“ Dann schlief sie ein. Behutsam ließ Devon ihre Hand sinken. „Na, das ist doch schon mal was. Schwester, ich bin in meinem Büro. Lassen sie mich bitte holen, wenn sie aufwacht.“ Draußen verabschiedete sich Steve: „Ich werd mal zur Dienststelle fahren, Meldung machen. Und vielleicht hat sich ja doch was Neues ergeben.“ Auf der Wache musste Steve feststellen, dass sich zumindest Letzteres nicht erfüllt hatte, aber er kam schließlich nicht mit leeren Händen. Er erstattete Bericht. Dass das Opfer wieder aufgewacht war, wurde freudig aufgenommen, dass sie sich bisher an nichts erinnern konnte, sorgte für etwas Unruhe. Doch auch hier wusste man, wie schnell sich so etwas ändern konnte.
Am Nachmittag bekam Dr. Knight die Nachricht, dass die Patientin erneut erwachte. Sofort ging er zu ihr. Jetzt sah Sharon, Devon beschloss, sie vorerst auch so zu nennen, nicht mehr ganz so blass wie am Morgen aus. Und sie erkannte ihn auch gleich wieder: „Dr. Knight.“ Ihre Stimme klang noch schwach, doch das konnten auch die Medikamente sein. „Sharon, wie geht es ihnen? Haben sie Schmerzen?“ „Ja, aber das geht schon. Eher habe ich Durst.“ „Die Schwester wird ihnen gleich etwas bringen, aber wir müssen vorsichtig sein. Nicht gleich zu viel trinken.“ Dr. Knight schaute sich nochmals das Krankenblatt an, während die Schwester Sharon etwas Wasser gab. Schließlich nahm sich Devon einen Stuhl und setzte sich zu Sharon ans Bett. „Dass sie anscheinend schon ihren Namen kennen, ist ein gutes Zeichen. Sie haben eine schwere Gehirnerschütterung, da ist ein kurzzeitiger Gedächtnisverlust nichts Ungewöhnliches. Erinnern sie sich an irgendwas?“ Sharon verneinte. „Gut. Ich werde ihnen jetzt alles sagen, was wir wissen, vielleicht hilft das weiter.“ Doch bevor er anfangen konnte, ging die Tür auf und Steve Knight kam herein. „Oh, gut das du kommst. Irgendwas Neues?“ Steve schüttelte den Kopf. „Und hier?“ „Nein, aber ich wollte Sharon gerade alles mitteilen, was wir wissen. Vielleicht hilft’s. Ach übrigens ... Sharon, das ist mein Sohn, Ltn. Steve Knight.“ „Polizei?“ „Ja, beunruhigt sie das?“ „Nein, es bringt mich nur zu der Überzeugung, dass ich nicht einfach bloß einen Autounfall oder so was hatte. Also?“ „Hat anscheinend eine spitze Zunge“, raunte Steve seinem Vater ins Ohr. Dieser lächelte kurz. Dann jedoch wurde er ernst und erzählte Sharon alles. Von der Nacht, in der sie in der Gasse gefunden wurde, von den Kopfverletzungen, von den Schusswunden, wobei einer ein glatter Durchschuss war, aus den Anderen aber hatten Kugeln entfernen müssen. Sharon lag die ganze Zeit still da und sagte kein Wort. Als Devon geendet hatte, blieb es still. „Hilft ihnen das irgendwie weiter“, fragte Steve schließlich. „Nicht im Mindesten. Und ich hatte nichts bei mir? Keine Papiere oder so?“ „Nein, entweder sind sie tatsächlich ohne Papiere losgegangen oder jemand gibt sich verdammt viel Mühe, ihre Identität zu verschleiern.“ „Tja, das setzt dann wohl voraus, dass man mich auf jeden Fall um die Ecke bringen wollte. Ich werde mich doch irgendwann wieder an alles erinnern, oder?“ „Entgegen der weitläufigen Meinung gibt es nur wenige Fälle von kompletter Amnesie, die für immer anhält. Ich sehe daher kein Problem darin, dass es hier anders ist.“ „Das klingt doch schon mal gut. Doch woher kommt dieser Gedächtnisverlust? Von der Kopfverletzung?“ „Das wäre durchaus möglich. Es kann aber auch sein, dass es ein Verdrängungseffekt ist.“ „Verdrängungseffekt? Wovon?“ „Nun, wir wissen nicht, was in jener Nacht geschah. Die Wissenschaft hat festgestellt, dass Personen, denen etwas Schlimmes passiert ist, dies oft verdrängen. Und es ist sehr unterschiedlich. Manche vergessen nur ein paar Minuten oder Stunden, andere ganze Tage oder wie in ihrem Fall einen noch längeren Zeitabschnitt. Doch den meisten fällt alles wieder ein. Auslöser dafür kann wiederum vieles sein. Einfach nur ein bestimmter Zeitraum von Ruhe oder eine bestimmte Situation. Das ist schwer zu sagen.“ „Na, da bin ich ja beruhigt.“ Dr. Knight lächelte. „Als Erstes sollten wir zusehen, dass wir sie wieder auf die Beine bringen. Der Rest ergibt sich dann hoffentlich von selbst.“ Die Tage vergingen und Stück für Stück ging es Sharon gesundheitlich besser, nur ihr Gedächtnis kehrte nicht zurück. Sie konnte sich zwar schwach an ein paar Ereignisse erinnern, doch die lagen anscheinend lange zurück und brachten keine neuen Erkenntnisse. Eine Situation jedoch gab es, die alle etwas stutzig machte. Sharon war mittlerweile so genesen, dass sie aufstehen und etwas über die Gänge spazieren konnte. Zunächst nahm sie es gar nicht wahr, doch dann fiel ihr ein Mann auf, der sich des Öfteren in ihrer Nähe aufhielt. Manchmal war er sogar nur ein paar Meter entfernt. Nach einigen Tagen war sich Sharon sicher, dass er sie beobachtete und sie schaute ihm offen ins Gesicht. Kannte sie ihn? Angestrengt dachte sie nach, doch ihr fiel nichts ein. Irgendwie war ihr dieser Mann unheimlich und heute kam er ihr besonders nah. Sharon stand in der Nähe der Fahrstühle und es sah gerade so aus, als würde der Mann zu ihr hinüberkommen, als die Fahrstuhltüren aufgingen und Steve Knight heraustrat. Sharon fasste sich ein Herz und machte ihn auf den Mann aufmerksam. Als dieser bemerkte, dass er plötzlich im Mittelpunkt des Interesses stand, verschwand er. Steve versuchte, ihn zu verfolgen, verlor ihn dann aber aus den Augen. Sharon lehnte sich gegen die Wand. Hatte sie ihr Gefühl also doch nicht betrogen. Dieser Mann hielt sich mit Absicht in ihrer Nähe auf. War er vielleicht derjenige, der versucht hatte, sie zu töten? Während sie noch an die Wand gelehnt dastand, kam Dr. Knight. Er bemerkte sie natürlich sofort. „Sharon ist ihnen nicht gut?“ Bevor sie etwas sagen konnte, kam Steve zurück. „Er ist mir leider entwischt.“ Devon sah ihn ratlos an: „Wer ist dir entwischt? Was ist hier los?“ Sharon klärte sie beide auf und Steve fand das alles überhaupt nicht gut. „Sie hätten uns früher informieren müssen.“ Sie waren wieder ins Zimmer zurückgekehrt und Sharon saß auf dem Bett. „Ich war mir einfach nicht sicher, ob er wirklich wegen mir hier ist. Aber vorhin sah es so aus, als würde er mich ansprechen wollen.“ „Da kann man im Moment nichts machen. Aber sollte er noch einmal auftauchen, sagen sie bitte sofort jemandem bescheid.“ Sharon nickte und Steve ging. Dr. Knight blieb noch. Er hatte mit Sharon noch etwas Wichtiges zu besprechen. „Sharon, in ein paar Tagen können sie entlassen werden und wir müssen uns überlegen, wie es weitergehen soll.“ Sharons Miene verdüsterte sich. Noch immer wusste niemand, wer sie war und nach ihrer Entlassung hatte sie keinen Ort, an den sie würde gehen können. „Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass man ihnen ein Hotelzimmer oder eine Wohnung zur Verfügung stellt, solange wir nicht wissen, wer sie sind. Ich möchte ihnen jedoch einen anderen Vorschlag machen.“ „Und der wäre?“ „Ich möchte sie als meinen Gast in mein Haus einladen. In Malibu.“ Sharon war zunächst sprachlos. „Sie kennen mich doch so gut wie gar nicht. Das Angebot kann ich unmöglich annehmen“, sagte sie schließlich. „Das glaube ich aber doch. Sehen sie, der Vorfall von vorhin sagt mir, dass sie die nächste Zeit nicht allein unterwegs sein sollten. Außerdem kann ich dann noch auf sie achtgeben. Nur weil sie entlassen werden, heißt das nicht, dass sie schon vollständig gesund sind. Und auch meinem Sohn Steve wäre das sicher recht. So weiß er immer, wo sie sind.“ Sharon überlegte. Wenn sie ehrlich zu sich war, hatte sie auch gar keine Lust völlig allein in irgendeinem Hotelzimmer zu sitzen und so nahm sie das Angebot schließlich an. „Allerdings nur unter einer Bedingung.“ „Ich höre.“ „Dass ich mich in ihrem Haus etwas nützlich machen kann.“ Dr. Knight sah sie etwas verdutzt an. „Hey, ich möchte nicht den ganzen Tag ihre Gastfreundlichkeit genießen, ohne dafür etwas zu tun.“ „Gut, aber sie lassen das Ganze bitte ruhig angehen.“ Und so wurde es gemacht. Als Sharon zwei Tage später entlassen wurde, zog sie zu Dr. Knight ins Haus. Auch Steve fand die Idee gut. Nach einiger Zeit fiel seinem Vater sogar auf, dass Steve verhältnismäßig oft nach Hause kam. Nicht, dass er sonst selten da war, aber jetzt ... Devon lächelte still vor sich hin. Bei Dr. Knight im Haus fühlte sich Sharon sehr wohl. Sie machte sich hier und da nützlich, wobei herauskam, dass sie vorzüglich kochen konnte. Wenn Devon nach Hause kam, stand das Essen schon auf dem Tisch. Jetzt auch lernte Sharon die Kollegen von Dr. Knight kennen. Helen Collins, die eigentlich in der Pathologie arbeitete, es sich aber nicht nehmen ließ, oft in den Kriminalfällen von Steve und Devon mitzumischen. Klar, landeten doch Steves Fälle, der beim Morddezernat arbeitete, oft bei ihr. Dann gab es da noch Michael Oliver, ein junger, engagierter Kollege von Dr. Knight und seine Freundin Loren. Sie war Krankenschwester im Riverside Hospital. Sie alle kamen des Öfteren vorbei und es waren immer sehr vergnügliche Treffen. Eines Tages kam Steve früher als erwartet nach Hause und wirkte recht aufgeregt. Alle saßen draußen auf der Terrasse und tranken Kaffee. „Komm Steve, setz dich. Auch eine Tasse?“ Devon hielt im die Kanne entgegen. „Ja, gern. Heute war viel los.“ Irgendetwas in seiner Stimme ließ seinen Vater aufhorchen. „Was ist passiert?“ „Wir haben wahrscheinlich einen Zeugen gefunden, der uns etwas über die Nacht sagen kann, in der du niedergeschossen wurdest, Sharon.“ Vor einiger Zeit waren sie ohne große Umschweife von sie auf du umgestiegen. Sharon ließ fast ihre Tasse fallen. „Woher?“ „Nun, zunächst mal hatten wir einen anonymen Anruf und wir waren misstrauisch. Doch der Anrufer kannte einige Details, die nur ein Insider wissen kann. Er wird sich wieder melden, er ist äußerst vorsichtig.“ „Er meldet sich wieder? Ihr wisst nicht mal, wer er ist?“ „So ist das eben manchmal. Mir scheint, dass doch etwas Enormes dahinter steckt.“ „Ja, mein Leben.“ Sharon war etwas enttäuscht. „Nun lass mal den Kopf nicht hängen. Das ist immerhin mehr, als was wir in den ganzen vergangenen Wochen herausbekommen haben.“ „Hast ja Recht.“ Doch ihre Stimme klang nicht sehr zuversichtlich. Kurze Zeit später geschah jedoch etwas, was sie nicht mehr an den Zeugen denken ließ, jedenfalls für den Moment. Es wurde schon langsam dunkel, als Sharon noch einmal zum Strand hinunterging. Sie machte sich keine großen Gedanken, wusste sie doch Steve und Devon hinter sich im Haus. Sharon hatte den Weg zum Wasser halb geschafft, als aus dem Nichts jener Mann auftauchte, der so oft im Krankenhaus gewesen war. Sie erschrak und blieb stehen. Der Mann kam noch näher. „Wer sind sie?“, fragte Sharon und versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu verleihen. „Du willst mir doch nicht etwa weismachen, dass du mich nicht kennst?“ Der Mann kam noch näher, sodass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. „Ich mache ihnen nichts vor.“ „Hör auf Spielchen zu spielen. Das hast du wohl kaum nötig. Es wird Zeit, dass du dich wieder deiner Pflichten erinnerst.“ Er packte Sharon hart bei den Schultern. Das löste bei ihr die Starre, in die sie vor Angst gefallen war und sie schrie laut. Fluchend ließ der Mann sie los. Hinten im Haus ging die Terrassentür auf und Steve trat heraus. Sharon schrie noch immer. Ohne lange zu überlegen stürmte Steve zum Strand hinunter, worauf der Mann schnell davonrannte und in der Dunkelheit verschwand. „Was ist passiert?“ Endlich hörte sie auf zu schreien und zeigte in die Richtung, in die der Mann verschwunden war. „Der Mann aus dem Krankenhaus.“ Mehr brachte Sharon nicht heraus. Ihr wurden die Knie weich. Steve versuchte erst gar nicht, dem Mann zu folgen, dafür war es schon zu dunkel. Er nahm Sharon in den Arm und führte sie zum Haus zurück, wo Devon schon wartete. Er fragte nicht, was passiert war, Sharons bleiches Gesicht reichte schon. Sie setzte sich aufs Sofa, ihre Hände zitterten. Devon brachte Sharon eine Tasse Tee und setzte sich dann ebenfalls. Niemand sagte ein Wort. Erst nach einer Weile fragte Steve, was denn genau geschehen war. „Ich ging zum Strand hinunter und plötzlich tauchte der Mann vor mir auf. Ich hatte ihn gar nicht kommen sehen, er stand einfach da. Ich fragte ihn, wer er sei, doch er wollte mir nicht glauben, dass ich ihn nicht kenne. Ich solle aufhören, Spielchen zu spielen und mich an meine Pflichten erinnern.“ Sharon schlug die Hände vors Gesicht. „Was hat das alles zu bedeuten? Wer bin ich? Warum kann ich mich an nichts erinnern?“ Nun fing sie doch an zu weinen und es war gar nicht leicht, sie wieder zu beruhigen. So seltsam dieser Vorfall auch war, er löste etwas aus. Es begann damit, dass Sharon anfing, schlecht zu schlafen. Sie träumte und es waren keine guten Träume. Wenn sie aufwachte, konnte sie sich meist nicht mehr an den Inhalt des Traumes erinnern, doch sie empfand Angst. Und noch etwas geschah. Sie begann, sich zu verändern. Langsam, kaum merklich und doch spürbar. Steve war der Erste, der sich darüber Gedanken machte. Bald sprach er mit seinem Vater darüber. Sie trafen sich im Krankenhaus. „Sag mal, ist dir bei Sharon in letzter Zeit etwas aufgefallen?“ „Aufgefallen? Nein, was meinst du?“ Steve ging im Zimmer auf und ab, ein Zeichen dafür, dass ihn etwas sehr beschäftigte. „Ich kann es nicht genau sagen, sie hat sich irgendwie verändert. Manchmal, wenn sie am Fenster steht, in Gedanken versunken, dann wirkt sie so ... hart. Es klingt dumm, ich weiß, aber dann ist sie so kalt.“ „Das klingt aber gar nicht nach der Sharon, die wir nun schon seit Wochen kennen.“ „Das ist es ja. Seit dem Abend am Strand ist etwas anders. Ich glaube auch, sie schläft seitdem nicht mehr richtig.“ „Hm, es könnte durchaus sein, dass sie anfängt, in ihren Träumen das erlebte zu verarbeiten, ohne dass es ihr bewusst wird.“ Devon war besorgt. „Und dann ist da noch was.“ Steve blieb stehen. „Es ist gerade erst ein paar Tage her. Sie stand in der Küche und hat mich wohl nicht kommen hören. Als ich so plötzlich in der Tür stand, hat sie sich furchtbar erschrocken und dann ...“ Steve machte eine Pause und suchte nach den richtigen Worten. „Es war nicht so wie damals, als sie sich erschrocken hat, du weißt schon, im Flur oben, da ist sie regelrecht zurückgesprungen. Oder wie neulich am Strand, als sie so geschrien hat. Nein, es war eher so, als wie, ich kann es nicht anders beschreiben, als wenn sie in eine Angriffsposition übergegangen ist. Erst als sie erkannte, wer da in der Tür steht, hat sie sich wieder entspannt.“ „Nun, für mich hört sich das alles noch nicht so dramatisch an. Vielleicht hat sie sich einfach dazu entschlossen, nicht mehr ängstlich auf das zu warten, was da noch kommen möge. Aber wir werden das im Auge behalten.“
In den nächsten Tagen musste sich sogar Devon eingestehen, dass irgendwas nicht stimmte. Manchmal reagierte Sharon aggressiv auf bestimmte Situationen, aber nicht offen, sondern eher unterschwellig. Und es hielt immer nur ein paar Sekunden an, bis sie offenbar bemerkte, was geschah. Hinterher sah Sharon dann erschrockener aus als derjenige, dem sie gegenüberstand. Es gab auch Momente, in denen sie sich unbeobachtet fühlte. Dann hatte sie manchmal einen so kalten Blick und Ausdruck im Gesicht, dass es einen schauderte. „Es ist so, als ob da noch eine zweite Sharon in ihr wäre, die nur darauf lauert, herausgelassen zu werden.“ Michael sprach das aus, was mittlerweile alle Freunde von Devon dachten. Er meinte damit, dass eine ihnen unbekannte Sharon aus der Vergangenheit langsam wieder zum Vorschein käme, ähnlich wie bei Schizophrenen. Und es kam noch schlimmer. Der anonyme Zeuge, von dem Steve gesprochen hatte, meldete sich wieder. Und zwar nicht auf dem Revier, sondern im Hause Knight. Diesmal rückte er mit einem Detail heraus, das alle schier umwarf. Er verriet den wahren Tatort. Er wollte sich dort mit Steve treffen. Dieser willigte erst nach einigem Zögern ein, es konnte schließlich auch eine Falle sein. Auch besprach er sich mit seiner Dienststelle. Dort war man erst recht skeptisch, doch man unterließ es, Steve offensichtliche Begleitung mitzuschicken. Sollte der Zeuge tatsächlich echt sein, wollte man ihn nicht verschrecken. Steve wurde mit einer Wanze ausgestattet, sodass zivile Kräfte, die im Umkreis lauerten, sofort zur Hilfe eilen konnten, wenn es nötig war. Am Abend des Treffs waren alle nervös. Würde jetzt endlich Licht ins Dunkle kommen, würde man endlich erfahren, wer Sharon wirklich war? Hoffentlich verlief alles glatt. Sharon hatte furchtbare Angst. Angst um Steve. Sie selbst wollte sich das nicht eingestehen, doch für die anderen war es offensichtlich. Als sich Steve schließlich auf den Weg machte, blieben fünf nervöse Freunde zurück. Michael, Loren und Helen hatten es sich nicht nehmen lassen, an diesem Abend im Hause Knight zu sein, um moralischen Beistand zu leisten. Für Devon waren solche Einsätze seines Sohnes zwar nichts Ungewöhnliches mehr, doch selten zuvor hatte es so offensichtlich nach einer Falle gerochen. Die Zeiger der Uhr krochen nur langsam voran. Hatte jemand etwa die Uhr verstellt? Konnte die Zeit wirklich so langsam vergehen? Immer wieder stand jemand von ihnen auf, überprüfte die Uhr und setzte sich wieder hin. Es wurde kaum ein Wort gesprochen. Als schließlich die Tür aufgeschlossen wurde, zuckten alle zusammen. Man konnte Steve sofort ansehen, dass die Aktion keinen Erfolg gehabt hatte. Seine Miene war ausgesprochen düster und Sharon spürte, wie ihr Puls zu rasen begann. Devon war der Erste, der den Mund aufmachte: „Steve, was ist passiert? War es nicht der Zeuge?“ Steve seufzte schwer und setzte sich Sharon gegenüber. „Das wissen wir nicht genau.“ „Wieso nicht? Will er nicht reden?“ „Er kann es nicht.“ „Er kann nicht? Aber wieso denn? Was ...Oh“, Devon unterbrach sich selbst, „ich verstehe.“ „Helen“, Steve wandte sich um, „ ich bitte sie nur ungern, aber könnten sie sofort ins Krankenhaus fahren? Wir brauchen schnelle Ergebnisse.“ Sharon hatte immer noch nicht verstanden. „Warum soll Helen noch um diese Zeit ins Krankenhaus ... Sharon sprach den Satz nicht aus, sondern wurde noch blasser. „Er ist tot?“ Ihre Stimme wurde ganz hoch und dünn. Steve nickte, Sharon sprang auf. Plötzlich hatte sie einen ganz anderen Gesichtsausdruck und auch ihre Stimme klang kühl und gelassen, als sie fragte: „Wart ihr das?“ Steve war von dieser Wandlung so fasziniert und zugleich erschüttert, dass er die Frage gar nicht beantwortete. Sharon verstand das Schweigen falsch. „Ihr habt mir die wahrscheinlich einzige Möglichkeit genommen, festzustellen, wer ich bin?“ Sharon schien äußerst wütend zu sein, doch plötzlich nahm ihr Gesicht einen schuldbewussten Ausdruck an und sie setzte sich wieder. Sie senkte den Blick und murmelte eine Entschuldigung. Steve machte sich so seine Gedanken. Auf Drängen der anderen hin erzählte er, was geschehen war. Wie verabredet war er bei dem Treffpunkt angekommen. Es handelte sich um eine Adresse in einer der etwas feineren Gegenden. Am Treffpunkt hatte er zunächst niemanden antreffen können. Nachdem Steve einige Zeit gewartet hatte, fing er an, vorsichtig seine Umgebung zu erkunden. Dabei machte er die grausige Entdeckung. Ein Mann lag erschossen in einer Tordurchfahrt. Vorsichtig näherte sich Steve dem Mann und untersuchte ihn. Er war tot, ohne Zweifel. Allerdings noch nicht lange. Steve informierte seine Kollegen, die ihrerseits die Spurensicherung anforderten. Der Tote lang mit dem Gesicht nach unten und Steve wagte es nicht, ihn umzudrehen. Wer weiß, welch wichtige Spuren er dadurch zerstört hätte. Glücklicherweise dauerte es nicht lange, bis die Spurensicherung eintraf. Steve stellte sich etwas abseits, um seine Kollegen nicht zu stören. So kam es, dass er erst spät sah, wer der Tote war. Kurz bevor der Tote in den Leichenwagen verfrachtet wurde, winkte einer der Männer Steve heran. „Kennen sie vielleicht diesen Mann?“ Er öffnete den Leichensack ein wenig, sodass Steve einen Blick auf das Gesicht des Toten werfen konnte. Was für ein Schock. Es war der Mann aus dem Krankenhaus, der, der sich öfter in Sharons Nähe aufgehalten hatte. Daran bestand gar kein Zweifel. An dieser Stelle des Berichtes sprang Sharon auf, rannte in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Die anderen blieben sprachlos zurück. Dieses Verhalten war gar nicht typisch für Sharon. Nun ja, in letzter Zeit allerdings schon. „Ich habe so das Gefühl, je näher wir der Lösung kommen, oder je tiefer wir graben, umso stärker sind die Veränderungen bei ihr.“ Es war der nächste Morgen. Steve und sein Vater waren im Krankenhaus und warteten auf die Untersuchungsergebnisse von Helen. Devon nickte: „Ich bin schon fast versucht, einen Kollegen zurate zu ziehen. Mich würde interessieren, ob es in der Geschichte der Psychologie schon derartige Fälle gegeben hat. Vielleicht könnte er uns auch sagen, wie wir weiter vorgehen sollen.“ Steve stand mal wieder auf und ging hin und her. Da er aber nichts sagte, hielt ihn sein Vater schließlich an. „An was denkst du gerade?“ Steve schüttelte nur den Kopf. „Eine verrückte Idee, das kann gar nicht gut gehen.“ „Erzähl es mir doch einfach, dann können wir beide entscheiden, wie verrückt das ist.“ Steve schüttelte noch einmal den Kopf, fing dann aber doch an zu reden. „Ich glaube, dass Sharon einen ganz wichtigen Teil ihres Lebens vergessen hat, ich meine gefühlsmäßig. Uns präsentiert sie die Seite, die normalerweise unter der Oberfläche lauert, eigentlich ist sie ganz anders. Davon bin ich überzeugt.“ „Vielleicht hättest du Psychiater werden sollen“, sagte Devon mit sanftem Spott. Steve überhörte das. „Ich habe mir über die vergangenen Tage so meine Gedanken gemacht. Diese Veränderungen fingen an, als der Typ aus dem Krankenhaus, der jetzt tot ist, sie am Strand angesprochen hat. Als sie solche Angst bekam. Vielleicht war es gar nicht so sehr der Typ, sondern die Situation an sich, dass diese Veränderung ausgelöst hat.“ Jetzt hörte ihm sein Vater sehr aufmerksam zu. „Dad, was glaubst du, wie hätte ich reagiert, wenn dieser Typ plötzlich vor mir gestanden hätte?“ „Nun, du wärst ruhig geblieben oder, wenn er dich angegriffen hätte, hättest du dich verteidigt.“ Devon dachte einen Augenblick nach, dann hellte sich sein Gesicht auf. „He, hast du mir nicht von solch einem Ereignis erzählt, hier in der Küche?“ „Genau das ist mir durch den Kopf gegangen und das war nicht das Einzige. Denk nur an gestern Abend. Hast du bemerkt, wie kühl und präzise sie zunächst ihre Fragen stellte?“ „Aber du glaubst doch nicht, dass sie etwa auch eine Polizistin ist?“ „Höchstens in Alaska“, witzelte Steve, wurde dann aber wieder ernst. „Wenn dem so wäre, hätte sie schon längst jemand identifiziert. Nein, das schließe ich aus, aber irgendwas in die Richtung. Manchmal ist sie unglaublich aggressiv und ich glaube, dass sie Kampfsporterfahrungen hat. Allein schon, wie sie sich manchmal bewegt.“ „Gut. Wir glauben also, dass hinter dieser Fassade eine ganz andere Sharon steckt. Die Frage ist, wie locken wir diese andere Sharon hervor?“ „Wenn man bedenkt, was gestern passiert ist, würde ich sagen, Sharon reagiert, wenn sie sich persönlich bedroht fühlt. Wir müssten eine Möglichkeit finden, sie so zu provozieren, dass sie allen Grund dazu hat, sich und ihr Verhalten zu ändern.“ „Das klingt aber ziemlich riskant.“ Devon dachte nach. „Ich werde meinen Kollegen dazu befragen. Mal sehen, was der sagt.“ Die Tage, bis Devon Zeit hatte, mit seinem Kollegen zu sprechen, vergingen in sehr merkwürdiger Stimmung. Sharon zog sich immer mehr zurück. Sie sprach mit niemandem darüber, doch auch sie bekam das Gefühl, dass ihre Erinnerungen langsam zurückkehrten. Sehr angenehm war das nicht. Manchmal schien ganz kurz eine Erinnerung in ihrem Kopf aufzublitzen, wobei es weniger Bilder, als vielmehr Geräusche waren. Sie konnte sie nicht zuordnen, wusste nicht mit ihnen umzugehen. All dies machte ihr Angst. Und so wurde sie stiller und stiller und blieb oft in ihrem Zimmer. Allerdings bekam sie so auch nicht mit, wie ernst die Gespräche zwischen Devon und Steve wurden. Devon hatte mit seinem Kollegen Rücksprache gehalten. Dieser war sehr interessiert gewesen und teilte durchaus die Meinung von Devon und Steve. Ob Sharon allerdings einen Teil ihres Wesens verbarg, weil sie sich einfach nicht daran erinnern konnte, oder weil sie es nicht wollte, vielleicht weil zu schmerzhaft, darauf wollte sich der Arzt nicht festlegen. Die Idee, Sharons Verborgenes Ich hervorzubringen, indem man sie, auf welche Art auch immer, provozierte, hielt er für äußerst riskant. Da man nicht wusste, was da zum Vorschein kommen würde, wenn überhaupt, konnte man auch Sharons Reaktion nicht abschätzen. Nachdem Devon seinem Kollegen aber bis in jede Kleinigkeit alles geschildert hatte, was seit dem Mordanschlag passiert war, heckten sie gemeinsam einen Plan aus.
Am Morgen des Tages, an dem der Plan in die Tat umgesetzt werden sollte, herrschte die Ruhe vor dem Sturm, und das wortwörtlich. Strahlender Sonnenschein und Rekordhitze machten es den Menschen nicht leicht, zur Arbeit zu fahren. Die meisten von ihnen wären lieber an den Strand gefahren. Allerdings sollte sich das Wetter im Laufe des Tages drastisch verschlechtern. Stürmisch würde es werden, hieß es in der Vorhersage und regnen wie aus Kübeln. Daran dachte aber an diesem Morgen keiner der Personen im Hause Knight. Sharon hatte schlecht geschlafen. Wirre Träume hatten sie gequält. Devon und Steve waren schlichtweg nervös. Sie hatten sich mit Devons Kollegen abgesprochen. Die einzige provozierende Situation, die sie bisher hatten herausfinden können, war die, wenn sich Sharon bedroht oder angegriffen, in ihrer Persönlichkeit verletzt fühlte. Als Sharon in die Küche kam, schlug ihr eine merkwürdige Stimmung entgegen. Steve war am Telefon. Er wirkte sehr ernst, geschäftig. Abweisend. Es schien, als würde er mit seiner Dienststelle telefonieren. „Sind sie wirklich sicher?“ Pause. „Ich kann mir das kaum vorstellen.“ - „Ja, sie ist hier.“ Sharon spürte, wie es ihr kalt den Rücken runter lief. Steve sprach doch nicht etwa von ihr? Sharons Puls beschleunigte, besonders, als sie einen Blick von Steve auffing. Dieser schaute sie so durchdringend an, dass Sharon den Rückzug antrat. Im Wohnzimmer saß Devon. Beiläufig versuchte sie zu fragen: „Wissen sie, was bei Steve los ist? Klingt so ernst.“ Devon schaute erstaunt. „Bei Steve?“ Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht Ärger im Revier.“ Sharon war keineswegs beruhigt, zumal sie auch hier im Wohnzimmer einen Teil des Telefongespräches verfolgen konnte. „... sie müssen sich irren, das wäre doch Wahnsinn.“ - „Nein, es ...“ Steve wurde von dem anderen Teilnehmer unterbrochen. Als er weitersprach, klang seine Stimme ganz anders. Unsicher. Vorsichtig. „Ja, also, so etwas, wie sie es schildern, nein, Derartiges ist nicht passiert. Aber einiges war doch schon merkwürdig.“ Steves Stimme wurde plötzlich so leise, dass Sharon nichts mehr verstand, doch auch so hatte sie genug gehört. Es ging hier tatsächlich um sie. Für einen Moment geriet sie fast in Panik und dann war sie plötzlich ganz ruhig und gelassen. Wundern tat sie sich darüber nicht mehr. Diese Art von Verhaltensänderung geschah nicht zum ersten Mal. Sie merkte nicht, das Devon sie beobachtete und ihr Verhalten mit leichtem Entsetzen registrierte. Was passierte hier? Sharon wartete scheinbar gelassen auf das, was da kommen würde. Es dauerte noch ein paar Minuten, bis Steve ins Zimmer kam. Sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Einerseits Trauer, andererseits pure Gelassenheit. Eben ganz der Polizist. Sharon spannte sich, ihr Puls beschleunigte nochmals, ohne dass sie bedeutend unruhiger wurde. Steve stellte sich wie zufällig in die Nähe der Tür, auch Devon stand auf und ging zum Schrank. So stand er schräg hinter Sharon. Sie konnte ihn nicht sehen, doch Devon und Steve standen im Blickkontakt. Was ging hier vor, dachte Sharon, denn sie registrierte das sehr wohl. „Der Chief hat mich gerade angerufen.“ Steve versuchte, seine Stimme völlig gefühllos klingen zu lassen. Nicht ganz mit Erfolg. „Er hat neue Erkenntnisse zum Fall des toten Zeugen.“ „Und?“ Sharons Stimme hätte Wasser zu Eis gefrieren lassen können. „Er möchte mit dir darüber sprechen. Es scheint, als wärst du nicht ganz unschuldig daran.“ Die Worte waren gefallen. Für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Sharon hatte das Gefühl, als würde jemand ihren Willen übernehmen und sie ließ es zu, schaltete total ab. Die Sharon der letzten Wochen gab es in diesem Augenblick nicht mehr. „Du meinst nicht wirklich, was du da sagst, oder?“ „Es gibt einige sehr nützliche Hinweise.“ „Willst du damit sagen, ich hätte mich am Ende selbst schwer verletzt und niedergeschossen?“ „Nein, das steht außer Frage. Die Frage ist, warum das jemand getan hat. Vielleicht ein paar krumme Geschäfte?“ Steves Stimme war mittlerweile genauso kalt wie die von Sharon. „Das ist nicht dein Ernst.“ „Das lässt sich leicht klären. Du wirst mich jetzt aufs Revier begleiten.“ Er machte eine kurze Pause. „Allerdings solltest du schon mal gut überlegen. Die Beweise gegen dich sollen sehr erdrückend sein.“ Da war sie, die Situation. Sharon fühlte sich in ihrer Persönlichkeit verletzt, in die Ecke gedrängt. Man wollte ihr ein Verbrechen anhängen, welches sie nicht begangen hatte, da war sie sich trotz ihres Zustandes sicher. In ihr schien ein Damm zu brechen, alles, was sie bisher gewesen war, wurde weggespült und Sharon reagiert so, wie sie es früher immer getan hatte. Steve fühlte, dass etwas geschah, er konnte sehen, wie die Kälte auch in Sharons Augen Einzug hielt, doch er spielte seine Rolle weiter. Er machte einen Schritt auf Sharon zu, um sie am Arm zu nehmen. Dann ging alles plötzlich ganz schnell. Sharon schoss vor, packte Steve am Arm, schubste ihn in Richtung seines Vaters und zog ihm gleichzeitig die Waffe aus dem Halfter. Ehe sich Devon und Steve besinnen konnten, war der Lauf der Waffe auf sie gerichtet. Das Entsetzen auf ihren Gesichtern war echt. Damit hatten sie wirklich nicht gerechnet. Sharon dagegen zuckte nicht mal mit der Wimper. „Um Himmels willen, Sharon, machen sie sich nicht unglücklich.“ Sharon blickte Devon ohne jedes Gefühl an. „Ich lasse nicht zu, dass man mich eines Verbrechens beschuldigt, das ich nicht begangen habe. Ich werde es beweisen.“ „Meinst du wirklich, dass du das auf diese Weise schaffst? Niemand wird dir jetzt noch glauben“, hielt Steve ihr entgegen.
Niemand wird dir glauben.
Dieser Satz hallte in Sharons Kopf nach, immer und immer wieder. Da war sie, eine Erinnerung. Fast glaubte sie, ein Gesicht, passend zur Stimme, vor ihrem geistigen Auge zu sehen. Die Stimme dröhnte in ihrem Kopf. Sie klang schlecht und absolut böse. Sharon schluchzte und presste die Hand gegen die Schläfe. Devon und Steve hielten den Atem an. Plötzlich fühlte sich Sharon in die Wirklichkeit zurückgerissen und ihr wurde bewusst, was sie da eigentlich tat. Sie wurde leichenblass, ihre Augen weiteten sich. Mit einem Aufschrei ließ sie die Waffe fallen, allerdings nicht, ohne sie vorher zu sichern, wie Steve feststellte. Es geschah mit einer so beiläufigen Bewegung, als wäre Sharon daran gewöhnt. Sie schnappte entsetzt nach Luft, Tränen glitzerten in ihren Augen. „Ich ... ich weiß nicht“, stammelte Sharon, während sie zurückwich. „Es tut mit leid“, presste sie hervor, und bevor Steve und Devon reagieren konnten, rannte Sharon zur Terrassentür hinaus, sprang über die Brüstung hinunter zum Strand und verschwand hinter der nächsten Wegbiegung. Als Steve sich schließlich aus seiner Starre löste, war es schon zu spät. Er versuchte noch, Sharon allein zu finden, gab es dann aber auf und unterrichtete notgedrungen seine Dienststelle. Der Chief war, wie schon vermutet, alles andere als entzückt über den Vorfall. Er prophezeite Steve noch einigen Ärger, schob das aber erst mal beiseite und ließ eine groß angelegte Suchaktion starten. Die Zeit drängte. Niemand konnte sagen, was Sharon jetzt tun würde und dann war da ja noch der Sturm. In der Zwischenzeit blieb Devon nichts anderes übrig, als daheimzusitzen und zu warten. Das machte ihn ganz kribbelig. Als es plötzlich an der Tür läutete, rannte er fast hin und riss sie auf. Die Frau, die vor der Tür stand, zuckte zusammen. Aber es war nicht Sharon.
„Helen!“ Devon klang erstaunt aber auch enttäuscht zu gleich, was Helen sehr wohl registrierte. „Sie haben anscheinend jemand anderes erwartet.“ Devon wurde verlegen: „Kommen sie rein. Was führt sie zu mir?“ Helen warf ihm von der Seite her einen langen Blick zu. „Kurz angebunden, wie?“ Sie ging voran ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Sofa. Von hier aus hatte man eine tolle Aussicht über den Strand und das Meer. Devon kam langsam hinterher, setzte sich aber nicht. „Ich war gerade in der Gegend, und da wir heute beide frei haben, dachte ich, ich schau mal vorbei. Gerade recht, wie mir scheint. Also, was ist los?“ Devon seufzte tief und erzählte ihr schließlich die ganze Geschichte. Zunächst war Helen sprachlos, dann aber rief sie: „Was haben sie sich eigentlich dabei gedacht?“, und sprang empört auf. „Können sie sich eigentlich vorstellen, wie sich das arme Ding jetzt fühlen muss? Sie haben sie eines Verbrechens bezichtigt.“ „Und wenn es wahr ist? Wir wissen doch nicht, was wirklich geschah.“ Helens Augen funkelten. „Sie glauben doch nicht im ernst, dass dieses nette Mädchen eine ...“ Helen suchte nach dem passenden Wort, „eine
Gangsterbraut
ist.“ Trotz der ernsten Lage musste Devon lachen: „Wenn sie das so nennen, schon gar nicht.“ „Na also.“ Während Devon und Helen darüber spekulierten, wer Sharon sein könnte, beteiligte Steve sich an der fieberhaften Suche. Jeder, der daran teilnahm, warf immer wieder einen Blick gen Himmel. Wie angekündigt, begann sich das Wetter allmählich zu verschlechtern. Wahrscheinlich würden sie die Suche irgendwann abbrechen müssen. Jeder hoffte, Sharon noch vorher zu finden. Diese Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht. Nach und nach zogen die Suchmannschaften ab, bis nur noch eine Handvoll den Sturmböen und dem prasselndem Regen standhielt. Schließlich sagte einer von ihnen: „Heute können wir nichts mehr ausrichten. Der Sturm ist zwar nicht so heftig wie angekündigt, aber bei dem Regen sieht man kaum die Hand vor Augen. Wir müssen bis morgen warten. Tut mit leid Steve.“ Alle blickten Steve an. Sie wussten, wie sehr er sich in diesen Fall hinein gehängt hatte. Dieser nickte nur. Bei den Autos angekommen, bedankte er sich bei den Männern für ihre Geduld. So rasch es ging, fuhr Steve nach Hause, in der irrsinnigen Hoffnung, Sharon war doch noch zurückgekehrt. Er machte sich die schlimmsten Vorwürfe, schließlich war das Ganze seine Idee gewesen, und dass der Kollege seines Vaters dieser Idee zugestimmt hatte, machte es nicht leichter. Im Gegenteil. Auf diese Tatsache zu verweisen, gab ihm das Gefühl einer Ausrede. Nein, er war für alles verantwortlich, was jetzt geschah. Schon als Steve seinen Wagen vor dem Haus seines Vaters parkte, wusste er, dass sich seine Hoffnung nicht erfüllen würde. Das spürte er einfach. Schweren Herzens verließ er den Wagen und lief zur Haustür. Er erkannte Helens Wagen und fragte sich, wie lange sie wohl schon da war. Er betrat das Haus, ging jedoch nicht gleich ins Wohnzimmer. Er wollte zunächst seine nassen Sachen loswerden. Steve beeilte sich mit dem umziehen, sein Vater und Helen warteten sicher schon ungeduldig. Sie schauten ihn dann auch erwartungsvoll an, als er ins Zimmer kam. Helen hatte sich eigentlich vorgenommen, mit Steve genauso zu schimpfen, wie sie es mit Devon getan hatte, doch Steve stand die pure Schuld ins Gesicht geschrieben. Auch Devon fragte nicht, wie es gelaufen war, das erübrigte sich. Die nächsten Minuten sprach überhaupt niemand ein Wort. Irgendwann stand Devon auf und ging in die Küche, um für alle Tee zu kochen. Steve schaltete das Radio ein. Eigentlich war ihm nicht nach Musik zumute, doch er ertrug auch die Stille nicht, mit dem Rauschen des Regens im Hintergrund. Wieder hinsetzen mochte er sich auch nicht und so ging er zur Terrassentür und starrte in die Dunkelheit hinaus. Wo war Sharon? Was hatte er ihr angetan? Für einen Moment schloss Steve die Augen. Er erinnerte sich an das Gespräch am Vormittag mit dem Chief. Er wusste nicht, was für eine Strafe ihn erwartete, aber er würde sie ohne mit der Wimper zu zucken annehmen. Er hatte es nicht anders verdient, diesmal war er übers Ziel hinausgeschossen. Abrupt wurde Steve aus seinen Gedanken aufgescheucht. Sein Vater schaute ihn fragend an. „Was?“ „Ich fragte, ob du eine Tasse Tee möchtest.“ Devon hielt ihm die Tasse hin. „Oh, ja ... danke.“ Steve nahm die Tasse, trank jedoch nicht. Devon legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ich bin mir sicher, Sharon geht es gut. Sie braucht Zeit, um nachzudenken.“ Steve antwortete nicht, sein Gesicht allerdings nahm einen gequälten Ausdruck an. Devon sah es. „Du magst sie, nicht wahr?“ Im ersten Moment sah es so aus, als würde Steve widersprechen wollen, machte dann aber den Mund wieder zu und dachte über die Frage nach. Ein Gesicht kam ihm in den Sinn. Ein schönes Gesicht. Dunkle Augen, dunkles Haar, das sich fast bis zu den Hüften hinabwellte. Ein unwiderstehliches Lächeln. Luna. Das Schicksal ließ ihn glauben machen, dass es mit ihnen etwas Ewiges war. Kennen gelernt hatten sie sich während eines Polizeiballs, zu dem Steve eher gedrängt wurde, als dass er freiwillig gekommen war. Sie war die Begleitung eines anwesenden Fotografen und es dauerte nicht lange, bis sich Luna und Steve angeregt unterhielten. Luna besaß ein zurückhaltendes Wesen, wirkte schüchtern. Es dauerte lange, bis sie den nächsten Schritt taten und dann noch einen. Letztendlich läuteten die Hochzeitsglocken. Und damit ging es abwärts. Stück für Stück zeigte sich, dass Luna äußerst berechnend war. Irgendwann musste Steve erkennen, dass Luna mehr an seinem beruflichen Titel interessiert war als an ihm selbst. Sie liebte es, ihn auf Empfänge ihrer
Freunde
zu schleppen und mit ihm anzugeben. Als Steve die Notbremse zog und die Scheidung einreichte, brach Luna einen äußerst unschönen Scheidungskrieg vom Zaun. Das Ganze war jetzt gut drei Jahre her. Manchmal dachte Steve noch an seine wunderschöne Ex-Frau, allerdings nicht, weil er sie noch liebte. Dieses Gefühl war im Strudel der Scheidung verloren gegangen. Das war auch der Grund, warum Steve die Frage seines Vaters nicht gleich beantwortete. War er denn schon wieder so weit? Schließlich jedoch sagte er: „Ja, ich denke schon. Es ist mehr als sie nur zu mögen. Doch wie kann das sein? Ich meine, was weiß ich denn schon über sie? Nur ihren Namen, wenn überhaupt.“ „Sie wissen, was für ein lieber Mensch sie ist“, erklang Helens Stimme hinter ihnen. „Sie ist lieb und nett, davon bin ich überzeugt. Man kann eine Menge vergessen, aber so etwas?“ Helen schüttelte den Kopf. „Vom medizinischen Standpunkt her würde ich darauf tippen, dass sie nur ein paar Jahre jünger ist als sie, so siebenundzwanzig vielleicht.“ Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, Devon und Steve hätten gelacht. Das war doch wieder typisch Helen. Und sie war noch nicht fertig. „Sie trauen ihr doch nicht wirklich das zu, was sie ihr an den Kopf geworfen haben. Ich bin davon überzeugt, dass es eine ganz einfache Erklärung gibt.“ Helen hätte noch weiter argumentiert, wurde aber vom Klingeln des Telefons unterbrochen. In allen Augen glomm stille Hoffnung auf. Hoffnung, dass Sharon sich meldete und Hoffnung, dass es keine schlechte Nachricht war. Devon ging als Erster zum Telefon und nahm ab. „Hier bei Knight. Oh, Jerry.“ Steve drehte sich wieder um. Jerry war der Psychologe, der ihrer Idee zugestimmt hatte. Vielleicht hatte er sich noch ein paar Gedanken zur aktuellen Situation gemacht. Steve schaute wieder aus dem Fenster hinaus in die Dunkelheit, Helen setzte sich wieder aufs Sofa, Devon sprach leise mit seinem Kollegen und im Radio konnte man gerade jemanden etwas über ein Naturschutzgebiet reden hören, das ein paar Kilometer weiter die Küste endlang lag. Rivers Point. Steve ging zum Radio, um einen anderen Sender zu finden, als es ihn plötzlich wie einen Blitz durchzuckte. Um ein Haar hätte er seine Tasse mit dem inzwischen kalt gewordenen Tee fallen lassen. Er schaute sich um. Sein Vater hatte sich samt Telefon in die Küche zurückgezogen. Ihn wollte er jetzt nicht stören. Schnell stellte er die Tasse ab. „Helen, bitte sagen sie meinem Vater, dass ich bald wieder hier bin.“ Er schnappte sich seine Jacke und lief zur Tür. „Aber wo wollen sie denn hin?“ „Rivers Point. Sagen sie ihm das, dann wird er schon Bescheid wissen.“ Und schon war Steve zur Tür hinaus. Rivers Point. Warum hatte er daran nicht gedacht. Vor ungefähr einer Woche erst war Steve mit Sharon dort gewesen. Man konnte dort hoch über dem Meer stehen und weit, weit blicken. Sharon wäre am liebsten dort geblieben. Sie fühle sich hier so leicht, schwerelos, absolut frei, hatte sie gesagt. Wenn ich der letzte Mensch auf der Welt sein würde oder mich für immer verstecken müsste, dann hier. Ja, das hatte Sharon gesagt und selbst am Abend war ihre Begeisterung nicht verflogen. Devon hatte lachen müssen, doch er wusste, genau wie Steve, was Sharon meinte. Obwohl Rivers Point eine traumhafte Gegend mit einem fantastischen Ausblick war, verirrte sich nur selten jemand dort hin. Und bei solchen Wetteraussichten schon gar nicht. Steve musste sich zusammenreißen, um nicht mit einer dem Wetter nicht angepassten Geschwindigkeit zu fahren. Jetzt hatte er einen Anhaltspunkt und konnte es gar nicht erwarten, seine Vermutung zu überprüfen. Endlos schien sich die Strecke hinzuziehen, als endlich das Hinweisschild zum Rivers Point auftauchte. Jetzt erst kam Steve die Frage in den Sinn, was er eigentlich sagen sollte, wenn er Sharon tatsächlich hier finden würde. Selbst wenn seine Idee funktioniert hatte und Sharon sich wieder an alles erinnern konnte – würde sie ihm verzeihen? Er hatte ihr schließlich Schlimmes angetan. Sie, wenn auch nicht direkt, eines Verbrechens bezichtigt, um ans Ziel zu kommen. Fast verließ Steve der Mut. Er war nun schon so lange bei der Polizei, aber diese Situation war neu für ihn. Schließlich gab er sich einen Ruck, denn das Problem würde sich nicht von allein lösen. Er stieg aus. Der Regen hatte merklich nachgelassen, dafür war der Wind wieder aufgefrischt und hier an der Steilküste war es recht ungemütlich. Steve ging los, doch zunächst sah er nichts. Dann, als er sich wieder zum Wagen drehte, glaubte er etwas gesehen zu haben. Er blieb stehen und starrte in die Dunkelheit. Da drüben, unter den Bäumen, bewegte sich da nicht etwas? Er ging näher heran. Tatsächlich. Da, unter den Bäumen, kauerte sich jemand zusammen. Steve näherte sich weiter. Es war – Sharon. Sie schien ihn im gleichen Augenblick erkannt zu haben, denn sie sprang auf. „Sharon.“ Steve rannte los und hatte sie auch schon nach ein paar Schritten eingeholt. Er hielt sie fest. Sharon wehrte sich dagegen, allerdings nicht sehr heftig. Erschüttert stellte Steve fest, dass sie wie Espenlaub zitterte. Außerdem war sie klatschnass. „Bitte, lass mich los.“ Selbst Sharons Stimme zitterte. „Ich weiß nicht, wieso das geschehen ist, was da geschehen ist. Lass mich einfach allein. Ich habe nichts getan.“ „Das weiß ich Sharon. Das, was ich da gesagt und getan habe, hätte niemals passieren dürfen. Ich weiß, dass du nichts mit alledem zu tun hast. Komm bitte wieder mit zurück.“ „Nein. Ich weiß nicht, was diese Situation ausgelöst hat und es kann jederzeit wieder passieren. Was ist, wenn ich das nächste Mal ... wenn ich ...“ Sharon sprach nicht weiter, doch Steve wusste auch so, was sie meinte. „Das wird es nicht. Bitte komm.“ Sharon schüttelte den Kopf und versuchte, sich erneut loszureißen. Es gelang ihr nicht, im Gegenteil. Sie sackte zusammen, so erschöpft war sie. Steve nahm sie hoch und trug sie zum Auto. Dort setzte er sie auf den Beifahrersitz, schnallte sie an und fuhr dann schnell los. Sharon zitterte weiter, obwohl Steve die Heizung hochgestellt hatte. Sie muss total erschöpft und unterkühlt sein, dachte er. Anscheinend hatte sie auch viel geweint. Es brach ihm fast das Herz. Während der Rückfahrt sagten beide kein Wort, doch kaum hielt der Wagen vor dem Haus, versuchte Sharon krampfhaft den Gurt zu lösen, um aus dem Auto zu springen. Doch ihre Hände zitterten zu sehr. Steve sprang aus dem Wagen und lief zu ihrer Seite, um sie notfalls noch abfangen zu können, doch Sharon hatte sich wieder in den Sitz zurücksinken lassen. Sie war völlig entmutigt und Tränen liefen ihr Gesicht hinunter. Sie hatte schreckliche Angst. Steve hob sie schnell aus dem Auto und er war kaum an der Haustür angelangt, als diese sich öffnete. „Sharon. Steve, du hast sie gefunden.“ Devon und Helen konnten es kaum fassen, doch ihre Freude schlug jäh um, als sie sahen, in welcher Verfassung sich Sharon befand. „Oh mein Gott, das arme Ding ist ja klatschnass. Sie muss sofort aus den Sachen raus.“ Steve nickte: „Am besten ist ein heißes Bad. Helen würden sie ihr bitte helfen?“ Sharon, die inzwischen wieder auf eigenen Beinen stand, verkrampfte noch mehr. Panik stieg in ihr auf und sie blickte Steve verzweifelt an. Dieser versuchte sie zu beruhigen: „Es wird nichts passieren, glaub mir. Außerdem werde ich die ganze Zeit hier draußen stehen und aufpassen. Alles klar?“ Zu Helen, die ihn fragend ansah, sagte er nur: „Erklär ich später.“ Sie nickte und führte Sharon ins Bad. Diese gab sich geschlagen. Den ganzen Tag war sie unterwegs gewesen, immer in Angst, entdeckt zu werden. Schließlich hatte sie sich an Rivers Point erinnert. Auf dem Weg dorthin war das Wetter umgeschlagen. Jetzt war sie einfach nur noch müde. Willenlos ließ sie sich von Helen aus den nassen Sachen helfen und in die Badewanne stecken. Nach einer Weile zeigte das heiße Wasser seine Wirkung. Sie hörte auf zu zittern. Irgendwann stieg sie wieder aus der Wanne aus und ließ sich von Helen trocknen und anziehen. Da Helen vergessen hatte, noch ein Nachthemd von Sharon zu holen, zog sie ihr einfach ein Hemd von Steve an, das hier im Bad lag. Gegen ihre eigene Erwartung schlief Sharon sofort ein, als ihr Kopf das Kissen berührte. Mittlerweile saß Steve mit Devon und Helen im Wohnzimmer und klärte sie darüber auf, wie und wo er Sharon gefunden hatte. „Allerdings hat sie wahnsinnige Angst. Sie weiß nicht, was die Situation ausgelöst hat und sie hat Bedenken, dass so etwas jederzeit wieder passieren könnte. Vielleicht sogar noch schlimmer.“ „Kann sie sich denn wieder erinnern?“ Steve zuckte mit der Schulter. „Da müssen wir wohl noch bis morgen warten. Allerdings muss ich gleich morgens zur Dienststelle. Dad, kannst du so lange hier bleiben? Sharon sollte jetzt auf keinen Fall alleine bleiben.“ Devon nickte: „Es wird mich schon jemand vertreten können.“ Helen blieb über Nacht und fuhr dann von Malibu aus ins Krankenhaus. Steve meldete sich bei seinem Vorgesetzten und hatte mit ihm ein wenig erfreuliches Gespräch. Davon ahnte Sharon jedoch nichts, als sie am nächsten Morgen aufwachte und sich erst mal fragte, wo sie war. Dann fiel ihr alles wieder ein und sie hätte sich am liebsten die Bettdecke über den Kopf gezogen und nie wieder gerührt. Da schreckte sie ein leises Klopfen an der Tür auf. Langsam wurde diese geöffnet. Es war Devon. „Sharon, sie sind wach. Gut. Wie fühlen sie sich?“ „Das wird langsam zur Routine, was?“ Devon verstand nicht. Sharon lächelte etwas kläglich. „Doc, zum wievielten Mal haben sie mich jetzt schon fragen müssen, wie es mir geht?“ „Oh das“ Devon lachte, „ist unter Ärzten so was wie „Guten Morgen“. Aber nicht weitersagen.“ Sharon ging darauf ein. „Versprochen.“ Devon machte Anstalten, das Zimmer wieder zu verlassen. „Ich mache jetzt Frühstück. Möchten sie auch etwas?“ „Das Übliche, bitte.“ Devon runzelte die Stirn. Auch das hatte eine gewisse Routine. Oft bevorzugte Sharon nach dem Aufstehen eine Tasse Kaffe, nichts weiter. Vielleicht etwas, was sie aus ihrer Vergangenheit mitgenommen hatte. Devon allerdings sah das nicht so gern. In solch einem Fall pflegte Sharon nur zu sagen: „Es ist doch bewiesen, dass die jungen Leute von heute sich absolut falsch ernähren. Warum sollte ich da eine Ausnahme machen?“ Devon schenkte sich darauf meist eine Antwort, wusste er doch, dass Sharon ansonsten gesund lebte. Auch jetzt hob er nur, nicht ganz ernst gemeint, den Finger und ging in die Küche. Mit einem Seufzen stand Sharon auf und ging ins Bad. Als sie anschließend in die Küche kam, zog schon der verlockende Duft von Kaffee durch die Räume. „Sind die anderen schon weg?“ „Ja. Helen hat heute Morgen eine Konferenz und Steve ist beim Chief.“ Sharon, die sich gerade eine Tasse Kaffee einschenken wollte, verharrte und runzelte die Stirn. „Zum Chief? Warum?“ „Wegen gestern.“ Sharon machte ein betroffenes Gesicht. „Er wird doch keinen Ärger bekommen, oder?“ „Machen sie sich keine Gedanken darüber. Das renkt sich alles wieder ein.“ „Tja, ich würde natürlich auch gern erfahren, was das alles sollte. Ich meine, das war doch nicht so gemeint, oder?“ Jetzt war Devon der Betroffene. „Nein, und mir wäre lieber, wir hätten diese Idee nicht gehabt. Ich hätte diese Idee nicht gehabt.“ „So, eine Idee also.“ Sharon wusste nicht ganz, was sie davon halten sollte. „Sharon, uns ist aufgefallen, dass sie sich verändert haben, und zwar seit ... seit der Sache am Strand.“ Sharon umfasste die Tasse fester und Devon traute sich kaum, weiterzusprechen. Doch was würde das bringen? Die Sache musste endlich geklärt werden. „Seit jenem Abend scheint es, dass sie auf bestimmte Situationen leicht aggressiv reagieren oder kalt. Wir konnten uns das nicht erklären.“ „Und was für Situationen waren das?“, fragte Sharon gepresst. „Nun, immer dann, wenn sie sich persönlich bedroht fühlen.“ Sharon schwieg, doch sie spürte wieder diese Angst. Ihr war selbst seit einiger Zeit klar, dass etwas vor sich ging. Ihre Vergangenheit schien sie langsam einzuholen. Schließlich sagte sie: „Und dann haben sie sich diesen Plan ausgedacht.“