Tödliche Fracht - Sonja Hauer - E-Book

Tödliche Fracht E-Book

Sonja Hauer

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Beschreibung

Ein Wiener Szeneanwalt verunglückt bei einer Wanderung in den Bergen tödlich. Die Antiquitätenhändlerin Sybilla Behrens glaubt nicht an die offizielle Unfallversion und wendet sich Hilfe suchend an einen Journalisten, um das Umfeld des Toten näher zu beleuchten. Dabei stoßen die beiden auf ein Geflecht von Ungereimtheiten - aus Jägern werden Gejagte ....

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Seitenzahl: 419

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Epilog

Prolog

Die Feier hatte bereits den Punkt überschritten, an dem man sie besser verließ. Die Getränke waren vom langen Stehen schal geworden, und die belegten Brötchen, die vom kalten Büfett übrig geblieben waren, sahen auch nicht mehr verheißungsvoll aus. Der Schinken hatte bereits einen grünen Schimmer angenommen, und die paar Salatblätter, die ursprünglich als Dekoration gedacht waren, hingen welk über den Tellerrand.

Aber nicht nur das kalte Büfett hatte an Attraktivität verloren, auch der übrige Raum glich bereits einem verlassenen Schlachtfeld. Die meisten Tischtücher waren verrutscht oder hingen schon bis zum Boden, der teils von Brotkrumen, teils von achtlos weggeworfenen Zigarettenstummel übersät war. Im ganzen Raum war es heiß und stickig, und die blauen Rauchschwaden zogen sich von einem Ende des Zimmers zum anderen.

Er strich sich über seine schmerzende Stirn und stand von seinem Platz auf, den er seit drei Stunden nicht mehr verlassen hatte. Langsam trat er an die große Glasfront, die sich über die ganze Länge des Raumes erstreckte, und versuchte, eines der Fenster zu öffnen. Erst beim zweiten Versuch gelang es ihm, es aufzustoßen. Sofort fuhr ihm die eisige Nachtluft in die Glieder, und er merkte, wie das Hämmern in seinem Kopf endlich nachließ. Gedankenverloren starrte er in die dunkle Nacht und sog dabei die kalte Winterluft scharf ein. Es war so erfrischend. Am liebsten wäre er den Rest der Nacht einfach hier stehen geblieben.

Erst als hinter ihm die ersten Stimmen des Unmuts laut wurden, drehte er sich wieder um. Er hatte gar nicht bemerkt, wie kalt es mittlerweile im Raum geworden war. Also machte er das Fenster wieder zu und beschloss, sich nun endgültig auf den Heimweg zu machen.

Er war schon fast an der Tür, als sich eine Hand schwer auf seine Schulter legte. „„Aber, aber, Sie werden uns doch nicht schon verlassen wollen?“

Er brauchte sich erst gar nicht umzudrehen, um zu wissen, wer da jetzt hinter ihm stand. Niemand anderer als sein Chef. Also drehte er sich um und versuchte, ein höfliches Lächeln aufzusetzen, „es tut mir wirklich Leid, wenn ich heute Abend nicht sehr gesprächig gewesen bin, aber ich habe schon seit heute Morgen furchtbare Kopfschmerzen. Es ist besser, wenn ich nach Hause fahre und mich hinlege.“

„Wie Sie meinen. Dann wünsche ich Ihnen noch ein frohes Fest und einen schönen Urlaub. Sie fahren zu Ihrer Familie?“

„Ja, das habe ich vor.“

„Gut, dann feiern Sie schön und lassen mal alles hinter sich.“

Er griff nach der dargebotenen Hand und schüttelte sie kräftig. Dann erwiderte er die guten Wünsche und holte seinen Mantel.

1

Seit ungefähr drei Stunden saß er vor seinem Computer und versuchte, dem Artikel den letzten Schliff zu verpassen. Doch heute wollte ihm einfach nichts gelingen. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloss für einen Moment die Augen.

„Entschuldigen Sie bitte, Herr Bonelli,“ seine Sekretärin steckte ihren Kopf zur Tür herein, „aber ich muss Sie kurz stören.“

Er öffnete die Augen und setzte ein müdes Lächeln auf, „aber Margot, Sie stören mich doch nie. Was gibt es denn?“

„Man hat mich gerade vom Empfang angerufen. Eine Dame steht unten in der Halle und möchte Sie sprechen.“

„Eine Dame?“ fragte er verblüfft, „habe ich heute noch einen Termin, von dem ich nichts weiß?“

Sie schüttelte verneinend den Kopf, „in meinem Kalender ist jedenfalls nichts eingetragen, Herr Bonelli.“

„Komisch. Hat sie gesagt, was sie will?“

„Nein, sie hat nur gesagt, dass sie Sie persönlich sprechen möchte.“ Margot sah ihn abwartend an.

Er seufzte leise, „also gut, dann werden wir uns mal anhören, was die Dame auf dem Herzen hat. Sagen Sie bitte dem Portier, dass er sie raufschicken soll.“ Georg Bonelli sah sich in seinem Büro um und begann hastig ein paar herumliegende Blätter einzusammeln. Er nahm den Aschenbecher und leerte ihn rasch aus. Dann stand er auf und öffnete das Fenster, damit noch etwas frische Luft hereinströmen konnte, bevor die Dame sein Zimmer betrat. Tief atmete er die warme Luft ein und warf einen Blick auf das Panorama, das sich ihm bot. In der Ferne die Dächer der Innenstadt und unter ihm die Schnellstraße, die sich in mehreren Spuren vom einen Ende Wiens bis zum anderen zog.

Um diese Zeit war der Verkehr einigermaßen flüssig, doch am Morgen war der Stau schon zur Routine geworden. Ein Umstand, mit dem die meisten Wiener bereits zu leben gelernt hatten.

Inzwischen war es über drei Monate her, dass er hierher gezogen war, doch dieser Ausblick faszinierte ihn jeden Tag aufs Neue.

„Sie haben eine tolle Aussicht“, drang eine rauchige Stimme an sein Ohr. Er wandte sich schnell um und sah eine große rothaarige Frau an der Türschwelle stehen.

„Ich habe geklopft. Sie haben mich aber offensichtlich nicht gehört.“ Jetzt machte sie ein paar Schritte auf ihn zu und streckte ihre Hand aus. Georg ergriff sie automatisch.

„Sie müssen entschuldigen, aber ich bin jetzt nicht sicher, ob wir uns kennen. Oder sind wir uns schon irgendwo begegnet?“

„Nein, Sie kennen mich nicht. Mein Name ist Sybilla Behrens. Ich habe vor ein paar Tagen einen Artikel von Ihnen gelesen und war davon sehr beeindruckt.“ Georg lächelte, „vielen Dank, so etwas hört man gern. Möchten Sie einen Kaffee?“

„Gerne.“

Er hob den Hörer ab und wählte Margots Nummer.

„Ja bitte?“ fragte diese freundlich.

„Seien Sie doch so nett und bringen Sie uns bitte zwei Tassen Kaffee.“

„Kommt sofort“, tönte es aus dem Hörer.

Er legte wieder auf und musterte Sybilla Behrens genauer. Sie war schlank und sehr elegant gekleidet. Wie bei vielen rothaarigen Frauen waren ihre Augen grün und ihre Haut hell wie Porzellan. Er schätzte sie auf Anfang bis Mitte dreißig.

Sie griff gerade in ihre Umhängetasche und förderte ein goldenes Zigarettenetui zutage. Sie öffnete es und nahm eine langstielige weiße Zigarette heraus. „Ich darf doch?“ fragte sie höflich.

„Aber natürlich. Ich rauche fast den ganzen Tag.“ Er nahm sein Feuerzeug vom Schreibtisch und bot ihr Feuer an. Sie beugte sich über seine Hand und zog langsam an der Zigarette an.

Georg beobachtete sie fasziniert. Noch nie zuvor war ihm ein Mensch begegnet, bei dem diese alltägliche Handlung so einzigartig gewirkt hätte. So, als wäre jede einzelne Bewegung von ihr genau einstudiert.

Langsam ließ er sich wieder in seinen Sessel sinken. „Nun gut, Frau Behrens, was kann ich für Sie tun? Denn ich darf davon ausgehen, dass Sie mich nicht deswegen aufgesucht haben, um mir Komplimente über meine journalistischen Fähigkeiten zu machen.“

Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht, dann war sie sofort wieder ernst. „Sie haben Recht. Ich bin gekommen, weil ich Ihre Hilfe brauche.“

„Meine Hilfe?“ fragte er überrascht. „Ich fühle mich geschmeichelt, aber wobei könnte ich Ihnen schon helfen?“

„Das will ich Ihnen erklären.“

Die Türe ging auf und Margot trug ein Tablett mit zwei Tassen Kaffee herein. „Für Sie habe ich ihn wie immer mit Milch und Zucker gemacht, aber ich wusste nicht, wie ihn die Dame möchte.“ Sie sah Sybilla Behrens fragend an.

„Danke, ich trinke ihn auch mit Milch und Zucker.“

Margot stellte die Tassen ab und wandte sich wieder zum Gehen. Nicht jedoch ohne vorher einen neugierigen Blick auf die Besucherin zu werfen.

„Sie sind noch nicht lange in Wien, nicht wahr?“ Es klang nicht wie eine Frage, vielmehr wie eine Feststellung.

Georg nickte, „nicht ganz vier Monate. Ich wurde zwar hier geboren, habe aber seit meinem vierten Lebensjahr in Rom gelebt.“

„Sie sind Italiener?“

„Halber. Meine Mutter ist Österreicherin, mein Vater stammt aus Rom.“ Er sah sie lächelnd an, „aber das kann Sie doch nicht wirklich interessieren, oder? Wollen Sie mir jetzt nicht endlich sagen, warum Sie hier sind?“

Sie nickte. „Haben Sie vielleicht noch die Ausgabe vom letzten Samstag im Kopf?“

„Nicht mehr alles, warum?“ fragte er.

„Können Sie sich an den Bericht über den Tod von Doktor Wilhelm Karner erinnern?“

„Ja, natürlich. Dieser Doktor Karner war ein bekannter Rechtsanwalt. Er ist beim Wandern verunglückt. Wirklich tragisch.“ Georg sah sein Gegenüber bedauernd an, „aber ich muss Sie leider enttäuschen. Dieser Artikel ist nicht von mir. Den hat der Chef persönlich geschrieben. Soviel ich weiß, war Doktor Karner sogar ein Freund von ihm.“

Sybilla Behrens schüttelte ungeduldig den Kopf. „Das ist mir bekannt.“

„Dann verstehe ich nicht ganz, was Sie zu mir führt!?“

„Sie sind meiner Meinung nach ein ehrgeiziger Journalist, und wie ich Ihrem letzten Bericht entnehmen konnte, scheuen Sie sich nicht, schmutzige Tatsachen ans Tageslicht zu bringen.“

Georg fühlte sich wider Willen geschmeichelt. „Da mögen Sie schon Recht haben. Grundsätzlich liebe ich es, im Dreck und den tiefsten Abgründen anderer Leute zu wühlen, aber ich verstehe immer noch nicht, worauf Sie hinauswollen?“

„Worauf ich hinauswill, ist die Tatsache, dass Wilhelm Karner keinen Unfall hatte, sondern ermordet wurde.“

Georg starrte die Frau einen Moment lang sprachlos an. „Wie kommen Sie denn dazu, solche Behauptungen aufzustellen?“ fragte er, nachdem er sich wieder gefasst hatte, „Wilhelm Karner ist in eine Schlucht gestürzt.“

„Natürlich ist er in eine Schlucht gestürzt, aber nicht von alleine. Jemand hat ihn gestürzt.“

„Woher wollen Sie das wissen?“

„Weil er gar nicht vorgehabt hatte, eine Wanderung zu unternehmen.“ Sybilla Behrens stand auf und ging zum Fenster. Scheinbar ganz in Gedanken starrte sie hinaus. Doch dann drehte sie sich wieder um und sah ihm fest in die Augen, „er hatte nicht vor, sich lange in den Bergen aufzuhalten, geschweige denn, Reinhold Messner Konkurrenz zu machen. Er hatte ganz andere Pläne.“

Georg räusperte sich. „Wenn Sie so gut über seine Pläne Bescheid wissen, darf ich Sie vielleicht fragen, in welcher Beziehung Sie zu ihm gestanden sind?“

„Ich hatte mit ihm ein Verhältnis“, sagte sie schlicht.

So etwas hatte er sich schon gedacht. „Gut, Sie beide hatten ein Verhältnis, und weiter?“

„Wilhelm und ich wollten ein paar ungestörte Tage miteinander verbringen. Also hat er seiner Familie erklärt, dass er eine Woche in seiner Berghütte in der Nähe von Bad Ischl verbringen würde.“ Sie drehte sich wieder zum Fenster. „Sie wissen, wo Bad Ischl liegt?“

Er nickte. „Im allseits bekannten Salzkammergut. Hatte dort nicht der berühmte Kaiser Franz Josef eine Sommerresidenz?“

„Genau. Karners Hütte liegt zwar etwas höher und ist sehr abgeschieden. Sie verfügt nicht einmal über einen Telefonanschluss. Also haben wir vereinbart, dass er seinen Wagen dort abstellen und ich ihn dann mit meinem Wagen abholen würde. Dann wollten wir gemeinsam mit meinem Wagen zum Salzburger Flughafen fahren.“

„Wohin wollten Sie fliegen?“

„Nach Zürich.“

Georg fuhr sich nachdenklich durch die Haare, „bitte verstehen Sie mich jetzt um Gottes willen nicht falsch. Das klingt ja alles schön und gut. Nur für mich ist das im Moment nur eine Geschichte, die, sage ich einmal ganz brutal, jeder behaupten könnte.“

„Tatsächlich?“ Sie ging zu ihrer Tasche und zog einen Umschlag heraus. Diesen legte sie vor ihn hin. Er nahm ihn und öffnete ihn rasch. Er enthielt zwei Flugtickets erster Klasse nach Zürich. Ausgestellt auf Wilhelm Karner und Sybilla Behrens für den 3. Juli. Den Tag, an dem Wilhelm Karner abgestürzt war. Georg gab ihr den Umschlag zurück.

Langsam begann ihn die Sache doch zu interessieren. „Sie sind, wie vereinbart, zu der besagten Berghütte gefahren?“

Sybilla Behrens nickte. „Ja, sein Wagen stand auch vor der Tür. Also stieg ich aus und ging zur Hütte, diese war jedoch abgeschlossen und von Wilhelm weit und breit keine Spur. Das ist mir komisch vorgekommen. Ich habe dann noch die nähere Umgebung abgesucht und bin nach ungefähr einer halben Stunde wieder weggefahren. Ich war ziemlich sauer, weil ich annehmen musste, dass er mich versetzt hätte.“

Georg sah sie erstaunt an. „Das ist alles? Sie haben weder ihn noch irgendeine andere Person gesehen?“

„Nein, aber ich bin ganz sicher, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. In dem Artikel stand, dass ihn ein paar Wanderer in einer kleinen Schlucht entdeckt hätten. Diese Schlucht muss über einen Kilometer von der Hütte entfernt liegen.“

„Na, und?“ meinte er achselzuckend, „was ist denn daran so ungewöhnlich? Vielleicht wollte er bis zu Ihrem Eintreffen einen Spaziergang machen.“

Sie schüttelte entschieden den Kopf, „Nein, das ist ganz unmöglich. Wilhelm hätte niemals freiwillig einen Spaziergang in den Bergen gemacht. Er war nicht schwindelfrei und konnte die Berge nicht leiden.“

„Und da kauft er sich eine Hütte mitten in den Bergen? Das ist ja geradezu pervers.“

„Er hat sie nicht gekauft, sondern letztes Jahr von einer Tante geerbt. Er wollte die Hütte ohnehin im nächsten Jahr verkaufen, aber das wusste noch keiner. Dass er Höhenangst hatte, übrigens auch nicht. Das wusste nur ich.“

Georg seufzte, „Frau Behrens ....“

„Bitte nennen Sie mich Sybilla!“ fiel sie ihm ins Wort.

„Also gut, Sybilla. Ich weiß nicht recht, was ich von der ganzen Sache halten soll. Sie kennen mich überhaupt nicht, kommen in mein Büro und wollen, wenn ich Sie recht verstanden habe, meine Unterstützung bei der Aufklärung eines angeblichen Mordes. Aber wenn Sie mich ehrlich fragen, dann muss ich Ihnen sagen, dass mich Ihre Geschichte absolut nicht überzeugt.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause.

„Wenn Sie allerdings von Ihrer Vermutung so überzeugt sind, warum wenden Sie sich nicht an die Polizei?“

Ihr Gesicht hatte einen verächtlichen Ausdruck angenommen. „Ich habe keine stichhaltigen Beweise. Und solange keine Verdachtsmomente vorliegen, wird die Polizei keinen Finger rühren.“ Sie zündete sich eine weitere Zigarette an. Er sah sie lange an. „Was machen Sie eigentlich beruflich?“

„Ich habe ein kleines Antiquitätengeschäft in der Innenstadt.“ Sie beugte sich leicht nach vorne. „Gibt es noch etwas, was Sie wissen wollen?“ fragte sie mit leichtem Spott in der Stimme.

Georg studierte ihr Gesicht, als würde er sich von dessen Ausdruck eine Antwort erhoffen. Wenn Wilhelm Karner tatsächlich ihr Geliebter gewesen war, dann musste sie doch traurig oder zumindest verzweifelt sein. Schließlich war er erst einige Tage tot. Doch ihr Gesicht zeigte keinerlei Anzeichen von Trauer. Entweder war sie ein Mensch, der seine Gefühle gut verbergen konnte, oder sie war eine dieser Frauen, die sich, ohne gefühlsmäßig engagiert zu sein, an einen einflussreichen Mann hängen, um sich dadurch irgendeinen Vorteil zu verschaffen. In den Kreisen, in denen seine Eltern verkehrten, hatte er genügend solcher Frauen kennen gelernt, aber irgendwie passte Sybilla Behrens überhaupt nicht in dieses Bild. Aber er wollte es wissen. „Haben Sie ihn eigentlich geliebt?“ fragte er sie herausfordernd.

Sie fuhr zurück, als hätte sie eine Schlange gebissen, und ihre Augen blitzten wild. „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht“, sagte sie und lehnte sich wieder zurück. Sie bemühte sich offensichtlich, ihre innere Anspannung zu verbergen, doch Georg durchschaute es sofort. Er stand auf und ging um den Schreibtisch herum. Sein Gesicht war jetzt nur mehr wenige Zentimeter von ihrem entfernt. „Das war doch nur eine ganz normale Frage. Mich interessiert eben, ob Sie etwas für ihn empfunden haben. Wenn Sie mich fragen, sehen Sie gar nicht aus wie ein trauernde Witwe.“

Das war ihr scheinbar zuviel, denn sie stand auf und griff nach ihrer Tasche. „Sie sind unverschämt“, sagte sie ruhig und sah ihn geringschätzig an. „Wie ich sehe, verschwende ich hier nur meine Zeit. Guten Tag!“ Sie öffnete die Türe und ging hinaus. Eigentlich hatte er erwartet, dass sie sie laut zuschlagen würde, doch nichts dergleichen geschah.

Ein paar Sekunden lang starrte er auf die geschlossene Tür und überlegte, ob er ihr nachgehen und um Verzeihung bitten sollte, doch dann ging er langsam zu seinem Schreibtisch zurück und setzte sich nieder. Der Bericht ging noch heute Abend in Druck. Wenn er ihn noch durchkorrigieren wollte, musste er sich beeilen.

Er versuchte, sich wieder auf den Artikel zu konzentrieren, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen. Immer wieder tauchte das Gesicht von Sybilla Behrens vor seinem geistigen Auge auf. Wie sie vor ihm saß und so nachdrücklich behauptete, dass Wilhelm Karner nicht eines natürlichen Todes gestorben sei. Vielleicht hätte er anders reagieren sollen.

Der Artikel wurde gerade noch rechtzeitig fertig. Er bat Margot, ihn abzuliefern, und beschloss, nach Hause zu fahren und sich einen gemütlichen Abend zu machen. Doch auf dem Weg zum Parkplatz fiel ihm ein, dass er seit einigen Tagen nicht mehr zum Einkaufen gekommen war. Also würde er im Kühlschrank nichts als ein paar vertrocknete Wurstscheiben vorfinden. Einen Augenblick lang dachte er daran, sich vom Pizzazustelldienst etwas bringen zu lassen, doch eigentlich war er heute nicht in der Stimmung, in seiner Wohnung Pizza aus einem Pappkarton zu schlemmen. Und schon gar nicht alleine.

Seufzend stieg er in seinen alten Volkswagen und ließ den Motor an. Während er den Wagen vom Parkplatzgelände hinausmanövrierte, kurbelte er das Fenster hinunter und ließ die warme Abendluft herein. Eigentlich war es ein Verbrechen, an einem so schönen Sommerabend in einer kleinen Wohnung zu hocken und sich über die Abendnachrichten zu ärgern.

Obwohl er schon seit Jahren als Journalist bei verschiedenen Zeitungen gearbeitet hat, jagten ihm die Berichte über die täglichen Katastrophen und Todesopfer immer noch Schauer über den Rücken.

Bei diesen Gedanken fielen ihm Sybilla Behrens und der tote Anwalt wieder ein. Und abermals fragte er sich, ob in ihrer Geschichte nicht doch ein Quentchen Wahrheit sein könnte. Denn im Grunde genommen hatte sie einen sehr intelligenten Eindruck auf ihn gemacht, und es schien auch nicht so, als würde sie sich so etwas nur ausdenken.

Einem plötzlichen Impuls folgend, lenkte er den Wagen nach rechts und blieb am Fahrbahnrand stehen. Dann zog er sein Handy aus der Sakkotasche und wählte die Nummer der Auskunft. Nach einigen Minuten meldete sich eine unfreundliche Dame, die nach seinen Wünschen fragte. Er buchstabierte ihr den Namen 'Sybilla Behrens’’ und hoffte, dass es in Wien nicht mehrere Damen dieses Namens geben würde.

Dies war nicht der Fall. Es gab wirklich nur eine. Allerdings stellte sich heraus, dass ihr Privatanschluss eine Geheimnummer hatte. Lediglich die Nummer ihres Geschäftes war im Teilnehmerverzeichnis registriert. Er notierte sie und schaute auf seine Armbanduhr. Gleich halb sieben. Da war sie bestimmt nicht mehr da. Womöglich war sie nach dem Gespräch mit ihm gar nicht mehr in das Geschäft zurückgefahren.

Er versuchte es trotzdem. Nach dem dritten Klingeln wurde der Hörer abgehoben, und eine Stimme fragte „Hallo?“ Diese Stimme war unverwechselbar. Er räusperte sich. „Frau Behrens?“

„Ja.“

„Hier spricht Georg Bonelli.“

„Ja, und?“

Es klang nicht gerade ermutigend, aber er ließ sich nicht beirren. „Ich möchte mich für heute Nachmittag entschuldigen und Sie fragen, ob Sie vielleicht Lust hätten, sich noch einmal mit mir zu treffen?“

Einen Moment lang war es am anderen Ende der Leitung still. „Und wozu soll das noch gut sein?“

„Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mir Ihre Geschichte gerne noch einmal in Ruhe anhören.“

„Heißt das, Sie haben Ihre Meinung geändert und glauben mir auf einmal?“ Georg überlegte. Einerseits wollte er ihr keine falschen Hoffnungen machen, andererseits war er davon überzeugt, dass sie niemals einem weiteren Treffen zustimmen würde, wenn er ihr nicht seine Hilfe in Aussicht stellen würde.

„Nun, sagen wir mal so. Ich möchte mit Ihnen alle Details durchgehen, und dann werden wir gemeinsam entscheiden, ob wir die Sache weiterverfolgen oder nicht.“ Er freute sich, dass seine Antwort so diplomatisch ausgefallen war, und wartete gespannt auf ihre Antwort.

„Also gut. Wann und wo?“

„Wenn es Ihnen nicht zu kurzfristig ist, dann würde ich heute Abend vorschlagen.“

„Sie meinen, jetzt gleich?“

„Ja, warum nicht? Oder haben Sie diesen Abend schon etwas vor?“

„Nein, wie sollte ich? Wenn alles nach Plan verlaufen wäre, würde ich jetzt gerade am Zürcher See spazieren gehen.“ Sie lachte freudlos auf. „Gut, dann treffen wir uns gleich.“ Sie nannte ihm den Namen eines Heurigen in Grinzing, den er zufällig kannte, und legte auf.

Als er eine halbe Stunde später den Gastgarten betrat, sah er sie bereits an einem der Tische sitzen. Sie musste hergeflogen sein, denn sie hatte offensichtlich auch noch die Zeit gefunden, sich umzuziehen. Aber in dem schwarzen Hosenanzug wirkte sie für seinen Geschmack schon fast zu dünn.

Sie studierte die Weinkarte und hatte ihn noch gar nicht bemerkt. Erst als er an ihren Tisch trat, blickte sie auf.

„Guten Abend“, sagte er freundlich und lächelte sie an, doch sie erwiderte sein Lächeln nicht.

„Hallo, ich hoffe, Sie haben das Lokal leicht gefunden. Mir ist erst im Nachhinein eingefallen, dass Sie ja noch nicht lange in Wien sind.“

Georg lachte leise, „nein, nein, es war überhaupt kein Problem für mich, es zu finden. Ein wenig kenne ich mich in Wien schon aus.“ Er setzte sich ihr gegenüber nieder. „Haben Sie schon bestellt?“

Sie schüttelte verneinend den Kopf.

„Was möchten Sie?“

„Ein Achtel Rotwein, bitte.“

„Und zu essen?“

„Nichts, danke.“

Georg winkte dem Kellner und bestellte zwei Gläser Rotwein. Dann wandte er sich wieder Sybilla zu. Er wusste nicht recht, wie er beginnen sollte, ohne sie gleich wieder zu verärgern. Doch sie kam ihm zuvor. „Aufgrund Ihres Anrufes gehe ich davon aus, dass Sie nun bereit sind, sich alles anzuhören.“

Er nickte. „Ich wäre Ihnen allerdings dankbar, wenn Sie mir alles so objektiv wie möglich erzählen würden, ohne Ihre bereits vorgefasste Meinung einfließen zu lassen.“

„Ich werde es versuchen.“ Sie wartete, bis der Kellner die Gläser abgestellt hatte, und zündete sich eine Zigarette an. „Wie Sie bereits wissen, habe ich ein kleines Antiquitätengeschäft in der Innenstadt. Vor genau drei Jahren ist Wilhelm Karner in mein Geschäft gekommen, um sich nur ein wenig umzusehen. Er erkärte mir, er werde in ein paar Tagen vierundvierzig und wolle sich zur Abwechslung einmal selbst beschenken. Er war mir von Anfang an sympathisch und kannte sich sehr gut mit Antiquitäten aus. Vor allem mit Jugendstilmöbeln. Also haben wir uns lange unterhalten. Am nächsten Tag kam er wieder. Mit einem Strauß gelber Rosen. Er lud mich zum Essen ein, und ich sagte zu.“

„Sie wussten, dass er verheiratet war?“

„Von Anfang an. Er hat es mir sofort erzählt, aber ohne das übliche Gesülze, dass seine Frau ihn nicht verstehe und sich seine Ehe sowieso schon in Auflösung befinde. Nein, er sagte, er wäre verheiratet, und das war einfach eine Tatsache, die ich akzeptiert habe.“

„Und wo haben Sie einander immer getroffen?“ fragte Georg neugierig und hatte fast schon Angst, die Grenze der Indiskretion überschritten zu haben, doch er bekam eine Antwort.

„Er ist immer zu mir gekommen. Seine Frau und seine Familie leben in einer Villa in Baden. Es war nichts Ungewöhnliches, dass er ab und zu eine Nacht in seinem Büro verbrachte. Er war ein vielbeschäftigter und ausgezeichneter Anwalt.“

„Das ist mir bekannt. Er hatte eine eigene Kanzlei, nicht wahr?“

„Er hatte eine Gemeinschaftskanzlei mit zwei anderen Rechtsanwälten. Meines Wissens gingen die Geschäfte mehr als gut. Sie haben sich ausschließlich mit Wirtschaftsagenden beschäftigt.“ Sybilla machte eine kurze Pause und trank einen Schluck Wein. Dunkle Ringe hatten sich unter ihren Augen breitgemacht, und sie wirkte müde. „Von unserem Verhältnis“, hob sie wieder an, „wusste keiner. Wilhelm war sehr darauf bedacht, dass seine Frau nichts davon erfuhr. Doch vor zwei Wochen erklärte er mir aus heiterem Himmel, dass er die Absicht habe, sich von ihr scheiden zu lassen. Darüber war ich sehr verwundert, denn davon war vorher nie die Rede gewesen. Ich habe ihn auch nie dazu gedrängt. Schließlich hatte er drei Kinder, und ich wollte nie zu der Sorte Frau gehören, die eine Familie vorsätzlich zerstört.“

Georg wusste nicht, warum, aber er glaubte ihr aufs Wort. „Hat er Ihnen gesagt, warum er sich scheiden lassen wollte?“

„Nein.“

„Gut, und was passierte weiter?“

„An demselben Abend, an dem er mir seine Scheidungsabsichten mitteilte, fragte er mich, ob ich mit ihm ein paar Tage nach Zürich fliegen wolle. Ich war etwas verwundert, denn ansonsten war er ein Mensch, der alles monatelang im Vorhinein plante. Eine solche Spontaneität passte einfach nicht zu ihm.“

„Warum wollte er ausgerechnet nach Zürich?“

„Keine Ahnung. Er sagte, er wolle ein paar Tage mit mir allein sein. Und damit seine Frau und seine Kollegen keinen Verdacht schöpften, würde er ihnen erklären, dass er eine Woche zum Entspannen in die Berghütte seiner Tante fahre.“

„Und dort wollten Sie sich auch treffen.“

„Genau. Wir wollten dort seinen Wagen stehen lassen und mit meinem weiterfahren.“

„Aber, was wäre denn gewesen, wenn sich irgendjemand entschlossen hätte, ihn dort überraschenderweise zu besuchen?“ fragte Georg interessiert.

„Das war so gut wie ausgeschlossen, denn sein ganzes Umfeld, einschließlich seiner Frau, wusste nicht, wo die Hütte genau lag.“

„Mit anderen Worten, der mutmaßliche Mörder muss ihm schon von Wien aus gefolgt sein. Ganz schön mühsam.“ Je länger Georg darüber nachdachte, um so absurder schien ihm die ganze Geschichte. „Dass niemand den genauen Platz der Hütte kannte - das behaupten Sie. Vielleicht hat er es doch noch jemandem erzählt, dann hätte dieser Jemand schon auf ihn warten können.“

„Ja, das ist möglich“, gab sie zu. „Aber dann muss er vor der Hütte gewartet haben, denn es gab nur einen Schlüssel, und den hatte Wilhelm. Das weiß ich genau.“

„Aber wenn ich mich recht erinnere, sagten Sie mir doch, dass die Hütte verschlossen gewesen sei, als Sie ankamen.“

„Das war sie auch. Und eben das verstehe ich nicht. Er hat mich noch von seinem Handy aus angerufen, um mir mitzuteilen, dass er sich mittlerweile am Traunsee befinde und ich jetzt von Wien aus starten solle.“

Georg strich sich die Haare aus der Stirn. „Wie lange braucht man von Wien nach Bad Ischl?“

„Das kommt darauf an, wie schnell man fährt. Ich habe jedenfalls vier Stunden gebraucht.“

„Also hatte er jede Menge Zeit, in der Gegend herumzuwandern“, sagte Georg und sah sie fragend an, doch Sybilla schüttelte heftig den Kopf. „Niemals. Er hatte schreckliche Höhenangst. Das habe ich Ihnen doch schon erzählt. Am Telefon hat er mir noch gesagt, dass er sich einige Akten mitgenommen hätte, die er noch bearbeiten wollte. Und das wollte er bei einer Tasse Kaffee in der Hütte machen.“ Ihre Stimme wurde drängend, „so glauben Sie mir doch, er ist nicht freiwillig spazieren gegangen.“

„Also, ich weiß nicht ...“ Georg sah sie zweifelnd an, „bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber das alles hat mich noch immer nicht überzeugt. Jeder Mensch kann doch seine Meinung ändern. Vielleicht ist er bei der Arbeit nicht weitergekommen und wollte ein bisschen frische Luft schnappen.“

„Und dabei entfernt er sich, trotz seiner wahnsinnigen Höhenangst, einen Kilometer von seiner Hütte und wagt sich soweit vor, dass er dabei abstürzt?“

„Ja, es könnte doch sein, dass er in Panik geraten ist und nicht weiter wusste. Und in den Bergen kann ein Fehltritt tödlich sein.“ Für Georg schien diese Erklärung durchaus plausibel, doch Sybilla schien davon ganz und gar nicht überzeugt. Sie beugte sich nach vorne und stützte ihre Ellenbogen auf den Tisch. Dabei sah sie ihn eindringlich an. „So war es nicht. Da bin ich sicher.“ Sie trank ihr Glas leer und deutete dem Kellner, ihr noch eines zu bringen. Irgendwie wurde Georg das Gefühl nicht los, dass sie ihm nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte. Sie wusste noch etwas, von dem sie scheinbar wollte, dass er es nicht erfahre. Zweifelsohne würde sie es jetzt abstreiten, wenn er sie darauf anspräche. Also blieben ihm nur zwei Möglichkeiten. Er bekundete Interesse und versuchte, es im Laufe der Recherche herauszubekommen, oder er ließ die ganze Angelegenheit auf sich beruhen und würde es nie erfahren. Er überlegte nur kurz. Was hatte er schon zu verlieren? Es wäre nicht seine erste Story, die vielversprechend angefangen und sich nach kurzer Zeit in Luft aufgelöst hätte.

Er winkte dem Kellner und bestellte sich ebenfalls ein zweites Glas. „Nehmen wir also an, ich stimme mit Ihren Vermutungen überein. Was sollen wir dann Ihrer Meinung nach tun? Wen haben Sie in Verdacht?“

Sie sah ihn überrascht an, „soll das etwa heißen, Sie werden mir helfen?“

„Aber nur unter einer Bedingung.“

„Und die wäre?“

„Dass, sobald jegliche Verdachtsmomente für mich entkräftet sind, ich aufhören darf herumzuschnüffeln. Egal, ob Sie der gleichen Ansicht sind oder nicht. Abgemacht?“

„Abgemacht.“ Zum ersten Mal an diesem Abend flog ein Lächeln über ihr Gesicht. Langsam begann Georg den verstorbenen Dr. Karner zu verstehen. Wenn sie lächelte, war Sybilla Behrens eine außergewöhnlich attraktive Frau.

Obwohl es ein anstrengender Tag gewesen war und er nach dem Nachhausekommen nur mehr das Bedürfnis hatte, sich hinzulegen, fand er einfach keinen Schlaf. Zum hundertsten Mal wälzte er sich auf die andere Seite des Bettes. Gereizt sah er auf seinen Wecker. Gleich vier Uhr morgens.

Es war schon Stunden her, seit er mit Sybilla Behrens beim Heurigen gesessen hatte, doch ihm ging die Geschichte nicht mehr aus dem Kopf. Auf der einen Seite war er geneigt, ihr zu glauben, denn ganz offensichtlich zählte sie nicht zu den Frauen, die hinter jeder kleinen Begebenheit die große Sensation witterten. Andererseits gehörte es in Österreich fast zu jedem Wochenendbericht, dass wieder ein paar Wanderer in den Bergen den Tod gefunden hatten. Also warum nicht auch ein Wiener Rechtsanwalt?

Am nächsten Tag ging Georg in der Mittagspause ins Archiv, um dort ein wenig in den alten Exemplaren des „Morgenboten“ herumzuschmökern. Er wusste gar nicht, wonach er konkret suchte, galt es doch vordergründig, sich ein Bild über die Person Wilhelm Karner zu machen. Dieser war zeit seines Lebens ein stadtbekannter Mann gewesen und hatte kein Event ausgelassen, an dem sich die Schickeria von Wien ein Stelldichein gab. Georg ging die mikroverfilmten Seiten des Gesellschaftsteiles der letzten Jahre durch und wurde bald fündig. Wilhelm Karner auf einem Wohltätigkeitsball. Er war ein großer dunkelhaariger Mann gewesen. Für sein Alter sehr gutaussehend, mit leicht angegrauten Schläfen. Auf einem der Fotos schüttelte er gerade einem bekannten Politiker die Hand. Dabei hatte er ein schmieriges Lächeln aufgesetzt.

Georg fand mehrere Berichte ähnlichen Zuschnitts. Wilhelm Karner hatte scheinbar viel Zeit im Lichte der Öffentlichkeit verbracht. Daran war nichts Ungewöhnliches. Doch eines war schon ein wenig seltsam. Auf keinem der Bilder war Karners Frau zu sehen. Sie wurde auch in keinem der Berichte erwähnt. Scheinbar hatte sie ihn nie begleitet. Georg beschloss, Sybilla heute Abend zu fragen, warum er sich nie mit seiner Frau in der Öffentlichkeit gezeigt hatte.

Er sah auf die Uhr. Gleich zwei. Sybilla wollte gegen sieben in der Redaktion vorbeischauen. Er hatte also noch genügend Zeit, das Interview mit dem Vizebürgermeister zu diktieren.

„Möchten Sie etwas trinken? Sie sehen sehr erschöpft aus.“ Er hob fragend eine Mineralwasserflasche in die Höhe.

Sybilla nickte dankbar. „Ja, bitte, ich bin tatsächlich schrecklich durstig. Kein Wunder, ich bin ja den ganzen Tag herumgerannt.“

„Ich dachte, Sie führen ein Geschäft?“

„Das tue ich auch. Aber ich habe eine sehr selbständige Studentin, die sich mit Antiquitäten genauso gut auskennt wie ich. Wenn ich sie brauche, springt sie jederzeit für mich ein und kümmert sich um das Geschäft.“

Georg schenkte zwei Gläser voll und reichte ihr eines. Sie ergriff es hastig und trank es mit drei langen Zügen leer. Georg beobachtete sie amüsiert und schenkte ihr ein zweites Mal nach. „Also, Sybilla“, sagte er, „was haben Sie heute gemacht?“

„Heute Früh habe ich bei der Gendarmeriedienststelle Bad Ischl angerufen und gefragt, ob ein Protokoll über den Unfall existiert. Der Dienst habende Beamte hat mir erklärt, dass grundsätzlich über jeden Einsatz des Postens Protokoll geführt werde, doch er sei am betreffenden Tag nicht da gewesen, und deshalb könne er mir keine Auskunft geben.“

„Und wer kann es dann?“

„Das habe ich ihn auch gefragt, und er hat mir widerstrebend mitgeteilt, dass der Kollege, der wisse, worum es geht, erst zu Mittag seinen Dienst antrete. Also rief ich zu Mittag wieder an. Diesmal hatte ich den richtigen Mann erwischt. Er hat mir auch sofort bestätigt, dass es tatsächlich einen Bericht gebe, der aber erst noch getippt werden müsse. Und da alles ein ganz normaler Unfall gewesen sei, müsse er sich damit nicht beeilen.“

Georg sah sie fragend an. „Hat er gesagt, wann er fertig zur Einsicht sei?“

„Und damit wären wir beim nächsten Problem. Niemand darf Einsicht in ein Gendarmerieprotokoll nehmen, solange es noch bei der Behörde liegt. Nicht einmal ein Rechtsanwalt bekommt Akteneinsicht.“

„Wo dann?“

„Je nachdem, wohin das Protokoll wandert. Entweder zu der örtlich zuständigen Bezirksverwaltungsbehörde oder zum betreffenden Gericht. Und selbst dann bekommt nicht jeder Einsicht. Nur derjenige, der ein rechtliches Interesse an dem Fall glaubhaft machen kann.“

Georg atmete aus, „das heißt, wenn wir beide dort hinkommen und Akteneinsicht wollen, werden sie uns wieder hinausbefördern. Richtig?“

„Richtig.“

„Was schlagen Sie also vor?“

„Was das Protokoll anlangt, heißt es im Moment abwarten. Aber sobald ich weiß, wo es sich befindet, werde ich einen Weg finden, es anzusehen.“

„Und was tun wir in der Zwischenzeit?“

Sybilla zögerte einen Moment mit der Antwort. „Nun, ich wüsste schon etwas, aber ich bin nicht sicher, ob Sie meine Idee gutheißen werden.“

„Na los“, sagte er aufmunternd, „wenn es uns weiterbringt, bin ich bereit, einiges dafür zu tun.“

„Sie müssen mit seiner Frau sprechen.“

Das hatte er allerdings nicht erwartet. „Mit seiner Frau? Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ihm seine Frau nach dem Leben getrachtet hat? Heutzutage bringt man sich wegen einer Scheidung doch nicht mehr um.“

„Aber das habe ich doch gar nicht gesagt“, meinte sie leicht ungeduldig, „ich denke nur, dass wir durch sie einiges erfahren könnten.“

„Und wie stellen Sie sich das vor?“ fragte er spöttisch, „soll ich etwa in ihre Villa marschieren und sagen, ’Frau Karner, es freut mich sehr, Sie kennen zu lernen, apropos, ehe ich es vergesse, die Exgeliebte Ihres Mannes und ich glauben, dass ihn jemand umgebracht hat, und deshalb hoffen wir auf Ihre Mithilfe beim Spiel: Fang’’ den Mörder’?“

„Ich wusste, dass Sie so reagieren würden“, sagte Sybilla. Es klang nicht ärgerlich, sondern resigniert. „Ich hätte es mir so vorgestellt, dass Sie sie ganz offiziell als Journalist besuchen und ihr erklären, Sie wollten die Lebensgeschichte ihres Mannes veröffentlichen.“

„So einfach ist das nicht. Erstens, um seine Lebensgeschichte publik zu machen, war er nicht prominent genug, und zweitens habe ich die Befürchtung, dass mir Frau Karner diese Geschichte nicht abkaufen wird.“

Sybilla seufzte. „Warum sehen Sie eigentlich immer alles so negativ? Ich habe immer gedacht, ihr Journalisten seid Kämpfer, die jede Möglichkeit, die sich ihnen bietet, ergreifen, und sei die Chance auf Erfolg auch noch so gering.“

Georg schmunzelte leise. „Also wenn es Sie beruhigt, früher war ich genauso, wie Sie es gerade geschildert haben. Ich war bei einer der größten Tageszeitungen Roms. Stundenlang auf der Achse, immer zur Stelle. Es war toll, hat mir aber im Endeffekt nichts gebracht.“

„Wie meinen Sie das?“

„Ganz einfach. Ich war so beschäftigt, dass ich alles um mich herum vernachlässigt habe. So lange, bis es meiner Frau zuviel wurde.“

„Ach, Sie sind verheiratet?“ fragte sie überrascht.

„Ich war es. Meine Frau und ich haben uns vor einem halben Jahr scheiden lassen.“

„Oh, das tut mir Leid.“

„Das muss es nicht. Unsere Ehe war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, und meine Frau hat sich sehr schnell mit einem anderen Mann getröstet. Leid tut mir nur meine Tochter. Sie ist die wirkliche Verliererin in der ganzen Geschichte.“

Sybilla sah ihn mitleidig an. „Das sind Kinder immer. Wie alt ist sie?“

„Sechs. Im Herbst kommt sie in die Schule. Ich denke jeden Tag an sie und hoffe, dass es ihr gut geht.“ Er stand rasch auf. „Aber jetzt lassen wir das. Mein privates Desaster wird Sie wohl kaum interessieren. Schließlich haben Sie Ihre eigenen Probleme.“

Sie stand ebenfalls auf. „Aber ich habe trotzdem noch ein Ohr für Ihre.“ Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. „Und ich möchte, dass wir Freunde werden. Ich glaube, wir haben beide einen guten Freund nötig.“

Er lächelte wieder, diesmal sehr müde, „da haben Sie vielleicht Recht. Bevor Sie gehen, schreiben Sie mir bitte die Adresse von Karners Frau in Baden auf. Ich fürchte, ich muss der Dame morgen dringend einen Besuch abstatten.“

Eigentlich hatte er für seinen freien Tag andere Pläne, aber jetzt hatte er sich der Sache nun mal angenommen. Es war später Vormittag und strahlender Sonnenschein. Ein erfrischendes Bad auf der Donauinsel wäre im Moment genau das Richtige gewesen. Aber nein, er stand jetzt im vornehmsten Villenviertel der Wiener Umgebung und suchte nach dem richtigen Haus. Nummer 16, das musste es sein. Bewundernd blickte er auf das alte Jugendstilhaus. Das hatte sicher ein Vermögen gekostet. Er drückte auf die Klingel, neben der in großen Goldbuchstaben der Name ’Karner’’ stand. Ein paar Minuten lang rührte sich gar nichts. Dann wurde ein Fenster geöffnet und ein junges Mädchen mit blonden Locken streckte seinen Kopf heraus. „Ja?“

Georg räusperte sich, „guten Tag, mein Name ist Bonelli. Ich hätte gerne mit Frau Karner gesprochen.“

„Einen Moment.“ Der Kopf verschwand, und das Fenster wurde mit einem lauten Knall wieder geschlossen. Kurz darauf trat das Mädchen aus der Eingangstür und sprang die Stufen zum Gartentor hinunter. Schwungvoll riss sie die Türe auf. „Hallo, ich bin Eveline Karner. Meine Mutter sitzt im Garten. Ich begleite Sie zu ihr.“ Sie drehte sich um und deutete ihm, ihr zu folgen. Sie gingen um das Haus herum. Dort blieb Eveline Karner stehen und deutete in Richtung einer Terrasse, auf der ein Liegestuhl und zwei Sonnenschirme standen. „Mutti,“ rief sie, „hier ist Besuch für dich.“ Dann wandte sie sich wieder an Georg. „Ist schon in Ordnung, gehen Sie ruhig hin.“ Sie lächelte ihn aufmunternd an und ging ins Haus zurück.

Georg sah ihr noch einen Augenblick nach. Das junge Mädchen wirkte so fröhlich. Gar nicht wie jemand, der gerade seinen Vater verloren hatte. Er wandte seinen Blick wieder dem Liegestuhl zu, aus dem sich gerade eine dunkel gekleidete Gestalt erhoben hatte. Er ging ein paar Schritte näher und blieb erstaunt stehen. Das konnte doch unmöglich Franziska Karner sein. Vor ihm stand eine hagere Frau mit grauem Haar, das streng aus ihrem ungeschminkten Gesicht gekämmt war. Tiefe Falten gruben sich in ihre braune Haut, und in der schwarzen Bluse wirkte sie richtig abgehärmt. Er schätzte sie auf fünfzig Jahre oder älter. Jedenfalls war sie ganz anders als er es erwartet hatte. Sie stand noch immer am selben Platz und sah ihn fragend an. Georg wurde rot. Was fiel ihm ein, sie so anzustarren? Das war wirklich nicht sehr höflich gewesen. Er streckte seine Hand aus, „Guten Tag, gnädige Frau, mein Name ist Georg Bonelli. Darf ich Ihnen mein tiefes Beileid aussprechen.“

„Danke.“ Sie deutete auf den Liegestuhl. „Ich habe mich gerade ein wenig ausgeruht, doch jetzt wird es im Freien schon unerträglich heiß. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir ins Haus gehen?“

„Nein, ganz und gar nicht.“

„Gut, dann werde ich vorgehen.“ Sie drehte sich langsam um, und er folgte ihr ins Haus, wo sie ihn ins Wohnzimmer führte.

„Nehmen Sie doch schon einmal Platz, ich hole nur schnell etwas aus der Küche.“

„Danke.“ Er ließ sich auf eine weiche Ledercouch fallen und sah sich neugierig um. Das Zimmer war sehr geschmackvoll eingerichtet. Angefangen von den alten Möbeln bis hin zum dezent gemusterten Perserteppich. Man musste kein Fachmann sein, um zu erkennen, dass es sich dabei um ein sehr wertvolles Stück handelte. Sybilla hatte Recht gehabt. Die Kanzlei war sicher ein florierendes Unternehmen. Aus der Küche hörte man Geschirrgeklapper. Er hatte nicht geglaubt, dass sie ihn so leicht hereinlassen würde. Noch dazu, ohne zu fragen, wer er sei und was er von ihr wolle.

Doch da kam sie auch schon zur Tür herein und balancierte dabei ein großes Tablett. Sie stellte es auf den Tisch und schob ihm eine Kaffeetasse hin. „Sie sagten Bonelli? Um nach dem Namen und Ihrem Aussehen zu urteilen, darf ich annehmen, dass Sie Italiener sind?“

„Nur ein halber. In Wien geboren und in Rom aufgewachsen.“

„Aha, dann heißen Sie in Wahrheit eigentlich Giorgio Bonelli.“

Georg lächelte, „Sie haben vollkommen Recht. Mein Vater und meine italienischen Freunde nennen mich auch so. Nur meine Mutter bleibt eisern bei ’Georg’, und um die Wiener nicht allzusehr zu verwirren, nenne ich mich auch hier so.“

„Ich verstehe.“ Sie schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein und reichte ihm das Milchkännchen. „Und nun erzählen Sie mir mal, was Sie zu mir führt. Ich nehme an, Sie sind Reporter.“ Sie sagte das ohne irgendeine Regung.

„Ja, woher wissen Sie das?“ fragte Georg erstaunt.

„Nun, das ist nicht besonders schwierig. Mein Mann hatte nicht viele Freunde. Und die wenigen waren mir bekannt. Also bleibt nicht mehr viel übrig. Ich hatte eigentlich mit einem Ansturm von Journalisten gerechnet, aber der blieb im Grunde genommen aus. Für eine Riesenstory war der Unfall meines Mannes scheinbar nicht spektakulär genug. Der einzige große Artikel war im Morgenboten. Aber das ist kein Wunder. Schließlich waren der Chefredakteur und mein Mann befreundet. Wie gesagt, Manfred Sommer war einer der wenigen. Für welches Blatt arbeiten Sie?“

„Äh, auch für den Morgenboten.“ Franziska Karner hob erstaunt die Augenbrauen. „Sie wollen doch nicht etwa einen zweiten Artikel bringen?“

„Nein, ich habe eigentlich vor, die Lebensgeschichte Ihres Gatten in einem Bericht zusammenzufassen. Als so eine Art Nachruf, aber wenn Sie mit mir nicht über ihn sprechen möchten, dann akzeptiere ich das natürlich voll und ganz.“ Er war gespannt auf ihre Antwort, doch sie sagte eine Zeit lang gar nichts. Sie rührte nur in ihrer Tasse und starrte ins Leere. Dann hob sie auf einmal unvermittelt den Kopf und sah ihm fest in die Augen. „Warum wollen Sie einen Nachruf schreiben? So bekannt war er doch gar nicht.“

„Er hat sich sehr für wohltätige Zwecke eingesetzt. Ich habe sein Engagement bewundert und finde, dass er einen Nachruf verdient hätte.“ Er versuchte, seiner Stimme einen überzeugenden Ton zu verleihen, um sie nicht merken zu lassen, dass er log. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass sie ihn durchschaute. Aber falls sie es tat, ließ sie es sich nicht anmerken. „Und wie kann ich Ihnen bei diesem Nachruf helfen?“

„Ich habe gehofft, Sie würden mir vielleicht etwas über Wilhelm Karner, den Privatmann, erzählen.“

Franziska Karners Blick wurde hart. „Ich fürchte, da muss ich Sie enttäuschen. Unsere Ehe bestand schon seit vielen Jahren nur noch auf dem Papier. Private Dinge haben wir schon seit langer Zeit nicht mehr unternommen. Er lebte sein Leben, ich lebte meins.“ Sie stand auf und ging zur Hausbar. „Ich weiß, man soll nicht schon den Vormittag mit harten Getränken beginnen, aber ich habe es mir leider in den letzten Jahren angewöhnt, mir jeden Tag ein bis zwei Gläser Whiskey zu gönnen. Sie haben mir geholfen, den Tag irgendwie zu überstehen.“ Sie nahm eine Flasche einer sehr teuren Marke heraus und schenkte sich ein Glas randvoll. Sie drehte sich fragend zu ihm um, „Sie auch?“

Tatsächlich könnte er jetzt ein Gläschen ganz gut vertragen, aber andererseits war es ihm wichtig, konzentriert zu bleiben, also schüttelte er den Kopf. „Nein, vielen Dank, ich muss noch fahren.“

„Wie Sie wollen.“ Sie nahm ihr Glas und setzte sich zu Georg auf die Couch. „Also, was wollen Sie wissen?“ Sie fuhr sich durch die Haare und brachte dabei ihre strenge Frisur ganz in Unordnung.

„Frau Karner, Sie haben in den letzten Tagen sicher viel durchgemacht. Ich kann auch ein anderes Mal wiederkommen, wenn Sie sich wieder besser fühlen.“

„Nein“, sie machte eine abwehrende Handbewegung, „bleiben Sie ruhig. Ich glaube nicht, dass ich mich in nächster Zeit besser fühlen werde. Ich werde mich überhaupt nie mehr besser fühlen. Dieser Mann hat mich seelisch zu Grunde gerichtet, und davon werde ich mich wahrscheinlich nicht so schnell erholen.“ Sie machte eine kurze Pause. „Mein Mann war um einige Jahre jünger als ich.“ Sie lachte freudlos auf, „Sie brauchen es gar nicht abzustreiten, das war das Erste, was Ihnen an mir auffiel.“

Georg sagte darauf gar nichts, sondern sah sie nur weiter unverwandt an. „Am Anfang war das kein Problem. Er erklärte mir hundert Mal, dass ihm der Altersunterschied überhaupt nichts ausmache und dass er mich so liebe, wie ich sei. Ich hatte einen unehelichen Sohn. Nach der Hochzeit erklärte er sich sofort dazu bereit, ihn zu adoptieren.“

„Wie alt ist Ihr Sohn heute?“

„Tobias ist sechsundzwanzig. Meine beiden anderen Kinder sind von Wilhelm. Eveline haben Sie ja bereits kennen gelernt. Sie ist siebzehn und geht noch zur Schule. Und da ist noch Florian. Er ist zwanzig und studiert Jura. Er will Rechtsanwalt werden, wie sein Vater. Ich hoffe, er ändert noch seine Meinung.“

Im gleichen Moment öffnete sich die Wohnzimmertür und eine rundliche Dame mittleren Alters kam herein. „Guten Tag, Frau Karner. Ich will Sie nicht lange stören, aber wissen Sie schon, ob ich etwas zum Mittagessen richten soll oder nicht?“ fragte sie und lächelte Georg freundlich an.

„Ja, ich weiß nicht recht, Maria“, sagte Franziska Karner, „meine Tochter ist zum Baden gefahren, und ich habe eigentlich überhaupt keinen Hunger.“

Kein Wunder, dass sie so dünn ist, dachte Georg. Wilhelm Karner schien ein Faible für magere Frauen gehabt zu haben. Sybilla war ja auch nur Haut und Knochen.

Frau Karner unterbrach seine Überlegungen, „möchten Sie vielleicht etwas essen?“

„Nein danke, machen Sie sich bitte meinetwegen keine Umstände. Ich halte Sie sowieso schon viel zu lange auf.“ Und habe bis jetzt so gut wie nichts erfahren, dachte er.

„Aber nein, Sie halten mich keineswegs auf“, meinte sie leichthin, „wo waren wir stehen geblieben? Ah ja, bei meinen Kindern. Nachdem sie auf der Welt waren, hat sich sein Verhalten mir gegenüber radikal geändert. Immer öfters hat er mein Aussehen kritisiert. Ich würde mein Äußeres vernachlässigen und nichts aus meinem Typ machen. Ich war seit meiner Teenagerzeit ein natürlicher Typ, der sich nichts aus Schminke machte. Jetzt verlangte er plötzlich von mir, mich in Schönheitssalons zu legen und mich professionell beraten zu lassen. Das wollte ich aber nicht. Dafür hat er mich bestraft, indem er mich zu offiziellen Anlässen nicht mehr mitnahm. Nicht einmal mehr zur Weihnachtsfeier der Kanzlei. Das hat mich damals sehr getroffen. Aber das war ihm nicht genug. Vor ungefähr zehn Jahren begann er damit, mich mit anderen Frauen zu betrügen. Er selbst hielt sich für sehr diskret, aber ich wusste über alles Bescheid. Bis zuletzt hatte er geglaubt, dass ich nichts von seinen Affären ahnte, doch wie gesagt, da hatte er sich getäuscht. Es hat mich furchtbar gekränkt, aber ich hielt still. Heute weiß ich, dass das ein schwerer Fehler war. Aber im Nachhinein ist man ja bekanntlich immer klüger.“ Sie seufzte. „Ich fühlte mich in meiner Position als Ehefrau sicher, und das genügte mir auch. Ich war nicht gefährdet. Bis er diese Antiquitätenhändlerin kennen lernte.“

Georg schluckte. Dann wusste sie also über Sybilla Bescheid. Jetzt hieß es vorsichtig sein, er durfte sich auf keinen Fall anmerken lassen, dass er Sybilla kannte. „Das war seine letzte Geliebte?“

„So viel ich weiß, ja. Ich ließ meinen Mann in regelmäßigen Abständen von einem Privatdetektiv beschatten. Nur für den Ernstfall“, sagte sie im erklärenden Tonfall. „Ich wollte etwas gegen ihn in der Hand haben, falls er mich oder meine Kinder finanziell eingeschränkt hätte. Aber das wollte er bislang gar nicht. Doch plötzlich, wie aus heiterem Himmel, erklärte er mir vor drei Wochen, dass er nach den Gerichtsferien die Scheidung einreichen würde.“ Sie verzog verächtlich das Gesicht, „nach zweiundzwanzig Jahren Ehe sollte ich aufs Abstellgleis wandern.“

Georg wollte etwas sagen, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Früher habe ich meinen Mann geliebt, aber er hat mich und auch meine Kinder in den letzten Jahren so schlecht behandelt, dass er damit jegliche Zuneigung zerstört hat. Also darf es niemanden verwundern, dass mich sein Tod nicht sonderlich getroffen hat.“ Sie schüttelte den Kopf, „nein, ich weine meinem Mann keine einzige Krokodilsträne nach. Aber das ist meine Sicht der Dinge. Ich fürchte, Sie werden davon nichts für Ihren Nachruf brauchen können, es sei denn, Sie machen eine Skandalgeschichte daraus, aber das ist gewiss nicht in Ihrem Sinne.“

Bevor Georg antworten konnte, wurde die Türe heftig aufgestoßen, und ein Mann Mitte zwanzig betrat das Zimmer. Es musste sich dabei wohl um Frau Karners ältesten Sohn handeln. Sein Gesicht war zorngerötet, und seine Augen blitzten böse. „Was fällt Ihnen ein, meine Mutter zu belästigen!“ fuhr er Georg an, und an seine Mutter gewandt, „ich habe dir doch ausdrücklich und mehrmals gesagt, dass du dich nicht mit Journalisten unterhalten sollst. Und jetzt sitzt du seelenruhig da und erzählst einem dahergelaufenen Klatschreporter Dinge aus unserem Privatleben.“

Frau Karner stand auf. Ihre Stimme war ruhig, hatte aber einen gefährlichen Unterton angenommen, „Tobias, was fällt dir ein? Wann ich mit wem über mein Leben rede, geht niemanden etwas an. Auch dich nicht. Du wirst dich jetzt sofort bei Herrn Bonelli entschuldigen!“

Georg stand ebenfalls auf. „Nein, nein, ist schon gut, Frau Karner. Ich wollte mich sowieso langsam auf den Weg machen.“

Ohne Tobias Karner zu beachten, ging er auf dessen Mutter zu und schüttelte ihr zum Abschied die Hand. Sie lächelte ihn entschuldigend an, „mein Sohn ist manchmal ein wenig aufbrausend. Er meint es aber nicht so.“

Oh doch, das tut er wohl, dachte Georg und lächelte zurück. „Ich hoffe, ich habe Ihre Zeit nicht allzusehr in Anspruch genommen. Vielen Dank für das Gespräch.“

„Wie gesagt, ich fürchte, Sie haben nichts Brauchbares von mir erfahren. Vielleicht unterhalten wir uns ein anderes Mal etwas ausführlicher.“

Fast hätte Georg erwartet, dass Tobias Karner lautstark protestieren würde, doch er blieb stumm wie ein Fisch. Allerdings war in seine Augen eine Wachsamkeit getreten, die Georg nicht entging. Schnell wandte er sich zur Tür und ging hinaus.

Die Sonne schien in unverminderter Stärke weiter, und über der ganzen Stadt lag brütende Hitze. Also beschloss er, seinen ursprünglichen Plan zu realisieren und doch noch auf die Donauinsel baden zu fahren.

Fast hatte er damit gerechnet, dass die Insel um diese Zeit wegen der vielen Autos bereits abgesperrt worden war, doch heute schien es noch nicht so viele Wiener ins Naturbadeparadies gelockt zu haben, denn er bekam mühelos einen Parkplatz. Er schnappte sich seine Tasche, nahm die Badematte aus dem Kofferraum und machte sich auf die Suche nach einem ruhigen Schattenplatz. Auch hier wurde er nach kurzer Zeit fündig. Erleichtert ließ er sich auf die Matte fallen und schloss die Augen.

Irgendwie ging ihm Franziska Karner nicht mehr aus dem Kopf. Vielleicht, weil sie so gar nicht dem entsprach, was er sich vorgestellt hatte. Er hatte angenommen, sie lebe in Saus und Braus vom hart verdienten Geld ihres Mannes. Stattdessen machte sie auf ihn den Eindruck einer vom Leben enttäuschten Frau. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie fähig wäre, ihren Mann in eine Schlucht zu stoßen. Bei ihrem Sohn Tobias war er da allerdings nicht so sicher.

Obwohl er ihn nur ein paar Minuten gesehen hatte, traute er ihm so was schon zu. Vielleicht hatte ihm seine Mutter von der beabsichtigten Scheidung erzählt, und es hatte ihn die Angst gepackt, dass er womöglich sein spä