Tödliche Lektionen in des Königs Wusterhausen - Ronja Rossi - E-Book
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Tödliche Lektionen in des Königs Wusterhausen E-Book

Ronja Rossi

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Beschreibung

Jonas Dornfeld, ein junger Mann auf der Suche nach einem Neuanfang, zieht in die Kleinstadt Königs Wusterhausen, um seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. Er will endlich, mit 26 Jahren, an der dortigen Schule des zweiten Bildungsweges sein Abitur nachholen. Doch die Schatten seiner Geschichte holen ihn schneller ein, als ihm lieb ist: Als er eines Abends seine Mitschülerin Lena bewusstlos auf einer Parkbank findet, ahnt er nicht, dass dieser Moment sein Leben erneut aus der Bahn werfen wird. Lena stirbt – angeblich an einer Drogenüberdosis. Aber Jonas glaubt nicht an einen tragischen Unfall. Angetrieben von seinem eigenen Schmerz und dem Gefühl, der Wahrheit verpflichtet zu sein, beginnt Jonas zu recherchieren. Gemeinsam mit Emily, der Schwester von Lena, begibt er sich auf eine Reise, die sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit führt – und mitten hinein in die Machenschaften eines gefährlichen Netzwerks. Doch je tiefer Jonas und Emily graben, desto mehr dunkle Geheimnisse kommen ans Licht: ein Drogenring, korrupte Verstrickungen und Menschen, die bereit sind, für ihre Geheimnisse zu töten. Bald gerät Jonas selbst ins Visier und muss erkennen, dass die Grenze zwischen Freund und Feind gefährlich verschwimmen kann. Spannend, emotional und voller unvorhersehbarer Wendungen – dieser Kriminalroman wird Sie bis zur letzten Seite fesseln. Erleben Sie eine Geschichte, die zeigt, dass Mut und Entschlossenheit manchmal die einzige Rettung sind, wenn das Leben aus den Fugen gerät. Werden Emily und Jonas die dunkle Wahrheit aufdecken? Finden Sie es heraus!

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


IMPRESSUM

Texte: © 2025 Ronja Rossi

Cover: © 2025 Claudia Sperl

Lektorat: Alexandra Blechschmied

www.lektorat-buechersinne.de

Verantwortlich für den Inhalt:

Ronja Rossi c/o Postflex #7376

Emsdettener Str. 10

48268 Greven

www.ronja-rossi.de

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Dieses sind fiktive Geschichten. Genannte Ortsbezeichnungen oder Markennamen gehören den jeweiligen Eigentümern.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.

TÖDLICHE LEKTIONEN IN DES KÖNIGS WUSTERHAUSEN

KRIMI

RONJA ROSSI

INHALT

Über dieses Buch

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Epilog

Über die Autorin

Ein Krimi und seine Komplizen

Personenregister

Alle Personen und Namen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig

und nicht beabsichtigt.

ÜBER DIESES BUCH

Manchmal leben die dunkelsten Geschichten direkt neben den hellsten Momenten.

„Tödliche Lektionen in des Königs Wusterhausen“ erzählt von Menschen, deren Wege sich kreuzen, verheddern – und manchmal auch in Sackgassen enden. Es geht um Entscheidungen, die alles verändern können. Um Geheimnisse, die schwerer wiegen als Worte. Und um die leisen Bande zwischen Schuld und Hoffnung, Angst und Mut.

Dieses Buch ist kein klassischer Krimi. Es ist eine Reise durch die inneren Landschaften seiner Figuren: ihre Zweifel, ihre Erinnerungen, ihre Sehnsüchte.

Es geht um die Lektionen, die uns die Schattenseiten des Lebens lehren – und um das Licht, das wir manchmal darin finden.

Meine Figuren sind keine leuchtenden Helden. Sie sind geprägt von Brüchen, Zweifeln und Entscheidungen, die sie nicht selten an den Rand führen. In ihrem Scheitern, ihrem Kämpfen und ihrem Mut spiegelt sich das, was uns alle verbindet: die Suche nach der Wahrheit, nach Gerechtigkeit – und manchmal einfach nur nach einem Ausgang.

Ich lade Sie ein, einzutauchen, in eine Welt, in der nicht immer die Guten gewinnen. Aber in der das Menschliche in allen Facetten sichtbar wird.

Die Menschen, denen wir eine Stütze sind,

geben uns den Halt im Leben.

(Marie von Ebner-Eschenbach)

PROLOG

Die Autobahn 113 bei Schönefeld lag in finsterer Nacht, durchzogen vom nervösen Blinken der Blaulichter, die wie stumme Pulszeichen über der Szenerie zitterten. Es war gegen 22:30 Uhr an einem Samstagabend im Spätsommer. Die milde Wärme der Nacht stand im scharfen Kontrast zur bedrückenden, chaotischen Szenerie. Der Anblick des BMWs, der frontal gegen einen Brückenpfeiler geprallt war, spiegelte sich in den entsetzten Gesichtern der Anwesenden wider.

Polizeiobermeisterin Claudia Schulz und Polizeihauptmeister Karl Becker standen am Rand der Unfallstelle und sprachen leise miteinander.

»So etwas Schreckliches habe ich lange nicht mehr gesehen«, sagte Claudia mit zitternder Stimme. »Was könnte hier passiert sein? Ein normaler Unfall sieht anders aus.«

Karl nickte zustimmend und fixierte den völlig demolierten BMW. »Es sieht aus, als wäre das Fahrzeug mit enormer Geschwindigkeit und ohne zu bremsen gegen den Pfeiler gerast.« Langsam umrundete er das Auto und blieb bei den Lackspuren am Heck stehen. »Hier am Heck. Die stammen eindeutig von einem anderen Fahrzeug. Ich verständige die Kollegen von der Kripo. Sollen die sich das mal ansehen.«

Der Notarzt Dr. Stefan Kühn arbeitete fieberhaft daran, die Frau im Wrack stabil zu halten. Ihr Mann war bereits tot, sein Körper lag auf der Trage. Die Frau hingegen zeigte schwache Lebenszeichen. Der Rettungshubschrauber stand bereit. »Jede Sekunde zählt! Schnell! Wir müssen sie unverzüglich ins Krankenhaus bringen«, rief er den Sanitätern zu, die mit der Trage und der verletzten Frau zum Hubschrauber eilten.

Kriminalhauptkommissar Leon Stöber von der Kripo in Königs Wusterhausen beobachtete die Szenerie aus dem Schatten heraus, seine Augen suchten unermüdlich nach Hinweisen. Er zweifelte. War das wirklich nur ein tragischer Unfall? Vielleicht erweiterter Suizid? Die Lackspuren am Heck des BMWs sprachen eine andere Sprache. Sie stammten eindeutig aus einem fremden Fahrzeug. Seine Gedanken kreisten immer wieder um diese Lackspuren. Wurde der Pkw absichtlich abgedrängt?

Stöber trat näher an den Unfallort, sein Blick wanderte über die zerstörte Front des BMWs zurück zum Heck. »Claudia, Karl, dokumentiert die Spuren, jede Kleinigkeit. Macht Fotos, nehmt Lackproben!«, wies er seine Kollegen mit scharfem Ton an. »Diese Lackspuren … Es sieht aus, als hätte ein anderes Fahrzeug den BMW gerammt.«

Der Rotor des Rettungshubschraubers schnitt durch die Nachtluft, bevor die Maschine mit ihrer verzweifelten Fracht in der Dunkelheit verschwand. In Stöbers Gedanken wuchs der unheilvolle Verdacht, dass dieser Crash kein Zufall war – sondern das Ergebnis einer kaltblütigen Absicht. Er stellte sich unzählige Fragen. Wer könnte ein solch grausames Motiv haben, ein Ehepaar kaltblütig von der Straße zu drängen? Waren die beiden zufällige Opfer oder bewusst ausgesucht? Wer steckte dahinter?

Die Minuten zogen träge dahin, während die Fahrzeuge in einem stummen, endlosen Strom an der Unfallstelle vorbeigeschleust wurden. Stöber und sein Team umringten das beschädigte Fahrzeug, sicherten akribisch alle Hinweise und Spuren. Jeder Kratzer, jede Delle schien ein stummes Kapitel einer dunklen Geschichte zu erzählen, die Stöber entschlüsseln wollte. Dann die Nachricht von der Leitstelle: Die Frau im Rettungshubschrauber war verstorben. Stöbers Magen zog sich zusammen – nun stand er vor einem möglichen Doppelmord. Er musste Gewissheit haben, musste herausfinden, was wirklich geschehen war. Einen Moment lang stand er wie angewurzelt vor dem zerstörten BMW, als würde der Wagen ihm die Antworten zuflüstern, die er suchte – bevor er schließlich schweren Herzens einstieg und davonfuhr.

»Wir werden die Wahrheit herausfinden. Wenn nicht jetzt, dann später«, murmelte er immer wieder im Auto.

In dem charmanten Einfamilienhaus vor den Toren Berlins herrschte freudige Aufregung und Erwartung. Während die späte Stunde die Straße in eine fast greifbare Stille tauchte, hallten drinnen die hellen Lacher von Emily und Lena durch die Flure und füllten das Haus mit Leben. 

Mit einem lauten Plopp öffnete Emily die Sektflasche, während ihre kleine Schwester Lena lachend die Gläser bereitstellte. Ungeduldig lief Emily hin und her. »Ich kann es kaum erwarten, mit Mama und Papa auf mein Abitur anzustoßen«, rief sie und wirbelte vor Begeisterung herum, ihre Wangen glühten rosig. »Ich frage mich, warum sie ausgerechnet heute so spät dran sind.«

Plötzlich durchbrach ein schrilles Klingeln die fröhliche Stimmung, das Geräusch hallte wie ein Eindringling durch das Haus. Draußen, sichtbar durch das Fenster neben der Eingangstür, erkannte Emily zwei uniformierte Gestalten. Polizisten. Ein eiskalter Schauer jagte ihr über den Rücken. Sie schluckte die aufkeimende Panik herunter und zwang sich zu einem höflichen Lächeln. Mit einer Stimme, die, wie sie hoffte, ruhig klang, sagte sie: »Oh! Guten Abend, wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

Claudia räusperte sich. »Dürfen wir hereinkommen?«

Emily runzelte die Stirn und öffnete zögernd die Tür. »Natürlich. Was … was ist passiert?«

Claudia ließ sich schwer in den Sessel fallen, während Karl mit der Seelsorgerin stumm im Hintergrund blieb. »Es gibt keine einfache Art, das zu sagen«, begann sie, ihre Stimme leise und brüchig, »aber eure Eltern …«

Lena, eben noch fast reglos, holte tief Luft. Emilys Finger fanden instinktiv die ihrer Schwester – ein verzweifelter Halt im Sturm, der gerade über sie hereinbrach. »Was … was ist mit ihnen?« Emilys Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als hätte sie Angst, die furchtbare Antwort durch Lautstärke heraufzubeschwören. »Wo sind sie?«

Claudia schluckte schwer. »Sie … sie sind beide … Sie haben es nicht geschafft. Es tut mir furchtbar leid.«

Ein durchdringender Schmerz erfasste Emily, als hätte sich ein Messer tief in ihre Brust gebohrt. Diese Worte rissen ihr den Boden unter ihren Füßen weg. Sie fühlte sich, als würde sie sich in einem endlosen Fall befinden. Ein schriller, erstickter Schrei entrang sich Lenas Kehle und durchbrach die erdrückende Stille. Sie warf sich in die Arme der Schwester und weinte haltlos. Emily hielt ihre Schwester fest, doch die Verzweiflung schloss sich wie eine stählerne Kralle um ihr eigenes Herz und raubte ihr den Atem.

Leise trat die Seelsorgerin aus dem Hintergrund und legte beruhigend eine Hand auf Lenas Schulter, die in Emilys Armen bebte. »Es ist in Ordnung, alles rauszulassen«, flüsterte sie sanft. »Ich bin hier, bei euch.«

Emily hob den Blick. Ihre Augen glänzten vor Tränen, doch hinter dem Schleier blitzte eine neue, unerschütterliche Entschlossenheit auf. »Ich muss für Lena stark sein«, dachte sie, während sie ihre eigene Angst hinunterschluckte. Mit fester Stimme erklärte sie: »Wir schaffen das. Irgendwie.«

Claudia nickte anerkennend. »Wir werden euch unterstützen, so gut wir können«, sagte sie sanft. Es gibt organisatorische Dinge, die wir noch klären müssen, aber das hat Zeit. Jetzt ist es wichtiger, dass ihr zusammen seid und euch die Zeit nehmt, diesen Schock zu verarbeiten.«

Die Minuten verstrichen lautlos, nur das leise Ticken der Wanduhr begleitete ihre stille Trauer. Emily zog ihre Schwester fest in die Arme, flüsterte beruhigende Worte, während sie selbst mit aller Kraft gegen die Tränen ankämpfte.

»Wir müssen wissen, was wirklich passiert ist«, flüsterte Emily, als würde sie versuchen, aus dem Chaos in ihrem Kopf einen Sinn zu formen.

Claudia und Karl verabschiedeten sich mit einem letzten, aufmunternden Blick. Die Seelsorgerin blieb, um den Mädchen in der schweren Nacht beizustehen.

Eine Woche nach dem Unfall saßen Emily und Lena in einem kargen Büro des Jugendamtes. Die Wände, in blassem Grau gestrichen, wirkten wie ein kalter Mantel, der jede Spur von Wärme erstickte. An dem langen Tisch aus lackiertem Holz glitten ihre Hände nervös über die glatte Oberfläche, als suchten sie nach Halt.

Emily starrte auf den Stapel Formulare, der wie eine undurchdringliche Mauer zwischen ihr und der Sachbearbeiterin thronte. Ihre Gedanken wirbelten chaotisch durcheinander. Erinnerungen an das Lachen, die gemeinsamen Spiele, die unbeschwerten Tage mit ihren Eltern flackerten vor ihrem inneren Auge auf – nur um sofort von der bitteren Realität verdrängt zu werden. Lena saß fast reglos neben ihr, die Lippen fest aufeinander gepresst. Ihre Augen schimmerten, als sie aufblickte, flehend, dass jemand den Schmerz in ihrem Inneren sehen möge.

Die Worte der Sachbearbeiterin drangen wie durch einen dichten Nebel zu ihnen, ihre monotone Stimme klang, als käme sie aus einer fernen Welt.

»Ich weiß, wie schwer diese Zeit für euch beide ist«, begann Frau Müller mit sanfter Stimme. »Aber wir müssen ein paar Dinge klären, um sicherzustellen, dass ihr gut versorgt seid.«

Emily nickte stumm und schloss ihre Hand fester um Lenas. Lena, die seit Tagen kaum gesprochen hatte, starrte mit leeren Augen auf den Tisch. Emily fühlte sich zerrissen, gefangen zwischen der lähmenden Trauer um ihre Eltern und der plötzlichen Verantwortung, die nun wie eine schwere Last auf ihren Schultern lag.

»Wir werden zunächst eine vorübergehende Betreuung organisieren«, fuhr Frau Müller fort. »Emily, da du bereits volljährig bist, kannst du das Sorgerecht für Lena übernehmen, wenn du das möchtest und dich dazu in der Lage fühlst.«

Emily schluckte schwer. Diese Frage hatte sie sich schon unzählige Male gestellt – und keine Antwort hatte ihre Zweifel jemals vollständig erstickt. »Ich werde das Sorgerecht übernehmen«, sagte sie schließlich, ihre Stimme fest, auch wenn sie innerlich zitterte. »Ich werde mich um Lena kümmern.«

Frau Müller lächelte aufmunternd. »Gut. Das Jugendamt wird euch in der ersten Zeit unterstützen und helfen, die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Eine davon ist der Verkauf eures Elternhauses. Mit dem Erlös könnt ihr euren Lebensunterhalt während deiner Ausbildung sichern.«

Emily spürte, wie sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog. »Das Haus steckt voller Erinnerungen. Wir sind darin aufgewachsen. Gibt es wirklich keine andere Möglichkeit?«

Frau Müller sah sie traurig an. »Nein, leider nicht. Wir haben alles genau geprüft. Lena könnte staatlich versorgt werden, wenn …«

»Auf keinen Fall!«, unterbrach Emily scharf, doch ihre Stimme brach, als sie den Blick senkte. Leise fügte sie hinzu: »Dann bleibt uns wohl keine Wahl.«

»Richtig«, fuhr Frau Müller fort. »Die Konten eurer Eltern sind fast leer. Das letzte Geld reicht gerade noch für die Beisetzung und euren Lebensunterhalt, bis das Haus verkauft ist.«

Einen Monat später zogen Emily und Lena in eine kleine Wohnung, die sich für beide wie ein fremder Ort anfühlte. Obwohl einige ihrer alten Möbel in der Wohnung standen, wirkten die Räume auf sie leer und unpersönlich. Jedes Möbelstück erinnerte sie schmerzhaft daran, dass ihre Eltern nicht mehr da waren.  Emily hielt sich tapfer, solange sie damit beschäftigt war, die Wohnung einzurichten.

Lena saß auf dem Bett und hielt ein Fotoalbum in den Händen. »Ich vermisse sie so sehr«, flüsterte sie, ihre Stimme bebend vor unterdrücktem Schmerz. »Es fühlt sich alles so falsch an.«

Emily setzte sich neben ihre Schwester und legte einen Arm um ihre Schultern. »Ich weiß, Lena. Ich vermisse sie auch.«

In der darauffolgenden Nacht fand Emily kaum Schlaf. Zuerst weinte sie leise vor sich hin. Dann jagten die Gedanken unaufhörlich durch ihren Kopf, Zweifel und Ängste nagten an ihr wie ein unerbittlicher Sturm. »Bin ich wirklich in der Lage, das zu meistern, was jetzt kommt?«, fragte sie sich immer wieder. Die Verantwortung schien sie zu erdrücken. Aber sie hatte keine andere Wahl. Niemals würde sie ihre Schwester weggeben.

Am nächsten Morgen studierte und sortierte sie Unterlagen ihrer Eltern. Dabei stieß Emily auf einen Briefumschlag. Neugierig öffnete sie ihn und fand darin einen handgeschriebenen Brief ihrer Mutter und einige Fotos. Wussten sie etwa, dass sie sterben würden? Mit wild klopfendem Herzen begann sie, die Worte ihrer Mutter zu lesen.

Liebe Emily, liebe Lena,

wenn ihr diesen Brief lest, sind wir nicht mehr bei euch. Papa und ich haben euch immer über alles geliebt und wollten euch stets beschützen. Vielleicht wird die Zeit kommen, in der ihr unseren Tod akzeptieren könnt und versteht, dass das Leben nicht nur aus Sonnenschein besteht.

Bleibt einander nahe, denn zusammen könnt ihr alles überstehen.

Vergesst nie, wer ihr seid, und bleibt euch treu.

In tiefster Liebe,

Mama und Papa

Emilys Hände zitterten, als sie die Fotos betrachtete. Sie hielten kostbare Momente des Glücks fest, Augenblicke voller Freude, die sie alle gemeinsam erlebt hatten. Was sollte das alles bedeuten?

»Lena, komm mal her«, rief Emily, ihre Stimme bebend, während sie ihrer Schwester den Brief und die Fotos entgegenhielt. »Ich habe das Gefühl, Mama und Papa sind nicht einfach so gestorben. Da steckt mehr dahinter.« Emily hielt inne und sah Lena ernst an. »Glaubst du, sie haben sich umgebracht? Das kann ich mir nicht vorstellen.«

Die Schwestern schlangen ihre Arme umeinander und hielten sich fest, als könnten sie einander vor der Dunkelheit schützen. »Wir stehen zusammen. Immer.«

KAPITELEINS

Das trübe Novemberwetter ließ ihn fühlen, als läge die Welt um ihn herum in Trümmern. Jonas spürte die eisige Kälte des Regens, obwohl er längst im Trockenen saß. Jeder Regentropfen schien eine Erinnerung an seine düstere Vergangenheit zu tragen, die sich wie ein unnachgiebiger Schatten an ihn klammerte. Das letzte Wochenende hallte noch in seinen Ohren nach – das leise Wimmern seines Vaters, jetzt nur noch ein fernes Echo, und die Leere, die wie eine unüberwindbare Kluft zurückblieb. Er erinnerte sich an den kalten, feuchten Griff seines Vaters, dessen Hände vor Verzweiflung und Alkohol zitterten.

Jonas saß in der Regionalbahn, die sich langsam in Richtung Königs Wusterhausen schlängelte. Das monotone Rattern der Räder und das gelegentliche Quietschen der Bremsen mischten sich mit dem fernen Gemurmel der anderen Fahrgäste. Der Blick aus dem Fenster offenbarte die vorbeiziehenden Landschaften, Felder, kahlen Bäume und Bauernhöfe.

Er zog den Schal enger um den Hals, als wolle er sich gegen die Kälte der Erinnerungen abschirmen. Die Gedanken an seinen Vater wurden lebendig, die Bilder des letzten Wochenendes blitzten auf wie ein Horrorfilm, dem man nicht entkommen konnte. Die schwere Last, die sein Vater trug, war allgegenwärtig.

Er starrte aus dem Fenster, während die Erinnerungen an die Oberfläche drängten.  Sein Vater hatte ihm einmal gestanden, dass er sich die Schuld am Tod seiner Mutter gab. Jonas erinnerte sich, wie die Augen seines Vaters feucht wurden und seine Stimme zitterte, als er ihm von dieser Schuld erzählte. Unweigerlich tauchten die Bilder seiner Mutter vor ihm auf: blass, mit geschlossenen Augen, reglos auf dem Boden liegend. Jedes Mal, wenn er an sie dachte, spürte Jonas die Trauer und den Verlust wie einen schweren Knoten in seinem Magen.

Doch seine Gedanken wanderten sofort zurück zu seinem Vater. Den salzigen Geschmack von Tränen auf seinen Lippen konnte er immer noch schmecken. Der schwere Geruch von Schweiß und abgestandenem Bier, der von seinem Vater ausging, drang ihm in die Nase. Er sah sich um, als könnte er den Mann, der ihm so viel bedeutete und doch so viel verloren hatte, neben sich sehen.

Eine Durchsage riss Jonas abrupt aus seiner düsteren Gedankenwelt. »In Kürze erreichen wir den Bahnhof Königs Wusterhausen. Dieser Zug endet hier. Bitte alle aussteigen.« Das monotone Echo der Durchsage verstärkte die Unruhe, die in Jonas brodelte. Mit einem tiefen Seufzer stand er auf, angesteckt vom geschäftigen Zusammenpacken der anderen Fahrgäste. Jonas griff nach seiner Jacke, schulterte den Rucksack und ging zur Tür. Wenige Minuten später stand er auf dem Bahnhof, erleichtert, dass es hier nicht regnete. Doch die aufkommende Kälte des Novemberabends kroch ihm unter die Haut. Seufzend ließ er den Blick über den schnell leer werdenden Bahnsteig schweifen. Dabei vergrub er seine Hände in den Taschen seiner Jacke. Ein Gefühl tiefer Einsamkeit breitete sich in ihm aus. Er hielt einen Moment inne. »Mal sehen, was mich morgen in der Schule erwartet«, dachte er und entschied sich, zu Fuß zu seiner kleinen Altbauwohnung zu gehen.

Sein Weg führte ihn durch den Schlosspark, dessen Bänke, zum Verweilen einladend, leer und verlassen wirkten. Doch was war das dort? Aus der Ferne erkannte Jonas eine Gestalt, die reglos auf einer der Bänke lag. Die Passanten gingen kopfschüttelnd vorbei oder blickten stur geradeaus, als wollten sie die Szene nicht wahrnehmen. »Ich hätte nicht gedacht, dass es hier Obdachlose gibt!«, schoss es Jonas durch den Kopf.

Als er zur Bank kam, entdeckte er eine junge Frau, die makellos gekleidet dort lag. Der Mondschein fiel auf ihr Gesicht und ließ ihre blonden Haare wie Silber glänzen. Verwundert sprach er sie an: »Hallo! Geht es Ihnen gut? Brauchen Sie Hilfe?« Als sie nicht antwortete, trat er vorsichtig näher, um nach ihrem Puls zu fühlen. Als sein Blick auf ihr Gesicht fiel, zuckte er erschrocken zusammen. Vor ihm lag Lena aus der 11/1 – so blass, dass ihre Haut an Pergament erinnerte.  

Mit zitternden Händen tastete er nach ihrem Handgelenk und atmete erleichtert auf, als er endlich ein schwaches Klopfen unter seinem Finger spürte.

Jonas’ Hände wurden feucht, während sein Herz wie wild schlug. Um sich zu beruhigen, atmete er mehrfach tief ein und wieder aus. Dann griff er nach dem Handy und wählte den Notruf.

 Die Minuten zogen sich wie Stunden, während Jonas unruhig auf und ab lief. »Wann kommt denn endlich der Rettungswagen?«, dachte er. Immer wieder fühlte er den Puls des Mädchens. Plötzlich spürte Jonas den Puls nicht mehr. Geistesgegenwärtig drehte er Lena auf den Rücken und führte die Erste Hilfe so aus, wie er es für die Fahrprüfung gelernt hatte. Er suchte nach dem Druckpunkt über dem Brustbein, drückte dreißigmal mit aller Kraft und schloss dann ihre Nase mit Daumen und Zeigefinger, um sie zweimal von Mund zu Mund zu beatmen. Nichts! Kein Puls! Keine Atmung! Also wiederholte er die Maßnahmen, bis er das Sondersignal des Rettungswagens hörte. Jonas atmete erleichtert auf, als der Sanitäter ihn ablöste – er war völlig erschöpft.

Kurz darauf traf auch der Notarzt ein, und plötzlich ging alles ganz schnell. Lena wurde ohne Zögern in den Rettungswagen gebracht.

Jonas rief atemlos: »Wo bringen Sie sie hin?«

Der Sanitäter antwortete kurz: »Ins Achenbach-Krankenhaus.«

Der Notarzt blickte durch die halb geöffnete Tür des Rettungswagens. »Kennen Sie ihren Namen?«

»Lena Lichtner«, rief Jonas hastig, kurz bevor sich die Tür schloss. Er blieb allein auf dem verlassenen Platz in der Grünanlage zurück.

Erschöpft ließ er sich auf der Bank nieder, um kurz zur Ruhe zu kommen. Seine Gedanken kreisten unaufhörlich um eine einzige Frage: Wird Lena überleben? Er senkte den Kopf – was war das? Im Gras unter der Bank entdeckte er einen kleinen Rucksack. »Der könnte Lena gehören«, schoss es ihm durch den Kopf. Er öffnete den Rucksack und fand darin eine Geldbörse mit Ausweisdokumenten. Auf dem Personalausweis erkannte er eindeutig das Mädchen: Lena Lichtner. Er schnappte sich den Rucksack, um ihn später ins Krankenhaus zu bringen. Zuerst ging Jonas auf direktem Weg nach Hause. Er kannte Lena zwar nur aus der Projektwoche, aber sie war schließlich seine Mitschülerin, wenn auch eine Klasse unter ihm.

Am Montagmorgen radelte Jonas zur Robert-Frenzel-Schule, einer Einrichtung des Zweiten Bildungsweges. Hier hatten Erwachsene wie er die Chance, nachträglich einen Schulabschluss zu erwerben – sogar das Abitur. Jonas war froh, dass es solche Schulen für Spätzünder wie ihn gab. Denn viele Erwachsene merken erst später, wie wichtig ein besserer Schulabschluss für ihr berufliches Fortkommen ist.

Seine Klassenkameraden wirkten erschöpft vom Wochenendstress - die meisten hatten eine Familie zu versorgen. Viele arbeiteten nach dem Unterricht oder abends, wodurch sie ihre Wochenenden zum Lernen und für Aufgaben nutzten. Jonas nahm Platz und versuchte, sich auf den bevorstehenden Unterricht zu konzentrieren. Der Deutschunterricht der 12/1 begann bei Friederike Starke, der Schulleiterin. Alle respektierten und mochten sie. Mit ihrer geringen Körpergröße, aber ihrem selbstbewussten Auftreten wirkte sie dennoch beeindruckend. Ihren lebendigen Augen entging kein Detail. Das Thema war der Roman »Das Licht« von T.C. Boyle. Sie lasen und diskutierten Auszüge daraus. Es ging um die Lebensgeschichte Timothy Learys, seine Forschungen mit LSD und die von ihm bevorzugte Befreiung des menschlichen Bewusstseins. Jonas wunderte sich, dass sie das letzte Thema bisher nicht abgeschlossen hatten. Nach 70 Minuten begann die obligatorische Pause. In diesen kurzen Unterbrechungen blieb ihre Lehrerin meist im Raum und nutzte die Zeit, um sich mit den Studierenden auszutauschen – so wurden die Schüler an Schulen des Zweiten Bildungsweges offiziell bezeichnet. Dieses Mal verließ Friederike Starke jedoch schnellen Schrittes das Klassenzimmer, um eilig in ihr Büro zu gehen. Als Schulleiterin hatte sie oft dringliche Probleme zu lösen. Deshalb überraschte das niemanden.

Nach der Pause betrat sie zusammen mit einem Mann das Klassenzimmer. Die Schulleiterin wirkte ernster als sonst, beinahe traurig. Sie stellte den Mann als Kriminalhauptkommissar Leon Stöber vor. Jonas schätzte ihn auf Ende vierzig. Die grauen Schläfen und die Falten um seine Augen zeugten vermutlich von durchwachten Nächten – bei seinem Beruf kaum verwunderlich. Er wandte sich sogleich an die Klasse.

»Ich muss Ihnen mitteilen, dass Lena Lichtner gestern Nacht verstorben ist.«

Ein Aufschrei ertönte, gefolgt von bedrückender Stille, bevor aufgeregtes Gemurmel die Klasse erfüllte.

Der Hauptkommissar erhob die Stimme, um das aufkommende Durcheinander zu übertönen. Dann fuhr er ruhig und besonnen fort: »Bitte, bleiben Sie ruhig - so wie Jonas Dornfeld es gestern Abend war. Er hat Lena im Park gefunden, Erste Hilfe geleistet und den Notruf gewählt. Leider hat sie nicht überlebt. Herr Dornfeld, die Angehörigen danken Ihnen von Herzen für Ihren Einsatz.«

Jonas zuckte zusammen, überrascht von der plötzlichen Nennung seines Namens. Doch er verspürte den Drang, mehr über Lenas Tod zu erfahren. Zögerlich hob er den Arm und fragte leise: »Woran ist sie gestorben?«

»Nach aktuellem Kenntnisstand handelt es sich um eine versehentliche Drogenüberdosis. Genauere Informationen haben wir nach der Obduktion.«

Jonas erstarrte, während längst verdrängte Erinnerungen in ihm hochkamen. Vor einigen Jahren hatte er seine Mutter leblos zu Hause aufgefunden und war machtlos gewesen, ihr zu helfen. Er war nach Königs Wusterhausen gezogen, um Abstand zu gewinnen und das Erlebte zu verarbeiten – fern von den täglichen Erinnerungen. Doch nun holte ihn seine Vergangenheit scheinbar wieder ein. Jonas zweifelte an der Theorie einer versehentlichen Überdosis – Lena hatte seines Wissens nach, nie Drogen genommen, nicht einmal auf Partys. Er fühlte sich gefangen in einer Endlosschleife aus Erinnerungen und Zweifeln. Der Unterricht zog an ihm vorbei, ohne dass er sich darauf konzentrieren konnte.

Nach Unterrichtsende raste Jonas direkt nach Hause, schnappte sich Lenas Rucksack und machte sich auf den Weg zu ihrer Adresse.

Die tief stehende Sonne warf lange Schatten durch die Fenster der Lagerhalle im Technologie- und Wissenschaftspark in Wildau, als Frankie das massive Stahltor mit einem Kreischen der Scharniere öffnete. Ein kalter Luftzug strich durch den Eingang und ließ die Spinnweben in den Ecken zittern. Frankie trat ein, seine Helfer folgten ihm und musterten den leeren Raum mit seinen kahlen Wänden.

»Das ist unsere Chance, die Produktion zu steigern«, verkündete Frankie mit Nachdruck. »Diese Lagerhalle wird unser neues Hauptquartier.« Seine Stimme hallte von den kahlen Wänden wider, während die Männer sich zweifelnde Blicke zuwarfen. Frankie führte sie tiefer in die düstere Halle, wo Sonnenstrahlen wie Scheinwerfer auf den staubigen Boden fielen. In einer Ecke war bereits Equipment aufgestellt: große Tische, Kolben, Brenner und Chemikalien. Es war nur ein erster Vorgeschmack auf das, was hier bald passieren würde.

Während Frankie den Plan erklärte, aus seiner kleinen Produktion eine großangelegte Operation zu machen, kämpfte er innerlich mit seinen moralischen Bedenken. Schließlich war er als Lehrer eine Respektsperson, zu der man aufblickte. Doch nun ließ er sich auf kriminelle Machenschaften ein. Sein Herz raste bei dem Gedanken an die Gefahren und die allgegenwärtige Angst, entdeckt zu werden. Seine Helfer schienen diese Unsicherheit zu spüren. »Bist du sicher, dass das hier wirklich eine gute Idee ist?«, fragte einer von ihnen und ließ seinen misstrauischen Blick durch die Halle schweifen.

»Ja, ich habe die Lagerhalle gepachtet. Hier können wir ungestört arbeiten und die Produktion massiv steigern. Das ist unsere Chance, reich zu werden«, erklärte Frankie und bemühte sich, seine innere Anspannung zu verbergen.

Nach und nach zerstreute Frankie die Skepsis seiner Leute – sein Enthusiasmus war einfach ansteckend. Schließlich nickten sie, wenn auch zögerlich. Frankie erklärte die genauen Abläufe und zeigte, wo die einzelnen Produktionsschritte stattfinden sollten. Mit jeder Minute schwand ihre Skepsis ein wenig mehr.

Plötzlich verstummte Frankie. Ein leises Geräusch durchbrach die unheimliche Stille der Lagerhalle. Es war ein leises Kratzen, gefolgt von einem dumpfen Klopfen. Alle hielten den Atem an und warfen sich nervöse Blicke zu, während sie sich umschauten. »Habt ihr das gehört?«, flüsterte einer der Männer, seine Augen vor Angst weit aufgerissen.

Frankie hob beruhigend die Hände. »Das kommt sicher aus einer der anderen Hallen.«

KAPITELZWEI

Jonas stand vor der Tür einer Wohnung im dritten Stockwerk eines Hauses in der Plattenbausiedlung von Königs Wusterhausen. Auf dem Klingelschild stand »Lichtner«. Jonas fragte sich, ob Lenas Eltern zu Hause waren. Noch nie hatte er jemandem kondolieren müssen – oder gewollt. Er trat nervös von einem Fuß auf den anderen, bevor er schließlich den Klingelknopf drückte und tief durchatmete.

Nach ein paar Sekunden öffnete sich die Tür, und eine junge, blonde Frau trat in den Türrahmen. Sie war etwas kleiner als Jonas und hatte ein hübsches, aber unendlich trauriges Gesicht. Sie fragte leise: »Ja bitte? Was kann ich für Sie tun?«

»Ich bin Jonas Dornfeld. Ich habe Lena gefunden und wollte ihren Rucksack zurückbringen.«

Mit einer stummen Geste forderte sie ihn auf, einzutreten.

Emily schluckte mehrfach, bevor sie die Kraft fand, zu sprechen. »Danke, Jonas«, flüsterte sie mit belegter Stimme und drückte den Rucksack fest an ihre Brust.

»Ich bin Emily, Lenas Schwester.«

»Es … es tut mir unglaublich leid«, murmelte Jonas und räusperte sich verlegen. »Ich kann es immer noch nicht fassen, dass Lena …, dass sie … einfach so gestorben ist.«

Emily holte tief Luft und schniefte schwer. »Ich auch nicht, Jonas. Es fühlt sich an, als wäre ich in einem schrecklichen Albtraum gefangen, aus dem ich nicht erwachen kann.« Mit tränenerfüllten Augen blickte sie zu ihm auf. »Ich vermisse sie so sehr«, brachte sie unter Tränen hervor. Sie versuchte weiterzusprechen, wurde aber von Schluchzern immer wieder unterbrochen. Schließlich brachte sie nur ein schlichtes »Danke« heraus.

»Das ist doch selbstverständlich. Sind eure Eltern zu Hause? Ich möchte ihnen gern mein Beileid aussprechen. Und ich darf doch du sagen, oder?«

 »Natürlich können wir uns duzen. Wir sind wahrscheinlich im gleichen Alter. Ich bin kürzlich 26 geworden.«

Jonas hielt ihrem Blick stand und dachte: »Wie schön sie ist!« Laut sagte er: »Ich bin auch 26, seit dem Sommer. Sind deine Eltern zu Hause?«

»Nein. Meine Eltern kannst du nicht mehr sprechen – sie sind vor einigen Jahren tödlich verunglückt«, sagte Emily und kämpfte gegen die aufkommenden Tränen an.

Jonas erstarrte – diese Nachricht ließ ihn innerlich taumeln. Hastig sagte er: »Entschuldige bitte. Es tut mir furchtbar leid. Du bist jetzt ganz allein … Bitte melde dich, wenn du Hilfe brauchst. Ich helfe dir wirklich gern. Hier ist meine Telefonnummer.«

Emily nahm das Kärtchen entgegen. »Danke, Jonas. Vielleicht melde ich mich wirklich.«

Er verabschiedete sich und ging. Draußen blieb er stehen, rang um Fassung und hielt sich einen Moment lang an seinem Fahrrad fest, bevor er schließlich losradelte. Trotz der kurzen Begegnung spürte er eine tiefe Verbundenheit mit Emily – sie hatte jemanden verloren, genau wie er.

Kaum war Jonas gegangen, konnte Emily ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie gab ihrem Schmerz nach und ließ ihn frei heraus. Mit Lenas Rucksack auf dem Schoß saß sie da, überwältigt von ihrem Schmerz. Seit der Todesnachricht hatte sie weder Lenas Zimmer betreten noch ihre Sachen angerührt. Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie sich mit Lenas Tod auseinandersetzen musste. Emily konnte nicht begreifen, warum ihre liebenswerte und übertrieben gerechtigkeitsliebende Schwester Drogen genommen haben sollte. Immer wieder fragte sie sich: »Habe ich Lena falsch eingeschätzt? Warum habe ich nichts bemerkt?« Sie warf sich vor, sich nicht genug um ihre kleine Schwester gekümmert zu haben. Vielleicht hatte sie sich zu sehr auf ihr Studium konzentriert und Lena dabei vernachlässigt. Mit zitternden Händen wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Ich muss es wiedergutmachen – ich werde die Wahrheit über Lenas Tod herausfinden und den Schuldigen bestrafen«, schwor sie sich und öffnete den Rucksack. Als sie in Lenas Geldbörse ein Foto von sich selbst fand, brachen erneut die Tränen aus ihr hervor. In dem Moment wurde Emily schmerzlich bewusst, dass sie jetzt völlig allein war. Niemand anderes der Familie lebte mehr. Ja, sie hatte Freunde und Studienkollegen. Aber konnten sie Emilys unendliche Trauer verstehen?

Jonas schien der Einzige zu sein, der sie wirklich verstand. »Und er ist tatsächlich nicht unattraktiv – groß, schlank, gut aussehend. Seine blauen Augen erst! Darin könnte ich mich verlieren«, murmelte sie fast entschuldigend. »Außerdem wirkt er ehrlich, wenn auch etwas schüchtern«, sagte Emily, so, als würde Lena vor ihr stehen. »Vielleicht sollte ich ihn wirklich anrufen.« Ihr Blick fiel erneut auf den Rucksack. Sie ergriff ihn. Mit einem Ruck schüttete sie den Rucksack aus, als würde sie sich ein Pflaster abreißen.

Um Lena nahe zu sein, berührte sie jeden einzelnen Gegenstand. Sie schlug den knallroten Terminkalender auf und blätterte langsam darin. Emily las die Schulaufgaben ihrer Schwester, Verabredungen mit Freunden und seltsame Notizen, die Personen nur mit Kürzeln bezeichneten. Zum Beispiel: »Beobachtung von Br. - verschließt heimlich Dinge im Klassenschrank« oder »Treffen mit T. - keine Auskunft erhalten«. Emily stutzte. Was hatte Lena nur heimlich gemacht?

Mit Lenas Rucksack in der Hand betrat Emily deren Zimmer und blickte sich um, als wäre sie zum ersten Mal hier. Der Raum war voller persönlicher Erinnerungen. Er war ein Ort, an dem Lena ihre Träume und Geheimnisse bewahrte. Auf ihrem Schreibtisch lagen Schulbücher und ein Tablet. Sie betrachtete alles genauer. Einige Schulbücher und das Tablet trugen Schulaufkleber. Zudem lag verschiedener Kleinkram auf dem Tisch. Doch wo war Lenas Handy? Lena besaß ein ziemlich neues Smartphone, das sie ihr kürzlich zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie ging nie ohne Telefon aus.

Zurück in seiner Wohnung ließ sich Jonas schwer auf einen Stuhl am Küchentisch sinken. Er stützte seinen Kopf in beide Hände. Diesen Schmerz kannte er nur zu gut. Jetzt holte ihn all das wieder ein. Nach dem Tod seiner Mutter war er wie gelähmt. Er konnte nichts tun. Sein Vater hatte mit sich selbst zu tun. Da begann Jonas zu trinken, um seinen Schmerz zu betäuben. Sein Freund Felix half ihm, das Trinken zu unterlassen. Mit ihm konnte er über alles reden. Dann ging Felix zum Studium nach London. Also entschied sich Jonas zu einem Tapetenwechsel, er zog von Berlin nach Königs Wusterhausen, in den Speckgürtel. Hier wollte er neu beginnen, sein Abitur nachholen, vielleicht sogar studieren. Er fühlte sich wohl in Königs Wusterhausen und an der Robert-Frenzel-Schule, hatte Freunde gefunden. Beginnt nun alles von vorn? Langsam erhob er sich, ging zum Bücherschrank und zog eine Flasche Weinbrand hinter den Büchern hervor. Zitternd goss er sich ein Glas davon ein und stellte es auf den Küchentisch. Zurück am Tisch setzte er sich und starrte wie gebannt auf das Glas vor ihm. Sollte er davon trinken? Er würde sich wenigstens für eine Weile besser fühlen. Er verharrte eine gefühlte Ewigkeit am Küchentisch. Dann sprang er abrupt auf, schnappte sich das Glas und beförderte den Inhalt in die Spüle. »Nein! Ich bleibe trocken!«, rief er entschlossen und schob das Glas von sich weg. Dieses Mal wollte er die Situation anders angehen – aktiv und offen mit seinem Problem umgehen.

Doch zu Hause überfielen ihn stets seine Gedanken wie eine Flut. Warum ist Lena tot? Weshalb nahm sie Drogen? Hätte sie das ihrer Schwester wirklich zugemutet? Diese und unzählige andere Fragen wirbelten unaufhörlich durch seinen Kopf. Er wollte etwas tun - nein, er musste etwas tun. Deshalb griff er zu seinem Laptop.

Das gedämpfte Licht des Laptopbildschirms erhellte den Raum und zog ihn in eine Welt, in der er nach Antworten suchen konnte. Sein Herz begann schneller zu schlagen, als er sich in Lenas Social-Media-Profile vertiefte. Er war auf der Suche nach Spuren, Hinweisen, irgendetwas, das mit Lenas mysteriösem Tod zusammenhängen könnte.

Jonas scrollte durch Lenas Fotos, las ihre Beiträge und verschlang jedes Detail, das ihm ins Auge fiel. Sogar auf der Schul-Homepage suchte er nach Meinungsäußerungen von Lena. Offenbar hatte sie sich oft mit ernsten Themen beschäftigt. Wie passte das zu ihrem Drogenkonsum? Je länger er suchte, desto mehr zweifelte er, dass Lena leichtsinnig mit Drogen umgegangen sein soll.

Aber ihre Kontakte erregten seine besondere Aufmerksamkeit. Zwischen den scheinbar alltäglichen Freundschaften stießen ihm einige außergewöhnliche Namen ins Auge – sie schienen eine düstere Aura zu umgeben.

Unter ihren »Freunden« entdeckte Jonas auch den Namen Valentina B. Möglicherweise steckte die Informatik-Lehrerin Valentina Brandt hinter diesem Kurznamen. Eigenartig! Lena kommunizierte beispielsweise auch mit Timba. Jonas erinnerte sich an diesen Spitznamen. Seine drogenabhängige Mutter hatte mit einem Mann namens Timba zu tun. Sollte das derselbe Mann sein? Jetzt war Jonas’ Neugierde endgültig geweckt. Entschlossen schwor er sich: »Ich werde weiter suchen - ich werde das Rätsel um Lenas Tod lösen.«

Ein plötzliches Klopfen an der Tür riss Jonas aus seinen Gedanken. Wer konnte das um diese Zeit sein? Jonas hatte niemanden erwartet. Mit gerunzelter Stirn stand er auf und öffnete die Tür. Vor ihm stand Felix, sein alter Freund, den er seit Jahren nicht gesehen hatte. Felix wirkte angespannt und nervös, seine Augen wanderten rastlos umher.

»Hey, schön, dich zu sehen! Warum hast du nicht vorher angerufen?«

»Keine Zeit für Small Talk. Ich muss dringend mit dir reden«, sagte Felix und fixierte Jonas mit einem eindringlichen Blick. »Es geht um deinen Vater. Er steckt in großen Schwierigkeiten.«

»Ich war doch erst letztes Wochenende bei ihm. Was ist passiert?«, fragte Jonas und spürte, wie seine Nervosität wuchs.

Felix blickte sich hastig um, als wolle er sicherstellen, dass niemand mithörte. »Kann ich reinkommen? Es ist wirklich wichtig.«

»Na klar!«, entgegnete er und ließ Felix eintreten. Sie setzten sich ins Wohnzimmer. Er war etwa so groß wie Jonas, mit einer schlanken, sportlichen Statur. Doch unter seinem dunklen Anzug blieb sie kaum erkennbar. Seine braunen Haare waren akkurat geschnitten und gekämmt. Felix sah nicht nur aus wie ein Anwalt, er benahm sich auch so. Überhaupt nicht so locker und gut gelaunt, wie Jonas ihn von früher kannte.

»Ich weiß, wir haben uns lange nicht gesehen, aber ich musste dich unbedingt informieren. Dein Vater steckt in ernsthaften Schwierigkeiten - er hat sich mit den falschen Leuten eingelassen«, fügte Felix ohne zu zögern hinzu.

Jonas spürte, wie sich sein Magen vor Unbehagen zusammenzog. »Wovon redest du? Was für Leute?«

»Es kursieren Gerüchte, dass er in illegale Geschäfte verwickelt ist. Leute aus unserem alten Berliner Kiez erzählen, dass er sich mit gefährlichen Typen eingelassen hat. Er braucht dringend Hilfe, Jonas«, fügte Felix mit ernstem Gesichtsausdruck hinzu.

Jonas war sprachlos. Seine Gedanken überschlugen sich. »Meine Vergangenheit holt mich wohl ein. Woher weißt du das alles?«

»Eigentlich dürfte ich meine Quelle nicht nennen, aber ich vertraue dir. Bei meinem letzten Besuch in Berlin habe ich einen alten Kumpel wiedergetroffen. Er hat mir von deinem Vater erzählt, weil er wusste, dass wir befreundet sind. Vor ein paar Tagen kam ich nach Berlin, um meine neue Stelle bei einer internationalen Wirtschaftskanzlei anzutreten. Gestern sind wir uns erneut begegnet. In dem Büro-Tower, wo die Kanzlei ist. Er ist auch Anwalt, hat mit Strafrecht zu tun, und hat mir im Vertrauen von den Schwierigkeiten deines Vaters erzählt.«

»Das kann ich kaum glauben«, murmelte Jonas fassungslos. »Mein Vater? Warum sollte er sich mit Kriminellen einlassen? Du kennst ihn doch. Er hat sich immer an die Gesetze gehalten.«

Felix zuckte mit den Schultern. »Ich weiß ja auch nicht viel. Aber die Leute, mit denen er zu tun hat, sind echt gefährlich. Das könnte wirklich brenzlig werden. Du musst ihm helfen, bevor es zu spät ist.

Jonas lehnte sich zurück und starrte mit leerem Blick auf den Boden. »Ach Felix, früher war ich so stolz, wenn mein Vater mich mit auf seine Baustelle nahm. Damals zeigte er mir voller Freude seine Arbeit - bis der berufliche Absturz kam. Den Tod meiner Mutter hat er nie verkraftet. Wie oft habe ich ihm deshalb Vorwürfe gemacht …«

»Ja, ich erinnere mich, Jonas. Weißt du noch den Abend, als ich bei dir übernachten wollte? Du hattest deinen Haustürschlüssel vergessen und musstest klingeln. Ich höre deinen Vater noch heute, wie er dich damals angemotzt hat: ›Wo warst du? Hast wohl wieder mit deinen nutzlosen Freunden rumgehangen, und auch noch einen angeschleppt?‹«

»Klaro. Ich hab zurückgeschnauzt: ›Was geht dich das an? Bist ja eh nur besoffen! Warum kümmerst du dich nicht mal um dein eigenes Leben?‹«

»Genau. Aber dann tat mir dein Vater leid, als er sagte: ›Tu nicht so, als ob du alles wüsstest, Junge! Du hast keine Ahnung, was ich durchmache!‹«

»Stimmt, Mann. Ich habe ihm eine gepfefferte Antwort an den Kopf geschleudert: ›Und du hast keine Ahnung, wie sehr du mich zerstörst, jedes Mal, wenn ich dich so sehe!‹ Danach ist mein Vater ins Wohnzimmer getorkelt, hat sich aufs Sofa gehauen und geheult. Jetzt könnte ich heulen, Felix.«

»Aber trotzdem, Jonas, du darfst ihn nicht im Stich lassen.«

»Ich werde darüber nachdenken, was ich tun kann. Danke, dass du gekommen bist«, sagte er schließlich.

»Ich muss zurückfahren, Jonas, ich habe noch einen Termin. Pass auf dich auf. Und denk gut nach, wie du vorgehst. Diese Leute sind echt gefährlich«, warnte Felix, bevor er sich verabschiedete.

Als die Tür hinter Felix ins Schloss fiel, blieb Jonas allein in der Stille seiner Wohnung zurück. Sein Kopf schwirrte vor Fragen. Was hatte sein Vater getan? Und wie sollte er ihm helfen? Eine beunruhigende Ahnung kroch in ihm hoch: Könnten die Ereignisse in Königs Wusterhausen und die Probleme seines Vaters miteinander verknüpft sein?

Jonas lehnte sich zurück, schloss die Augen und ließ die Gedanken kommen. Vor seinem inneren Auge tauchten Bilder aus seiner Vergangenheit auf – Schatten, die ihn nicht losließen. Sein Vater, der seit dem Tod seiner Mutter nie ohne ein Glas in der Hand war, das fahle Licht in ihrem Haus und die endlosen Streitereien, wenn er mal zu Hause war.

---ENDE DER LESEPROBE---