Tödliche Rechnung - Michael Koryta - E-Book

Tödliche Rechnung E-Book

Michael Koryta

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Beschreibung

Ed Gradduk, ein eher kleines Licht in Clevelands Gangsterszene, steht unter dem dringenden Verdacht, ein Haus in Brand gesteckt und eine Frau ermordet zu haben. Kurze Zeit später wird er 'zufällig' von einem Streifenwagen überfahren. Ehe sie sich versehen, geraten die beiden Privatdetektive Joe Pritchard und Lincoln Perry, der Ed aus Kindertagen kennt, in einen undurchdringlichen Sumpf aus Mord, Brandstiftung, Bestechung und Erpressung. Bei einem Schusswechsel wird Pritchard schwer verletzt, und auch Perry gerät in höchste Gefahr …

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Michael Koryta

Tödliche Rechnung

Kriminalroman

Aus dem Amerikanischenvon Thomas Bertram

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungTeil 1Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Teil 2Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Teil 3Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Nachbemerkung des ÜbersetzersDanksagung
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Für meine Eltern,Jim und Cheryl Koryta,in Liebe und Dankbarkeit

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Teil 1

Blutende Erinnerung

Kapitel 1

Ich hörte die Sirenen, schenkte ihnen aber keine Beachtung. Sie waren nahe, und sie waren laut, aber dies war die Westside von Cleveland, und obwohl es viele schlimmere Orte auf der Welt gibt, gehört auch die Westside nicht gerade zu jenen Vierteln, wo eine Polizeisirene einen veranlasst, zweimal hinzuhören.

»Fertig, West Tech?«, fragte Amy Ambrose, während sie von der Freiwurflinie einen Ball warf, der im Fallen lediglich das alte Kettennetz streifte. Die Netze hier draußen bestanden aus Ketten, nicht aus Schnüren, und obwohl sie einem beim Rebound-Versuch die Hand aufreißen konnten, klangen sie unheimlich angenehm, wenn ein Wurf durchfiel – wie das Erfolgsklimpern an einem Spielautomaten.

»Natürlich bin ich fertig«, antwortete ich und versuchte ihren Wurf nachzumachen, ließ den Ball aber stattdessen vom Rand abprallen. Das verhieß nichts Gutes. Amy hatte mich die ganze Woche zu einer Partie »Horse« herausgefordert, und nun stellte ich bekümmert fest, dass sie tatsächlich werfen konnte. Ich hatte für die West Tech Basketball gespielt, in den letzten Jahren der Schule, bevor das alte Gebäude dann geschlossen wurde, aber jetzt war es schon ein paar Monate her, seit ich auch nur einen Wurf versucht hatte. Amy war erst in den letzten Jahren Basketballfan geworden, und seit LeBron James für Cleveland spielte, kannte ihre Begeisterung kaum noch Grenzen. Im Moment hatte ich das ungute Gefühl, dass ich gerade dabei war, das jüngste Opfer ihres neuen Hobbys zu werden.

»Ich hoffe, du hast ein besseres Händchen, wenn du es tatsächlich brauchst«, kommentierte Amy meinen Fehlversuch.

»Ich war auf der Highschool immer eher ein Aufbauspieler«, entgegnete ich. »Ein Verteiler, weißt du.«

»Du konntest also nicht werfen«, sagte Amy, während sie ein weiteres Mal traf, diesmal von der Grundlinie. Sie zeigte auf ihre Füße. »Du musst es von hier aus machen.«

Ich traf nicht. Amy feixte.

»Ein ›H‹ hast du schon, du Held. Sieht so aus, als ob das hier ’ne kurze Sache wird.« Sie wollte gerade den nächsten Ball werfen, als mit einer schrillen, grauenhaften Version von Beethovens Fünfter ihr Handy klingelte. Sie warf weit daneben, dann wandte sie sich mit einem Stirnrunzeln zu mir. »Zählt nicht. Das Handy hat mich abgelenkt.«

»Er zählt«, antwortete ich. »Wenn du mich fragst, solltest du schon allein für diesen Klingelton einen Strafbuchstaben bekommen.«

Sie nahm den Anruf nicht an. Ich warf von der Dreipunktlinie und erzielte einen Korb. Amy traf nicht, und wir standen punktgleich bei »H«. Ihr Telefon klingelte wieder und veranlasste ein paar von den Kids, die am anderen Ende des Feldes rumhingen, die Köpfe zu drehen. Wir spielten auf dem Gelände einer Grundschule nahe meiner Wohnung.

»Ich werde nicht gegen dich verlieren, Lincoln«, sagte Amy, als ich noch einen Korb erzielte. Sie ignorierte weiter das Telefon, das auf dem Boden hinter dem Korb lag, und irgendwann verstummte es. Nachdem sie sich einen langen Moment konzentriert hatte, warf sie und traf, wodurch ich gezwungen war, es erneut zu versuchen.

Ein paar Minuten lang trafen wir abwechselnd, und dann ging Amy mit einem Buchstaben in Führung. Da die Schwüle dieses Augusttages nicht so rasch verschwand wie die Sonne, kamen wir jetzt beide allmählich ins Schwitzen, während wir über den Platz liefen. In ihren Shorts, dem T-Shirt und mit den zu einem Pferdeschwanz zurückgebundenen Locken sah Amy aus wie ein Teenager. Ein paar Jungs, die vielleicht sechzehn waren, fuhren auf Skateboards vorbei und starrten sie lange anerkennend an.

»Dein Wurf«, sagte Amy, nachdem sie endlich einen danebengesetzt hatte. »Mach es spannend, bitte, ja?«

Ich dribbelte nach links und kam zurück nach rechts, drehte mich und landete mit einer Rückwärtsbewegung einen schönen Sprungwurf, wobei der Ball die Kante des Bretts traf und ins Aus segelte – ein Michael-Jordan-Spielzug mit Lincoln-Perry-Resultat.

»Selbst das Zusehen war schon peinlich«, sagte Amy.

»Auf der Highschool hab ich auf die Art sieben Spiele gewonnen, Klugscheißerin.«

»Echt?«

»Nein.«

Ihr Telefon begann wieder zu klingeln. Ich stöhnte auf.

»Jetzt geh’ einfach ran oder mach das verdammte Ding aus, Goldstück.«

»Okay.« Sie warf mir den Ball wieder zu und ging rüber, um das Telefon aufzuheben. Während sie sprach, trat ich hinter die Dreipunktlinie und warf noch ein paar Mal, aber die meisten Würfe gingen daneben.

Amy legte auf und kam zurück auf den Platz. Mit den Händen in den Hüften und abwesendem Blick stand sie da.

»Was ist los?«, fragte ich, während ich mit einer Hand gedankenverloren mit dem Ball dribbelte.

»Es war mein Herausgeber. Kommt grade ’ne große Geschichte ans Licht. Er wollte wissen, ob ich eine gute Quelle bei der Feuerwehr hätte.«

»Ach ja?«

»Betrifft dein altes Viertel«, sagte sie. »Hättest du nicht vielleicht Lust, mit mir hinzufahren und ein bisschen Reporter zu spielen? Möglicherweise könntest du mir ein, zwei gute Quellen besorgen.«

Ich lächelte. »Du bist viel zu spießig, um dich in meinem alten Viertel herumzutreiben, Goldstück.«

»Halt die Klappe.« Amy hält sich gern für knallhart und mit allen Wassern gewaschen, und sie kann es nicht ausstehen, wenn ich mich über ihre Kindheit in Parma, einem Mittelschichtvorort im Süden der Stadt, lustig mache. Ich selber war voll und ganz Westside.

»Worum geht’s?« Ich machte einen weiteren Sprungwurf und traf.

»Mord.«

»Das klingt wirklich ganz nach dem alten Viertel.« Ich holte mir den Ball und dribbelte mit dem Rücken zu Amy zurück zum oberen Ende des Freiwurfkreises.

»Irgendein Kerl hat unten in der Train Avenue ein Haus mit einer Frau drin angezündet. Aber der Blödmann wurde dabei gefilmt. Die Überwachungskamera von einem Wein- und Spirituosengeschäft auf der anderen Straßenseite, vermute ich. Als die Bullen ihn heute Abend verhaften wollten, setzte er sich zur Wehr und entwischte.«

»Weißt du noch, die Sirenen, die wir vorhin gehört haben?«, fragte ich.

»Das könnte der Grund dafür gewesen sein. Der Typ, der den Brand legte, wohnt oben in der Clark Avenue. Ich dachte, du wärst in der Nähe der Clark aufgewachsen.«

»Das stimmt.« Ich warf noch einmal. »Wie heißt der Typ?«

»Ed Gradduk.«

Der Ball prallte hart vom hinteren Rand ab und kam direkt auf mich zugehüpft. Ich ließ ihn vorbeispringen, ohne auch nur eine Hand auszustrecken. Er kullerte zum anderen Ende des Platzes, aber ich hielt den Blick auf Amy gerichtet.

»Ed Gradduk«, sagte ich.

»So hat mein Herausgeber den Namen ausgesprochen. Du kennst ihn?«

Die Sonne war jetzt vollständig hinter dem Schulgebäude verschwunden und der Platz in Schatten getaucht. Der Ball lag noch immer gut fünfzehn Meter hinter uns. Ich lief quer über das Spielfeld, hob ihn auf und brachte ihn zu Amy zurück. Sie beobachtete mich stirnrunzelnd.

»Geht’s dir gut?«

»Mir geht’s gut«, erwiderte ich. »Hör zu, es tut mir leid, aber ich muss weg. Betrachte es als Strafe, wenn du willst. Wir werden ein andermal ein Rückspiel machen.«

Sie nahm den Ball und sah mich missbilligend an. »Lincoln, was ist los? Kennst du diesen Kerl?«

Ich wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und blickte zur Seite, weg von dem orangefarbenen Sonnenuntergang und in Richtung der Schatten östlich von uns. In Richtung Clark Avenue.

»Ich kannte ihn. Und es tut mir leid, aber ich muss gehen, Goldstück.«

»Wohin gehen?«

»Ich muss einen Spaziergang machen, Amy.«

Sie wollte protestieren, mehr Fragen stellen, aber sie tat es nicht. Stattdessen blieb sie allein auf dem Basketballfeld zurück, während ich davonging. Ich lief um das Schulgebäude herum und nach draußen auf die Straße, stieg in meinen Pick-up und ließ den Motor an. Die Klimaanlage traf mich mit einem warmen Luftstoß. Ich schaltete sie aus und ließ dafür die Seitenfenster herunter. Es war stickig und heiß in dem Pick-up, aber das Schweißrinnsal, das mir den Rücken hinunterlief, war so kalt wie Seewasser.

 

Es ist Frühsommer. Ich bin zwölf Jahre alt, genauso alt wie Edward Nathaniel Gradduk, mein bester Freund. Wir verbringen diesen Abend, wie wir in diesem Sommer bis jetzt jeden Abend verbracht haben: Wir spielen Baseball in Eds Vorgarten. Der Garten ist schmal wie alle in der Clark Avenue, so dass wir mit unserem Spiel in der Auffahrt beginnen. Doch am Abend, als die Sonne hinter dem Haus und den Bäumen verschwindet, ziehen wir um in den Vorgarten, um die Sache zu verlängern. Beim Schein der Straßenlaterne können wir hier, wenn wir wollen, die ganze Nacht spielen. Der Ball ist schwer zu erkennen, man sieht ihn erst, wenn er unmittelbar vor einem auftaucht, aber wir haben beschlossen, dass das ein gutes Trainingselement ist, weil schnellere Reflexe gefragt sind. Wenn wir auf die Highschool kommen, werden wir die besten Reflexe von allen Jungs in der Gegend haben, und von dort bis in die obersten Spielklassen wird es nur noch ein Katzensprung sein. Die Highschool ist für uns in diesem Sommer als Möglichkeit ungefähr so realistisch wie die obersten Spielklassen; eine Traumwelt mit Führerscheinen und Autos und Mädchen mit Brüsten.

»Pete Rose ist ein wertloses Stück Scheiße«, sagt Ed und wirft mir den Ball mit einer ausholenden Armbewegung von der Seite zu. »Ist mir ist egal, wie viele Treffer er hat.«

»Verdammt richtig«, erwidere ich und werfe zurück.

Ed und ich sind Fans der Cleveland Indians, schreckliche Mannschaft hin oder her, und wenn man Cleveland Indians-Fan ist, dann kann man Pete Rose nicht ausstehen. Man kann ihn nicht ausstehen, weil er Starspieler in Cincinnati, ein paar Stunden südlich von hier, ist, aber vor allem kann man ihn nicht ausstehen, weil er vor mehr als einem Jahrzehnt bei einem Spitzenspiel mit vollem Tempo in Ray Fosse hineinrannte, und nach diesem Zusammenprall war Ray nie mehr der Alte. Dreißig Jahre nach der letzten Meisterschaft des Teams bedeutet ein Spieler wie Ray Fosse den Indians-Fans eine Menge. Er ist heute eine weitere Pleite, eine weitere vernichtete Hoffnung, aber immerhin haben wir die Genugtuung, sie Pete Rose in die Schuhe schieben zu können.

»Mein Dad meinte, er würde gern erleben, dass Pete Rose rauf nach Cleveland käme und in eine der Kneipen ginge«, sagt Ed. »Er meinte, er würde so schnell die Hucke vollkriegen, dass es nicht mal mehr spaßig wäre. Nur, weißt du, es wäre ja ’n Spaß. ’n richtiger Scheißmordsspaß.«

Irgendwie redet Ed genau wie sein Alter, was die ständigen Kraftausdrücke erklärt. Mein eigener Dad würde mir eine runterhauen, wenn er mich jemals so fluchen hörte, wie wir es tun, aber wenn ich bei Ed bin, ist es ungefährlich. Sogar cool. Wir sind schon ein paar knallharte Jungs.

»Verdammt richtig«, sage ich wieder. Der ultimative Knallharte-Jungs-Ausdruck. »Ich wollte, ich könnte dabei sein, um es zu erleben.«

»Pete wird niemals in die Stadt kommen«, sagt Ed. »Hat nicht den Mumm.«

Ed wohnt in der Clark Avenue, und ich wohne bei meinem Vater in einem kleinen Haus in der Frontier Avenue, genau südlich der Clark. Unsere Streifzüge führen uns nach Osten bis zur Fulton Road, und einer unserer Lieblingsplätze ist der St. Mary’s Friedhof an der 38. West. Manchmal rennen Ed und ich nachts über den Friedhof und erzählen uns Gespenstergeschichten, die scheinbar abgedroschen anfangen, uns am Schluss aber regelmäßig veranlassen, nach Hause zu flitzen. Eds Mutter ist immer zu Hause; meine Mutter starb, als ich drei Jahre alt war. Ich habe ein gerahmtes Bild von ihr auf dem Tisch neben meinem Bett stehen. Als Ed es das erste Mal sah, runzelte er die Stirn und fragte, warum ich ein Bild von meiner Mutter in meinem Zimmer hätte. Ich erzählte ihm, dass sie tot sei, wobei ich vor Scham und Wut gleichermaßen rot wurde – ich schämte mich, dass es mir peinlich war, das Bild offen stehen zu haben, und ich war wütend, dass Ed meine Scham herausforderte. Er blickte es verständnisvoll an, berührte mit einem Finger behutsam die Kante des Rahmens und sagte: »Sie war wirklich hübsch.« Fortan war Ed Gradduk mein bester Freund.

Mein Dad ist jetzt zu Hause, wahrscheinlich schläft er in seinem Sessel, während im Fernsehen oder Radio das Indians-Spiel läuft, je nachdem, wer die Partie heute Abend überträgt. Wir haben kein Kabel, also hören wir uns viele Spiele noch immer im Radio an. Ich darf bei Ed sein, weil seine Mutter zu Hause ist, Eds Vater ist vermutlich unten im Hideaway, spielt Karten und trinkt Bier. Vielleicht kommt er bald nach Hause, wirft mit uns eine Weile den Ball hin und her und erzählt Witze, oder vielleicht kommt er gar nicht nach Hause. Ed tut immer so, als sei es ihm egal, wenn sein Dad um die Zeit, wo wir ins Bett gehen, noch nicht aufgekreuzt ist, aber er wird so lange, bis er einschläft, abwechselnd auf die Uhr und auf die Straße blicken.

»Pretty Boy Pete Rose«, singt Ed, trabt zurück, bis er auf dem Bürgersteig ist, und donnert den Ball so hart in meine Richtung, dass ich einen Schritt zurücktrete und meinen Handschuh mit beiden Händen hochhalte, wobei ich mir albern vorkomme, aber dankbar bin, dass ich das verdammte Ding sehen kann, bevor es mir die Nase plattdrückt.

»Ist schwieriger als sonst heute Abend«, sagt Ed angesichts der Katastrophe, die er beinahe verursacht hätte. Er deutet himmelwärts. »Eine von den Straßenlaternen ist durchgebrannt.«

»Willst du reingehen?«, frage ich.

Er blickt mich mürrisch an. »Nee, so früh will ich noch nicht rein.«

Ich werfe den Ball zwischen Fanghandschuh und anderer Hand hin und her und warte, dass er sich entscheidet. Er scharrt mit seinem Turnschuh über den Boden und betrachtet nachdenklich die Garage.

»Weißt du noch, wie mein Dad das Haus gestrichen hat?«, fragt er. Als ich nicke, sagte er: »Na ja, er konnte es erst machen, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, und da war es schon fast dunkel. Also kaufte er einen Scheinwerfer, um besser sehen zu können.«

»Hast du ihn noch?«

»Ja. Er hat ihn nie wirklich benutzt, meinte, die Farbe sähe tagsüber immer anders aus, und das kotzte ihn an. Aber ich glaube, die Lampe hat er aufgehoben.«

»Komm, wir bringen sie hier raus, vielleicht können wir sogar genug erkennen, um Flatterbälle zu treffen«, sage ich, und mein Vorschlag gefällt mir. »Das wäre so, als würden wir abends bei Flutlicht im Stadion spielen.«

»Also dann.« Ed lässt seinen Fanghandschuh auf den Boden fallen und setzt sich zu der Einzelgarage in Bewegung, die hinter dem Haus liegt. Ich folge ihm.

Früher war ein Scheinwerfer an der Garage angebracht gewesen, aber der ist ebenfalls kaputt. Das Schwingtor ist geschlossen, so dass wir durch die Seitentür hineingehen müssen. Ed läuft einen Schritt vor mir, aber trotzdem kann ich das Benzin in dem Moment riechen, als er die Tür aufmacht. Die meisten alten Garagen haben einen Benzingeruch an sich, aber dieser Geruch hier ist anders, einfach ein bisschen zu stark. Und es läuft Musik – Van Morrison singt »Into the Mystic«.

Ed tastet an der Wand nach dem Lichtschalter, ohne den Geruch wahrzunehmen. Er kann den Schalter nicht finden, da er mit den kurzen Armen eines Zwölfjährigen greift, also geht er weiter hinein in die Garage. Ich gehe mit ihm und befinde mich jetzt im Innern des feuchten kleinen Baus. Der Benzingeruch ist nach wie vor durchdringend. Ich trage noch immer meinen Fanghandschuh, aber jetzt streife ich ihn ab und lasse ihn auf den Betonboden fallen. Mit der rechten Hand umklammere ich krampfhaft den Baseball, den Arm halte ich hinter dem Rücken. Zwar hatte ich nie Angst vor der Dunkelheit, aber aus irgendeinem Grund möchte ich raus aus dieser Garage.

»Ich kann den verdammten Schalter nicht finden«, murmelt Ed neben mir, und dann hört man ein leises Klicken, und der kleine Raum füllt sich mit grellem, weißem Licht. Für eine Sekunde ist es zu grell, und ich schließe die Augen. Ich habe sie noch geschlossen, als ich höre, wie Ed zu schreien anfängt.

Ich reiße die Augen auf und stolpere einen Schritt rückwärts. Ich versuche, aus der Garage herauszukommen, und denke, dass ein Angreifer drin ist, irgendetwas Bedrohliches, und dass Ed deshalb so schreit. Aber ich stoße mit dem Rücken gegen die Wand, und in der zusätzlichen Sekunde, die ich in der Garage aufgehalten werde, erfassen meine Augen endlich die Szene.

Der Chevy Nova von Eds Vater steht in der Garage. Das Fahrerfenster ist heruntergekurbelt, und auf dem Türrahmen ruht Norm Gradduks Kopf. Sein Gesicht ist zur Decke gerichtet, seine Haut geschwollen und unnatürlich. Selbst für ein Kind genügt ein einziger Blick, um zu sehen, dass er tot ist.

Ed stürzt auf das Auto zu und kreischt in einer hohen Tonlage, die ich ihm gar nicht zugetraut hätte. Er streckt seinem Vater die Arme entgegen und zieht sie dann sofort wieder zurück. Er will ihm helfen, hat aber Angst, ihn zu berühren.

»Wir müssen jemanden rufen«, sage ich, und meine eigene Stimme zittert. Trotz des heftigen Verlangens, so weit wie möglich von dem Anblick wegzukommen, trete ich näher an den Wagen heran und kann jetzt ins Innere blicken. Eine Flasche Schnaps liegt in Norm Gradduks Schoß. Er hält sie immer noch mit einer Hand umschlossen. Aus der Stereoanlage tönt die Stimme von Van Morrison, der von einem tutenden Nebelhorn singt: »I want to hear it, I don’t have to fear it …«

Ed dreht sich um und rennt an mir vorbei zur Tür hinaus und in den Garten. Er schreit noch immer, und nach einem weiteren Blick auf Norm Gradduk fange auch ich an zu brüllen. Drinnen im Haus schreit Eds Mutter, wir sollen nicht so laut sein.

Die Sanitäter brauchen sieben Minuten, bis sie da sind, und ungefähr siebzig Sekunden, um Ed und seiner Mutter zu sagen, dass sie nichts mehr tun können.

Kapitel 2

Ich kannte das Haus noch, obwohl ich seit Jahren nicht drin gewesen war. Die Neuigkeit, dass Ed das Zuhause seiner Kindheit gekauft hatte, erzählte mir später jemand. Zwar konnte ich mich nicht mehr erinnern, wer es gewesen war, aber ich entsann mich, davon gehört zu haben. Das Haus war nie ein Schmuckstück gewesen – das war kein Haus in unserem Viertel –, aber als Eds Dad noch lebte, war es das Beste in der Straße gewesen, mit Abstand. Er hatte Stunden darauf verwendet, hatte gestrichen und repariert und Unkraut gejätet. Mein eigener Vater war immer schwer beeindruckt gewesen und hatte mir viele Male erzählt, dass Norm Gradduk zwar seine Fehler gehabt habe, aber immer stolz auf sein Haus gewesen sei, und dass es nicht mehr genug Männer in der Gegend gebe, die das noch wären.

Es war offensichtlich, dass Ed vorhatte, es seinem Vater gleichzutun. Das Haus sah schlimm aus, mit einem durchhängenden Verandadach, einem zerbrochenen Fenster im zweiten Stock und Farbe, die längst vergessen hatte, ob sie einmal blassgelb oder weiß gewesen war, und sich irgendwann für Schmutziggrau entschieden hatte. Aber es lehnte eine Leiter an der Westseite des Hauses, und es war klar, dass derjenige, der die Idee gehabt hatte, einen frischen Anstrich aufzutragen, dabei gewesen war, die abblätternde Farbe von dieser Wand abzukratzen. Ein Stapel weggeworfener Holzreste in der Nähe der Veranda ließ auf frisch verlegte Bodenbretter schließen. Kein Zweifel, das Verandadach stand als Nächstes auf der Liste.

Weder in der Auffahrt noch vor dem Haus standen bei meinem Eintreffen Polizeiwagen, aber zwei Blocks weiter unten parkte einen schwarzer Crown Victoria. Sie würden die ganze Nacht dort stehen und auf eine Rückkehr warten, die mit Sicherheit nicht stattfände. Ich parkte meinen Pick-up ihnen gegenüber, und dann ging ich durch den Garten und die Stufen hoch. Vielleicht wäre jemand zu Hause. Eine Freundin oder Mitbewohnerin. Verdammt, soweit ich wusste, konnte er inzwischen verheiratet sein.

Meine Schritte waren laut auf der neuen Veranda. Ich stand da und sah mich einen Augenblick lang um, versunken in Erinnerungen, und als mich jemand aus dem Innern des Hauses anschrie, wäre ich beinahe rückwärts von der Veranda gefallen.

»Verschwinden Sie, verschwinden Sie, verschwinden Sie«, kreischte eine Frauenstimme. »Ich hab euch dreckigen Scheißkerlen gesagt, ihr sollt verschwinden!«

Ich wollte den Befehl schon beherzigen, aber dann rüttelte die Stimme etwas in meiner Erinnerung wach, und ich blieb stehen und drehte mich zu der geschlossenen Eingangstür um.

»Mrs. Gradduk, ich bin’s, Lincoln Perry«, sagte ich mit lauter Stimme.

Auf der Straße fuhren Autos vorbei, und einige Blocks weiter unten schrien und lachten ein paar Kids, Musik-Bässe hämmerten im Hintergrund, offenbar kam gerade eine Party in Gang. Die Straßenlaterne flackerte und summte, und ich stand mit den Händen in den Taschen da und wartete. Ich wartete, bis ich sicher war, dass sie nicht an die Tür kommen würde, und dann streckte ich den Arm aus und klopfte. Ich hatte kaum mit den Knöcheln das Holz berührt, als die Tür aufflog und eine magere Frau mit tief in die Höhlen eingesunkenen Augen und zerfurchtem Gesicht vor mir stand.

»Du Dreckskerl«, sagte sie. Ihre Stimme war so dünn wie sie selbst. Man konnte sie gut hören, aber sie schien immer kurz davor zu sein, zu brechen oder vielleicht völlig zu verschwinden. Wer diese Frau nicht kannte, würde eine solche Stimme unwillkürlich mit hohem Alter oder lebenslangem Zigarettenkonsum in Verbindung bringen. Aber ich wusste, dass ihre Stimme immer schon so gewesen war und dass sie nie geraucht hatte. Ihre Hand ruhte auf dem Türknauf, und ihr Unterarm und Handgelenk waren so extrem dünn, dass ich an hungernde Kinder in Afrika und Schwarzweiß-Filmmaterial über Holocaust-Konzentrationslager denken musste. Ihre Haut hing genauso von den spitzen, kantigen Knochen herab wie ihr ärmelloses Kleid, zerknittert, gekräuselt und zerknautscht. Ihr einst blondes Haar war heute grau, die Spitzen waren kaputt und völlig verfilzt. Wenn man sie ansah, fiel es schwer zu glauben, dass sie einmal eine schöne Frau gewesen war. Nicht dass viele Jahre vergangen waren, aber es schien, als sei sie mit jedem einzelnen Jahr, das auf dem Kalender verstrichen war, um zehn Jahre gealtert.

»Guten Abend Mrs. Gradduk«, sagte ich. Guten Abend. Als ob ich mal eben auf ein Glas Limonade und die Aussicht auf einen Plausch über das Wetter und die Kinder vorbeigekommen wäre.

Ihre Hand schloss sich fester um den Türknauf, und ich konnte nicht anders, als darauf zu starren und zu warten, dass die Knochen splitterten.

»Was zum Teufel glaubst du, hast du hier verloren?«

Eine gute Frage. Den Blick auf die frischen Bretter unter meinen Füßen gerichtet, leckte ich meine trockenen Lippen und fuhr mir mit einer Hand durch die Haare.

»Nun?«, sagte sie.

»Ich wusste nicht, dass Sie auch hier wohnen«, erwiderte ich, bloß um das Schweigen mit irgendetwas zu füllen.

»Ich hab gefragt, was du willst.«

Ich richtete mich auf und sah ihr wieder direkt in die Augen. »Ich glaube, ich würde gern Ed finden. Vielleicht kann ich … vielleicht kann ich ihm helfen.«

»Ihm helfen? Ihm helfen?« Sie machte einen halben Schritt nach draußen auf den Treppenabsatz und blickte mit vor Abscheu verzogenem Mund zu mir hoch. »Du bist doch derjenige, der dafür verantwortlich ist. Er hat einen einzigen Fehler gemacht, und dann hast du ihn zugrunde gerichtet. Er war danach nie mehr der Alte.«

»Das ist lange her«, sagte ich. »Ich kann es nicht mehr ungeschehen machen. Aber wie ich höre, steckt Ed jetzt in ziemlichen Schwierigkeiten. Ich würde ihn gern finden.«

Sie lehnte sich zurück und starrte mich an. »Hast du in den letzten zehn Jahren überhaupt mal mit ihm geredet?«

Zehn Jahre waren es nicht, aber mit ihm geredet hatte ich auch nicht. Ich antwortete nicht und stand bloß linkisch vor einer Frau, die früher Plätzchen für mich gebacken hatte und mich nun ansah, als würde sie am liebsten ihre Zähne in mich versenken und mir Gift in die Adern spritzen.

»Was zum Teufel glaubst du, kannst du ausrichten, du Arschloch?«, sagte sie, und ich war betroffen von ihrer Ausdrucksweise, dem Schwall von Flüchen. Ich konnte mich nicht erinnern, Alberta Gradduk in all den Jahren, in denen ich sie gekannt hatte, ein einziges Mal fluchen gehört zu haben. »Die Polizei hat alles auf Band. Er war’s nämlich. Er hat dieses Feuer gelegt und dieses Mädchen verbrannt. Und willst du wissen, warum er es getan hat?«

Ich antwortete nicht.

»Weil genau das aus ihm geworden ist, nachdem du dich von ihm abgewandt hattest. Er hat einen Fehler gemacht. Menschen machen nun mal Fehler. Und du solltest eigentlich sein Freund sein. Sein bester Freund.«

»Ich hab getan, was von mir verlangt wurde, Mrs. Gradduk. Ich hatte einen Eid geschworen, und der galt auch, wenn es um Freunde ging.«

»Was glaubst du, kannst du jetzt ausrichten?«, fragte sie, und obwohl noch immer Feindseligkeit in ihrer Stimme lag, war da auch ein Hauch von Hoffnung, wie vage er auch immer sein mochte.

»Ich weiß es nicht.« Unten an der Straße wurden die Schreie und die Musik lauter, die Party kam in Fahrt. Ich warf einen Blick auf den Crown Victoria, sah aber nur die Widerspiegelung der Straßenlaterne in der getönten Windschutzscheibe und blickte dann wieder Ed Gradduks Mutter an.

»Ich kenne Anwälte, und ich kenne die Polizei«, sagte ich. »Ich bin jetzt Detektiv. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, aber eines weiß ich, dass er sich nur noch mehr schadet, wenn er wegläuft. Er muss sich stellen und zusehen, dass er juristischen Beistand bekommt und dass ein paar Leute hinter ihm stehen. Und dabei kann ich ihm helfen. Im Moment bringt er sich nur noch mehr in Schwierigkeiten.«

»Und darin bist du ja Experte, ihn in Schwierigkeiten zu bringen.«

»Hören Sie«, fing ich an, aber sie blieb hart.

»Mach dass du von meinem Haus wegkommst«, sagte sie, während sie hineinging. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass sie barfuß war. Die Adern an ihren bleichen Füßen hoben sich überdeutlich, dick und violett von der Haut ab.

»Ich kann ihm helfen, wenn ich ihn finden kann«, sagte ich, und irgendwie glaubte ich daran, obwohl ich keinen Grund dazu hatte. »Wohin würde er gehen, Mrs. Gradduk?«

Aber da schloss sie schon die Tür hinter sich, und im Zufallen klirrte die alte Fensterscheibe. Ich hörte, wie der Rollriegel zuschnappte und die Sicherheitskette an ihren Platz glitt. Einen kurzen Moment lang war ich drauf und dran, mich zurückzulehnen, meinen Fuß gegen die Tür zu rammen und so lange dagegenzutreten, bis sie auf war und ich die verrückte alte Hexe schnappen und schütteln und ihr sagen konnte, dass es nicht mein Fehler sei, nie mein Fehler gewesen war, dass Ed Mist gebaut hatte und mir nichts anderes übrig geblieben war, als derjenige zu sein, der ihn zur Rechenschaft zog. Aber es ist schwer, diese Art von Wut und Überzeugung wegen etwas aufzubringen, wovon man selber nicht hundertprozentig überzeugt ist. Ich drehte mich um und ging die Stufen hinunter.

 

Sein engster Freund war Scott Draper. Früher war ich es gewesen, aber das lag lange zurück, und Draper war weiter in Eds Leben präsent gewesen, ich hingegen nicht. Mindestens vier Jahre waren vergangen, seit ich Draper zuletzt gesehen hatte, aber er würde leicht zu finden sein. Das Hideaway in der Clark Avenue gehörte seit drei Generationen seiner Familie, und sofern das Gebäude nicht um ihn herum zusammengebrochen war, würde ich ihn dort finden.

Um hinzukommen, musste ich die Straße runter nach Westen laufen, vorbei an dem Crown Vic, der dort immer noch parkte. Ich war etwa drei Meter von dem Wagen entfernt, als ich das leise Surren eines elektrischen Fensterhebers hörte, und eine schleppende Stimme sagte: »Wie läuft’s, Partner?«

»Bestens«, erwiderte ich und ging vorbei, aber da öffnete sich die Tür, und einer der Insassen des Wagens trat heraus auf den Bürgersteig. Ich blieb stehen und erblickte einen Bullen, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Falls er mich kannte, zeigte er es nicht.

»Netter Abend, was?«, sagte er und lehnte sich an den Wagen. Ich warf einen Blick ins Fahrzeuginnere und versuchte, das Gesicht seines Kumpels auf dem Beifahrersitz zu erkennen, aber es war zu dunkel.

»Netter Abend«, erwiderte ich und wollte einen Bogen um ihn machen und meinen Weg fortzusetzen. Doch er trat mir entgegen und zwang mich so, erneut stehen zu bleiben.

»Was dagegen, wenn ich frage, was Sie von Mrs. Gradduk wollten?« Er war so groß, dass ich zu ihm aufschauen musste, und ich starrte in ein unbewegliches Gesicht mit einem hartem, missmutigen Ausdruck, aus dem mich dunkelbraune Augen kalt musterten. Aber es waren nicht die Augen, die meine Aufmerksamkeit erregten, sondern seine Nase. Sie war geschwollen und violett, der Nasenrücken unter der Schwellung war schief, und die Verfärbung reichte bis zu den Augenhöhlen. Jemand hatte ihm erst kürzlich die Nase gebrochen. Wahrscheinlich Ed Gradduk, wenn Amys Informationen über seine Auseinandersetzung mit der Polizei zutrafen.

»Wollte ihr mein Mitgefühl aussprechen«, erwiderte ich. »Hörte, ihr Sohn hatte heute ’ne Pechsträhne.«

»Oder hat eine losgetreten«, sagte der Bulle. »Was hat er mit Ihnen zu schaffen?«

»Ich bin sein Priester«, sagte ich und trat ein weiteres Mal einen Schritt zurück. Er streckte die Hand aus und legte sie mir auf den Arm, aber ich machte mich los und ging weiter.

Ich hätte anhalten und mit ihm reden sollen. Ich hätte die Situation so erklären sollen, wie sie war, hätte ihm erzählen sollen, dass ich ein alter Freund sei, den schlimme Erinnerungen plagten und der keinen Schimmer habe, was ihn hierher treibe. Ich hätte ihm erzählen sollen, dass ich selber mal Bulle gewesen war, und vielleicht hätte jeder von uns ein paar Geschichten über lange Nächte beim Überwachungsdienst zum Besten gegeben. Doch alles an dem Abend war plötzlich surreal geworden, verworren und seltsam. Und obwohl ich mir sagte, ich müsste eigentlich stehen bleiben und die Situation klären, machte ich stattdessen größere Schritte und entfernte mich. Er folgte mir nicht.

Ich ging auf der Clark noch mehrere Blocks in westlicher Richtung, vorbei am Clark-Freizeitzentrum, einem alten Backsteinbau, der um die Jahrhundertwende ein Badehaus gewesen war und nun seit Jahrzehnten als Freizeitzentrum diente. Ich erinnerte mich an viele wilde Basketballspiele, die wir auf dem kleinen Innenhof ausgetragen hatten, während eine Handvoll Zuschauer von der umlaufenden Brüstung in der ersten Etage aus zugesehen hatte. Heute Abend hockte eine Gruppe junger Latinos auf den Stufen und sah zu, wie ich vorbeiging. Die spanischstämmigen und puerto-ricanischen Bevölkerungsgruppen bekamen jetzt ein immer stärkeres Gewicht im Viertel, aber Veränderungen hatte es auch schon in meiner Kindheit und Jugend gegeben. Neben der Stelle, wo die Kids hockten, lag ein unbebautes Grundstück. Dort, wo einst ein Haus gestanden hatte, war nur noch ein Betonsockel übrig. Ich erinnerte mich an das Haus, und beim Anblick des unbebauten Grundstücks fühlte ich mich sehr viel älter, als ich tatsächlich war.

Das Hideaway lag unmittelbar westlich des Freizeitzentrums, versteckt in einem schmalen Gebäude mit abbröckelnder Ziegelfassade und einem Werbeschild für Bier im Fenster. Auf dem rissigen Bürgersteig stehend, zögerte ich einen Moment und blickte an dem vertrauten Gebäude empor. Dies war der erste Laden, wo man mir ein Bier serviert hatte. Ich war vierzehn gewesen – was der Barkeeper sehr wohl gewusst hatte –, und Ed und ich hatten mit den Flaschenhälsen angestoßen, bevor ich den Inhalt meiner Flasche hinunterkippte. Budweiser, was sonst. Das will man trinken, wenn man vierzehn ist. Schließlich muss es einen Grund geben, warum es »König der Biere« heißt, richtig? Ich hatte als Jugendlicher unzählige Stunden in dem Laden verbracht, und das Innere des Lokals war mir so gegenwärtig wie mein altes Zuhause. Im Obergeschoss gab es einen Lagerraum und einen Speicher, aber die Fenster dort waren heute Abend dunkel. Das Geschäft nebenan, was auch immer es gewesen war, war verschwunden, der Platz jetzt leer. Ich ging die Stufen hoch und betrat das Lokal.

Der Raum wirkte lang und schmal, beengte Sitzecken säumten die Wände, und Zigarettenrauch hing in der Luft. An der hinteren Wand stand neben einem Münzfernsprecher eine kaputte Jukebox. Das hier war der Speiseraum, und obwohl ich mich an einige Sitzecken als Dauerquartiere ortsansässiger Schluckspechte erinnern konnte, glaube ich nicht, dass hier jemals irgendjemand groß gegessen hätte. Ein Hideaway-Cheeseburger galt als echtes Gesundheitsrisiko, und das Beefsteak war nur etwas für Dummköpfe oder Selbstmordkandidaten. Immerhin kriegte man ein gut gezapftes Bud oder PBR oder ein volles Glas Jack Daniels, und das war alles, was irgendjemand hier normalerweise brauchte.

Durch die Tür zu meiner Linken kam man in die Bar, die aus einer langen Eichenholztheke und einer Reihe vinylbezogener Hocker bestand, ganz so, wie eine Bar sein soll. Hinter dem Tresen beherbergte eine riesige Regaleinheit Flaschen mit Spirituosen, die vor einem langen Spiegel aufgereiht standen, und am Ende der Theke standen zwei Pool-Tische. Beide wurden gerade benutzt, und nur eine Handvoll der Barhocker war besetzt. Ein weißer Jüngling in ärmellosem Hemd und mit einer Art Rodelmütze auf dem Kopf bediente an der Bar. Es war Sommer, und er trug eine Rodelmütze. Krass.

»Was kann ich Ihnen bringen?«, sagte er.

»Deinen Boss«, gab ich zurück, und er runzelte die Stirn.

»Wie bitte?«

»Gehört der Laden noch immer Scott Draper?«

Er nickte langsam. »Hm.«

»Na schön, dann geh ihn holen.«

Der Kommandoton in meiner Stimme gefiel ihm nicht, aber er reagierte wie gewünscht, kam hinter dem Tresen hervor und marschierte auf die Stufen an der Rückseite des Gebäudes zu. Auf der ersten Stufe hielt er inne und blickte sich noch einmal zu mir um.

»Wer will ihn sprechen?«

»Lincoln Perry.« Die Typen an der Bar verfolgten den Wortwechsel, aber mein Name schien ihnen nichts zu sagen. Es war eine Weile her, seit ich das letzte Mal Zeit im Hideaway verbracht hatte.

Der Jüngling latschte die Treppe hoch, und ich machte es mir auf einem Barhocker mit aufgeplatztem Vinylbezug bequem. Im Fernseher über der Bar lief das Spiel der Indians. Die Mannschaft lag in der zweiten Hälfte der siebten Partie zwei Punkte zurück. Der erste Wurf war niedrig und weit daneben. Zweiter Wurf, selbe Stelle, selbes Ergebnis. Der dritte Wurf, ein Fastball, ging ab durch die Mitte, aber keine Reaktion vom Gegner, also dritter Schlagfehler.

»Lincoln.«

Ich blickte über die Schulter. Scott Draper war noch so, wie ich ihn in Erinnerung hatte – groß, dick und glatzköpfig. Er war von Natur aus muskulös, und soviel ich wusste, hatte er in seinem ganzen Leben noch keinen Fuß in ein Sportstudio gesetzt, aber wenn er wollte, konnte er wahrscheinlich einen Honda stemmen. Seit unserer Jugendzeit rasierte er sich den Schädel.

»Lange her, Kumpel«, sagte er und streckte mir die Hand entgegen. Seine Stimme klang herzlich, aber seine Augen zeigten irgendwie keine Regung.

»In der Tat«, erwiderte ich, während ich ihm die Hand schüttelte, wobei ich seine Handfläche rauh und schwielig an meiner spürte. »Schön zu sehen, dass du den Laden am Laufen gehalten hast.«

»Hätte vor ’nem Jahr dichtgemacht, aber ich konnte diese Säufer nicht davon überzeugen heimzugehen«, sagte er laut. Die Männer neben mir lachten, einer von ihnen zeigte Draper den Stinkefinger. Stammkunden.

Ich lächelte gezwungen und sagte dann: »Schon gehört von Ed?«

Er ließ seinen Blick einen Moment auf meinem Gesicht ruhen, dann blickte er zu dem Fernseher hoch, wo gerade eine Bierwerbung lief, und griff sich eine Schachtel Zigaretten, die auf dem Tresen lag. Ich glaubte nicht, dass es seine eigenen waren, aber niemand sagte etwas. Er nahm eine heraus, lieh sich Feuer von einem der Typen an der Bar und zündete sie an.

»Hab’s gehört«, erwiderte er, als er den ersten Zug gemacht hatte.

»Es klingt nicht gut«, sagte ich.

Er schüttelte den Kopf und blies Rauch in meine Richtung. »Nicht gut. Irgend ’ne ernste Sache, wie man’s auch dreht. Mord plus Brandstiftung, aber wen kümmert das jetzt noch?«

Ich nickte. »Schon Bullen hiergehabt?«

»Eigentlich noch nicht lange her. Ham ’ne Menge Fragen gestellt. Hab ihnen gesagt, wo sie sich’s hinstecken sollen, haben ’n bisschen Tamtam gemacht wegen der Gebäudeinspektionen und Ausschanklizenzen, du weißt schon, wollten ’n bisschen streng sein deswegen. Dann sind sie abgezogen.«

»Sie haben ihn ausfindig gemacht, und er ist ihnen entwischt, so hab ich’s gehört.«

»Ja, so wird’s erzählt.« Er richtete den Blick wieder auf den Fernseher. Nach einem kurzen Moment des Schweigens sah er mich plötzlich wieder an. »Und was hat das Ganze mit dir zu tun, Perry?«

»Einen Scheißdreck.«

»Aber du bist hier?«

Ich nickte. »Dachte mir, ich könnte ihm vielleicht aus der Patsche helfen, wenn ich ihn auftreibe.«

Er runzelte belustigt die Stirn. »Ihm helfen?«

Ich war mir nicht sicher, ob ihn die Vorstellung amüsierte, dass ich versuchen wollte, Ed zu helfen, oder dass ich glaubte, es zu können.

»Ich weiß nicht, wie«, sagte ich. »Aber er tut sich keinen Gefallen damit, wenn er sich so davonstiehlt. Irgendwann kriegen sie ihn, und dann wird alles nur noch schlimmer.«

Das Spiel lief wieder und nahm erneut die Aufmerksamkeit der Trinker an der Bar in Anspruch, so dass wir inmitten der Gruppe ungestört reden konnten. Draper machte seine Zigarette aus und sah mich missbilligend an.

»Du hast kein Wort mit ihm gesprochen all die Jahre, nicht?«

Ich schüttelte den Kopf. »Hab’s einmal versucht«, entgegnete ich, und dann, nach kurzem Schweigen, »aber nicht sehr energisch.«

»Und trotzdem fährst du hier raus, sobald du von diesem Mist erfährst? Meinst dich reinhängen zu müssen?«

Ich verstand seine Zweifel, weil ich sie ebenfalls verspürte. Aber ich konnte nur nicken.

»Nun, ich schätze, da hast du ’ne verdammt heikle Sache vor dir, Lincoln«, sagte er. »Aber ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Ich weiß nicht, wo er steckt. Wenn er aufkreuzt, werd ich ihm dasselbe sagen, was du ihm sagen wolltest – er soll gehen und sich der Polizei stellen.«

»Wenn irgendjemand in Kontakt mit ihm treten kann, Scott, dann bist du es. Ich will mit ihm reden.«

Er hielt den Blick weiter auf den Fernseher gerichtet, aber ich konnte sehen, wie sich die Muskeln in seiner Brust und seinen Schultern spannten.

»Hör zu«, sagte er, »du weißt schon, was ich von der Art und Weise halte, wie du Ed verarscht hast, um deiner Karriere auf die Sprünge zu helfen. Aber seitdem hast du dich von dem Viertel und von meinem Lokal ferngehalten, und, Scheiße, wir waren mal Freunde. Deswegen dachte ich, ich tue mein Möglichstes, um freundlich zu sein, als du hier aufgekreuzt bist. Aber du machst es einem verdammt schwer, Lincoln.«

»Ich weiß deine Freundlichkeitsoffensive zu schätzen«, erwiderte ich, »auch wenn sie noch so schlecht ausgeführt war.«

»Bitte, mach dich nicht …«, begann er, aber noch bevor er den Satz vollenden konnte, kam Ed Gradduk die Treppe hinunter, die nach oben auf den Speicher führte, und drängte sich an dem Pulk von Leuten neben dem Pool-Tisch vorbei.

Kapitel 3

Ich beobachtete, wie Ed auf uns zu kam, und als Draper mein Gesicht sah, drehte er sich um und fluchte leise vor sich hin.

Ed trug Jeans und ein weißes T-Shirt. Auf dem Hemd war Blut, und über seinem rechten Auge klaffte eine üble Schnittwunde. Seine Haare waren zerzaust und lang, und das Gesicht darunter war braun und glatt. Noch keine dreißig und mit der Aussicht auf lebenslänglich, wenn die Geschworenen sich zurückhielten.

»Ein Freund in der Klemme«, rief er, während er näher kam. Es bedurfte bloß dieser vier gelallten Worte und ich wusste, dass er besoffen war. »Was bringt mir das, Lincoln? Ich bin in der Klemme, Alter, das ist verdammt mal sicher. Aber du ein Freund? Scheiße.«

Draper streckte die Hand aus, packte Ed an der Schulter und versuchte ihn umzudrehen und wieder die Stufen hochzubugsieren, aber Ed schüttelte ihn ab. Seine Bewegungen und Sprechweise zeigten, dass er betrunken war, aber seine blauen Augen waren klar und stechend. Als wir klein gewesen waren, hatten die Leute uns aufgrund derselben dunkelblonden Haare und hellblauen Augen gewöhnlich für Brüder gehalten.

»Was tust du hier?«, fragte er.

»Ich hab gehört, du hattest ein bisschen Ärger.«

»Ein bisschen Ärger? Menschenskind, willst du mich verarschen? Ein bisschen Ärger?« Er blickte Draper an und lachte heftig, aber Scott zeigte nicht die Spur eines Lächelns. Er blickte auf die Tür und dachte wahrscheinlich, dass jeden Moment ein Bulle reinspazieren könnte, dass vielleicht einer von der Straße aus das Lokal beobachtete.

»Er braucht ein paar Stunden, um wieder zu sich kommen«, sagte Draper an meine Adresse, während seine Augen weiter auf die Tür geheftet waren. »Müsste wieder klar im Kopf werden, ausnüchtern und sich beruhigen. Vielleicht ’n Anwalt anrufen, vielleicht sich ’n Auto schnappen und die Kurve kratzen.« Drapers Blick schnellte zu mir zurück, und seine Augen waren jetzt hart und unfreundlich. »Ich werde nicht anrufen, Lincoln. Hab’s nicht getan, als er aufgekreuzt ist, und werd’s auch jetzt nicht tun.«

»Niemand macht jetzt schon irgendwelche Anrufe«, sagte ich. Ed beobachtete mich mit einem anzüglichen Grinsen und schwankte wie ein Matrose an Bord eines schaukelnden Schiffes.

»Was zum Teufel tust du hier?«, sagte er, und in seiner Stimme lag Verwunderung und nicht Ärger. »Ich meine, verdammt, Lincoln. Du musst einfach dabei sein, wenn ich eingelocht werde, was? Musst es genießen, es auskosten?«

Ich erwiderte seinen Blick, und ich wartete auf meine eigene Antwort, wartete darauf, dass die Wörter sich zu etwas formten, das zu ihm durchdrang, ihm sagte, wie es für mich gewesen war, ihm sagte, warum ich es hatte tun müssen. Doch die Wörter kamen nicht. Nachdem ich acht Jahre auf sie gewartet hatte, brauchte es mich eigentlich auch nicht zu wundern.

»Viel Glück, Ed«, sagte ich zu ihm. Dann drehte ich mich um und ging auf die Tür zu.

Er folgte mir, und als Draper versuchte, ihn zurückzuhalten, sagte Ed ihm, er solle, verdammt noch mal, drinbleiben. Ich stieß die Tür auf und trat hinaus in die kühle Luft. Während ich mit hängenden Armen und den Blick auf den Boden gerichtet auf dem Bürgersteig stand, gesellte Ed sich zu mir. Er holte eine Zigarette heraus und zündete sie an, dann standen wir zusammen schweigend da. Er roch stark nach Alkohol, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er jetzt nüchtern im Kopf war.

»In Ohio richten sie einen Typen wegen Mord hin, nicht wahr?«, sagte er.

»Manchmal.«

Er nickte und rauchte ein bisschen weiter.

»Manchmal tun sie’s nicht«, fuhr ich fort. »Hängt von den Umständen ab. Wie sind deine Umstände, Ed?«

Er lachte, und es klang drohend, so hohl, dass es mich erschütterte bis ins Mark.

»Wie die Umstände sind?« Er lachte wieder. »Ach, Mensch. Davon willst du doch gar nichts hören, Lincoln. Sie sind nicht astrein. Soviel kann ich dir sagen. Sie sind nicht astrein.«

Dann begann er den Bürgersteig hinunterzugehen, schwankend und torkelnd, aber ziemlich schnell, und er bedeutete mir mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Ich warf einen Blick die Straße runter, wie Draper auf der Suche nach Polizeipräsenz. Als ich weit und breit keine Bullen sah, folgte ich ihm.

»Die Umstände«, sagte er mit der Zigarette im Mund, »sind etwas schwer zu erklären. Aber wie ich höre, gibt es ein Video davon, und mehr brauchen die Geschworenen nicht zu sehen. Wenn ein Bild mehr sagt als tausend Worte, was ist dann ein Video gegen die Worte eines Ex-Knackis. Wahrscheinlich sagt es mehr als eine Million Worte aus seinem Mund. Ein Kerl wie ich könnte so viele Worte machen, dass die Welt verstummt, und hätte immer noch nicht genug.«

Die Brise frischte auf, so dass der Abfall und der Schotter auf dem Bürgersteig raschelten, und blies uns Staub und feine Schmutzpartikel in die Augen. Ich blinzelte gegen den Wind, ließ die Schultern hängen und senkte den Kopf.

»Was ist passiert, Ed?«

Er kaute eine Weile auf seiner Zigarette herum, und als ich ihn ansah, war der tiefe Schnitt über seinem Auge heller als vorhin, die Wunde öffnete sich wieder und blutete stärker.

»Am Anfang«, erzählte Ed Gradduk mir, »ging es nur um Geld. Um den Einnahmestrom, wie mein alter Herr es genannt hätte. Und, Sportsfreund, ich fand einen. Er war schon da, aber ich kriegte mein Stück ab vom Kuchen, spielte meine Rolle und nahm mir meinen Anteil. Mehr kann man nicht verlangen, stimmt’s?«

Ich antwortete nicht, und wir gingen schweigend weiter, vielleicht einen Block, während Ed seine Gedanken sortierte.

»Es ging also um Geld«, sagte er. »Um viel Geld für manche Leute, für andere um weniger.«

»Und für dich?«

»Für mich um genug. Um genug. Aber dann …« Das drohende Lachen ertönte wieder, und mit ihm schien die Temperatur um zehn Grad zu fallen. »Dann hörte es auf, um Geld zu gehen. Wurde persönlich.«

»Wieso?«

Er blieb stehen und sah mich mit schräg gelegtem Kopf an.

»Ein Mann erzählte mir eine Geschichte.«

Ich runzelte die Stirn. »Was für eine Geschichte?«

»Die, die er nicht erzählen wollte«, antwortete Ed. »Und ich fühle mich schlecht deswegen. Es war hart für ihn, weil er wusste, dass es hart für mich sein würde. Na ja, solche Sachen, erzählen sich nicht leicht, Lincoln. Aber so läuft das wohl. Die Geschichten, die am wichtigsten sind, sind am schwersten zu erzählen.«

»Hast du die Frau getötet?«

Er blies gelangweilt Rauch in die Luft. »Ich habe die Frau nicht getötet. Und es kümmert mich einen Dreck, ob sie ein Video haben oder ein Foto oder tausend Augenzeugen für das, was ihrer Meinung nach auch immer passiert ist, Lincoln – so ist das nicht gelaufen.«

»Ich kann dir helfen, Ed«, sagte ich, und er runzelte die Stirn und schnaubte verächtlich. »Ich kann dir helfen, aber du musst mir alles erzählen, was von Belang ist. Nenn mir die Namen, nenn mir die Fakten, leg die Karten auf den Tisch.«

Sein Blick wanderte an mir vorbei, über meine Schulter und zu den Häusern hinter mir. Er deutete mit seiner Zigarette auf die Gebäude.

»Andy Butcher wohnte diese Straße rauf in einem Haus. Erinnerst du dich an ihn? Verrückter kleiner Scheißer. Wir standen an diesem Tag, als der Bus von der katholischen Schule vorbeifuhr, draußen auf dem Rasen vor seinem Haus.« Er lachte und lächelte, scheinbar sorgenfrei, bloß so ein Typ beim Abendspaziergang. Welcher Mordvorwurf? Nee, ich doch nicht.

»Der Bus von der katholischen Schule fährt vorbei, und eines von diesen Jüngelchen mit Hemd und Krawatte wirft eine Flasche nach uns? Du erinnerst dich; ich weiß, dass du dich erinnerst. Der kleine Drecksack wirft eine Flasche nach uns, und sie landet im Gras statt auf dem Gehsteig und zerplatzt nicht. Und Andy, Scheiße, er hebt sie auf und rennt los. Der Bus muss zwanzig Meilen die Stunde draufgehabt haben, aber er holt ihn ein.«

Ich erinnerte mich daran, die Szene lief jetzt wie ein Filmausschnitt in meinem Kopf ab: Andy Butcher, wie er mit der Flasche in der Hand hinter dem Bus hersprintet; der Bus, der bremst, weil gerade ein Auto aus einer Auffahrt vor ihm ausgeschert war. Andy, der mit einem Satz direkt neben dem Bus landet, Ed und ich, wie wir mit offenem Mund hinten in dem Vorgarten stehen und Bauklötze staunen, als Butcher den linken Arm wie einen Haken durch das halb offene Busfenster schiebt, dort hängt und sich seitlich an dem fahrenden Bus festklammert, während er mit der rechten Hand die Flasche in Wurfhöhe bringt und sie dem fassungslosen katholischen Schuljungen ins Gesicht schmettert.

»Mensch, wir sind gerannt wie der Teufel«, sagte Ed.

Ich nickte, und irgendwie wollte ich lächeln, obwohl dies nicht der rechte Zeitpunkt war, um in Erinnerungen zu schwelgen. »Das sind wir«, sagte ich. »Der Busfahrer stieg aus und fing an, uns hinterherzujagen, und schrie was von die Polizei holen.«

Wir waren an jenem Tag wahrscheinlich zwanzig Blocks weit gekommen, bevor irgendjemand von uns auf die Idee kam, einen Haken in die eine oder andere Richtung zu schlagen und aus dem Blickfeld des Fahrers zu verschwinden. Wir rannten durch ein paar Gärten, bis wir zusammensackten, uns den Arsch ablachten und uns gegenseitig abklatschten.

»Butcher, der war ’n Wahnsinnssportler«, meinte Ed. »Hat sein Leben lang nie irgendeinen organisierten Sport betrieben, aber er konnte einen fahrenden Bus einholen und sich an das Fenster hängen. Unglaublich.«

»Ed, du musst mir erzählen, was passiert ist«, begann ich, weil ich nicht mehr über Andy Butcher reden wollte, aber er hob die Hand und unterbrach erneut.

»Die Leute reden über Erinnerungen, als seien sie das Beste auf der Welt, Lincoln. Sie lieben das Wort, lieben das Gefühl, das es auslöst, sprechen es mit dieser Atemlosigkeit aus, ganz wehmütig und absolut beschissen. Erinnerungen, sagen sie. Oh, wie ich diese Erinnerungen liebe.«

Er warf seine Zigarette auf den Bürgersteig und trat sie unter einem abgetragenen Nike aus. »Manchmal tun sie weh.« Er sah zu mir hoch. »Erinnerungen, meine ich. Ich weiß, es gibt schöne, aber schlechte? Mensch, das ist das Schlimmste. Man würde alles tun, was man könnte, um sie zu löschen, sie aus seinen Gedanken zu vertreiben, sie für immer auszuschließen. Aber man kann es nicht. Sie kommen immer wieder, und, Lincoln, diese Geschichten können wehtun. Es ist, na ja, als würde dein Gedächtnis bluten. Und man kann nichts anderes machen, als ihm ein bisschen Zeit geben, darauf warten, dass es gerinnt. Man kann es nicht nähen. Muss es einfach aussitzen.«

»Ed« – ich versuchte, etwas von dem Befehlston in meine Stimme zu legen, den ich bei dem Barkeeper benutzt hatte –, »hör mit diesem Mist auf, ständig in Rätseln zu sprechen, okay? Mag sein, dass du mich hier unten nicht sehen wolltest, aber ich bin trotzdem gekommen. Und wenn du meine Hilfe willst, werde ich tun, was in meiner Macht steht. Aber du musst mir alles erzählen.«

Er setzte sich wieder in Bewegung, und obwohl seine Schritte jetzt ein wenig sicherer zu sein schienen, war nach wie vor unschwer zu erkennen, dass er betrunken war. Doch sein Blick wirkte nüchtern, und sein Gesicht hatte einen ernsthaften Anflug, der mir verriet, dass er – endlich – geistig voll da war.

»Du musst dich hier nicht einmischen, Lincoln«, sagte er. Er bewegte sich immer noch mit schlurfenden Schritten, seine Füße schienen sich überhaupt nicht vom Boden zu lösen. So war er gelaufen, als er zwölf gewesen war.

»Das weiß ich.«

»Ich war beim Staatsanwalt«, sagte er. »Weißt du, was der mir gesagt hat?«

»Ich weiß es nicht, Ed.«

»Meinte, ich soll nach Hause gehen und sehen, dass ich nicht in Schwierigkeiten komme. Meinte, er hätte schon genug Probleme ohne einen Knacki wie mich, der mit wilden Verschwörungstheorien und Gerüchten zu ihm käme. Kannst du dir das vorstellen? Der Mann wird vom Steuerzahler finanziert, Lincoln, und er jagt mich aus seinem Büro und sagt mir, ich soll mich aus Schwierigkeiten raushalten.«

»Warum warst du beim Staatsanwalt?«

»Ich sag dir noch was – ich habe versucht, es auf die richtige Art zu machen. Die saubere Art, weißt du?« Sein Blick hatte wieder einen trüben Schimmer, schweifte umher und verlor sich erneut in den Winkeln seines vom Schnaps benebelten Gehirns. »Ich hab’s versucht. Und man schickt mich nach Hause und erzählt mir, ich soll mich aus Schwierigkeiten raushalten. Darauf hab ich mir gesagt, verdammt noch mal. Ich werd sie zwingen hinzusehen, irgendwie, klar? Denn, Lincoln, der Mann brauchte jemanden, der ihn dran erinnerte. Irgendwie.«

Ein Auto kam langsam die Straße hinter uns hoch. Ich betrachtete Eds Gesicht, aber er wandte sich ab, um einen Blick auf den Wagen zu werfen, und als er es tat, wurde sein Blick ausdruckslos.

»Scheiße.«

Ich drehte mich um und hielt selbst Ausschau, und meine Reaktion in dem Moment war die gleiche. Es war der Crown Vic, der vor dem Haus seiner Mutter geparkt hatte. Die Bullen merkten, dass wir sie gesehen hatten, und der Fahrer trat aufs Gas und schloss mit quietschenden Reifen zu uns auf. Oben an der Windschutzscheibe fing ein Polizeilicht an zu blinken, und Ed Gradduk rannte los.

»Renn nicht weg – sollen sie dich ruhig festnehmen, und dann sehen wir weiter«, schrie ich, aber er achtete nicht auf mich. Ich rannte hinter ihm her und versuchte, ihn zu packen, und ich hasste die Bullen, weil sie genau in dem Moment aufkreuzten, als Ed anfing, die ganze Geschichte zu erklären. Meine Hand erwischte ein Stück von seinem Hemd. Als ich daran zerrte, kam er ins Straucheln, bevor er sich mir entwand. Durch den Verlust des Gleichgewichts geriet er mit dem rechten Fuß vom Bürgersteig auf die Straße. Ich sah, wie er zu dem Minivan aufblickte, der in seine Richtung fuhr, und dann wieder den Crown Vic ansah, der aus der entgegengesetzten Richtung kam. Er sah beide an und versuchte dann, über die Straße zu rennen, während ich wieder hinter ihm herstürzte. Er schaffte es ein paar Schritte weit, aber für so schnelle Bewegungen hatte er zu viel Alkohol im Blut. In der Mitte der Clark Avenue verhedderten sich seine Füße, und er kam zu Fall.

Der Fahrer des Crown Victoria hatte auf die Tube gedrückt und versucht, sich an Ed vorbeizuschieben und ihm den Weg über die Straße zu versperren. Die Reaktionszeit des Fahrers war nicht die schnellste, er bremste nicht sofort, als Ed stürzte. Als er dann endlich registrierte, was passiert war, blockierte er die Bremsen, aber viel zu spät. Der Wagen schleuderte in Ed Gradduk hinein und über ihn hinweg.

Ich stand am Bordstein und brüllte etwas, das Sinn ergeben sollte, aber was aus meinem Mund kam, klang wie das Heulen eines verwundeten Tieres. Dann rannte ich ebenfalls auf die Straße. Eds Körper lag unter dem Wagen, und der verdammte Idiot auf dem Fahrersitz legte den Rückwärtsgang ein, setzte zurück und rollte mit den Vorderrädern noch einmal über Ed hinweg. Ich brüllte wieder, dann kam der Wagen endlich zum Stehen, und die Bullen stiegen aus und schrien mir zu, ich solle nicht näher kommen. Ich schenkte ihnen keine Beachtung, lief auf Ed zu und langte unter den Wagen nach ihm.

Ich hatte Ed gerade die Hände auf die Schultern gelegt, als der Bulle, der gefahren war, mich packte und versuchte, mich zurückzuziehen, und mich anschrie, ich solle Platz machen. Ich wirbelte herum und rammte ihm, ohne groß nachzudenken, die rechte Faust in den Magen, und während er sich noch krümmte, kroch ich wieder unter den Wagen. Eds Körper lag zur Hälfte unter dem Crown Vic, und als ihn hervorzerrte, wusste ich, dass er tot war – Blut floss ihm aus Nase, Mund und sogar aus den Ohren, das Fleisch war aufgerissen und aufgeschürft, Stücke des Schädels hoben sich überdeutlich und weiß vom Blut und der zerfetzten Haut ab. Ich konnte nur einen flüchtigen Blick auf Ed werfen, bevor der zweite Bulle mir seinen Arm um die Kehle schlang und mich zurückzog, während er mir den Lauf seiner Waffe ins Ohr drückte.

Dann gab es weiteres Geschrei, aber ich erinnere mich nicht, was gesprochen wurde. Einiges davon richtete sich an mich, einiges kam von mir. Die Bullen schubsten mich weg, und ich schrie ihnen ins Gesicht. Die Frau mittleren Alters, die den Van aus der entgegengesetzten Richtung gefahren hatte, stieg aus ihrem Fahrzeug, sah Ed einmal an, fiel auf die Knie und übergab sich auf der Straße. Weitere Autos hatten sich jetzt aufgestaut, und Leute standen am Bordstein und beobachteten die Szene. Einer trat vor, und ich drehte mich gerade schnell genug von den Bullen weg, um Scott Draper zu erkennen, kurz bevor er mir einen Faustschlag an den Kopf versetzte.

»Du hast ihn gestoßen«, schrie er. »Du hast ihn gestoßen.«

»Er ist gerannt«, brüllte ich zurück, und er holte erneut gegen mich aus, während die Bullen versuchten dazwischenzugehen. »Ich hab versucht, ihn aufzuhalten, du blöder Hund.«

Er versuchte weiter, mich anzugreifen. Ich packte ihn bei den Schultern und stieß ihn zurück auf den Bürgersteig. Ich hätte ihm einen Schlag verpasst, wenn der Bulle, der den Crown Vic gefahren hatte, nicht mein Handgelenk erwischt hätte. Er warf mich auf den Boden neben Draper. Dort blieb ich, während sie mir die Handschellen anlegten – mit dem Gesicht nach unten auf der Straße, die rechte Wange an der Fahrbahn, während mein linkes Auge zusah, wie ein Rinnsal aus Ed Gradduks Blut sich in meine Richtung vorarbeitete und dabei einen entschlossenen Weg über den Asphalt nahm, als bestünde Eds letzte Mission darin, mein Fleisch zu berühren.

Kapitel 4

Man ließ mich gegen Mitternacht nach Hause gehen. Mir war mit Anklagen wegen Störung und Behinderung von Polizeiarbeit gedroht worden, aber man hatte mich nicht verwarnt. Der Bulle, der auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, ein Kerl namens Larry Rabold, benahm sich viel freundlicher, als er erfuhr, wer ich war, aber sein Partner, der mich auf dem Bürgersteig aufgehalten hatte, war nicht so entgegenkommend. Sein Name war Jack Padgett, und er hatte ganz und gar nicht den Wunsch, die Vergangenheit ruhen zu lassen, sobald er herausfand, dass ich Bulle gewesen war. Sie unterhielten sich etwa eine Stunde mit mir, wollten alles über Ed wissen, vor allem, welche Informationen möglicherweise bei unserem kurzen Gespräch ausgetauscht worden waren. Meine Behauptung, dass ich seit Jahren nicht mit ihm gesprochen hätte, schien sie nicht zu überzeugen.

»Warum zum Teufel sind Sie dann zu seinem Haus gerannt gekommen, sobald sie die Neuigkeit erfahren haben?«, hatte Padgett gefragt. Es war eine gute Frage, eine, die ich schon früher an diesem Abend nicht hatte beantworten können, und mir war noch immer nichts Zufriedenstellendes dazu eingefallen. Meine Schilderung, wie es zwischen mir und Ed ein paar Jahre früher gelaufen war, hatte sie beide neugierig gemacht, und ich wusste, sie würden es überprüfen und sehen, ob sie irgendeinen Hinweis darauf finden konnten, dass ich seitdem Kontakt mit dem Mann gehabt hatte. Aber sie würden keinen Erfolg haben.

Sobald ich wieder auf freiem Fuß war, rief ich mir ein Taxi, das mich zu meinem Pick-up zurückbringen sollte. Die Clark Avenue lag dunkel und ruhig da, abgesehen von ein paar Nachtschwärmern und einer einzelnen Frau, die auf einen Bus wartete. Ich stand am Bordstein und starrte die Straße hoch, dorthin, wo vor ein paar Stunden mein ältester Freund gestorben war. Man hatte das Blut mit Wasser vom Asphalt abgespritzt, und die Abendhitze hatte den Belag bereits wieder getrocknet.

Ich stieg in den Pick-up und ließ den Motor an, dann saß ich da, lauschte auf den Verkehrslärm und fragte mich, ob ich in der Lage wäre zu fahren, ohne Ed vor mir zu sehen, wie er auf die Straße rannte. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war Zeit, heimzufahren und ins Bett zu gehen.

Ich fuhr zum Haus meines Partners.

 

Joe Pritchard wohnt in der Chatfield, vielleicht drei Minuten vom Büro entfernt. Er hatte sich lange vor mir in dem Viertel niedergelassen, und er war es gewesen, durch den ich von dem Sportstudio erfahren hatte, als es zum Verkauf stand, und dessen Besitzer ich bin. Aus dem Polizeidienst entlassen und ohne echte Karrierepläne, hatte ich damals das Studio erworben und war in das Gebäude eingezogen. Joes Pensionierung ein paar Jahre später hatte mich dann ins private Ermittlungsgeschäft geführt.

Sein Haus war ein stabiler Backsteinbau in Form eines Dreiecks, wie er in diesem Viertel häufig ist. Irgendjemand erzählte mir mal, dass diese Häuser aus nichts anderem als Baumarkt-Fertigteilen bestünden, die sich wachsender Beliebtheit erfreuten, als das Viertel nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs, aber ich habe keine Ahnung, ob da was Wahres dran ist. Die Gegend rings um die Chatfield ist besser in Schuss gehalten worden als die meisten anderen, obwohl die Mehrzahl der Eltern ihre Kinder lieber auf Privatschulen schickt, als sie an einer staatlichen Schule anzumelden. Das war schon in meiner Kindheit so gewesen, aber mein Vater konnte es sich nicht leisten – und er hatte auch nicht den Wunsch, mich auf eine der Privatschulen zu schicken, selbst wenn er es gekonnt hätte. Wenn ich es an einer staatlichen Highschool nicht schaffte, sagte er oft, wie zum Teufel wollte ich es dann als Bulle schaffen? Schon damals erzählte ich allen, dass ich das später einmal werden wolle, und mein Vater hatte recht – vier Jahre auf der West Tech waren unschätzbar als Vorbereitung auf diesen Beruf.