Tödliche Schöpfung - Regina Gärtner - E-Book

Tödliche Schöpfung E-Book

Regina Gärtner

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Beschreibung

Eigentlich hat die junge Düsseldorfer Ärztin Dr. Tamara Koenig genügend eigene Probleme: Seit ihrer Scheidung isst, raucht und arbeitet sie zu viel, kommt nicht dazu, ihr Leben neu zu ordnen oder wenigstens ihre Umzugskartons auszupacken. Statt für Ordnung in Wohnung und Alltag zu sorgen, stürzt Tamara sich auf ein neues Schlachtfeld: Ihr Chef, Professor Carl Zucker, ist in dubiose Geschäfte verwickelt, davon ist sie überzeugt. Warum sonst hätte er einen OP-Saal blockiert, obwohl Tamaras Fall der dringendere war? Ist es Zufall, dass sein trotz der Operation verstorbener Patient, der hochrangige EU-Beamte Ralf Cramer, nach einer Explosion in der Pathologie nicht mehr obduziert werden kann? Dass zwei von Zuckers OP-Assistenten tödlich verunglücken? Bei ihren Nachforschungen entdeckt Tamara schließlich, dass Zucker nicht nur für die Klinik, sondern auch für den skrupellosen Pharma-Multi Magnus DeLamotte arbeitet. Und zwar an einem Milliarden schweren Gen-Projekt, das den Halbgöttern in Weiß gerade aus dem Ruder zu laufen droht: Ihre menschlichen Versuchskaninchen sterben, und niemand weiß, warum. Das letzte, was Zucker und DeLamotte in dieser Phase brauchen, sind Störfaktoren – wie Tamara …

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Seitenzahl: 369

Veröffentlichungsjahr: 2015

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 Über das Buch:

"Eigentlich hat die junge Düsseldorfer Ärztin Dr. Tamara Koenig genügend eigene Probleme: Seit ihrer Scheidung isst, raucht und arbeitet sie zu viel, kommt nicht dazu, ihr Leben neu zu ordnen oder wenigstens ihre Umzugskartons auszupacken. Statt für Ordnung in Wohnung und Alltag zu sorgen, stürzt Tamara sich auf ein neues Schlachtfeld: Ihr Chef, Professor Carl Zucker, ist in dubiose Geschäfte verwickelt, davon ist sie überzeugt. Warum sonst hätte er einen OP-Saal blockiert, obwohl Tamaras Fall der dringendere war? Ist es Zufall, dass sein trotz der Operation verstorbener Patient, der hochrangige EU-Beamte Ralf Cramer, nach einer Explosion in der Pathologie nicht mehr obduziert werden kann? Dass zwei von Zuckers OP-Assistenten tödlich verunglücken?

Bei ihren Nachforschungen entdeckt Tamara schließlich, dass Zucker nicht nur für die Klinik, sondern auch für den skrupellosen Pharma-Multi Magnus DeLamotte arbeitet. Und zwar an einem Milliarden schweren Gen-Projekt, das den Halbgöttern in Weiß gerade aus dem Ruder zu laufen droht: Ihre menschlichen Versuchskaninchen sterben, und niemand weiß, warum. Das letzte, was Zucker und DeLamotte in dieser Phase brauchen, sind Störfaktoren – wie Tamara …"

Edel eBooks Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2015 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2000 by Regina Gärtner

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Covergestaltung: Eden & Höflich, Berlin.

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-756-1

facebook.com/edel.ebooks

Mitten in die Gleichförmigkeit des alltäglichen Lebens platzte die Bedrohung durch den Tod wie ein Hagelsturm, der eine ausgelassene Gesellschaft beim Sommerpicknick überrascht. Und soviel war gewiss: keiner kümmerte sich um die vielen Scherben und jeder versuchte, zuerst sich selbst in Sicherheit zu bringen.

»Es wird schon wieder alles in Ordnung kommen. Ganz bestimmt!«

Wer sollte ihm das glauben? Egal. Carl Zucker hatte momentan Wichtigeres zu tun, als die Frau zu beruhigen, deren Mann ohnmächtig in seinen Armen hing. Unsanft ließ er Cramer auf die Couch gleiten. Von der Schlepperei erschöpft, atmete der Mediziner tief durch.

Dabei hatte der Abend so viel versprechend begonnen. Zucker hatte sich mit den anderen außerhalb von Düsseldorf auf dem Landsitz von Magnus DeLamotte eingefunden. Eine kleine Jubiläumsfeier sollte die übliche informelle Zusammenkunft versüßen. Doch bevor die Gesellschaft zum heiteren Teil des Abends übergehen konnte, war Ralf Cramer plötzlich zusammengesackt. Selbstverständlich hatte Zucker als Arzt die wesentlichen Körperfunktionen routiniert überprüft. Das Ergebnis war beunruhigend. Cramers Herz raste, die Pupillen waren weit, der Schweiß kalt. Zucker hatte einen besorgten Blick mit DeLamotte ausgetauscht. Eile war geboten, doch beiden war klar, dass hier vor den anderen Gästen kein Aufhebens gemacht werden konnte, nicht hier, nicht in diesem Kreis, nicht vor den neugierig auf den Bewusstlosen starrenden Männern. Zucker war hinausgeeilt, um seine Notfalltasche aus dem Wagen zu holen, gefolgt von DeLamotte. Bei ihrem Wortwechsel konnten die beiden die Heftigkeit der aufwallenden Emotionen nur mühsam in ein Flüstern pressen.

Magnus DeLamotte weigerte sich, einen Krankenwagen zum herrschaftlichen Anwesen zu rufen. Er gewann – wie immer. Ein offizielles Treffen des Europaabgeordneten und Mitglieds des Europäischen Gesundheitsausschusses Dr. Ralf Cramer mit dem Pharmakonzernchef DeLamotte war eine legitime Geschichte. Das Bekanntwerden eines privaten Treffens der beiden auf dem DeLamotteschen Landgut war eine ganz andere Sache. Dumme Fragen würden gestellt werden. Neugierige Schnüffler würden in dunklen Ecken herumstöbern, in denen niemand etwas zu suchen hatte. Zu viel stand auf dem Spiel.

Die Gäste mussten davon überzeugt bleiben, dass es nichts Schlimmes sein konnte. Cramer war wesentlich vitaler als andere Männer mit zweiundsechzig Jahren und Zucker war sein Leibarzt. Was also konnte schon sein: höchstens eine körperliche Lappalie. DeLamotte wies Zucker an, auf keinen Fall zuzulassen, dass – Schein oder Sein – die Gruppe im Salon beunruhigt würde. Eine anständige Alternative gab es nicht. Zucker setzte sich in seinen Wagen, während die beiden Bodyguards von DeLamotte den beinahe regungslosen Cramer auf dem Beifahrersitz anschnallten. DeLamotte zerstreute derweil die aufkommende Nervosität seiner Gäste im Salon.

Während Zucker wie der Teufel über die Landstraße zu Cramers Haus brauste, hing sein bewusstloser Patient schweißgebadet in den Sicherheitsgurten. Als Cramers Frau ihn erblickte, nahm ihr Gesicht die gleiche ungesunde Farbe an wie das ihres Mannes.

Elisabeth Cramer stand mit weichen Knien neben dem Arzt im Wohnzimmer. Ralf lag in den Kissen, weiß wie Milch und mit dicken Schweißtropfen auf der kalten Stirn. Der Arzt fühlte ihm den Puls, während die Sirenen der Ambulanz schon zu hören waren. Starr vor Angst beobachtete sie die Szene, griff schließlich nach Ralfs Hand und beugte sich zu ihm hinunter. Sie konnte es nicht fassen. Es war ein gewöhnlicher Sonntag gewesen. Ralf hatte der feierlichen Einweihung eines Kinderspielplatzes auf den Wiesen des Rheinparks, direkt im Schatten des Düsseldorfer Landtages, beigewohnt. Mit einigen Abgeordneten hatten sie zu Mittag gegessen. Wieder zu Hause, hatte er ihr seinen Vortrag für den Europäischen Gesundheitsausschuss vorgelesen, während sie gemeinsam Kaffee tranken. Vor weniger als drei Stunden war er aus dem Haus gegangen, gesund und munter, vielleicht ein bisschen müde, mit einem Anflug von Kopfschmerzen. Was war passiert?

»Und denken Sie daran, was ich Ihnen gesagt habe! Er war den ganzen Abend zu Hause und hatte sich mit Kopfschmerzen hingelegt. Als ein Anruf kam, wollten Sie ihn wecken. Er ist aber nicht aufgewacht. Da haben Sie mich als seinen behandelnden Arzt verständigt.« Zucker sprach hektisch und herrisch. »Von meinem Autotelefon aus habe ich die Ambulanz verständigt. Erst dann bin ich zu Ihnen nach Hause gekommen. Es ist besser, niemand bekommt von unserer kleinen Verabredung Wind.« Zucker durchbohrte sie mit seinem Blick. »Haben wir uns verstanden!?«

Elisabeth Cramer sah auf den eckigen Kopf des Arztes und nickte eingeschüchtert. Ralf hatte sie schon früher gebeten, nicht über seine Treffen mit DeLamotte zu reden. Die Öffentlichkeit könnte schnell etwas in den falschen Hals bekommen und Fragen stellen, die besser unbeantwortet blieben. Nun, sie würde sich daran halten. Es war ihr ohnehin egal. Wichtig war nur, was mit Ralf geschah. Während die Sirenen bereits zu hören waren, erzählte ihr Zucker, dass Ralf sich unwohl gefühlt hatte. Er habe sich angeboten, ihn nach Hause zu fahren. Auf der halben Strecke sei Ralf plötzlich zusammengesackt. Irgendetwas stimmte an dieser Geschichte nicht, das fühlte Elisabeth Cramer deutlich. Sie wusste nicht, welcher Teil der Wahrheit in Mitleidenschaft gezogen worden war. Aber ein Mann, der so schnell Lügen zur Hand hatte, kannte keine Skrupel, auch die Frau seines Patienten zu belügen. Doch diese Überlegung blitzte nur kurz auf. Sie war viel zu aufgeregt, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Paralysiert beobachtete sie den Arzt, wie er die beiden Sanitäter kommandierte, die ihren Mann auf die Pritsche hoben. Die Sanitäter waren jung und leicht zu beeindrucken. Der Herr Professor Dr. Dr. Zucker hatte leichtes Spiel. Aufgebracht folgte sie dem Krankenwagen mit dem eigenen Auto.

Zucker saß im Krankenwagen und fühlte pure Panik, die er nur mühevoll verbergen konnte. Auf seinem Gesicht bildeten sich rote Flecken. Er konnte keine vernünftige Diagnose stellen: Herzinfarkt, Schlaganfall, Kreislaufkollaps – alles schien möglich. Er fühlte Schweißtropfen an seinen Schläfen herablaufen. Hier konnte mehr zusammenbrechen als nur der gute Gesundheitszustand eines Mannes.

*

»Dr. Koenig! Dr. Koenig, bitte sofort zur Notaufnahme!«, schallte es via Lautsprecher durch die Gänge.

»Ich bin doch hier, verdammt noch mal. Wenn ihr könntet, wie ihr wollt, würdet ihr mich am liebsten teilen«, schimpfte Tamara gereizt.

Glücklicherweise hörte ihr niemand zu. Der ältere Mann, der vor ihr auf der Pritsche lag, nahm nichts mehr wahr. Die Beruhigungsspritze wirkte bereits. Er dämmerte leicht vor sich hin. Routiniert griff Tamara ihm an die Halsschlagader und kontrollierte seinen Puls. »Stabil!« Sie winkte einem herannahenden Pfleger. »Zur Inneren. Sagen Sie vorne Bescheid«, befahl sie knapp und drückte ihm die Patientenakte barsch gegen die Brust. Gleichmütig schob der Pfleger die Liege in Richtung Aufzüge. Tamara eilte zur Anmeldung der Notaufnahme. Je näher sie kam, desto größer wurde der Lärm. Kaltes Neonlicht entfärbte die Gesichter der Patienten zu einem bleichen Weiß, das ihrem erbarmungswürdigen Zustand die passende Note verlieh. Gelegentlich streifte sie ein Hauch von Erbrochenem oder eine Alkoholfahne, die sich mit dem Anästhetikum und dem nonchalanten Parfüm eines jeden Krankenhauses, dem Desinfektionsgeruch, vermischte. Es war Sonntagabend, aber es kam ihr vor wie Samstagnacht. Seit Freitag war Altstadtfest, das die Düsseldorfer Bevölkerung mit den Massen extra dafür Angereister nach feuchtfröhlicher rheinischer Manier feierte. Seitdem ebbte der Strom an Betrunkenen, in Schlägereien Verletzten, Autounfallopfern und verprügelten Frauen nicht mehr ab. Notdienst am Wochenende war die Hölle. Zudem warteten die Menschen sehnsuchtsvoll auf das Frühlingswetter. Depressionen stauten sich in den verregneten Seelen, bei einigen liefen sie eben über.

Aus Erfahrung wusste Tamara, dass dieses Chaos und die Hektik, das Geschrei und Gestöhne noch bis tief in die Nacht andauern würden. Die Erinnerung an letztes Silvester ließ kleine Schreckensschauer über ihren Rücken laufen. Und nur ungern dachte sie an jenen denkwürdigen Abend im letzten Juli, an dem um die Fußballweltmeisterschaft gespielt worden war. Schlimmer noch als heute hatten die Fans ihr Aggressionspotenzial unter Beweis gestellt. Tamara stöhnte kaum hörbar. Warum ausgerechnet sie? Seit sie von ihrem Mann getrennt lebte und somit offiziell kein Familienleben mehr vorweisen konnte, bekam sie häufiger als früher die unliebsamen Schichten zugeteilt. Das war nicht fair. Auf diese Weise würde sie nie zu einem geregelten Privatleben zurückfinden.

»Nein, nicht noch einer von den Rasern!«, stieß sie entmutigt aus, als sie an einer Liege mit blutverschmierten Laken vorbeikam.

Eine Schwester blickte müde auf. »Den hat Dr. Fischer schon übernommen, aber Sie sollten sich das kleine afrikanische Mädchen sofort ansehen.« Sie nickte mit dem Kopf zu den Wartebänken der Patienten.

Tamara entdeckte die Familie sofort; sie war auch nicht zu übersehen. Die Frau war mit einem langen Gewand bekleidet, das farbenprächtige Muster zierten. Der Mann hatte eine schlichte weiße Robe an. Ihre Hautfarbe war tiefschwarz, an manchen Stellen durchzogen von symbolhaft anmutenden Narben. Ihre dunklen Augen blickten Hilfe suchend im Raum umher. Die Frau war von einer enormen Körpermasse. In ihren wuchtigen Armen lag ein kleines, zierliches Mädchen. Tamara schätzte das Kind auf ungefähr acht Jahre. Es wimmerte. Trotz ihres farbenfrohen Aussehens gab die Familie einen traurigen Anblick ab. Die Angst um ihre Tochter wurde durch die abweisende Umgebung offensichtlich genährt.

Tamara nahm sich einen freien Behandlungstisch und schob ihn zu den Eltern. Vorsichtig beugte sie sich zu dem Mädchen hinunter. »Na, meine Kleine. Wie heißt du denn?«

Da das Mädchen nicht antwortete, sagte ihr Vater mit französischem Akzent: »Manou. Ihrr Namä Manou.«

Tamara nickte. Vorsichtig griff sie nach dem Mädchen, das sich aber an seine Mutter klammerte. Der Vater stand auf und legte seine Tochter selbst auf die Liege. Die Mutter beugte sich über ihre Tochter und redete in beruhigendem Tonfall leise auf sie ein. Der Mann betrachtete Tamara argwöhnisch. Er war deutlich einen Kopf kleiner als die Ärztin. War er skeptisch, weil sie ihn überragte, weil sie eine Weiße oder weil sie eine Frau war? Automatisch entschied Tamara sich für die letzte Variante. Vielleicht deutete sie seinen Blick ungerechterweise falsch. Möglicherweise bezweifelte er nur, dass seiner Tochter noch zu helfen war. »Wo tut es weh?«

»Iierr, iierr«, erklärte der Mann mit stark rollendem R. Mit einem Finger deutete er auf den Bauch des Mädchens.

Tamara schob die Mutter sanft beiseite. Sie legte dem Mädchen ihre Hand auf die Stirn, die sich kalt und feucht anfühlte. »Hat sie Fieber?«

Die Mutter überlegte kurz, schien sich die Wörter zu übersetzen. Schließlich nickte sie heftig.

Tamara wandte sich dem Mädchen zu. »Ich drück jetzt auf deinen Bauch und du sagst mir, wenn es besonders weh tut, ja?«

Die Kleine blickte sie stumm mit großen, verweinten Augen an. Tamara schob vorsichtig die bunten Leggings und das Sweatshirt beiseite. Behutsam tastete sie den kleinen Bauch ab. Das Mädchen sagte zwar keinen Ton, aber an dem Zucken in ihrem Gesicht konnte Tamara sehr gut erkennen, wenn sie eine schmerzhafte Stelle traf.

Wenigstens hatte sie hier eine richtige Patientin vor sich. Eigentlich sollten nur solche Notfälle vorkommen. Sie hatte die Nase gestrichen voll von jugendlichen Verkehrsopfern, Imponierhähnen mit Schlag- oder Stichwunden und volltrunkenen Philosophen. Ihr grauste es. In dem Tumult schien diese Familie, die sich unübersehbar von der Umgebung, der Kultur, den Menschen hier abhob, die mit ihrer Hautfarbe und der farbenfrohen Kleidung schon vom Ende des Ganges auffiel, deren gebrochene Sprache im lautstarken Artikulieren der anderen unterging, den ersten akzeptablen Grund für ihre Anwesenheit in der Notaufnahme zu haben, seit Tamaras Dienst begonnen hatte. Trotzdem – die Diagnose lautete Blinddarmdurchbruch und es sah nicht gut aus. Tamara trat einen Schritt zurück und winkte eine Schwester heran. Mitfühlend blickte sie die Eltern an.

»Ihre Tochter muss operiert werden, sofort! Sie hat eine weit fortgeschrittene Blinddarmentzündung. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Es ist nur eine Routineoperation«, setzte sie nach, als die Eltern ihre Augen erschrocken aufrissen.

Der Mann nickte, als habe er verstanden, was Tamara gesagt hatte.

Eine Schwester war hinter sie getreten. Auf dem Namensschild der Schwester stand Broicher.

»Machen Sie OP 2 fertig!«

Die Schwester blickte sie fragend an. »OP 2 ist besetzt. Alle OPs sind belegt.«

Tamara verdrehte die Augen. »Welcher wird als nächster frei?«

»Ich weiß es nicht.«

»Dann finden Sie es heraus!«, herrschte Tamara sie an. Sie wandte sich wieder dem Mädchen zu. »Bald geht es dir besser. Du kriegst jetzt eine Spritze, dann tut dir der Bauch gleich nicht mehr weh. Und dann nehmen wir dir den bösen Schlingel aus deinem Bauch einfach raus. Wenn du wieder aufwachst, ist alles vorbei.« Aufmunternd lächelte sie das Kindergesicht an.

Die Kleine regte sich nicht. Sie litt stumm. Tränen liefen ihr über die Wangen. Die dunklen Augen suchten ängstlich ihre Eltern.

»Wenn Sie wollen, können Sie hier warten. Aber am besten kommen Sie morgen Vormittag wieder.«

»Warrtän!«, entgegnete der Mann ohne Überlegung. Seine Frau nickte eifrig. Sie sah so aus, als ob kein Erdbeben sie aus dem Krankenhaus bringen könnte, solange ihre Tochter hier war.

»Gut. Ihre Tochter wird sofort für die Operation vorbereitet. Es dauert nicht mehr lange. Hat sie heute etwas gegessen?«

Die Eltern verneinten. »Nur trinkän. Tee.«

Schwester Broicher trat gehetzt zu ihnen. »OP 3 wird gerade gesäubert. In zirka fünf Minuten können Sie rein.«

»Na also. Nehmen Sie das Mädchen mit und bereiten Sie alles für eine Notoperation vor. Ich brauche eine schnelle Blutuntersuchung. Die Kleine hat wahrscheinlich eine Appendizitis, Verdacht auf Durchbruch. Ich geh mich waschen.«

Die Schwester schob das Pritschenbett mit dem Mädchen zu den Operationssälen. Tamara sah die Eltern vorwurfsvoll an. »Wieso sind Sie nicht früher gekommen?«

Die Frau blickte auf den Mann. Der hob entschuldigend seine Schultern. »Wirr nisch wissän.«

»Hmm«, gab Tamara vage von sich. Wortlos nickend drehte sie sich um und verschwand im Waschraum. Was sollte sie darauf auch schon antworten?

Noch während sie hinter der Tür verschwand, hörte sie draußen einen großen Tumult. Sie blickte durch das kleine Sichtfenster auf den Flur. Professor Zucker schob eigenhändig einen Patienten über die Gänge. Ein Sanitäter lief ihm voraus und machte den Weg frei.

Zucker hatte in rasantem Tempo seine Karriere als Spezialist auf dem Gebiet der Organtransplantation vorangetrieben. Seit einigen Jahren bemühte er sich zudem erfolgreich, sich mit seiner Forschung auf dem Feld der Krebstherapie einen Namen zu machen. Er war nicht nur Chefarzt der Inneren Abteilung, sondern auch eine weit über die Landesgrenzen hinaus bekannte Kapazität und er war Tamaras direkter Vorgesetzter. Schon seit ihrer Studienzeit bewunderte sie Zucker. Seine Hände verwandelten sich in Präzisionswerkzeuge, wenn sie in einen menschlichen Körper eintauchten. Er war ein harter, aber guter Lehrmeister.

Als Onkologin betreute Tamara die Patienten auf seiner Station, jedoch nur die gewöhnlichen Sterblichen. Zucker kümmerte sich ausschließlich um die weniger vergänglichen Menschen – die Reichen, die Mächtigen, die wichtigen Persönlichkeiten. Das schnöde Alltagsgeschäft von Schmerzen, Leid und Sterben überließ er weitest gehend anderen Ärzten.

Umso mehr wunderte sich Tamara, dass er an einem Sonntagabend höchstpersönlich einen Notfall ins Klinikum einlieferte. Zucker hatte schon ewig keine Notdienste mehr geleistet. Tatsächlich konnte Tamara sich nicht daran erinnern, dass er überhaupt jemals ein Wochenende geopfert hatte, seit sie bei ihm auf der Station arbeitete. Immerhin war Tamara bereits seit sechs Jahren an der Universitätsklinik tätig und davon drei Jahre unter Zuckers Kommando.

Sie schob sich ihre dunkelbraunen Haare unter die OP-Haube, pumpte Seife aus einem Flüssigkeitsspender und schrubbte sich gründlich die Hände. Ihre Neugierde musste bis später warten. Jetzt hatte sie eine schwierige Operation durchzuführen. Auch wenn ein Blinddarmdurchbruch keine exotische Krankheit war – die Situation war kritisch. Sie griff nach dem frischen Handtuch und trocknete sich die Hände ab, als die Schwingtür aufflog und Zucker in den Raum stürmte.

»Tut mir Leid, Dr. Koenig, ich benötige OP 3.« Bereits halb umgezogen in der flaschengrünen OP-Montur griff er nach den gleichfarbigen Gummischluppen im Regal. Sein Ton ließ gar keinen Zweifel daran aufkommen, dass sein Beschluss unabänderlich feststand – und ganz sicher tat es ihm nicht Leid. Er stellte sich an das Waschbecken und begann mit dem peniblen Reinigungsritual.

Tamara schaute perplex zu ihm hinunter. Selbst wenn er sich nicht gerade über das Waschbecken beugte, war er einen halben Kopf kleiner als sie. Das Mädchen musste sofort operiert werden. Ein zeitlicher Aufschub war ganz und gar ausgeschlossen. »Ich habe einen akuten Blinddarmdurchbruch. Es sieht schlecht aus, wenn ich das Mädchen nicht sofort operiere!«

Zucker fuhr herum und starrte ihr in die Augen. Sein Blick tranchierte Tamara. »Glauben Sie, ich stehe hier zum Spaß? Ich werde einem meiner besten Patienten sicherlich nicht auf dem Gang sein Herz zusammenflicken. Außerdem habe ich wirklich keine Zeit, mich mit Ihnen zu streiten, ... und auch keine Lust.« Damit wandte er seinen Quadratschädel wieder dem Waschbecken zu und schrubbte weiter eifrig die Hände. Sein Haar schimmerte an den Schläfen silbern vor Schweiß.

So hatte Tamara Zucker noch nie erlebt. Seine Stimme hatte sich zu einem nur mühsam unterdrückten Schreien erhoben. Seine Augen waren gerötet. Er wirkte unkontrolliert und fahrig; als ob er getrunken hätte ... oder als ob er extrem emotional aufgelöst wäre. Sie wusste, dass ihr Widerstand dem Tatbestand der Blasphemie gleichkam. Innerhalb des Krankenhauses herrschte noch die Inquisition und machte aus mutigen Menschen Ketzer. Sie musste es trotzdem versuchen: Schließlich war er nicht Herr über Leben und Tod, sondern nur der Chefarzt ihrer Abteilung. »Ich muss auch sofort operieren. Sonst kann ich keine Verantwortung für das Leben des Mädchens übernehmen.«

Zucker war es absolut nicht gewohnt, solche Antworten zu bekommen. Es dauerte einige qualvolle Sekunden, bis er etwas sagte. »Verbuchen Sie es einfach unter meiner Verantwortung, wenn Ihnen dann wohler ist. Sie können gerne offiziell Beschwerde einlegen.« Er drehte sich nicht einmal mehr zu ihr um.

»Guten Abend oder guten Morgen, ganz wie man’s nimmt.« Ein Anästhesist trat in den Waschraum. Müde blickte er beide an, zog sich um und gesellte sich zu Zucker ans Waschbecken. Während er die geübten Handgriffe erledigte, blickte er interessiert auf Zucker. Er schien gleichfalls überrascht von dessen nächtlichem Erscheinen. »Was ist es denn?«, fragte er schließlich.

Zucker warf ihm einen verständnislosen Blick zu.

»Ihr Patient, Professor Zucker, welche Diagnose?« Der Anästhesist spülte die Seifenlauge von seinen Händen ab.

»Wie meinen Sie das?«

»Na, wenn ich Ihnen assistieren soll, wäre es schon hilfreich zu wissen, was er oder sie hat.« Erneut seifte der jüngere Arzt seine Hände ein.

»Wie kommen Sie darauf, dass Sie mir assistieren?« Zuckers Ton klang feindselig.

Der Anästhesist hielt inne. Völlig verdutzt drehte er sich zu Zucker um. Von den Händen tropfte ihm die Seifenlauge. »Man hat mich vor nicht einmal drei Minuten runtergerufen. Ich soll Ihnen helfen.«

»Wer hat das getan?«

»Die Schwester von der Anmeldung, nehme ich an.« Der Anästhesist wirkte zunehmend irritiert.

»Ich komme alleine klar«, erklärte Zucker zögerlich. Er schien über die angebotene Hilfe nicht gerade erfreut.

»Das geht schon in Ordnung. Auf der Gynäkologie oben ist es ruhig. Es dürfte kein Problem sein.«

»Nein!« Das Wort brach sich panisch seinen Weg. Doch Zucker hatte sich schnell wieder im Griff. »Nein, ich ... äh ... dachte, Sie wären Frau Dr. Koenig zugeteilt. Bräuchten Sie nicht eher Hilfe?«, fragte er an Tamara gewandt.

Tamara schaute ihren Chef verdutzt an. Offensichtlich wollte er, dass es so war, wie er sagte. »Ähm ... ich hab bereits Hilfe.«

»Ich assistiere Ihnen gerne«, fiel der Anästhesist Zucker ins Wort.

Dessen Mundwinkel zuckten unruhig. Sein Gesicht arbeitete sich mimisch durch einen Berg von Argumenten. Die Vorschriften waren ihnen allen bekannt. Er brauchte den Anästhesisten für die Operation. Außerdem gab es keinen Grund, die angebotene Hilfe abzulehnen, ganz im Gegenteil. »Wenn’s sein muss!«

In diesem Moment erschien eine dunkelhäutige Schwester. Sie streifte Zucker einen verwaschenen OP-Kittel über, zog seinen lindgrünen Mundschutz über die Nase und setzte ihm schließlich seine Brille auf. Vermummt verschwand er im OP-Saal. Der Anästhesist schaute Tamara fragend an.

Sie zuckte mit den Schultern. »Was sollte das denn?«

»Der ist ja schräg drauf. Hat einen akuten Notfall und will keine Hilfe. Viel scheint ihm das Leben des Patienten nicht zu bedeuten.«

»Das glaub ich kaum. Sonst würde er doch nicht seinen Sonntagabend opfern!«

Der Arzt ließ sich kopfschüttelnd den Kittel überziehen. Mit einem lauten »Tse!«, in dem sein ganzes Unverständnis über diese Situation zum Ausdruck kam, folgte er Zucker.

Die OP-Schwester trat an Tamara heran. Ihr war offensichtlich auch nicht wohl bei dem Gedanken, dass das Mädchen noch warten musste. »Ich habe die Kleine wieder auf den Gang geschoben«, sagte sie mit leicht asiatischem Akzent. Natürlich musste ihr klar sein, was hier vorgefallen war. »Ich muss wieder rein.«

Tamara ärgerte und wunderte sich gleichzeitig über Zuckers Verhalten. Er wirkte sonst immer äußerst souverän. Nichts konnte ihn in Unruhe versetzen. Davon war im Moment nichts zu spüren. Soweit Tamara sich erinnerte, hatte Zucker bisher noch nie die Beherrschung verloren. Gewöhnlich strahlte er eine Kompetenz aus, die jedem Patienten das Gefühl gab, dass dieser Arzt genau wusste, was er tat, und nie Fehler machte. Zucker siegte fast immer über den Tod, wenn der Sensenmann bereit war, ihm eine Chance in seinem Spiel einzuräumen. Bedauerlicherweise flaute sein Interesse an diesem Zeitvertreib zunehmend ab. Die Visite begleitete er nur noch höchst selten – als reine Pflichtübung. Enttäuschung machte sich bei Tamara breit. Sie stellte die Kompetenz ihres Chefs nicht in Frage, aber mittlerweile betreute er nur noch seine Privatpatienten und alle waren sie reich, sehr reich sogar. Tamara hatte gesehen, wie ihre Hubschrauber oben auf dem Dach landeten, das eigentlich den Rettungshubschraubern vorbehalten war; aber für besondere Menschen gab es eben auch besondere Ausnahmen.

Auf dem Gang herrschte noch immer großes Durcheinander. Die Eltern des Mädchens standen bereits wieder bei ihrer Tochter – sichtlich verunsichert. Was sollte sie ihnen sagen? Als die Eltern Tamara sahen, redete die Frau heftig auf ihren Mann ein. Der schritt mit fragenden Augen auf Tamara zu. Sie ließ ihn unhöflich stehen und trat forsch an das Aufnahmepult heran, hinter dem eine ihr unbekannte Schwester saß. In der Klinik arbeiteten einfach zu viele Menschen, als dass sie jeden kennen konnte. »Wann ist der nächste OP frei?«

»Ich glaube, 1 könnte gleich fertig sein. Ist aber ziemlich versaut. Der Autounfall ist drin.«

»Egal. Den OP hab ich danach, komme, wer wolle. Ist das klar?«, blaffte Tamara ihr entgegen.

»Natürlich«, antwortete die Schwester verschüchtert.

Schwester Broicher trat gerade an das Pult heran und gab der jungen Schwester eine Patientenakte. »Exitus in 1. Der Autounfall hat es nicht geschafft. Kannst du das bitte erledigen?«

Na prima, dachte Tamara. Das hat mir gerade noch gefehlt. Sie hasste es, in Räumen zu operieren, in denen kurz zuvor jemand gestorben war. Sie hatte immer das dumme Gefühl, dass der Tod noch in der Luft hing und auf den nächsten Patienten wartete. Das war natürlich Blödsinn.

*

Carl Zucker war irritiert. Mittlerweile war es früher Abend, den ganzen Montag hatte er sich mit den vorläufigen Ergebnissen der Blutwerte beschäftigt. Heute Morgen vor Sonnenaufgang, als die Leiche noch lauwarm war, hatte er heimlich an Ralf Cramer eine Autopsie durchgeführt. Cramer war an einer Art Schlaganfall gestorben – nur dass dieser Schlaganfall nicht dem gewöhnlichen Krankheitsbild entsprach. Das Gehirn hatte ausgesetzt, weil die Blutzufuhr verstopft war. Allerdings war es vollständig mit winzigen Blutgerinnseln übersät. Es war kein Wunder, dass Cramer die Operation nicht überlebt hatte. Das Mysterium war, dass er überhaupt so lange mit dieser schlammigen Suppe, die da durch seinen Körper zirkulierte, durchgehalten hatte.

Erst knapp vier Wochen vor seinem Tod war Cramer bei der regulären Blutuntersuchung gewesen, die seine Patienten alle drei Monate über sich ergehen lassen mussten. Zucker bestand bei allen auf regelmäßigen Kontrolluntersuchungen, die einen vollständigen Check beinhalteten. Cramers letzte Untersuchung zeigte hervorragende Ergebnisse. Alle Werte deuteten auf einen wesentlich jüngeren Mann hin. Und Cramer fühlte sich auch so, das hatte er wiederholt bestätigt.

Zucker war beunruhigt, nicht nur durch den plötzlichen Tod seines Patienten. Dr. Ralf Cramer war wichtig für ihn. Als langjähriger Europapolitiker saß er im Gesundheitsausschuss der EU-Kommission, mit jeder Menge Geld im Rücken. Seit Jahren flossen aus dieser nicht versiegen wollenden Quelle die Gelder für seine Krebsforschung. Und jetzt das!

Was immer auch mit Zuckers Patienten geschehen war, es war schnell passiert. Cramers Stoffwechsel war einer drastischen Veränderung unterlegen. Aber wieso? Zucker behandelte ihn schon länger als drei Jahre. Hätte Cramers Blut die ihm zugeführten Stoffe nicht vertragen, hätten sich am Anfang der Behandlung Symptome gezeigt. Was also war passiert? Zucker dachte nach. Cramer hatte weder seine Lebensweise noch seine Ernährung umgestellt. Über die Einnahme zusätzlicher Medikamente hätte er Zucker informiert. Eine der vielen unbekannten exotischen Krankheiten könnte eine derart drastische Fehlfunktion verursachen, aber Cramer war in den letzten Monaten nicht im außereuropäischen Ausland gewesen. Bei Sitzungen in Brüssel oder Tagungen in Rom holt man sich keine Ebola-Grippe.

Zucker hörte jemanden kommen. Das konnte nur Magnus DeLamotte sein. Die Praxis im Kellergeschoss des DeLamotteschen Golfplatz-Restaurants hatte keinen offiziellen Charakter. Tatsächlich war es zwar nicht unbedingt ein geheimer, doch ein verschwiegener Ort. Zucker blickte vom Mikroskop auf und schaute erwartungsvoll zur Tür. Magnus trat mit ernster Miene ein. »Und? Etwas gefunden?«, lautete seine Begrüßung.

»Gefunden habe ich eine Menge, aber nichts, was mir meine Fragen beantwortet.«

DeLamotte lockerte sein Halstuch. Eine solche Geste war selten, zeigte er doch stets eine absolut korrekte Erscheinung. Seine aristokratischen Gesichtszüge taten das ihre. Von den Nasenflügeln bis zum Kinn wurde das Gesicht von zwei tiefen Furchen durchschnitten, wie bei einem Nussknacker. Seine distinguierte Kleidung und seine schulterlangen Haare verliehen ihm etwas Dandyhaftes. Trotzdem hatte Zucker ihn selten in legerer Kleidung gesehen, nicht einmal in der Zeit, in der sie studiert hatten: Zucker Medizin und DeLamotte Pharmazeutik. DeLamotte war stets ein Vorbild an Disziplin. Er machte keine Fehler und er verzieh auch keine. Magnus war so, wie Zucker immer sein wollte, und hatte das, was Zucker am meisten begehrte: haufenweise Geld. Zucker konnte nur raten, wie viele Bankkonten in welchen Ländern dieser Welt Magnus besaß. DeLamottes weltumspannendes Pharma-Imperium wusste sich die Gesetzeslücken der verschiedenen Länder zunutze zu machen. Der Namensgeber hatte dem Konzern den Stempel seiner Persönlichkeit aufgedrückt: erfolgreich, skrupellos, korrupt und unermüdlich mit der Verfolgung seiner eigenen Ziele beschäftigt.

DeLamottes Gesicht verriet innere Anspannung. »Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Cramers Tod nicht mit unserer Behandlung in Zusammenhang steht – oder sehe ich das falsch?« Sein Ton klang befehlsmäßig. Noch ein Wesenszug, um den Zucker ihn beneidete. Er kam immer direkt zur Sache. »Ich muss wissen, wie es dazu kommen konnte«, fuhr er fort. Es war nur zu deutlich, wer der Boss war. Zucker hatte zwar die Kompetenz, aber DeLamotte hatte das Geld und die Verbindungen.

»Wenn ich es herausbekommen kann, dann werde ich es dir sagen. Wo ist dein Neffe? Er soll schnellstmöglich eine Blutprobe durch den DNS-Sequenzer schicken. Ich hege stark die Vermutung, dass wir dort auf die Ursache stoßen.«

»Er kommt später zum Abendessen in den Club. Dann kannst du ihm eine Probe mitgeben. Ich werde dafür sorgen, dass er noch heute Nacht mit den Untersuchungen anfängt.«

Da wirst du sicher nicht lange bitten müssen, dachte Zucker. DeLamottes Neffe tat immer, was sein Onkel ihm auftrug. Schließlich war er der alleinige Erbe des Imperiums. Nach dem Autounfall seines Bruders vor mehr als zwei Jahrzehnten hatte DeLamotte seinen Neffen und seine Nichte adoptiert. Das war für ihn mehr Familie, als er sich je gewünscht hatte. Den Jungen hatte DeLamotte in eines der besten Internate gesteckt, die man auf der Welt finden konnte. Er hatte ihm alles gegeben, was er zu vergeben hatte: sein Geld, seine Gefühlskälte und seine Skrupellosigkeit. In einigen Jahren würde er ihm die Macht über sein großes Imperium in die Hände legen.

Das Mädchen dagegen war zu einer wahren Plage herangereift. Seit Katharina sechzehn war, brüllte sie bei jeder Demonstration mit, die gegen ihre angeborene Herrschaftsklasse auf die Straße ging. Na ja: wer zum Rudel hinuntersteigt, der muss schließlich auch mit ihm heulen.

Wütend dachte DeLamotte an die Folgen des Interviews, das Katharina der versammelten Presse vor zwei Jahren gegeben hatte. Sie hatte die Öffentlichkeit aufgestachelt. Damals ging es um die skandalöse Verwicklung des DeLamotte-Konzerns in die illegalen Experimente zur Entwicklung neuer Pestizide. DeLamotte hatte an Zellen menschlicher Embryonen Untersuchungen über die Einwirkungen bestimmter Substanzen durchführen lassen. Ein gut bezahlter Auftrag des EXOPP-Konzerns. Durch dieses Nadelöhr der schlechten Publicity hatte er sich zusammen mit Paul Rudolph zwängen müssen – der Anfang einer erfolgreichen Partnerschaft. Die Kontrollkommission hatte im Labor das Unterste zuoberst gekehrt. Man konnte ihnen trotz schwerwiegender Indizien nichts nachweisen – wie immer. Immerhin hatte ihm diese lästige Aktion gezeigt, wie richtig es gewesen war, rechtzeitig einen Teil seines Projekts nach Peru zu verlagern.

Und jetzt das. Katharina ließ einfach nicht locker. Ausgerechnet jetzt kam die andere Geschichte an die Öffentlichkeit. In allen Nachrichten wurde die Meldung gebracht. Eine Menschenrechtsorganisation, angeführt von seiner Nichte, und verschiedene Umweltschutzinitiativen hatten sich verbündet und demonstrierten vor seinem und Rudolphs Konzern. Sie klagten den geplanten Bau einer Uranverarbeitungsanlage im Osten Zaires an: unnütz in Zeiten der Sonnenenergie, zu unsicher, zu riskant für ein Vulkangebiet, die üblichen Argumente – Chemieriesen und Pharmakonzerne verlagerten ihre Produktionen ins arme Ausland, damit sie keine teuren Filteranlagen, lästigen Umweltschutzbestimmungen, Arbeitsschutzauflagen und ähnlichen Unfug erfüllen mussten.

Gestern war ihr Bild über den Bildschirm geflimmert, als sie interviewt wurde. KatharinaDeLamotte – JuristininMenschenrechtsfragen, NichtedesKonzernchefs stand in einer Schriftleiste unter der Aufnahme. Ein gefundenes Fressen für jeden Reporter. Weiß der Teufel, wie Katharina das wieder herausbekommen hatte, ausgerechnet jetzt, wo er hinter Cramer und Zucker aufräumen musste.

»Gut, Magnus. Ich habe schon einige Proben vorbereitet. Den Blutwerten nach zu urteilen, hätte Cramer Viren oder Bakterien in sich tragen müssen, die eine starke Antigenreaktion verursacht haben. Aber ich habe keinen Auslöser gefunden. Allerdings war Cramers Niere übersät mit kleinen Tumoren, so winzig, dass man sie bei einer normalen Autopsie wahrscheinlich übersehen würde. Es sind nicht die üblichen Nekrosen, kleine abgestorbene Muskelzellen, die auftreten, wenn das fremde Gewebe nicht toleriert wird.«

DeLamotte runzelte die Stirn. »Und? Was bedeutet das? Hatte er Krebs?«

»Unwahrscheinlich. Möglicherweise ist das eine körperliche Abwehrreaktion auf das Fremdorgan, eine mir unbekannte Art der Abstoßung.« Zucker zuckte mit den Schultern. »Je mehr Rätsel ich entschlüssele, desto mehr Fragen tauchen auf. Mich beschäftigt allerdings noch eine weitere wichtige Frage«, deutete er mit bedenklichem Ton an.

»Ich weiß: der Antrag. Ich habe mich bereits darum gekümmert. Es wird vermutlich etwas dauern, bis Cramer einen würdigen Nachfolger bekommt. So lange müssen wir versuchen, an anderer Stelle Unterstützung zu finden. Es gibt durchaus einige Vertreter in diesem Ausschuss, die einer gewissen Form der Honorierung ihrer Leistungen nicht abgeneigt sind.«

»Was ist, wenn jemand auf die Idee kommt, die Projektanträge zu prüfen? Die Kommission fordert fachkompetente Gutachten.«

»Umso besser. Damit haben wir zwei Pferde im Rennen. Entweder finden wir bei den Gutachtern jemanden, der uns wohlgesonnen ist, oder wir finden jemanden in der Kommission. Wie gesagt, ich habe diesbezüglich bereits alles in die Wege geleitet.« DeLamotte erklärte das mit dem ihm so typischen abschätzigen Ausdruck, der sich in langen Jahren der Geringschätzung anderer in sein Gesicht eingegraben hatte. Nicht einmal mit einer Operation ließe sich diese Miene entfernen.

Das Haustelefon klingelte. DeLamotte nahm den Hörer ab. »Ja, ist gut. Sagen Sie ihm, ich komme sofort.« Er legte den Hörer wieder auf. »Mein Neffe ist da. Isst du mit uns?«

Zucker nickte zustimmend. »Geh schon vor. Ich muss noch zusammenräumen.«

*

Das Telefon schrillte unbarmherzig durch das Zimmer. Tamara blinzelte. Ihre Augenlider flatterten unwillig. Der Raum lag im Halbdunkel. Noch immer kam er ihr fremd vor. Ein Blick auf den Radiowecker bestätigte, dass irgendetwas schief gelaufen war. Sie hatte wieder vergessen, den Anrufbeantworter anzuschalten. Nach ihrem Sechsunddreißig-Stunden-Dienst-Marathon war sie wie ein Stein ins Bett gefallen. Sie hatte beinahe den ganzen Montag verschlafen – nicht lange genug. Ihr Kopf wog Tonnen. Das Telefon klingelte unbeirrt weiter. Ihre leicht mandelförmigen Augen – Josh hatte sie immer Geisha-Augen genannt – brannten.

Es war jetzt schon das dritte Mal in zwei Wochen, dass ihr so etwas passiert war. Langsam quälte sie sich aus dem Bett, um den Anrufbeantworter einzuschalten. Dann lümmelte sie sich in das Sofa. Der Radiowecker zeigte vier Uhr nachmittags; viel zu früh, um mit der Außenwelt zu kommunizieren, wie sie fand.

Luzifer, ihr Kater, rieb sich an ihren Beinen. Er machte seinem Namen alle Ehre. Er kam aus dem Dunkel der Nacht, rabenschwarz mit zwei rötlichen Wirbeln über seinen Augen, die eine diabolische Anziehungskraft auf Tamara ausübten. Seine ausgefahrenen Krallen konnten höllische Schmerzen verursachen. Unvorbereitet sprang er sie an wie das Unglück die Menschen.

Endlich ging der Anrufbeantworter an. Tamara lauschte und erkannte sofort die Stimme ihrer Mutter, die sich fragte, ob ihre Tochter heute vorbeikäme. Tamara angelte nach ihren Zigaretten und zündete sich eine an. Luzifer verließ beleidigt seinen Platz. Er verachtete diese ungesunde Gewohnheit seiner Mitbewohnerin zutiefst.

Zunächst stellte sie sich unter die Dusche. Mit dem feuchten Handtuch um den Körper wühlte sie in ihrem Kleiderschrank, der provisorisch in einer Ecke zwischen Bett, Couch und Terrassentür stand. Es gab noch immer einige Kartons mit Kleidung, die sie nicht ausgepackt hatte. Wann auch? Sie arbeitete tagsüber, sie arbeitete abends, sie arbeitete am Wochenende.

Nächstes Wochenende, nahm Tamara sich vor, nächstes Wochenende würde sie das letzte Zimmer streichen, die Möbel umräumen und die restlichen Kartons auspacken. Dann hätte sie endlich Platz in ihrer Wohnung. Danach konnte sie sich daran gewöhnen, diesen Ort als ihr neues Zuhause zu betrachten. Bisher war es kaum mehr als eine zeitweilige Schlafstelle. Die Küche, das Wohnzimmer und das Bad waren auf die letzte Minute noch von einem Malerbetrieb hergerichtet und gestrichen worden, aber für das Schlafzimmer war keine Zeit mehr gewesen. Diese Parterrewohnung eines mehrstöckigen Familienhauses aus den achtziger Jahren Zuhause nennen zu wollen, kam einer absurden Fehleinschätzung gleich. Der einzige Lichtblick dieser absolut charmelosen Behausung war die Nähe zum Zoopark. In drei Minuten stand sie an den Ufern der Düssel zwischen Parkbänken und Kindergeschrei.

Vor vier Monaten war Tamara aus ihrem Haus ausgezogen. Als sie endlich diese Wohnung anmietete, musste alles sehr schnell gehen. Sie hatte ein Umzugsunternehmen angeheuert, um jeglicher Konfrontation mit ihrem Noch-Ehemann aus dem Weg zu gehen. Da Josh mit seinem Architekturbüro den größten Teil des Erdgeschosses ihres Hauses einnahm, lag es nahe, dass Tamara auszog. Das Haus war ihr ohnehin gleichgültig. Sie hatte zwar die Hälfte bezahlt, aber Josh hatte seine Ideen dort verwirklicht. Für ihn war es sein Kind, also räumte sie das Feld und nicht er. Schon lange hatten sie in getrennten Räumen gelebt und gingen sich aus dem Weg. In jeder normalen Ehe wären die Partner bereits viel früher völlig getrennte Wege gegangen, nicht aber Tamara und Josh. Keiner von beiden hatte die Zeit umzuziehen. Keiner von beiden hatte Lust, die seltene Freizeit mit Wohnungssuche zu verbummeln. Erst als Josh seine neue Freundin mit ins Haus brachte – wann hatte er die Zeit dafür aufgebracht, sich neu zu verlieben? –, hielt Tamara es nicht mehr aus. Nach einem deprimierenden Weihnachtsfest gab sie endlich eine Annonce auf.

An einem garstigen Januartag mit Eisregen zog sie in diese kleine, überteuerte Wohnung, deren anonyme Ausstrahlung dringend einer kreativen Hand bedurfte. Aber sie war hell, ruhig und hatte eine Terrasse zu einem kleinen Garten. Die wahllose Stilmixtur in diesem Viertel, die von den Fünfzigern bis in die achtziger Jahre querfeldein sprang, nur selten unterbrochen von einigen architektonischen Vorkriegsperlen, interessierte Tamara wenig.

Jede Stunde, die sie über ihre Arbeit hinaus erübrigen konnte, verbrachte Tamara bei ihrem Vater am Krankenbett. Jedes Mal, wenn sie ihn verließ, dachte sie, es könnte das letzte Mal gewesen sein, dass sie ihn lebend sah. Trotzdem schaffte sie es nicht, ihn als Sterbenden zu sehen. Er war krank. Kranke konnte man heilen. Doch der Stachel des Todes ließ sich nicht herausziehen. Er pikste unentwegt. Tamara musste immer mehr Energie aufwenden, um ihn zu ignorieren.

Und weil diese Tatsache ihr momentanes Leben so sehr bestimmte, war der Teppich ihres zukünftigen Schlafzimmers noch mit einer großen Plastikplane abgeklebt und die Wände warteten darauf, endlich gestrichen zu werden. Ihr Bett stand in der Ecke, wo später die lederne Couch hinkommen sollte. Seit Wochen lebte sie zwischen Werkzeug, Farbtöpfen, Pinseln und gewöhnte sich langsam an den Anblick nackter Glühbirnen, die von der Decke baumelten. Die Wohnung ähnelte verblüffend dem Leben ihrer Bewohnerin: unaufgeräumt und beiseite geschoben warteten diverse Dinge darauf, ausgepackt zu werden oder endlich einen Platz zugewiesen zu bekommen.

Sie öffnete den Kühlschrank. Da stand noch immer der angebrochene Becher Dickmilch. Schon seit zwei Wochen schob sie die Begutachtung seines Inhalts vor sich her. Um ihn herum drapierten sich eine eingetrockneter Schale Quark und eine braune Banane. Einzig der Inhalt der Flasche Ketchup war noch genießbar. Die hatte sie erst letzte Woche gekauft, für ihre Pommesorgien. Ansonsten schlug ihr gähnende Leere entgegen. Dafür stapelten sich im Mülleimer die Verpackungen des Pizzaservices, des China-Heimservices und des thailändischen Flitzer-Services, obschon all diese Verpackungen unter dem Berg von Frittenschalen fast verschwanden. Ihre Lebensgewohnheiten waren ein berufliches Armutszeugnis. Sie knallte die Tür des Kühlschranks zu, griff nach ihren Zigaretten, rauchte in aller Ruhe und trank ein Glas abgestandenes Mineralwasser.

»Komm her, Luzifer.«

Luzifer stand vor seinem Napf und blinzelte sie missgünstig an. Er würde solange an dieser Stelle stehen und mauen, bis sie ihm den Napf füllte. Tamara drückte ihre Zigarette aus, leerte eine Dose Katzenfutter in den Napf und füllte den anderen mit frischem Wasser. Dann suchte sie ihre Jacke, ihre Tasche und die Schlüssel zusammen.

Tamaras Eltern wohnten am südlichen Rand der Stadt, in Urdenbach, direkt am alten Rheinarm. Nach einer knappen halben Stunde Fahrt parkte sie ihr Auto vor dem alten, aber liebevoll hergerichteten Haus. Schon am leicht verwilderten Zustand des Gartens konnte man erkennen, dass die Bewohner seit längerem keine Zeit mehr für diese Art Beschäftigung aufbringen konnten.

»Tamara! Schön, dass du da bist. Kind, du siehst wirklich schlecht aus.« Ihre Mutter sah allerdings ebenso müde aus wie ihre Tochter. Seit Monaten schlief sie nicht mehr durch. Sie wachte mehrmals in der Nacht auf und überprüfte den Atem ihres Mannes. Der Gedanke daran, dass es die letzte Nacht sein könnte, in der sie seinen Lebenszeichen lauschte, ließ sie nicht mehr einschlafen. Im Laufe der Krebserkrankung ihres Mannes war ihre Haarfarbe von einem Braungrau ins Schlohweiße gewechselt. Gemeinsam mit ihrem Mann hatte sie an Gewicht verloren. Körperlich war sie am Rande ihre Kräfte, aber sie zeigte es nicht. Seelisch hingegen stand sie wie ein Fels in der Brandung – zumindest schien es Tamara so. Doch niemand konnte ermessen, welche Krater das Füttern ihres Mannes, das Entleeren der Bettpfanne und das Waschen seines kranken Körpers in ihre Seele gerissen hatten. Der sporadisch auftauchende Gedanke, dass der Tod ihres Vaters eine Erleichterung für ihre Mutter sein könnte, war ein ungebetener Gast in Tamaras Kopf.

Sie konnte ein Gähnen nicht mehr unterdrücken. »Wie geht es Papa?«

»Ach.« Tamaras Mutter atmete tief durch. »Unverändert. Mal etwas besser, mal etwas schlechter.«

»Was sagt der Arzt?«

»Nichts, was er nicht schon zehnmal gesagt hätte.«

Tamara schloss die Augen. Man hatte das erste Karzinom im Magen ihres Vaters erst sehr spät entdeckt. Der halbe Magen war ihm weggenommen worden, aber nach einem halben Jahr fing alles wieder von vorne an. Jetzt fütterte er etliche Metastasen, die seinen Körper von innen her zerfraßen. Kaum ein lebenswichtiges Organ war verschont geblieben. Rettung war ausgeschlossen. Man hätte ihm quasi sein gesamtes Innenleben ersetzen müssen und wie sollte das funktionieren? Er hätte schon einen transplantationswilligen Zwillingsbruder haben müssen, der ebenso gesund wie plötzlich verschied. Welche Ironie des Schicksals, dass gerade sie als Krebsspezialistin dem Leiden ihres Vaters so hilflos gegenüberstand.

»Du isst zu wenig. Hast du heute schon was gegessen?«

»Mama, ich bin gerade erst aufgestanden«, versuchte Tamara sich zu verteidigen. Sie klopfte auf ihren Hintern. »Und ich ess schon genug!«

»Nur Müll! Papperlapapp! Geh du hoch zu deinem Vater. Ich wärm dir was auf.« Sie schob Tamara die kleine Treppe hinauf und verschwand selbst in der Küche.

Vorsichtig steckte Tamara ihren Kopf durch die Schlafzimmertür.

»Komm ruhig rein. Ich schlafe nicht. Ich hab euch doch schon unten lamentieren gehört.« Die geschwächte Stimme ihres Vaters drang an ihr Ohr.

»Hallo, Papa.« Mit den routinierten Augen einer Ärztin erfasste sie kritisch die Anzahl der Schläuche, den Inhalt der Tropfe und die Medikamente, die aufgereiht auf dem Nachttisch standen. Tamara überlegte, wann sie ihren Vater das letzte Mal gesehen hatte, ohne dass irgendein Schlauch aus seinem Körper hing. Tiefe Furchen durchzogen seine abgeschlaffte Gesichtshaut. »Wie geht es dir?«

»Ich würde gerne ein kleines Stück am Rhein spazieren gehen. Heute Vormittag war richtig schönes Wetter.«

»So? Hab ich gar nicht mitbekommen.«

»Du verschläfst den besten Teil deines Lebens, Tamara. Hattest du gestern wieder Notdienst?«

Die Tochter nickte und setzte sich auf die Bettkante. Sie betrachtete verstohlen den abgemagerten Körper und registrierte die fortschreitende Gewichtsabnahme. Da ihr Vater bereits in frühen Jahren eine Halbglatze bekommen hatte, fiel der Verlust der restlichen Haare durch die vorangegangene Chemotherapie nicht gravierend auf. Sein Anblick erinnerte sie daran, dass diese Krankenbesuche bald ein Ende finden würden.

»Bist du eigentlich die Einzige, die in eurem Krankenhaus am Wochenende arbeiten muss?«

»Nein. Ich hab nächstes Wochenende ganz frei. Dann werde ich meine Wohnung fertig streichen. Ich weiß wirklich nicht, ob mir bei diesen Aussichten die Arbeit nicht lieber ist.«

»Und hast du was von Josh gehört?« Tamaras Vater gab die Hoffnung nicht auf, dass sich die Ehe seiner Tochter doch noch wieder einrenken könnte. Er konnte die Scheidungsabsichten seiner Tochter so schlecht akzeptieren wie sie seine fortschreitende Krankheit.

»Ja, ich hab einen bösen Brief von seinem Anwalt bekommen. Sieht so aus, als ob wir doch noch in den Ring steigen und eine Schlammschlacht veranstalten werden.«

»Ich hoffe, dass ich das nicht mehr erleben muss.«

»Sprich doch nicht so. Du kannst es noch lange machen.«

»Ja, aber genauso gut kann ich auch morgen sterben.«

»Papa!«

Seine Stimme war zwar leise, aber eigentümlich eindringlich. »Kind, du musst dich wirklich mit dem Gedanken anfreunden, dass ich bald nicht mehr sein werde. Sehr bald!«

Anfreunden? Mit dem Tod? Was für eine absurde Vorstellung. Ihr Vater war schwer krank. Sie hatte weiß Gott schon verdammt viele Leute sterben sehen. Manche waren sogar unter ihren Händen auf dem Operationstisch gestorben. Es war nie leicht. Mit der Zeit hatte sie den routinierten Umgang mit ihrer Angst, mit ihrer Trauer und mit der Enttäuschung erlernt, so dass es nach außen schien, als ob der Tod jedes Mal mehr an ihr abglitt. Aber das stimmte nicht. An den Tod gewöhnt man sich nicht. Es war immer ein anderer Mensch, der da starb, ein anderes Leben, eine andere Hoffnung. All ihre Erfahrungen halfen ihr nicht, jetzt, da es ihren eigenen Vater betraf. Das war neu. Da gab es keine Routine. Tamara gab sich verdammt viel Mühe, das zu verdrängen. »Wann war der Arzt zuletzt hier?« Sie wechselte ungeschickt das Thema.

»Vorgestern«, sagte ihre Mutter, die gerade zur Türe hereinkam. »Ich hab dir was von heute Mittag warm gemacht. Es steht in der Mikrowelle.«

»Danke, Mama.« Tamara druckste ein wenig herum. »Habt ihr euch jetzt überlegt, ob Papa ins Krankenhaus geht? Im Notfall hätte er dort jede Hilfe, die es gibt. Ich könnte vielleicht sogar selbst ...«

»Nein!« Ihr Vater hob seine Hand zum Einwand. »Ich möchte nicht im Krankenhaus sterben. Ich bekomme genug Medikamente, um nicht zu leiden. Aber ich möchte mein Leben nicht noch mehr künstlich verlängern. Was soll das denn? Soll ich wirklich noch zwei Jahre an irgendwelchen Schläuchen hängen? Wenn ich sterbe, soll die Hand deiner Mutter in meiner liegen und nicht irgendein kalter Plastikschlauch. Und ich möchte dich bitten, meinen Entschluss zu respektieren, auch wenn es dir als Ärztin besonders schwer fällt.«

»Dein Vater hat recht. Wenn du etwas tun möchtest, dann zeig uns, dass du gut auf dich aufpassen wirst, wenn wir mal nicht mehr sind. Und du kannst gleich damit anfangen. Unten wartet das Essen auf dich.« In der Stimme ihrer Mutter lag ein liebevoller Vorwurf.