Tödliche Sonate - Natasha Korsakova - E-Book
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Tödliche Sonate E-Book

Natasha Korsakova

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Beschreibung

Wer tötete die Grande Dame der klassischen Musik?

Ein skandalöser Fall erschüttert Rom: Die mächtige und in den Kreisen der klassischen Musik gefürchtete Musikagentin Cornelia Giordano wurde brutal ermordet. Commissario Di Bernardo, erst kürzlich aus Calabrien nach Rom versetzt, muss sich in die Welt der Musikagenten, Opernhäuser und musikalischen Wunderkinder begeben und ermitteln. Es scheint, als sei die Giordano alles andere als beliebt gewesen. Und was hat die „Messias“, Antonio Stradivaris legendäre Violine, mit dem Fall zu tun?

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NATASHA KORSAKOVA

TÖDLICHE

SONATE

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Originalausgabe 11/2018 Copyright © 2018 by Natasha Korsakova Copyright © 2018 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: © Favoritbüro Satz: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-22375-5V002www.heyne.de

Widmung

Für meine Eltern Yolanta und Antonio, und für Manrico

Motto

»Wahrhaftig, Herr Tarisio, dann ist Ihre Violine wie der Messias: Alle warten auf ihn, aber er erscheint nie.«

JEAN-DELPHIN ALARD

Prolog

Cremona, 12. August 1716

Antonio Stradivari öffnete die Augen und blinzelte. Die Strahlen der Mittagssonne drangen durch die Spalte der zugezogenen Gardinen und bildeten ein strenges geometrisches Muster auf dem dunklen Holzfußboden – ein heilsamer Gegensatz zum Rest der Werkstatt, dachte er und seufzte.

Überall lag Holz herum: in großen und kleinen Stücken, in naturbelassener bis wunderlicher Form, frisch geschnitten oder getrocknet. Unter der niedrigen Decke hingen Violinen an Leinen, mit kräftigen Schnecken aus Ahorn, wie der Boden und die Zargen.

Doch sie kümmerten Antonio nicht. Nicht an diesem Tag.

Tief atmete er den Geruch nach Holz, Leim und frischem Lack ein. Sein Blick wanderte zu der Werkbank mit den unzähligen Messerspuren. Zwischen den Hobelspänen lag eine Violine mit sinnlichen Formen und frischem goldenem Lack. Am frühen Morgen erst hatte er sie vollendet. Ihm war, als hätte sie sein Innerstes in sich aufgesogen, er fühlte sich seltsam leer und beglückt zugleich.

Welchen Weg das Instrument wohl gehen würde? In wessen Hände es geraten würde, wessen Hände wieder verlassen? Ob es noch gespielt werden würde, wenn er selbst nicht mehr unter den Lebenden weilte?

Antonio griff sich in den Nacken und kämpfte gegen einen leichten Schwindel an. Seine Söhne kamen ihm in den Sinn. Keiner der Jungen begriff, was es mit dem Geigenbau wirklich auf sich hatte. Eine Meistervioline zu erschaffen war kein bloßes Handwerk; es war eine Kunst, die einem zuweilen alles abverlangte. Da war das Wesen des Holzes. Ahorn und Fichte, doch nicht jeder Baum war ein Geigenbaum. Dann die Wahl der Öle und Harze. Die alles verändernden Pigmente, so winzig, so gering in der Menge, dass er sie selbst lange Zeit unterschätzt hatte. Und schließlich das Unwägbare, das keiner beeinflussen konnte, auch nicht er selbst. Kleinste Asymmetrien, geboren aus einer Eingebung heraus.

Sachte fuhr er mit dem Finger über den glänzenden Lack bis hin zum linken F-Loch. Nur wer sehr genau hinsah, würde bemerken, dass es ganz leicht nach oben gezogen war. Er hätte selbst nicht sagen können, wie es dazu gekommen war. Eine Maserung im Holz, das zu ihm gesprochen hatte. Eine Laune des Augenblicks.

Von der Gasse her waren Schritte zu hören. Im nächsten Augenblick trat Omobono ein, sein jüngerer Sohn. Behutsam schloss er die Tür wieder hinter sich. Er war später als sonst erschienen, wohl, um seinem Vater ein wenig Ruhe zu gönnen.

Antonio warf einen flüchtigen Blick auf die Werkbank seines Sohnes. Ein eintöniger Tag lag vor ihm: Stege waren zu schnitzen, und auch ein Geigenkasten war in Auftrag gegeben worden – allesamt niedere Arbeiten. Dabei war der Klang seiner Violinen geschmeidig und kraftvoll. Aber ihre Gestaltung verriet die Eile und Ungeduld ihres Schöpfers. Kein Wunder, weilte er doch mit seinen ungestümen Gedanken ständig an anderen Orten. Und nicht nur mit seinen Gedanken.

»Vater!«, grüßte Omobono ihn und schlenderte auf ihn zu. Der Boden war von lockenförmigen Holzschnipseln bedeckt, die unter den Schuhen wie trockene Blätter raschelten und knirschten. Omobono zerstreute sie wie früher als Kind mit den Füßen und verteilte sie dabei im Raum.

Antonio lag eine unwirsche Bemerkung auf der Zunge, doch da hielt sein Sohn ihm eine Rose entgegen. Seine dunklen Augen blitzten. »Für Euch, nehme ich an. Sie lag auf der Türschwelle.«

Verwirrt blickte Antonio auf die Rose. »Was sagst du da? Wo hast du die her?«

»Jedenfalls nicht aus unserem Garten. Hat wohl eine Verehrerin von Euch hinterlassen«, sagte Omobono schmunzelnd.

Antonio griff nach der Rose und drehte sie zwischen seinen knochigen Fingern hin und her. Überraschung und Zweifel wanderten in schneller Folge über sein müdes Gesicht.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Omobono ihn mit einem sorgenvollen Blick bedachte. Unwillkürlich schnaubte er. Wie so oft hatte sein Sohn keine Ahnung! Es ermattete ihn, sich und seine Stimmungen ständig erklären zu müssen. Längst hatte er begonnen, sein Inneres abzuschotten und niemandem Zugang zu gewähren, auch seiner Familie nicht.

Doch vielleicht irrte er ja. Vielleicht steckte mehr in Omobono, schließlich hatte sein Sohn ihn schon des Öfteren überrascht. Anders als Francesco, sein überaus gewissenhafter Ältester, erinnerte Omobono Antonio an sich selbst – an früher, als er noch jung gewesen war.

Als Omobono sich nun achselzuckend umdrehte und sich an seine Werkbank begeben wollte, hielt Antonio ihn zurück. »Warte …« Mühsam richtete er den steif gewordenen Körper auf. »Dein Fund hat eine Bedeutung«, sagte er mit heiserer Stimme, während sein Blick fast zärtlich von der Rose zur Geige wanderte. »Nicht jedes Instrument entfaltet seine Schönheit. Viele erinnern an Rosenknospen, die sich niemals öffnen, sodass wir ihre wahre Herrlichkeit nicht bewundern können. Der Klang bleibt in ihrem Inneren fest verschlossen.« Er sah auf und lächelte seinen Sohn an. »Dagegen die anderen – sie blühen auf wie die bezauberndsten Rosen. Solche Violinen sind wahre Kunstwerke. Sie haben keine Rivalen. Ihr Klang verzaubert die Menschen, umhüllt sie und ruft das Schöne, das Gute in ihnen hervor.« Er räusperte sich. »Verstehst du, was ich meine?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, tat Antonio etwas, das ihn selbst überraschte: Er steckte die Rose in eins der F-Löcher der vor ihm liegenden Geige und ließ sie dort wie in einer Blumenvase stehen.

»Vater …«, murmelte Omobono und runzelte die Stirn, doch Antonio schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab.

Einen Herzschlag lang verweilten sie beide, als könne jede Bewegung die Violine dabei stören, zu erblühen.

»Sieh schnell draußen nach, ob auch keiner lauscht«, flüsterte Antonio Stradivari nach einer Weile. »Es ist wohl an der Zeit, dich in ein Geheimnis einzuweihen. In ein Geheimnis und einen Plan.«

1

Rom, 24. Januar 2017

Der Regen hat aufgehört, und feuchte Kälte dringt durch die Jacke bis auf meine Haut. Ich stehe gut verborgen im Schutz der Pinien und ziehe mir fröstelnd die Kapuze über den Kopf. Es ist fünf vor halb neun am Abend, und die Dunkelheit ist verlässlich. Nach dem Gewitter, das vor nicht einmal einer Stunde über die Stadt hinweggefegt ist, jagen nun finstere Wolken über den Himmel.

Die glänzend nasse Straße liegt ruhig und verlassen da. Selbst in den frisch renovierten Apartmenthäusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite rührt sich nichts.

Das dreistöckige graue Patrizierhaus steht etwas versetzt. Aus den beiden Fenstern der oberen Etage dringt gedämpftes Licht. Eine Taube duckt sich auf dem Sims, drückt sich an die schützende Fensterwand, als ahne sie, dass etwas Schreckliches geschehen wird.

Ein Wagen hält an. Drei Frauen steigen aus und überqueren lachend und schwatzend die Straße.

Unwillkürlich halte ich den Atem an, doch niemand schenkt mir in meinem Versteck Beachtung. Hastige Schritte klackern staccatohaft über das Kopfsteinpflaster, bis die Frauen im Eingang des übernächsten Hauses verschwinden.

Mein Zeitfenster ist extrem klein. Alles in mir drängt danach, endlich tätig zu werden. Aber ich darf nichts dem Zufall überlassen. Mein Blick wandert suchend die Straße entlang.

Das Warten auf die perfekte Stunde, Minute, Sekunde. Heute liegt die Zeit in meiner Gewalt.

Drei Autos fahren nahezu gleichgültig an mir vorbei. Ein letzter Blick auf die Uhr. Jetzt! Ich wage mich aus dem Dunkel und überquere die Straße.

Unmittelbar vor dem Hauseingang bricht die Angst über mich herein. Mein Puls beschleunigt sich, ich spüre, wie Schweiß aus meinen Poren dringt.

Verdammt! Das darf nicht sein.

Nicht jetzt!

Ich balle die Hände zu Fäusten, bis es wehtut. Werde ich etwa kneifen? All die Zeit, die ich aufgewendet habe! Die Suche nach Überwachungskameras. Das eintönige Beobachten. Die Kälte und, schlimmer noch, die Nässe. Nervenzehrende Abende wie dieser, allein im einsamen Schutz der Dunkelheit. Die immer gleichen Abläufe, die ich einstudiert habe, präzise wie nach dem Takt eines Metronoms. Soll das alles umsonst gewesen sein?

Nein. Mir bleibt keine Zeit mehr. Heute. Jetzt. Und ich weiß: Es wird ein einzigartiger, unvergesslicher Abend werden! Der Glaube an meinen Erfolg muss größer sein als das Lampenfieber.

Mein Herz rast, jeder Muskel in meinem Körper ist angespannt. Ich löse die rechte Faust und schiebe die Hand in die Jackentasche. Meine Finger berühren die scharfe Klinge. Ich taste nach dem Griff und umklammere ihn, als wäre er mein einziger Halt. Ich zähle bis fünf, dann lasse ich los.

Allmählich schwindet meine Nervosität. Ich fokussiere mich, sauge die feuchtkalte Luft tief in die Lungen. Dann betrete ich den Flur. Ein schneller Blick sagt mir, ich bin allein. Ich hole die Pantoffeln aus dem Rucksack und ziehe sie über meine Schuhe.

Mein Blick wandert zum Lift. Kurz durchfährt mich ein Schrecken wie ein Echo aus meiner Kindheit. Ein anderer Aufzug, der in die Tiefe stürzte, ich selbst im freien Fall …

Ich atme gegen die aufkommende Panik an, lasse den Aufzug links liegen und nehme die steinerne Treppe. Fast gleite ich auf den marmornen Stufen aus. Ich zwinge mich, langsamer zu gehen, auch wenn alles mich nach oben treibt, meinem Ziel entgegen.

Der dritte Stock. Die Tür steht halb offen. Still lege ich den Rucksack auf den Boden, dann streife ich die Jacke ab und lege sie daneben.

Geräuschlos nähere ich mich der Tür.

Sie sitzt mit dem Rücken zu mir, tippt etwas in den Computer. Ein Glas steht neben ihr, daumenbreit mit Whisky gefüllt.

Ich halte inne, betrachte die gerade Haltung ihres Rückens. Ich denke an die Angst und die Demütigungen. An ihre Macht, andere zu zerstören. Eiskalt, ohne den Hauch eines Gefühls.

Heute Abend tauschen wir die Rollen. Heute bin ich es, der die Macht in den Händen hält.

Eine atemberaubende Vorstellung!

Wenn ich diesen Moment doch noch länger auskosten könnte.

2

Commissario Dionisio Di Bernardo nutzte die abendliche Regenpause und quälte sich den Joggingpfad im Gianicolo hinauf.

Sein Atem ging stoßweise, und die Seite tat ihm weh. Die leicht feuchte Trainingsjacke klebte unangenehm an seinem Unterhemd. Notgedrungen verlangsamte er das Tempo. Noch nicht einmal fünf Kilometer hatte er geschafft.

In der alles umhüllenden Dunkelheit des Winterabends wirkten sogar die prächtigen Gebäude des Vatikans verwaschen und müde. Auch der weite Blick über den Tiber, über dem ein blassgräulicher Nebel hing, konnte den Commissario heute nicht zum Joggen motivieren. Im Gegenteil, die Trägheit des Flusses schien sich auf ihn zu übertragen. Er überlegte gerade, ob er nicht lieber den Weg hügelabwärts nehmen sollte, als sein Handy klingelte. Es war die Questura.

»Scusi, Commissario, aber wie es aussieht, haben wir einen Mordfall. Eine Musikagentin ist in ihrem Büro in der Via Giovanni Antonelli tot aufgefunden worden«, berichtete Ispettore Roberto Del Pino. »Ich fahre mit Magnanti und Ricci nach Parioli. Die Spurensicherung ist auch schon im Anflug.«

»Ich beeile mich.« Di Bernardo drückte das Gespräch weg und sah auf die Uhr. Es war zehn vor neun. Der allwöchentliche Busfahrerstreik war gegen neunzehn Uhr zu Ende gegangen; er schätzte, mit dem Auto in ungefähr fünfundzwanzig Minuten am Tatort sein zu können.

Leicht resigniert verließ er den Joggingpfad und eilte nach Hause. So viel zu den guten Vorsätzen, wieder regelmäßig zu joggen. Die drei Kilo, die sich hinterhältigerweise an seinem Bauch angesammelt hatten und seiner Silhouette etwas Behäbiges gaben, versuchte er schon seit Wochen wieder loszuwerden. Mit der Betonung auf versuchte, wie sein siebzehnjähriger Sohn ihm ständig unter die Nase rieb.

Di Bernardo seufzte. Abgesehen davon, dass er nicht zum Laufen kam, war nun auch der geplante Abend mit Alberto in die Ferne gerückt, und das ausgerechnet an dem Tag, da der Junge bei ihm übernachtete. Dabei hatte er ihm versprochen, den neuesten Film mit Checco Zalone anzusehen.

Fünfzehn Minuten später hatte Di Bernardo sein verschwitztes Sportoutfit gegen einen braunen Anzug mit honiggelber Krawatte getauscht. Das Haar hatte er tags zuvor akkurat schneiden lassen; wie der Kinnbart war es am Ansatz ergraut. Einigermaßen zufrieden mit seiner Erscheinung, machte er sich auf den Weg nach Parioli. Als er am Tiber entlangfuhr, schälte sich Castel Sant’Angelo zu seiner Linken aus dem Dunst wie eine Trutzburg. Er erinnerte sich, wie er die Engelsburg mit seinem Vater besichtigt hatte. Er war kaum älter als zehn oder elf gewesen. Sein Vater hatte ihn auf den geheimen Gang aufmerksam gemacht, der als gewöhnliche Mauer getarnt war und zwischen der Residenz des Papstes und der Burg verlief: den Passetto di Borgo. Er hatte den Päpsten die Möglichkeit gegeben, zu fliehen, wenn Eindringlinge sie im Vatikan bedrohten oder der römische Pöbel vorhatte, sie in den Fluss zu werfen. Di Bernardo schmunzelte unwillkürlich. Die Römer waren so manches Mal nicht gerade zimperlich mit den Oberhäuptern der Kirche umgegangen.

Ein schlammfarbener Fiat vor ihm wechselte so plötzlich auf seine Spur, dass der Commissario gezwungen war, auszuscheren. Es war immer ein Risiko, wenn man im Straßenverkehr Roms ins Tagträumen geriet. Aber die Stadt machte es ihm schwer, sich auf die schlangengleichen Straßen und Gassen zu konzentrieren. Von überallher sprang ihn die Geschichte des römischen Imperiums geradezu an. Als kleiner Junge aus dem Süden hatte er sich ausgemalt, zwischen den Ruinen nach geheimen Schätzen zu graben. Was hätte er dafür gegeben, einen Aureus zu finden, am besten gleich eine ganze Kiste voll. Oder zur Not auch Denare und Sesterzen.

Inzwischen war es die zerfressene und dennoch unzerstörbare Schönheit der Bauten, die ihn faszinierte und die er in keiner anderen Stadt derart geballt gesehen hatte. Monumente von Krieg und Frieden, so wie hier, am Tiber, die Ara Pacis mit ihren Marmorreliefs, die über Jahrhunderte ebenso in Vergessenheit geraten war wie der zweihundertjährige Römische Frieden, zu dessen Anlass sie errichtet worden war. Letztlich schien jeder Frieden in einen Krieg zu münden, so wie das Leben in den Tod.

Womit ich in meinem Metier gelandet bin, dachte Di Bernardo und verzog das Gesicht. Nur, dass in seinem neuen Fall vermutlich keine Barbaren eingefallen waren und den Tod gebracht hatten. Aber wer wusste schon so genau, was Menschen zu Mördern machte.

Mit einem Mal hatte er es eilig, an den Tatort zu kommen. Am Ministerium der Marine bog er rechts auf die Piazzale delle Belle Arti ab und hatte Minuten später Parioli erreicht – das schickste Viertel Roms, in welches sich die durchschnittlichen Bürger nur selten verirrten. Denn die Pariolini blieben nun mal lieber unter sich.

Als der Commissario um halb zehn in der Via Antonelli im Herzen des Quartier Parioli aus dem Wagen stieg, zog er den Bauch ein und reckte die Schultern. Obwohl er nur eins fünfundsiebzig maß, wirkte er durch seine aufrechte Körperhaltung um einiges größer. Zumindest redete er sich das gern ein.

Während er den Wagen abschloss, ließ der Commissario den Blick über die weitläufige Straße schweifen. Außer den Polizeiwagen entdeckte er etliche Passanten unweit des Tatorts. Ein weiteres Auto hielt an: zwei Schaulustige mehr, die wegen der Absperrung neugierig geworden waren. Di Bernardo ließ den Blick wachsam über die Menge und weiter zu dem Patrizierhaus mit dem Schild Giordano Artists Management gleiten. Über der Eingangstür bemerkte er ein geschwungenes farbiges Ornament, das auf den ersten Blick wie eine Fabelgestalt wirkte und sich bei näherem Hinsehen als Medusenhaupt entpuppte. Für einen Moment verharrte er, um alle Einzelheiten in sich aufzunehmen. Dann bückte er sich unter dem Absperrband hindurch und trat ins Innere des Jugendstilgebäudes.

Im Flur roch es nach schon lange in den Wänden nistender Feuchtigkeit. Eine breite Treppe mit reich verziertem Handlauf wand sich neben einem kleinen und nicht besonders vertrauenerweckend wirkenden Aufzug die Stockwerke empor. Der Commissario nahm die Treppe zum dritten Stock, wo Del Pino vor der Wohnungstür auf ihn wartete und ihm wortlos Schuhüberzieher und Einmalhandschuhe reichte.

Vor der Türschwelle lagen zwei in fettige Servietten gewickelte belegte Brote auf dem Boden. Daneben lag ein Plastikbecher, aus dem Kaffee hinausgeflossen war. Er machte einen Schritt zur Seite und betrat die Räumlichkeiten der Agentur.

Das Erste, was Di Bernardo wahrnahm, war der Blutgeruch. Trotz der sechsundzwanzig Jahre, die er nun im Dienst war, hatte er sich daran nie gewöhnen können. Unwillkürlich zog er die Nasenflügel zusammen, atmete flacher. Als er den Blick senkte, stockte ihm der Atem.

Die Tote lag in unnatürlich verrenkter Pose auf dem Boden, an ihrem Hals klaffte eine lange Schnittwunde. Eine Menge Blut war aus der Wunde ausgetreten und bildete eine Lache, die ihren Körper umrahmte.

Sie sah aus, als wäre sie regelrecht abgestochen worden.

Di Bernardo zwang sich, einen Schritt näher zu treten. Das Gesicht der Toten, die er auf Anfang bis Mitte siebzig schätzte, war vor Schreck verzerrt, die braunen Haare vom Blut verklebt. Ihre aufgerissenen Augen waren zur Decke gerichtet. Für einen Moment verschränkte sich sein Blick mit ihrem, hielt ihn fest, als könne er ihn zwingen, ihm preiszugeben, wen das Opfer als Letztes gesehen hatte. Dann atmete er geräuschvoll aus und löste den Bann.

Di Bernardo hätte nicht mehr sagen können, wie viele Mordopfer er in den vergangenen Jahrzehnten gesehen hatte; in Kalabrien hatte er aufgehört zu zählen. Seine Kollegen behaupteten, dass sie mit der Erfahrung abstumpften. Darauf wartete er noch immer. Jeder einzelne Tote hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt, und er wusste, dass auch dieses Gemälde des Grauens, das er hier vor sich sah, nicht so bald verblassen würde.

Ganz automatisch versuchte er, sich auszumalen, welches Szenario sich hier abgespielt haben mochte. Kaltblütige Rache. Überhitzte Wut. Eifersucht, Habgier.

Er spürte, dass sein Jagdinstinkt geweckt war. Obwohl der Mörder noch nicht greifbar war, wusste Di Bernardo, dass er seine Gedanken beherrschen würde, bis er ihn gefasst hatte. Er würde ihn ins Visier nehmen und so lange jagen, bis er ihn zur Strecke gebracht hatte.

Dottor Fabio Ricci, der Gerichtsmediziner, kniete neben der Leiche. Er war ein sportlicher Mann Anfang vierzig mit Hornbrille und rötlichem Haar, das auf seine venezianische Abstammung hindeutete. Der Commissario mochte seine Art, die im Vergleich zu der vieler anderer Pathologen ungewöhnlich sensibel und zurückhaltend war.

»Ein tiefer, präziser Schnitt. Um zu wissen, wie sie starb, brauchen Sie keine Obduktion.«

»Ein einziger Schnitt. Spricht nicht gerade für eine Tat im Affekt«, überlegte Di Bernardo.

»Wenn Sie mich fragen, Commissario, es ist weitaus brutaler, einen einzigen akkuraten, kraftvollen Schnitt zu ziehen als wild draufloszustechen«, sagte Ricci und blickte zu ihm auf.

Di Bernardo nickte. »Das sehe ich auch so. Die Tatwaffe?«

»Bisher unauffindbar.«

»Der Todeszeitpunkt?«

»Vor etwa fünfzig Minuten. Der Kehlschnitt hat die Arterien und die Luftröhre durchtrennt. Nach dem Öffnen der Arterien ist der Blutverlust enorm. Der Tod erfolgt binnen Sekunden.«

Di Bernardo betrachtete die Szenerie. Neben der Toten lag ein umgekippter Bürostuhl. Der Computer stand seltsamerweise so, dass Cornelia Giordano mit dem Rücken zur Tür am Schreibtisch gesessen haben musste. Die Wand gegenüber wurde von ihrem überlebensgroßen Porträt beherrscht; es zeigte eine attraktive Frau, offenbar auf dem Zenit ihrer Macht. Der Commissario runzelte die Stirn. Unwillkürlich kam ihm ein Gemälde der englischen Königin Victoria aus dem neunzehnten Jahrhundert in den Sinn. Die majestätische Körperhaltung, der stolze Blick. Auch den herrschsüchtigen Ausdruck in den Augen und um den Mund hatte der Maler nicht vertuschen können.

Dottor Ricci folgte Di Bernardos Blick und zuckte mit den Schultern. »Künstler.« Dann wandte er sich wieder dem Opfer zu. Sein Gesicht nahm einen konzentrierten Ausdruck an, während er die Hände der Toten inspizierte und nach Fasern und DNA unter den Fingernägeln suchte. Minuten später drückte er Cornelia Giordano die Augen zu und richtete sich auf. »Sie wissen, dass ich morgen für ein paar Tage nach Neapel fahren wollte«, sagte er zögernd. »Ich werde aber bleiben, bis ich die Ergebnisse der Obduktion habe. Weil Sie es sind, Commissario.«

»Danke, Fabio. Auf Sie ist Verlass, das weiß ich zu schätzen.«

Mit einem Nicken wandte Di Bernardo sich um und blickte sich erneut im Raum um. An einer Wand waren rote Streifen von Blut zu sehen, als hätte jemand Farbe dagegen gespritzt. Hunderte CDs standen in Regalen, die linke Wand hing voller gerahmter Porträts.

Die Musik kam aus einer Stereoanlage in einem der Regale. Klassische Musik, irgendetwas Barockes. Die Kollegen von der Spurensicherung geisterten in weißen Schutzanzügen herum und durchforsteten den Raum Zentimeter für Zentimeter, während der Fotograf aus verschiedensten Winkeln Bilder schoss.

Di Bernardo zog die Latexhandschuhe an und griff nach der CD-Hülle, die auf der Stereoanlage lag.

»Johann Sebastian Bach«, sagte Roberto Del Pino. »Die CD wurde auf Wiederholung programmiert.«

Di Bernardo drehte die Lautstärke herunter. Die eintretende Stille war eine Erleichterung. »Wer hat die Leiche entdeckt?«

»Marina Adamová, die Sekretärin. Angeblich war sie zur Tatzeit draußen, um für ihre Chefin was zu essen zu holen. Als sie zurückkam, hat sie so laut geschrien, dass die Menschen aus den Nachbarhäusern auf die Straße gelaufen sind. Giorgia Magnanti wartet mit ihr in der Bar zwei Häuser weiter.«

»Gibt es Überwachungskameras? Haben die Nachbarn etwas beobachtet?«

»Negativ. Wir haben die Personalien aufgenommen.«

»Was ist mit der Wohnung im Erdgeschoss?«, wollte Di Bernardo wissen.

»Ist abgesperrt. Sie steht seit über einem Jahr leer. Ein Nachbar hat erzählt, eine Zeit lang hätte dort ein Schild ›Zu vermieten‹ im Fenster gehangen. Das soll aber vor gut zwei Monaten wieder verschwunden sein.«

»Was ist mit Giordanos Familienangehörigen?«

»Geschieden, zwei Söhne. Der ältere ist Konzertagent in Mailand.«

Di Bernardo nickte und wandte sich wieder der Toten zu. Der entsetzte Ausdruck auf ihrem Gesicht ließ darauf schließen, dass sie bei vollem Bewusstsein gewesen sein musste, als ihr die Kehle durchschnitten worden war.

Di Bernardos Augen verengten sich. Ob sie den Mörder gekannt hatte? Abrupt wandte er sich ab. Was brachte einen Menschen dazu, eine solche Tat zu begehen? Und wie lang war wohl die Kette von Ereignissen, die zu dieser Tat geführt hatte?

Sein Blick fiel auf eine Whiskyflasche und ein halb volles Glas neben dem Computer. Das Glas war ohne Untersetzer abgestellt worden, darunter zeichnete sich ein angetrockneter Ring ab. Mit Sicherheit hatte Cornelia Giordano keinen einzigen Augenblick daran gedacht, dass es ihr allerletzter Single Malt sein könnte. Der Gedanke erfüllte den Commissario mit einer eigentümlichen Tristesse.

Aus einem Impuls heraus drehte er die Stereoanlage wieder auf.

Die Musik schien den schaurigen Anblick noch zu verstärken. Wieder kroch ihm der penetrante Blutgeruch durch die Nase in den Hals und weiter in den Magen. Angestrengt sah Di Bernardo sich um. Ein Mensch hinterließ immer Spuren. Er musste nur genau hinsehen.

Er ging zu der Wand mit den Fotos und betrachtete sie genauer. Sie zeigten Cornelia Giordano mit dem Staatspräsidenten, mit Luciano Pavarotti und etlichen kostümierten Opernsängern. Auf allen Bildern strahlte die Giordano eine stolze Selbstgewissheit und die Arroganz einer Diva aus.

Ein goldgerahmtes Foto einer blonden Geigerin in einem eng anliegenden Abendkleid stach ihm ins Auge. Die Frau war noch jung, Ende zwanzig vielleicht oder Anfang dreißig. Die blonden Haare waren kunstvoll hochgesteckt, die Lippen dunkelrot geschminkt. Sie wirkte selbstbewusst und doch auf eine schwer zu benennende Weise zerbrechlich. Daneben hing eine gerahmte Titelseite der Oggi mit der Schlagzeile: »Arabella Giordano – das Supertalent!«. Auf dem Zeitungsfoto war dieselbe Frau zu sehen. Eine Verwandte des Opfers?

Ein Kaschmirblazer lag auf dem Schreibtisch, der so groß war wie ein Esstisch für sechs Personen in einem Nobelrestaurant. Di Bernardo griff in die Taschen und zog einen Lippenstift, Taschentücher und ein paar Münzen hervor. Er fand weder eine Handtasche noch ein Handy.

Nachdenklich trat er ans Fenster und blickte hinaus. Das Büro lag im obersten Stock, von hier oben hatte man einen herrlichen Blick auf die Kronen der alten Pinien in der Via Antonelli. Das Leuchten der Straßenlaternen verbreitete ein geradezu intimes Licht in der winterlichen Dunkelheit. Seufzend drehte er sich um und wandte sich wieder der verbluteten Leiche auf dem Boden zu.

»Außer dem Messer fehlen Handtasche und Handy des Opfers«, sagte Roberto Del Pino, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Ein Raubmord?«

»Oder ein Ablenkungsmanöver«, erwiderte Di Bernardo. »Das Haus muss durchsucht werden. Kümmern Sie sich auch um den Computer, die Schubladen und die Mülleimer hier drinnen – alles kommt in die Questura. Ich unterhalte mich erst mal mit der Sekretärin.«

3

Längst habe ich die Kleider gewechselt und es mir auf dem Fauteuil bequem gemacht. Wie sie habe ich mir einen Whisky eingeschenkt und nippe daran, während meine Gedanken zurückschweifen.

Als wären sie auf Wiederholung programmiert, sehe ich wieder und wieder die Szene vor mir.

Sie sitzt mit dem Rücken zur Tür und dreht sich nicht um, denn sie hat mich nicht bemerkt. Ich schleiche mich von hinten an, dann packe ich sie an Hals und Bauch zugleich und reiße sie mitsamt dem Stuhl mit aller Wucht zu Boden. Ein dumpfer Knall ertönt. Voller Panik japst sie auf. Ich keuche vor Anstrengung, denn jetzt wehrt sie sich gegen meinen festen und unbarmherzigen Griff.

Fest drücke ich ihr die Hand auf Nase und Mund. Sie versucht, Luft zu holen, doch es gelingt ihr nicht. Auf den Knien bewege ich mich in ihr Sichtfeld, suche Augenkontakt. Das Entsetzen lässt ihre Gegenwehr erlahmen. Dieser Moment ist mein Triumph.

Und noch bin ich nicht fertig. Ich presse ihren Kopf gegen die Dielen.

Wie in Zeitlupe senkt sich das Messer herab, zieht eine tiefe Spur über ihren Hals. Dann der Schwall Blut, der mit verblüffender Kraft hervorschießt. Blitzschnell richte ich mich auf. Sehe zu, wie mit dem Blut alles Leben aus dem Schnitt in ihrer Kehle strömt.

Sie zuckt heftig, kann nicht einatmen.

Entsetzliches Würgen.

Röcheln.

Wenig später ist sie tot.

Ich atme auf.

Langsam breitet sich das Blut um ihren Kopf aus wie ein Heiligenschein. Der Geruch, er berauscht mich.

4

Die schummrige Deckenbeleuchtung tauchte das kleine Lokal in ein gemütliches Licht. Marina Adamová saß im Mantel an einem Tisch links vom Eingang der Bar, in eine rot karierte Wolldecke gehüllt. Giorgia Magnanti, die Polizeipsychologin, hatte der jungen Frau den Arm um die Schulter gelegt und redete leise auf sie ein.

Di Bernardo schätzte Giordanos Sekretärin auf Mitte zwanzig; das Gesicht war von nachlässig gefärbten Haaren umrahmt, deren Rotton sich geradezu schmerzhaft mit dem der Wolldecke biss. Als er zu ihr trat und sich vorstellte, erhob sich Giorgia mit einem kaum merklichen Nicken und gesellte sich zu dem Barbesitzer an die Theke.

»Signorina Adamová, ich weiß, wie schwierig das für Sie sein muss«, begann Di Bernardo und nahm ihr gegenüber Platz. »Können Sie mir vielleicht trotzdem einige Fragen beantworten?«

Die junge Frau blickte auf; ihre Augen waren vom Weinen rot und geschwollen. »Signora Magnanti hat mir gesagt, dass Sie mit mir sprechen wollen.«

Di Bernardo nickte und kam ohne Umschweife zur Sache. »Schildern Sie mir bitte möglichst genau, was passiert ist.«

Marina Adamová legte die Hände um ihre Teetasse und nahm einen Schluck. Silberner Lack glänzte auf ihren Fingernägeln. Behutsam stellte sie die Tasse wieder ab und stützte das Kinn auf die Hände. Die ausgeprägten Wangenknochen verliehen ihrem Aussehen etwas Slawisches, ebenso der leichte Akzent. Polnisch vielleicht oder tschechisch, überlegte Di Bernardo.

»Ich bin um acht ins Büro gekommen. Um halb neun bin ich hierher in die Bar gegangen, um meiner Chefin was zu essen zu holen. Nach etwa einer Viertelstunde bin ich zurück. Da fand ich Signora Giordano … am Boden …« Sie schluchzte auf. »Das ganze Blut …«

Di Bernardo nickte ihr beruhigend zu. »Lassen Sie sich Zeit. Das war bestimmt ein Schock.«

Die junge Frau wischte sich über die Wangen. »Ich bin die Treppen runter und raus auf die Straße gerannt. Ich glaube, ich habe laut geschrien. Jedenfalls kamen von überallher Leute angerannt. Dann habe ich die Polizei gerufen.«

»Sind Sie jeden Abend in der Agentur?«

»Zurzeit vier- bis fünfmal die Woche. Von Dezember bis Februar muss ich Überstunden machen, da ist immer eine Menge zu tun.«

»Kommen Sie immer zur selben Zeit?«

»Ja, um acht … so bis um zehn.«

»Und haben Sie Ihrer Chefin jedes Mal etwas zu essen geholt?«

»Ja, jeden Abend, immer gegen halb neun. Außer wenn sie in einem Konzert war.«

»Sind Sie dafür hierhergegangen oder auch mal woandershin?«

»Immer in die Bar hier.« Ihre Antworten kamen schnell, fast automatisch.

Di Bernardo überlegte. Wenn es kein Mord im Affekt gewesen war, dann musste der Mörder akribische Vorarbeit geleistet und die Abläufe genau gekannt haben – bei dem kleinen Zeitfenster, das ihm für seine Tat geblieben war.

»Signorina Adamová, ist Ihnen in letzter Zeit vielleicht etwas aufgefallen? Gab es irgendwelche ungewöhnlichen Vorfälle in der Agentur? Oder war Signora Giordano irgendwie verändert? Wirkte sie angespannt? Besorgt?«

Marina dachte eine Weile nach. »Nein«, sagte sie dann und schüttelte leicht den Kopf. »Sie kam mir nur ein bisschen müde vor. Sonst war sie so wie immer.«

»Und wie war sie immer?«

»Selbstbewusst, erfolgreich. Kompromisslos.« Sie reckte das Kinn, wie um die Worte zu bestätigen. »So kenne ich sie jetzt seit drei Jahren.«

»Gut. Wer war außer Ihnen heute in der Agentur?«

»Tagsüber niemand. Abends bin ich normalerweise sowieso mit Cornelia allein. Heute aber … na ja, heute kam ihre Nichte vorbei, um kurz nach acht. Arabella. Die Geigerin.«

»Das ›Supertalent‹?«

Marina verzog das Gesicht. »Das ›Talent‹.« Sie spuckte das Wort aus, als hätte es einen schlechten Geschmack. »Als Cornelia Giordanos Nichte muss man kein Supertalent sein. Da kommt die Karriere ganz von allein.«

Di Bernardo zog die Augenbrauen hoch. Es verwunderte ihn nicht, dass auch in der Welt der Musik Vetternwirtschaft gang und gäbe war. Die berüchtigten raccomandazioni oder »Empfehlungen« waren wie ein allgegenwärtiger Sog, der sämtliche Branchen im Lande langsam, aber sicher in den Abgrund riss. Was ihn vielmehr überraschte, war diese Giftigkeit in Marina Adamovás Stimme. Er war neugierig, was dahintersteckte. Eifersucht? Neid? Eine persönliche Fehde?

»Als Sie in die Bar gegangen sind, war Arabella Giordano da noch im Büro?«, fragte er.

Sie überlegte länger, als für ihre Antwort nötig gewesen wäre. »Nein«, sagte sie schließlich und zuckte die Achseln. »Sie ist kurz vor mir gegangen. Sie war ziemlich wütend nach dem Streit mit ihrer Tante.«

»Wütend? Warum?«

Marina schüttelte den Kopf und schwieg.

»Sie sagten, es gab Streit. Worum ging es da?«, beharrte Di Bernardo.

»Ich habe nicht gelauscht, wenn Sie darauf hinauswollen. Die Tür stand offen, also konnte ich nichts dafür, dass ich einen Teil mitbekam. Die beiden schrien sich nicht an, nein, so war es nicht. Arabellas Stimme klang eher … gehässig.« Sie sah den Commissario an, und ihr Gesichtsausdruck bekam plötzlich etwas Zickiges. »›Verflucht! Du mit deiner sinnlosen Sturheit.‹ Genau das waren Arabellas Worte, bevor sie aus dem Büro gestürmt ist.«

»Haben Sie gesehen, ob sie das Haus verließ?«

Marina sah ihm direkt in die Augen. »Nein, das nicht«, sagte sie schließlich. »Aber ich bin ihr auch nicht begegnet, als ich die Treppe hinunterging.«

Di Bernardo machte sich eine Notiz. Die erste.

»Wie war das Verhältnis zwischen Signora Giordano und ihrer Nichte?«

»Gut. Schlecht. Keine Ahnung. Ich kenne Arabella nicht gut genug. Zum Glück.«

»Kennen Sie sonst jemanden, der Signora Giordano übelwollte? Mitarbeiter oder Musiker, mit denen es Streitigkeiten gab? Die sie schlecht behandelt hat?«

Marina spitzte die Lippen. »Das kommt auf den Blickwinkel an. Für Musiker ist es eine Katastrophe, wenn ihre Karriere ins Stocken gerät. Da gibt es so einige, die sich für wahre Götter halten, warum auch immer. Für die Branche dagegen kann es eine Gnade sein, wenn sie weniger protegiert werden. Dann wachsen neue vielversprechende Talente nach. Aber die meisten Menschen sind sowieso naiv … oder dumm.«

Di Bernardo zog die Augenbrauen zusammen. »Ist das Ihr eigenes Urteil? Oder eher das Ihrer Chefin?«

Marina ging nicht auf seine Frage ein. »Die Signora war oft hart, aber immer gerecht.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich tue bloß meine Arbeit. Sie sollten besser andere befragen.«

»Wir werden jeden überprüfen, Signorina Adamová. Sie sagten, Sie sind seit drei Jahren in der Agentur? Haben Sie die ganze Zeit Verträge bearbeitet und Telefonate weitergeleitet?«

»Ich bin aus der tschechischen Provinz nach Rom gekommen und habe mit dreiundzwanzig Jahren eine gut bezahlte Arbeit gefunden. Ja, meine Chefin hat viel verlangt, vor allem aber Diskretion. Ich habe Cornelia eine Menge zu verdanken, und ich werde mich an ihre Regeln halten.«

»Ihre Diskretion in Ehren, Signorina, aber wir ermitteln in einem Mordfall. Schweigen ist an dieser Stelle nicht angebracht. Wenn Ihnen also noch etwas einfallen sollte …« Er hielt inne. »Sagen Sie, hatte Signora Giordano ihr Handy immer dabei oder ließ sie es gelegentlich zu Hause?«

»Natürlich hatte sie es dabei, was ist das für eine Frage. Sie musste schließlich ständig erreichbar sein.«

»Haben Sie sie heute mit dem Handy telefonieren sehen?«

»Ja.«

Marina Adamová wurde zunehmend verschlossener, eine Reaktion, die Di Bernardo bei Menschen in Extremsituationen öfter bemerkte. Gleichzeitig wirkte sie erschöpft: Sie zitterte und zog sich die Wolldecke noch etwas enger um die Schultern.

»Finden Sie das Schwein, das meine Chefin getötet hat. Das hat sie nicht verdient, so zu sterben«, stieß sie nun hervor.

»Wir werden den Mörder finden.« Di Bernardo nickte ernst und reichte ihr seine Visitenkarte. Dann stand er auf und strich sein Jackett glatt. »Ich danke Ihnen fürs Erste. Ein Kollege wird Sie nach Hause bringen. Sie sollten jetzt erst einmal schlafen. Morgen werden wir Sie bitten, sich das Büro genau anzusehen – vielleicht fällt Ihnen irgendeine Veränderung auf, die uns auf eine Spur führt. Und bitte rufen Sie an, falls Ihnen noch etwas einfällt.«

Marina Adamová streckte eine blasse Hand aus der Wolldecke und nahm die Karte entgegen. »In Ordnung, dann bis morgen, Commissario. Ach ja. Richten Sie Arabella Giordano aus, dass ich ihr Alibi bin.«

Einen Atemzug lang verharrte Di Bernardo in seiner Bewegung. Dann drehte er sich um und verließ die Bar.

»Warte, ich komme mit dir.«

Einige Schritte hinter sich hörte Di Bernardo die warme Stimme von Giorgia Magnanti. Sie holte ihn ein, als er eben die Straße überqueren wollte.

Er schenkte ihr ein kurzes Lächeln. »Was hältst du von ihr?«, fragte er dann unumwunden.

»Marina hat nichts mit dem Mord zu tun, da bin ich sicher. Sie zeigt alle Anzeichen einer akuten Belastungsreaktion. Meiner Einschätzung nach hat sie Cornelia Giordano geradezu vergöttert.«

»Campresi soll sie nach Hause bringen und im Auge behalten. Ich will wissen, was sie die nächsten Tage anstellt.«

Giorgia nickte. »Ich richte es Francesco aus. Und sonst? Wie geht es dir? Was macht Alberto?«

Di Bernardo seufzte. »Zu Hause auf mich warten, vermute ich. Er hat irgendeine neue Idee, was sein Studium angeht, hat sich aber noch nicht getraut, mir davon zu erzählen.«

Giorgia lachte, dann waren sie am Haus angelangt und gingen nebeneinander hinein. »Aufzug oder Treppe?«, fragte sie.

»Treppe natürlich«, sagte Di Bernardo, ging forsch voran und nahm dabei immer zwei Stufen auf einmal.

Während Di Bernardos Abwesenheit waren in der Agentur sämtliche Bemühungen fehlgeschlagen, ein Signal von Cornelia Giordanos Handy zu orten.

»Der Täter kennt sich offenbar aus mit unseren Möglichkeiten«, sagte Federica Giglioli. »Wir versuchen es weiter.«

»Zumindest werden wir ihre Anrufe durch die Telefongesellschaft ermitteln können.« Di Bernardo nagte nachdenklich an seiner Unterlippe. »Man muss schon verdammt gute Nerven haben, wenn man nur wenige Minuten hat, um einen solchen Mord zu begehen.«

»Der Barbesitzer hat bestätigt, dass Signorina Adamová zur Tatzeit bei ihm war und zwei Panini bestellt hat«, warf Giorgia Magnanti ein. »Sie hat einen Kaffee getrunken und blieb ungefähr eine Viertelstunde. Sie ging in der Bar auf die Toilette, anschließend sprachen sie über das Wetter.«

»Das Wetter?!«, erwiderte Di Bernardo kopfschüttelnd. »Wir müssen sämtliche Leute aus der Nähe befragen. Irgendjemand muss etwas gesehen haben.«

»Campresi hat in Erfahrung gebracht, dass in der Agentur jeden Morgen vor neun geputzt wird«, sagte Giglioli. »Das letzte Mal also vor etwa dreizehn Stunden. Demnach stammen die meisten Haare und Fasern aus der Zeit dazwischen.«

Der Commissario nickte abwesend. Bis die Spurensicherung etwas hatte, würde es noch Stunden dauern. Er wandte sich an del Pino. »Statten wir dem Supertalent einen Besuch ab.«

5

Die Autofahrt zur Via Gramsci dauerte fünf Minuten. Wie so oft, wenn es Di Bernardo in das Quartier Parioli mit seinen grünen Parks und noblen Villen verschlug, wurde ihm der Kontrast zu Kalabrien nur allzu bewusst. Die ländlichen Gebiete Italiens verkamen immer mehr. Es war eine Schande.

Hier, in Parioli, stellten die Besitzer der Villini und Pallazzi ihren Wohlstand nur allzu gern zur Schau. Dabei war vieles nichts als Fassade – bröckelnde Fassade, wenn man es genau nahm. Neulich erst war gar nicht weit von hier ein Palazzo in sich zusammengefallen wie ein Kartenhaus. Statt die Risse im Mauerwerk zu kitten, hatten die Besitzer in pompöse Statuen in der Auffahrt investiert. Alles für den äußeren Schein.

Dennoch mochte Di Bernardo Parioli. Hier wich die Hektik Roms einer diskreten Intimität, und die moderne Architektur neureicher Bauten mischte sich mit der barocken Tradition. Pinienkronen breiteten sich wie dunkelgrüne Dächer über Häuser und Gärten aus. Um diese späte Uhrzeit war die Via Gramsci verlassen und strahlte eine strenge, geschlossene Schönheit aus. Die Bürgersteige mit ihren Schlaglöchern und den allgegenwärtigen Hundehaufen fielen jedenfalls weniger auf als bei Tageslicht.

»Porca miseria!«, fluchte Del Pino in Di Bernardos Gedanken hinein. »Wie alt war die Frau? Über siebzig. Hat immer noch gearbeitet, statt sich einen schönen Lebensabend zu machen. Und dann so ein Ende. Das ist doch übel.«

»Vermutlich ging ihre Vorstellung von einem schönen Lebensabend mit ihrer Arbeit einher.«

»Meinen Sie, sie war einsam?«

»Das wissen wir noch nicht.«

»Aber als Konzertagentin, was hat man da eigentlich zu tun? Man macht Verträge mit irgendwelchen überkandidelten Künstlern und geht abends ins Konzert, um seine Schäfchen zu begutachten«, sagte Del Pino und zog die Schultern hoch. »Ich verstehe das nicht. Wie passt das alles zusammen? Die Musik und dann diese Art zu sterben. Haben Sie das ganze Blut gesehen …«

»Konzentrieren wir uns auf ihre Nichte, und überbringen wir ihr die traurige Nachricht«, sagte Di Bernardo etwas schärfer als beabsichtigt. Er hat sehr wohl das Blut gesehen, und anders als bei seinem jüngeren Kollegen beschwor es bei ihm eine Erinnerung herauf. Eine Erinnerung, die er mit aller Macht verdrängen musste, um weiter zu funktionieren.

»Da vorn ist es«, rief Del Pino und deutete mit dem Zeigefinger auf ein vierstöckiges Apartmenthaus.

Di Bernardo bremste, parkte den Wagen und warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr. Es war eine halbe Stunde vor Mitternacht.

Als der Commissario und sein Ispettore aus dem Auto stiegen, wirbelte eine frische Brise tote Blätter von den Bäumen, die raschelnd durch die Luft tanzten. Danach war es wieder still. Nicht einmal eine streunende Katze war zu sehen.

Durch das geöffnete Tor gelangten sie zu dem terrakottafarbenen Haus, in dem Arabella Giordano wohnte.

Del Pino klingelte. Nichts geschah. Nach einigen Sekunden drückte er erneut auf den Klingelknopf. Sie warteten. Dann öffnete sich die Tür einen Spaltbreit. Arabella Giordanos Gesicht kam zum Vorschein; ihr fragender Blick wanderte vom Commissario zum Ispettore.

»Commissario Di Bernardo von der Questura.« Er zog seine Dienstmarke und blickte zu Del Pino. »Mein Kollege, Ispettore Del Pino.«

»Was wollen Sie von mir, und noch dazu um diese Zeit?« Ihre Stimme klang angespannt.

»Entschuldigen Sie die späte Störung, Signorina Giordano. Dürfen wir reinkommen?«

Zögernd öffnete die junge Frau die Tür, trat beiseite und bat sie ins Wohnzimmer.

Eine angenehme Wärme schlug ihnen entgegen; im Kamin verglomm gerade ein Feuer und tauchte den Raum in einen rötlichen Schein.

Arabella Giordano hatte einen Bademantel über ihren Pyjama gezogen. Sie war groß und schlank, das Gesicht war jugendlich, mit vollen Lippen, die Wangenknochen markant und die Augen dunkel. Anders als auf dem Foto fiel ihr das blonde Haar sanft auf ihre Schultern.

Di Bernardo ließ den Blick über die Sammlung von antiken Kunstgegenständen schweifen, an deren Echtheit er keinerlei Zweifel hegte. Zwei offen stehende Türen führten in weitere Zimmer. Das, was er erkennen konnte, wirkte ebenso stilsicher und elegant. Unwillkürlich fragte er sich, ob Cornelia Giordano wohl an der Finanzierung dieser luxuriösen Wohnung beteiligt gewesen war. Er hatte keine Ahnung, was eine Musikerin wie Arabella Giordano verdiente. Sein Blick streifte sie; in diesem Moment erinnerte sie ihn an Paula, die ebenso schöne wie selbstbewusste Protagonistin in Jack Londons Novelle Die Herrin des Großen Hauses, die zur Hälfte gelesen auf seinem Nachttisch lag.

»Bitte verzeihen Sie unser Auftauchen zu so später Stunde«, begann er, worauf Arabella sich für den Bademantel entschuldigte.

Er holte tief Luft; dann sagte er in die eintretende Stille hinein:

»Wir kommen wegen Cornelia Giordano. Ich bedauere sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Tante tot aufgefunden wurde.«

»Meine Tante Cornelia? Tot?« Arabellas Benommenheit war wie weggewischt. Sie blickte den Commissario einen Moment verdutzt an, dann stieß sie ein glockenhelles Lachen aus, als handele es sich um einen makabren Witz.

Di Bernardo hatte im Laufe seiner Dienstzeit schon viele Nachrichten dieser Art überbringen müssen. Die Reaktionen darauf fielen unterschiedlich aus, sie reichten von Bestürzung bis hin zu Wut, geboren aus Verzweiflung. Gelacht hatte bis zu diesem Tag jedoch noch niemand.

»Unser herzliches Beileid, Signorina Giordano.«

Sie schüttelte vehement den Kopf. »Sie kann nicht tot sein. Das ist unmöglich. Sie kennen meine Tante nicht.«

»Nein. Ich kannte sie nicht.«

»Soll das vielleicht ein dummer Scherz sein? Ich muss doch sehr bitten.«

»Halten Sie unseren Besuch um diese Uhrzeit wirklich für einen Scherz?«, entgegnete er ruhig.

Arabella starrte ihn an, ohne zu blinzeln. Ihm fiel auf, dass ihre Augen vom gleichen Braun waren wie seine, warm und dunkel. Einen Moment lang war er wie gebannt.

Wieder schüttelte sie den Kopf, zuerst unschlüssig, dann vehementer. »Es … es muss sich um eine Verwechslung handeln«, sagte sie, doch ihre Stimme klang eine Spur brüchiger als zuvor.

»Leider nicht«, sagte Di Bernardo leise.

»Aber sie war kerngesund! Vielleicht war sie ein wenig überarbeitet, doch …«

Er hasste sich selbst für seine Worte, als er fortfuhr: »Signorina Giordano, es tut mir leid, aber Ihre Tante wurde ermordet.«

Arabella riss die Augen auf. Dann taumelte sie, als hätte man ihr einen Schlag versetzt. Del Pino fing sie auf und führte sie vorsichtig zum Sofa.

»Ermordet?«, stammelte sie. »Aber wie … wie ist das passiert?« Ihr Blick sprang zwischen Di Bernardo und Del Pino hin und her.

Der Ispettore ergriff das Wort. »Sie wurde mit einem Messer angegriffen und ist verblutet.«

»Es muss sehr schnell gegangen sein«, warf Di Bernardo ein.

Arabella barg den Kopf in den Händen. Ihre schmalen Schultern bebten.

Del Pino ließ sich nicht beirren. »Wann haben Sie Ihre Tante zum letzten Mal gesehen?«

Viele Sekunden verstrichen, bevor Arabella in der Lage war zu antworten. »Heute Nachmittag gegen drei. Ich war kurz bei ihr im Büro.«

Di Bernardo zog kaum merklich die Augenbrauen zusammen. Das war eine Lüge. Oder Marina Adamová hatte eine Falschaussage gemacht.

»Darf ich fragen, wo Sie heute Abend zwischen acht und neun waren?«, fuhr Del Pino fort.

»Ich bin gegen sechs nach Hause gekommen.«

»Kann das jemand bezeugen?«

Sie sah auf, ihr Blick war unstet. »Don Matteo und der gesamte Cast«, sagte sie dann.

»Mit anderen Worten, Sie saßen vor dem Fernseher«, stellte Del Pino fest.

»Ich habe mir die Doppelfolge auf Rai angesehen.«

»Die zweite Folge war um acht zu Ende«, wandte er ein.

Arabella zögerte einen kaum merklichen Moment. »Das stimmt. Nach der Sendung habe ich eine Freundin in Mailand angerufen.«

»Das sollten wir am besten gleich überprüfen.«

Wortlos zog sie ihr Handy aus der Tasche des Bademantels und reichte es Di Bernardo. Er tauschte einen schnellen Blick mit Del Pino, dann kontrollierte er das Gesprächsprotokoll. Es bestätigte Arabellas Angabe.

Del Pino äugte über die Schulter des Commissario, dann deutete er auf das Display und zog eine Braue hoch. Tatsächlich waren dort zwei Gespräche mit derselben Mailänder Nummer verzeichnet. Zwischen ihnen lag eine Pause von einer Dreiviertelstunde.

»Sie haben Ihre Freundin zweimal angerufen«, stellte Di Bernardo fest.

»Sie hatte bei meinem ersten Versuch keine Zeit und hat mich auf später vertröstet.«

»Wo waren Sie zwischen den beiden Anrufen?«

»Im Bad.«

Del Pino lächelte süffisant. »In welchem denn? Zufällig im Bad bei Ihrer Tante?«

Di Bernardo warf ihm einen warnenden Blick zu. »Wir haben hier eine kleine Ungereimtheit«, sagte er dann, an Arabella gewandt. »Die Sekretärin Ihrer Tante hat angegeben, dass Sie um kurz nach acht in Signora Giordanos Büro gewesen wären, während Sie darauf beharren, hier gewesen zu sein. Sagt Signorina Adamová nun die Wahrheit oder Sie?«

Arabella sah ihn unverwandt an. Dann legte sich ein Hauch Herablassung auf ihr Gesicht. »Nun gut. Ich war da. Mache ich mich deshalb verdächtig? Hat Marina schon Beweise gegen mich gesammelt?«

»Signorina Adamová hat Sie aus der Agentur weggehen sehen, da lebte Cornelia Giordano noch. Allerdings meinte sie, Sie hätten einen Streit mit Ihrer Tante gehabt.«

»Dann ist dieser schreckliche Streit mit Cornelia also mein Alibi«, sagte die junge Geigerin und lachte resigniert auf. Tränen traten ihr in die Augen. Sie erhob sich und ging zu einem Rolltisch voller Flaschen. Dort schenkte sie sich einen Single Malt ein und trank das Glas in einem Zug leer. Offenbar kam sie nicht auf die Idee, den beiden Polizisten ebenfalls etwas anzubieten. Gedankenverloren starrte sie auf das barocke Gemälde über dem Kamin. Di Bernardo folgte ihrem Blick. Auf dem Bild waren ein pummeliger Engel mit blonden Locken und zwei junge Frauen zu sehen. Sie hatten sich mit leichten Tüchern verhüllt und spielten auf einer Harfe und einer Laute. Eine musikalische Idylle.

Di Bernardos Blick schweifte zurück zu Arabella. Sie wirkte trotz ihrer Größe zerbrechlich. Die Vorstellung, diese Frau könnte einen derart blutigen Mord begangen haben, ging ihm einfach nicht in den Kopf.

»Laut Aussage der Sekretärin haben Sie Ihrer Tante sinnlose Sturheit vorgeworfen«, nahm Del Pino den Faden wieder auf. »Aus welchem Grund?«

»Sie … sie wollte mein Musikfestival finanziell nicht unterstützen.«

»Und was ist dann passiert?«

»Ich bin nach Hause gegangen, wo es mir gut ging. Bis Sie kamen.«

»Ist Ihnen an Ihrer Tante in der letzten Zeit etwas aufgefallen? War sie verärgert, nervös? Gab es Auseinandersetzungen in der Familie?«

»Nein.« Ihr Zögern war kaum wahrnehmbar. »Das heißt, ja«, sagte sie denn schnell. »Aber das war vor knapp vier Jahren, mit meinem jüngeren Cousin Boris. Er musste wegen Drogenhandels ins Gefängnis. Das hat kein gutes Licht auf die Familie geworfen. Inzwischen ist er aber längst wieder frei.«

»Wir brauchen seine Adresse und Telefonnummer«, bat Di Bernardo.

Arabella ging zum Sekretär, nahm ein Blatt Papier aus einer Schublade, kritzelte etwas darauf und reichte es dem Commissario. »Hier. Allerdings haben die beiden kaum Kontakt gehabt, soweit ich weiß. Alle paar Wochen ein Telefonat, wenn überhaupt.«

Di Bernardo warf einen schnellen Blick auf die Adresse. Tor Bella Monaca. Ausgerechnet die verrufenste Ecke Roms.

Arabella setzte sich wieder, zog die Beine zu sich heran und schlang die Arme darum, während sie in die Glut des erlöschenden Feuers starrte.

»Und wann haben Sie Ihren Cousin zum letzten Mal gesehen?«, fragte der Commissario.

»Boris? Vor über zwei Monaten. Er hat immer mal wieder seine ›Reflexionsphasen‹, wie er sie nennt. Dann verschwindet er für eine Weile, stellt sein Handy aus, und keiner weiß, wo er ist.«

Di Bernardo wartete, während der Ispettore sich Notizen machte. Er bemerkte, wie Del Pinos rote Sneakers den Blick der Geigerin auf sich lenkten. Mit leicht zusammengekniffenen Augen musterte sie den jungen Polizisten mit den pechschwarzen Haaren und der Nase, die für sein schmales Gesicht definitiv zu lang war. Ihr Blick war abschätzig, aber Di Bernardo wusste sehr wohl, dass es ein Fehler war, Del Pino zu unterschätzen, nur weil er sich seltsam kleidete und eine Vorliebe für Kaugummis an den Tag legte.

»Ist etwas, Signorina Giordano?«, fragte Del Pino herausfordernd.

»Oh, nein.« Arabella verschränkte die Arme vor der Brust. »Nur, dass meiner Tante gerade die Kehle durchgeschnitten wurde. Sonst nichts.«

Stille legte sich über den Raum. Nur vom Kamin war ab und zu ein Knacken der letzten, noch nicht verkohlten Holzstücke zu hören.

»Ich weiß, dass unser Mitgefühl für Sie kaum von Bedeutung ist, aber trotzdem noch mal unser tief empfundenes Beileid«, sagte Di Bernardo schließlich. »Sie waren anscheinend die Letzte, die Ihre Tante lebend gesehen hat. Melden Sie sich bei uns, wenn Ihnen noch etwas einfällt. Und bitte denken Sie darüber nach, ob Ihre Tante irgendetwas erzählt hat, das Ihnen ungewöhnlich vorkam. Egal, wie lange es her ist.«

Arabella nickte.

»Und nun würden wir uns gerne kurz in Ihrer Wohnung umsehen.«

»Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?«

»Es handelt sich nicht um eine offizielle Durchsuchung. Falls es doch eine werden sollte, reichen wir den Durchsuchungsbeschluss jederzeit nach«, gab Di Bernardo müde zurück.

Arabella zuckte die Achseln. »Nun gut. Tun Sie, was Sie tun müssen.« Dann stierte sie weiter wortlos ins Leere.

Leise erhob sich Di Bernardo und wanderte, von Del Pino gefolgt, durch die übrigen Räume. Wie es aussah, sammelte die junge Frau nicht nur Kunst, sondern war auch bibliophil. In allen Räumen standen Regale mit teils alten Ausgaben. Im Schlafzimmer stapelten sich mehrere Taschenbücher auf ihrem Nachttisch. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Titel. Dreiser, Sinclair und Hailey neben Camilleri und Mankell. Während er weiter alle Details der Wohnung in sich aufnahm, dachte er über die junge Geigerin nach. Was wussten sie bisher über sie? Arabella Giordano war offenbar alleinstehend. Mit ihrer kühlen Fassade schien sie ihre wahren Gefühle gekonnt zu kaschieren. Zwar wirkte sie betroffen, aber Di Bernardo nahm kein übermäßiges Gefühl von Trauer an ihr wahr. Er musste an die treffenden Worte seines Vorgesetzten Questore Enrico Borghese denken, der stets zu sagen pflegte: »Die Reaktion jedes Einzelnen ist unterschiedlich. Vergessen Sie nicht, dass die meisten Menschen noch nie mit einem Mord in Berührung gekommen sind. Ziehen Sie deshalb keine voreiligen Schlüsse aus ihrem Verhalten.« Mit diesem Rat war er in den vergangenen zweieinhalb Jahren gut gefahren. Was Arabella Giordano anging, so hatte Di Bernardo das Gefühl, als hätte das Geschehen erst an der Oberfläche ihres Bewusstseins gekratzt und müsste noch bis in die Tiefe vordringen. Er dachte an ihre allererste Reaktion. An ihr Lachen. Cornelias Giordanos Tod schien für sie undenkbar gewesen zu sein. Sie musste das Ganze wohl erst einmal verarbeiten; wer müsste das nicht? Würde sie mit jemandem sprechen wollen? Würde sie sich zurückziehen? Sich gar mit Alkohol behelfen? Oder war doch alles nichts als ein durchkalkuliertes Schauspiel? Sein Unbehagen wollte nicht weichen.

Kurz vor dem Hinausgehen reichte er ihr seine Visitenkarte. »Vielleicht rufen Sie jemanden aus der Familie an, der heute Nacht bei Ihnen bleiben könnte«, schlug er vor.

»Vielleicht. Ich werde Sie kontaktieren, falls mir noch etwas einfällt.«

»Bitte, jederzeit. Buona notte.«

Der Nebel kroch aus allen Ecken und hing über Rom wie eine milchige Kuppel. Als Di Bernardo sich auf dem Weg zum Auto noch einmal umdrehte, sah er, wie auf dem Balkon im dritten Stock des Hauses eine Zigarette angezündet wurde. Die zittrige Flamme erhellte ganz kurz ein ebenmäßiges Frauengesicht, umrahmt von langen blonden Haaren. Als der Commissario sich abwandte und in den Wagen stieg, meinte er den Blick der zerbrechlichen Geigerin noch immer im Rücken zu spüren.

Langsam passierten Di Bernardo und sein Kollege die Via Gramsci.

Plötzlich sog Del Pino scharf die Luft ein. »Woher wusste sie, dass ihrer Tante die Kehle durchgeschnitten wurde?«

Di Bernardo machte eine Vollbremsung und brachte den Wagen mitten auf einer dunstverhangenen Kreuzung abrupt zum Stehen. Bestürzt blickte er seinem Kollegen ins Gesicht. »Verdammt!«

6

Grübelnd fuhr der Commissario am Tiber entlang durch das nächtliche Rom. Sosehr er die Stadt mochte, fühlte er sich immer noch ein wenig fremd hier. Patria indefinita – unbestimmte Heimat – war der Begriff, mit dem er seine eigene Abstammung verband. Von seinem Vater, der aus dem südlichen Apulien stammte, hatte er das aufbrausende Temperament, aber auch die Warmherzigkeit geerbt, von seiner Mailänder Mutter die Disziplin und Pünktlichkeit. Doch Wurzeln hatte er in den fünfzig Jahren seit seiner Geburt keine geschlagen, nicht in Lecce, seiner Heimatstadt, und auch nicht hier, in Rom.

Nach dem Jurastudium hatte er bei der Polizei in Lecce gearbeitet, später bei der Kriminalpolizei in Reggio di Calabria. Die Allgegenwart der ’Ndrangheta hatte seinen Glauben an das Gute im Menschen erschüttert. Wie ein Krebsgeschwür war die Mafia in sein Leben gedrungen, hatte seine Ehe zerfressen, ihm den besten Freund genommen und ihn selbst um ein Haar in die Luft gesprengt. Und das war längst nicht alles gewesen. Aber daran konnte er jetzt nicht denken. Nicht an diesem Abend.

Aus Sorge um die Sicherheit seines Sohnes hatte er sich nach Lucca versetzen lassen. Monica, seine Frau, hatte auf einen Neuanfang in der beschaulichen Puccini-Stadt gehofft. Doch das war das Tückische an der Vergangenheit: Wie weit man auch reiste, sie fand einen doch. Man nahm sich selbst eben immer mit.

In Lucca hatte er oft an die Worte eines Freundes denken müssen, der als Journalist beruflich einige Monate in Wien verbracht und sich über »zu wenig Geschehen« beschwert hatte. Die Arbeit hatte ihn nicht ausgefüllt. Unterforderung konnte genauso zersetzend sein wie ihr Gegenteil.

Dann hatte Monica ihn verlassen. Sein vorherrschendes Gefühl war Erleichterung gewesen, auch wenn er darauf alles andere als stolz war. Er hatte all den Streit und die Vorwürfe schon lange nicht mehr ertragen. Und gerade als er mit dem Gedanken gespielt hatte, nach Kalabrien zurückzukehren, hatte sich die Questura in Rom an ihn gewandt.

Di Bernardo streckte den Rücken durch. Noch fünf Minuten, dann wäre er zu Hause. Er war froh, das ermüdende Gewirr aus Gassen und Straßen der Stadt hinter sich gelassen zu haben. Die schlichte Architektur der Bauten in Monteverde Vecchio war eine Wohltat für seine Augen. Hier lebte es sich unaufgeregter, eine Spur gemächlicher. Wobei das nicht immer so gewesen war. In den Achtzigern hatte es hier jede Menge Cine-Clubs und Bars gegeben. Durch die Zeit reisen müsste man können.

Eine Sirene riss ihn aus seinen Gedanken. Er fuhr rechts ran und ließ den Rettungswagen passieren, der auf die Notfallambulanz des Ospedale San Camillo zuraste. Gebaut worden war das Krankenhaus Anfang der Dreißigerjahre mit dem Geld der Faschisten, aber das konnte dem armen Teufel, der da gerade eingeliefert wurde, ziemlich egal sein. Di Bernardo beneidete ihn nicht, das Krankenhaus war dermaßen überfüllt, dass regelmäßig Patienten auf den Fluren untergebracht wurden. Aber auch das war besser als der Tod.

Di Bernardo schauderte, als er an den Gesichtsausdruck der Toten dachte. Wie viel war ein Leben wert, wenn es so enden musste? Und was, wenn die Sekretärin nicht mit dem Barmann über das Wetter gesprochen hätte? Wenn sie zwei Minuten früher zurückgekommen wäre?

Was wäre, wenn …

Di Bernardo parkte den Alfa Romeo dicht neben der Haustür. Die Müdigkeit hatte sich über ihn gelegt wie eine schwere Decke. Den Autoschlüssel in der Hand, lehnte er sich zurück, atmete einmal tief durch und sortierte die Ereignisse der letzten Stunden. Lange hatte er den Irrglauben gehegt, Kalabrien hinter sich gelassen zu haben. Doch heute hatte es ihn eingeholt.

Der Mord an Cornelia Giordano weckte Erinnerungen an all die Ehrenmorde. Der Blutgeruch. Das Entsetzen in den weit aufgerissenen Augen des Opfers. Es waren die immer gleichen Motive, die zu derart brutalen Verbrechen führten: Eifersucht. Rache. Gier. Hass.

Di Bernardo rieb sich die Augen. Wie passte Arabella Giordano in dieses Schema?

Giorgia hatte ihn neulich erst zutiefst altmodisch genannt. »Du fühlst dich mit jedem Verbrechen persönlich herausgefordert, unsere aus den Fugen geratene Welt zurechtzurücken«, hatte sie gesagt.

Dio mio, das klang pathetisch! Doch sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Er sehnte sich danach, Gerechtigkeit dort zu erwirken, wo sie erbarmungslos vertrieben worden war. Dabei vertraute er vor allem seiner Intuition und Menschenkenntnis. Im digitalen Zeitalter war er ein Commissario d’arte geblieben. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie die jüngeren Kollegen ihn sahen … Solange er Erfolge vorzuweisen hatte, gut. Aber wenn er strauchelte, dann würden sie aus ihren Löchern kriechen und hinterrücks lästern, dass er nicht mit der Zeit ging. Dass er den allerneuesten technischen Schnickschnack ablehnte. Dass er keinen Profiler an seiner Seite hatte.

Lächerlich. Aus seiner Sicht fehlte in Italien – in diesem Land, das so viele legendäre und unsterbliche Künstler hervorgebracht hatte wie kein anderes – ausgerechnet die Kunst der altmodischen Ermittlung. So gesehen, war sein Ermittlungsstil ein kleiner Ausgleich dieses Mankos an sich. Und was den Profiler anging …

Mitten in seine Überlegungen hinein klingelte sein Handy. Es war Giorgia, natürlich.

»Ich wollte dich noch rasch auf den neuesten Stand bringen«, sagte sie. Di Bernardo unterdrückte ein Gähnen. »Lass mich raten. Von den Nachbarn will keiner etwas gesehen haben.«

»Wie recht du mal wieder hast.«

»Ich habe immer recht«, neckte er sie.

Sie lachte ihr warmes, ungekünsteltes Lachen.

Für einen Moment wünschte er sich ihre Nähe. Dann erinnerte er sich an den Grund, warum sie nicht hier neben ihm saß.

»Was habt ihr über die Agentur in Erfahrung gebracht?«, fragte er betont geschäftsmäßig. »Hat Campresi etwas rausgefunden?«

Die Musikbranche war für ihn eine unbekannte Welt. Er erinnerte sich kaum mehr daran, wann er zum letzten Mal in einem Konzert gewesen war. Wahrscheinlich in Lucca, mit Monica. Sie hatte klassische Musik geliebt. Er hatte die gemeinsamen Konzertbesuche genutzt, um Schlaf nachzuholen. Power-nap, so nannte man das doch heute. Von wegen, er ginge nicht mit der Zeit.

»Cornelia Giordano hat die renommierte Künstleragentur in der dritten Generation geführt. Ihr Großvater Carlo war am Anfang des Jahrhunderts eine Legende. Ihr Vater Cesare hat Mitte der Zwanzigerjahre die Musikagentur in Florenz übernommen und später die berühmtesten Dirigenten jener Zeit vertreten. Cornelia ist in die Fußstapfen ihres Vaters getreten und hat die Agentur nach Rom verlegt. Mittlerweile unterhalten die Giordanos weitere Büros in Mailand, London und New York.«

»Hast du eine Ahnung, wie hoch ihre Provisionen waren?«, fragte Di Bernardo.

»Francesco ist noch dran. Arm war sie bestimmt nicht. Neben der Agentur war sie Inhaberin eines Musik-Labels, das hohe Qualität zu niedrigen Preisen verspricht.«

»Ich komme mir vor wie ein Anfänger«, sagte er unvermittelt. »In der Musikbranche kenne ich mich überhaupt nicht aus. Doch wer immer sie auf diese Weise umgebracht hat, muss ein starkes Motiv gehabt haben.«

»Verletzte Eitelkeit? Angst um die Karriere?«, schlug Giorgia vor.

»Hm«, brummte Di Bernardo. Gegen seinen Willen tauchte das Bild von Arabella Giordano vor seinem inneren Auge auf. »Ich sollte besser schlafen«, sagte er. »Und du auch.«

Im Haus empfing ihn Stille, Alberto war offenbar schon im Bett. Einem Impuls folgend, durchstöberte Di Bernardo im Wohnzimmer die CD-Sammlung. Jazz, Stefano Bollani natürlich und Mina. Klassischer Musik hatte er nie viel abgewinnen können. Etwas beschämt dachte er an all die Ausreden, die er vorgebracht hatte, um nicht mit seiner Frau in die Oper gehen zu müssen. Wäre er doch nur etwas neugieriger gewesen, dann stünde er jetzt nicht da wie ein Narr!

Sein Magen knurrte, und er schlenderte in die Küche. Der volle Kühlschrank stand im wohltuenden Kontrast zu dem seiner Studienzeit, dessen Leere ihn immer an die Wüste Gobi hatte denken lassen. Er holte gerade den Rest einer am Vortag zubereiteten Lasagne heraus, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Reflexartig drehte er sich um.

Im Türrahmen sah er seinen siebzehnjährigen Sohn Alberto stehen. Täuschte er sich, oder war der Junge schon wieder ein Stück gewachsen? Inzwischen überragte er ihn um einen halben Kopf. Ein eigentümliches Gefühl.

»Erwischt! Ich bin Zeuge deines Nachtmahls, du kannst also gleich ein Geständnis ablegen, dass es mit deinem Diätversprechen mal wieder nichts wird.«

»Ich verlange einen Anwalt.« Di Bernardo grinste. »Bist du schon oder noch immer wach?«

»Ähm. Sowohl als auch. Hab noch ein bisschen gelesen.«

Di Bernardos Blick fiel auf das Strafgesetzbuch, das Alberto lässig unter den Arm geklemmt hatte. Bisher hatte er kein Interesse an Jura gezeigt, außer dass er sich gern wie ein Staatsanwalt ausdrückte – eine Angewohnheit, die zu gleichen Teilen belustigend wie enervierend war.

»Noch ein bisschen gelesen?«, fragte er.

»Ich hab’s durchgeblättert. Erzähl, was passiert ist.«

»Das ist doch kein Klatschmagazin zum Durchblättern«, entgegnete er. »Raus mit der Sprache.«

Alberto zögerte kurz. »Okay«, sagte er dann. »Versprich mir aber, dass du nicht gleich ausrastest.« Er lehnte sich lässig gegen den Tisch, ohne den Blick von seinem Vater abzuwenden. »Du weißt ja, meine ehrenamtlichen Aktivitäten. Obdachlosen- und Tierschutzverein, Wahlkampfkampagne …«

»Ohne mit siebzehn wählen zu dürfen«, warf Di Bernardo ein. »Ich weiß. Das Engagement für Grönlandeskimos und Kongounterstützung online. Bei allem Respekt, gibt es sonst noch etwas, das dich von der Schule ablenkt?«