Tödliche Türchen -  - E-Book

Tödliche Türchen E-Book

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Beschreibung

Stille Nacht, heilige Nacht? Von wegen! Harmonie und Frieden unterm Weihnachtsbaum? Wers glaubt, wird selig! Denn: 24 AutorInnen lassen hinter jedem Adventskalender-Türchen ein Verbrechen lauern ... Da ruft ein Mann am 24.12. bei der Telefonseelsorge in Frankfurt an, eine Offenbacherin lernt endlich das Tranchieren, eine Weihnachtsfeier in Darmstadt läuft völlig aus dem Ruder, während ein Ehemann in Hesselbach Haus und Garten in ein Weihnachtswahnsinnsland verwandelt. Psychologisch fein austarierte Tatabläufe treffen auf spontane Befreiungsschläge und manchmal auf die Falschen … Mit Texten von Christina Bacher, Paula Bengtzon, Nadine Buranaseda, Ella Daelken, Gitta Edelmann, Karsten Eichner, Leila Emami, Christiane Geldmacher, Denise Haberlandt, Angelika Marie Hauck, Almuth Heuner, Tania Jerzembeck, Klaudia Jeske, Ivonne Keller, Susanne Kronenberg, Richard Lifka, Ricarda Oertel, Claudia Platz, Kathrin Pohl, Regina Schleheck, Claudia Schmid, Frauke Schuster, Thorsten Weiß, Fenna Williams und Marcus Winter Die Tatorte sind Aarbergen, Bad Homburg, Bad Vilbel, Darmstadt, Eltville, Frankfurt (4), Gelnhausen, Hesselbach, Hofheim, Idstein (2), Kostheim, Neustadt/Odenwald, Offenbach, Rüdesheim (2), Schlossborn, Wiesbaden (2), Zwingenberg und der Taunus.

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Tödliche Türchen

24 Weihnachtskrimis aus Hessen

Tödliche Türchen

24 Weihnachtskrimis aus Hessen

Herausgegeben vonFenna Williams und Angelika Schulz-Parthu

Die Handlung und alle Personen sind völlig frei erfunden; Ähnlichkeiten wären rein zufällig.

© Leinpfad VerlagHerbst 2014

Alle Rechte, auch diejenigen der Übersetzung, vorbehalten.Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form ohne die schriftliche Genehmigung des Leinpfad Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: kosa-design, IngelheimLayout: Leinpfad Verlag, Ingelheim

Leinpfad Verlag, Leinpfad 5, 55218 Ingelheim,Tel. 06132/8369, Fax: 896951E-Mail: [email protected]

eISBN 978-3-942291-94-1

Inhalt

Santa Klau’s Mainhattan-Adventskalender für Killer, Knackis und schwere Jungs. Mit 24 Gefängnistürchen zum Öffnen Karsten Eichner

Der perfekte Mord Ella Daelken

Wer hat Angst vorm Weihnachtsmann? Klaudia Jeske

So weiß wie Schnee, so rot wie Blut Thorsten Weiß

Allüberall auf den Tannenspitzen sah ich goldene Lichtlein sitzen Claudia Platz

Endlich Paula Bengtzon

Ein Zimtstern für Irina Leila Emami

Vom Himmel hoch Ivonne Keller

Die Wichtigkeit des Wachses Marcus Winter

Advent, Advent Regina Schleheck

Katzenjammer in Wiesbaden Angelika Marie Hauck

Sein kostbarster Schatz Kathrin Pohl

Oh du fröhliche, oh du selige Campingzeit Frauke Schuster

Alle Jahre wieder Susanne Kronenberg

Dreimal Barbados Fenna Williams

Nightliners Nadine Buranaseda

Alles ist gut Richard Lifka

Die Kunst des Tranchierens Tania Jerzembeck

Rehbraten Denise Haberlandt

Gerhilds Geheimnis Claudia Schmid

Engel im Schnee Christina Bacher

Danke auch Christiane Geldmacher

Mirja malt Ricarda Oertel

Dreikönigstreffen Gitta Edelmann

Die Weihnachtsgeschichte Almuth Heuner

Die Autorinnen und Autoren

Das 1. Türchen

Santa Klau’s Mainhattan-Adventskalender für Killer, Knackis und schwere Jungs. Mit 24 Gefängnistürchen zum Öffnen Karsten Eichner

1. Dezember:

Lass die Adventszeit ruhig und besinnlich beginnen. Klaue zur Einstimmung lediglich eine Tüte Bethmännchen auf dem Weihnachtsmarkt am Römer.

2. Dezember:

Schluss mit der Faulenzerei! Besorge dir auf dem Weihnachtsmarkt mindestens drei prall gefüllte Brieftaschen. Bonuspunkte gibt es für die Entwendung der Dienstwaffe einer der zahlreichen Zivilstreifen.

3. Dezember:

Höchste Zeit für erste Weihnachtsbesorgungen – genug Geld hast du ja nun. Decke dich an der Konstablerwache beim Dealer deines Vertrauens mit ausreichend Heroin, Kokain, Schlafmohn und Crystal Meth ein.

4. Dezember:

Die erste echte Herausforderung: Lege heute den Dealer deines Vertrauens um – ehe er bemerkt, dass du ihm versehentlich Blüten aus der nordkoreanischen Fälscherwerkstatt angedreht hast. Wasche die Blüten dann umgehend bei einer Reinigung in der B-Ebene der Hauptwache. Zur Belohnung darfst du die Juwelier-Auslagen in der nahen Goethestraße ausbaldowern.

5. Dezember:

Nikolausabend. Beste Gelegenheit, in der Dunkelheit einem der zahlreichen falschen Nikoläuse eins über die Rübe zu geben und ihm den Geschenkesack zu rauben. Ein Extra-Sternchen gibt es, wenn du den Nikolaus dabei effektvoll vom Eisernen Steg oder vom Domturm schubst.

6. Dezember:

Nikolaustag. Höre zur Feier des Tages den Polizeifunk ab. Hat dein Nikolaus die Eigentumsübertragung nicht überlebt, darfst du den Sack komplett behalten. Falls wider Erwarten doch ein Lebenszeichen zu hören ist, spende die Hälfte der Geschenke an das Sozialwerk für inhaftierte Schwerkriminelle. Wer weiß – vielleicht können die dir schon bald auch mal einen Gefallen tun.

7. Dezember:

Zeit für das große Weihnachts-Shopping in der Goethestraße – natürlich, ohne einen Cent zu bezahlen, schließlich willst du mit deiner gestohlenen Platin-Card ja nicht groß auffallen. Besuche deshalb ausschließlich Geschäfte, in denen die gelangweilten Verkäuferinnen High Heels tragen. Das bringt dir bei der anschließenden Flucht wertvolle Sekunden.

8. Dezember:

Vollbringe eine gute Tat und zaubere vielen alten Menschen ein seliges Lächeln aufs Gesicht. Bringe dazu im AWO-Heim im Ostend ein Tablett mit selbst gebackenen Haschplätzchen vorbei.

9. Dezember:

Praxis-Lehrgang, Teil 1. Schau‘ dir mindestens drei Folgen von „Ein Fall für zwei“ auf DVD an. Profis erkennen natürlich sofort, welche der Szenen nicht in Frankfurt, sondern in Wiesbaden gedreht wurden.

10. Dezember:

Zeit für ein wenig Klassenkampf und die große Umverteilung von oben nach unten. Verkleide dich als Weihnachtsmann und schmuggle dich in eine der zahlreichen Investmentbanker-Weihnachtsfeiern, die aus Gründen der Diskretion mittlerweile meist in edlen Landhotels in der Umgebung stattfinden. Nach der zwanzigsten Magnumflasche Schampus wird es dir ein Leichtes sein, zehn dick gefüllte Brieftaschen abzugreifen sowie mindestens fünf Autoschlüssel von Mercedes, Porsche & Co.

11. Dezember:

Klassenkampf, Teil 2: Versenke gegen Morgen den immer noch komatösen Chefinvestmentbanker mit seinem Porsche Cayenne Turbo im Main – natürlich, ohne Spuren zu hinterlassen.

12. Dezember:

Glückwunsch, du hast dir einen freien Tag redlich verdient. Mach’ dir ein paar schöne Stunden mit den appetitlichen Mädels im ‚Sudfass‘. Zahle am Ende lässig mit der gestohlenen Platin-Firmenkreditkarte von einem der Investmentbanker – bevorzugt von einem, der sich mit diskret abgelegtem Ehering an die blutjunge Bedienung rangemacht hat. Die Compliance-Abteilung der Firma und die interessierte Ehefrau sollen schließlich gern erfahren, wofür du das ganze Geld verjubelt hast.

13. Dezember:

Bei Investmentbankers letzter Mainfahrt hast du natürlich doch Spuren hinterlassen – aber eben solche, die die Polizei auch garantiert finden soll. Mit Erfolg: Der Vize des toten Investmentbankers wird wegen dringenden Mordverdachts festgenommen.

14. Dezember:

Klassenkampf, Teil 3: Spende mindestens 10.000 Euro aus dem Guthaben der Investmentbanker für das Hinterbliebenenwerk der im Dienst getöteten Profikiller. Für diese Summe erhältst du noch vor Silvester eine Spendenbescheinigung der Cayman Islands Black Money Investment PLC, die selbstverständlich nirgends steuerlich abzugsfähig ist. Aber Steuern zahlst du hierzulande ja sowieso nicht.

15. Dezember:

Schon wieder Gelegenheit für eine gute Tat. Schmeiß‘ dich in deinen besten Anzug, besuche eine begüterte alte Witwe auf dem Sachsenhäuser Berg und gib dich als ihr neuer Versicherungsvertreter aus. Hilf ihr fürsorglich beim nötigen Aktualisieren ihres Lebensversicherungsvertrags. Trage dort diskret den Namen deines Paten ein. Er übernimmt die komplette weitere Abwicklung des Falles. Und schickt in circa einem Vierteljahr den Profikiller aus Palermo vorbei, der auf „natürliche Todesfälle“ bei alten Damen spezialisiert ist.

16. Dezember:

Museumstag. Im Museum für Weltkulturen am Schaumainkai findest du bestimmt ein paar passende Präsente für die weitläufige Verwandtschaft. Vorher checkst du natürlich den Nebenraum der Garderobe, um dort eine möglicherweise allzu neugierige Aufseherin diskret zwischen- oder fallweise endzulagern.

17. Dezember:

Praxis-Lehrgang, Teil 2: Lies’ die Memoiren des Frankfurter Baulöwen und Milliardenpleitiers Dr. Jürgen Schneider. Kenner knabbern bei der Lektüre gesalzene Erdnüsse.

18. Dezember:

Tu‘ deinem Paten in Butzbach was Gutes. Besuche ihn dort im Gefängnis. Um ihn aufzuheitern, erzähle ihm dabei von der alten Dame vom Sachsenhäuser Berg.

19. Dezember:

Zeit für ein wenig Publicity kurz vor den Feiertagen. Schmeiß’ einen Banker vom 38. Stock aus einem der Bankentürme – und binde ihm vor dem letalen Sturz eine Guy-Fawkes-Maske der Occupy-Bewegung vors Gesicht. Ein rauschendes Medienecho wird deiner Aktion sicher sein.

20. Dezember:

Heute kümmern wir uns um die elektrische Eisenbahn – den Traum aller kleinen und großen Jungs. Du wählst natürlich die XXL-Variante. Entwende dazu am Darmstädter Hauptbahnhof eine Rangierlokomotive. Fahre anschließend nach Biblis, wo du im AKW unbemerkt einen der Castor-Waggons ankuppelst. Suche dir anschließend eine wenig befahrene Nebenstrecke in Richtung Slowakei, wo dich schon dein iranischer Kontaktmann strahlend erwartet. Merke: Auch Mullahs lieben Märklin!

21. Dezember:

Immer noch nicht alle Geschenke beisammen? Und keine Lust auf bummvolle Geschäfte? Kein Problem für dich. Eine kleine, gezielte Bombendrohung am Telefon – und du kannst in Feuerwehr-Uniform in aller Ruhe das menschenleere Main-Taunus-Zentrum nach den letzten Geschenken durchstöbern.

22. Dezember:

Lust auf eine Partie „Schiffe versenken“? Zahlreiche Linien bieten die beliebten Adventsreisen auf Rhein und Main an – du hast praktisch freie Auswahl. Die Bodenventile sind meist leicht vom Maschinenraum aus zugänglich. Mit dem gesunkenen Havaristen in der Fahrrinne verschaffst du Tausenden von Binnenschiffern ein paar ruhige Urlaubswochen.

23. Dezember:

Sofern der Tag nicht auf ein Wochenende fällt: Letzte Gelegenheit für einen kleinen, schnellen Banküberfall in Rödeloder Sossenheim, um über die Feiertage genügend Bares im Haus zu haben. Das lustige Geldautomaten-Sprengen heben wir uns für Silvester auf, wir haben schließlich Stil und Niveau!

24. Dezember:

Zeit für das große Weihnachtsfinale. Anfänger knacken für die große Geschenketour bei Verwandten, Bekannten und Knastbrüdern vor dem Sachsenhäuser Polizeirevier in der Mörfelder Landstraße einen Streifenwagen. Profis stehlen sich in das Polizeipräsidium an der Miquelallee und schweben mit einem dort geparkten Polizeihubschrauber zum Fest ein. Experten-Tipp: Gerade die kleinen schweren Jungs freuen sich auch riesig über ein funkelnagelneues Polizeiboot aus dem Osthafen. Der Fantasie sind hier praktisch keine Grenzen gesetzt. Hundert Extra-Sternchen bekommt, wer der Familie pünktlich zum Heiligabend einen Spezialeinsatz der GSG 9 im heimischen Wohnzimmer beschert. Das ist großes Kino – und mit maximal zehn Jahren gewiss nicht überbezahlt. Absolute Profis setzen sich natürlich in letzter Sekunde durch den eigens angelegten Fluchttunnel ab und haben vorsorglich auch das mit Schwarzgeld finanzierte Ferienhaus in einem südlichen Steuersparparadies bereits weihnachtlich dekorieren lassen. In diesem Sinne: Frohes Fest!

Das 2. Türchen

Der perfekte Mord Ella Daelken

Ich wähle die Route unbewusst, eigentlich bin ich auf dem Weg in den Süden. Ein paar Tage Urlaub, raus aus dem Einerlei. Auf der A 5 Richtung Basel steigen plötzlich Bilder in mir auf. Ein eiskalter Wintertag, beleuchtete Fachwerkhäuser, mein erstes Mal. Ewig habe ich nicht daran gedacht. Und jetzt liegt die Abfahrt Zwingenberg vor mir. Ehe ich mich versehe, lenke ich den Wagen von der Autobahn.

Ich checke in dasselbe Hotel mitten in der Altstadt ein wie damals. Zugegeben – eine romantische Nachlässigkeit, aber ein überschaubares Risiko. Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Ich habe mich verändert, bin älter geworden. Und wer sollte sich an mich erinnern? Es ist alles wie damals. Der Schnee hat den Melibokus weiß gefärbt, in den Fenstern der Fachwerkhäuser Adventskränze mit leuchtenden Kerzen, die ein heimeliges Licht werfen. Schon nach einer Stunde überkommt mich ein fast vergessenes Gefühl der Ruhe. Am Nachmittag schließe ich mich einer Stadtführung des Geschichtsvereins an. Die älteste Stadt an der Bergstraße, bereits 1274 sind ihr die Stadtrechte verliehen worden. Ich lasse die Worte an mir vorbeiziehen, hin und wieder nehme ich ein interessantes Detail auf. Bezaubernde Fachwerkkulisse, altehrwürdige Bergkirche, jahrtausendealte Passstraße. Zur Krönung gönne ich mir einen Dippehas in einem der Scheunenrestaurants in der Scheiergass. Das Ganze ist Idylle pur, fast zu schön, um wahr zu sein. Weihnachtskitsch gepaart mit wohliger Kleinstadtatmosphäre. Genau das, was ich gesucht habe. Wie schon vor zehn Jahren.

Es war ein kalter Wintertag. Ich fuhr planlos über die Autobahn, irgendwann landete ich in Zwingenberg. Vielleicht war es der Name, der den Ausschlag gab. Zwingenberg – früher musste jeder Reisende auf der Bergstraße durch die Stadt, wenn er nicht in den ringsherum liegenden Sümpfen und Wäldern zugrunde gehen wollte. Auch mich führte mein Weg hierher und heute denke ich, dass das Schicksal es so wollte. Als ich die Altstadt das erste Mal sah, den Berg, den Weihnachtsmarkt, die lauschigen Gässchen, wurde mir klar, dass dies der perfekte Ort sein würde für mein Vorhaben.

Wochenlang hatte ich darüber nachgedacht: Der perfekte Mord. Nein, nicht einer, der verborgen blieb. Wie langweilig, vierzig bis sechzig Prozent aller Morde werden nicht erkannt, unaufmerksame Ärzte und verschwiegene Angehörige sorgen dafür, dass die Rate seit Jahren gleich hoch ist. Das ist keine Herausforderung. Irgendwann wurde es mir klar: Ein perfekter Mord ist ein motivloser Mord. Angehörige und Polizei stehen vor einem Rätsel. Bleiben zurück mit der immer gleichen quälenden Frage: Warum?

Mir ging es nie um Theorie. Ich wollte es in der Praxis erfahren. Als ich damals Zwingenberg zum ersten Mal sah, wusste ich, dass ich am Ziel meiner Suche war. Es war diese gottverdammte Beschaulichkeit der Stadt. Ich ging durch die Straßen, Schneeflocken umwirbelten mich und ich begann die Suche nach meinem ersten Opfer.

Man sollte meinen, in so einem Ort gibt es genug ideale Opfer, aber zunächst fiel es mir schwer, mich zu entscheiden. Schließlich war es seine Durchschnittlichkeit, die mich auf ihn aufmerksam machte. Mitte dreißig, schütteres Haar, Brille, verheiratet, eine zehnjährige Tochter. Ich sah ihn am Sonntag mit seiner Familie auf dem Weihnachtsmarkt. Die Tochter lachte, rannte voraus, kam zurück, ließ sich Geld geben und verschwand wieder. Er ging mit seiner Frau Hand in Hand hinterher, unterhielt sich am Glühweinstand mit Bekannten, kaufte ein grässliches Pfeifenmännchen, später gingen sie gemeinsam nach Hause. Er war so durchschnittlich, so absolut normal – er war perfekt.

Ich beobachtete ihn einige Tage. Morgens verließ er um kurz nach sieben sein Reihenhaus in Hanglage. Von dort fuhr er mit dem Auto in die Altstadt, parkte und ging bis zu dem kleinen Geschäft auf der Wiesenpromenade, wo er einen Weinladen betrieb. Im Schaufenster hing ein Bild der Weinkönigin, eine junge Frau mit einigen stilisierten Weinreben im Haar, die lächelnd mit einem Glas posierte. Ich beobachtete ihn lange genug, um einen guten Zeitpunkt festlegen zu können. Dann entschied ich mich für den Montag. Seine Frau besuchte eine Freundin, später gingen beide zum Frauenchor des Sängerkranzes. Niemand sollte ihr eine Beteiligung unterstellen können. Sie musste wie alle anderen vor einem Rätsel stehen.

Ich postierte mich an seinem Laden. Zum Feierabend kam seine Tochter, gemeinsam gingen sie durch die Altstadt, sie zeigte ihm im Schaufenster rosa Inlineskates, die sie sich zu Weihnachten wünschte. Später gingen sie in ein Café, er bestellte Stollen und Kaffee für sich, für seine Tochter trotz der Kälte ein Eis. Als sie irgendwann auf die Toilette verschwand, war die Zeit gekommen. Ich fühlte die Ampulle mit Gift und hoffte, dass sie mir nicht im entscheidenden Moment aus meiner schweißnassen Hand fallen würde. Ich war nervöser als gedacht. Endlich stand ich auf. Als ich ihn berührte, zuckte er zusammen, drehte sich überrascht um. „Könnte ich den Zucker haben?“, frage ich mit ungewohnt kratziger Stimme. Er lächelte arglos, langte über den Tisch zum Zucker. Das war der Moment, als ich das Gift in seine Kaffeetasse gab.

Kaum saß ich wieder, kam seine Tochter zurück. Sie setzte sich neben ihn, flüsterte ihm leise etwas zu, dann drehte sie sich nach mir um, mit einem Blick, der mir durch Mark und Bein ging. Er lachte, schüttelte den Kopf und fuhr ihr mit der Hand durch die Haare. Dann trank er seinen Kaffee, verzog nicht einmal das Gesicht.

Ich raffte meine Sachen zusammen und ging hinaus. Durch das hell erleuchtete Fenster konnte ich sehen, wie er zusammenbrach. Seine Tochter sprang auf, versuchte ihn zu stützen. Nach einiger Zeit fuhr ein Krankenwagen vor, aufgeregte Menschen blieben stehen, bildete einen Pulk. Ich verschwand hinter einem Weihnachtsbaum. Dort konnte ich einen Blick auf ihn erhaschen, wie er von den Sanitätern in den Krankenwagen geschoben wurde. Schreiend, sich windend.

Ich hätte sofort auschecken sollen, aber ich konnte es nicht. Ich musste wissen, wie es weiterging. Abends fuhr ich zu seinem Haus. Es war dunkel, anders als bei den anderen Häusern der Straße erhellte keine Weihnachtsbeleuchtung die Fenster. Dann verließ ein Mann das Haus, stieg in einen dunklen Wagen. Der Leichenbestatter. Es hatte geklappt. Mein erster Mord! Das Glücksgefühl war unglaublich, überschwemmte mich mit einer großen Woge, die noch Monate später zu spüren war. In den folgenden Tagen prüfte ich jeden Morgen neue Artikel im Echo. Die Polizei und die Angehörigen standen vor einem Rätsel. Im Café hörte ich die wildesten Gerüchte, amüsiert lauschte ich dem Rätselraten über das Motiv. Ich hatte es geschafft: Der perfekte Mord an meinem perfekten Opfer im perfekten Ort.

Und nun bin ich wieder da. Es hat sich nur wenig verändert. Die Fachwerkhäuser strahlen noch immer ihre altertümliche Atmosphäre aus, die Kinder freuen sich auf das Weihnachtsfest, die Erwachsenen hasten hin und her, um Geschenke zu besorgen. Ich sitze im gleichen Café wie damals, eine seltsame Nostalgie hat mich erfasst. Ich spüre die Ruhe des Ortes und gleichzeitig die Anspannung. Diese Anspannung, die ich so lange vermisst habe. Nachdem ich mein Hobby zum Beruf gemacht habe, wurde vieles zur Routine. Inzwischen langweilt es mich unsäglich. Ich brauche neue Inspiration, einen frischen Anreiz. Als meine Augen wie von allein durch den Raum gleiten, wird mir bewusst, dass ich ein neues Opfer suche. Ein weiterer perfekter Mord an diesem perfekten Ort mit seinen perfekten Menschen. Gegenüber liest eine junge Frau. Sie streicht sich die Haare zurück, schaut verträumt aus dem Fenster. Kurz bleibt ihr Blick an mir hängen. Sie hat etwas Unschuldiges. So viel Jugend, so viel Hoffnung, noch so viel Zeit zum Leben.

Sie wird mein perfektes Opfer sein.

Als sie geht, folge ich ihr unauffällig. Am nächsten Morgen bin ich schon zur Stelle, als sie das Haus verlässt. Sie geht wieder in die Altstadt, setzt sich in das Cafe, liest in ihrem Buch. Ich wähle den Tisch neben ihrem. Noch während ich nach einem Thema suche, um sie anzusprechen, blickt sie auf. Aus der Nähe sehe ich einige Sommersprossen auf ihrer Nase. Süß. Sehr süß.

„Glauben Sie, dass es so etwas wie einen perfekten Mord gibt?“, fragt sie unvermittelt. Ihre Stimme ist angenehm, weich, so unschuldig.

„Wie kommen Sie darauf?“

Sie weist auf ihr Buch. Ach Gott, ein Kriminalroman. Vermutlich von der kitschigen Sorte, in dem der gute Polizist den Bösen zur Strecke bringt.

„Glauben Sie denn, dass es den perfekten Mord gibt?“, frage ich zurück.

Sie fährt sich mit der Zunge nachdenklich über die Lippen, bevor sie antwortet: „Es ist möglich. Natürlich müssen die Umstände stimmen. Und man müsste skrupellos genug sein.“ Sie klappt ihr Buch zusammen und setzt sich zu mir hinüber, mustert mich nun intensiv, fast schon provozierend. „Ihnen würde ich es zutrauen.“

Ich lache auf und mustere sie genau. Alles scheint ihr offenzustehen, die Freiheit der Zukunft. Eine Zukunft, die sie nicht haben wird.

Ich nehme einen Schluck Kaffee: „Es könnte schon sein, dass es den perfekten Mord gibt.“

Sie lehnt sich nachdenklich zurück. Jedenfalls so nachdenklich, wie man als Anfang Zwanzigjährige sein kann. „Wir beide zum Beispiel“, erklärt sie, „wir kennen uns nicht, niemand hat uns je gemeinsam gesehen. Touristen kommen und gehen. Wenn Sie sterben, niemand käme auf mich.“ Sie ist wirklich niedlich.

„Warum sollte ich sterben?“, frage ich, während meine Augen den Tisch nach Zucker absuchen.

Sie bemerkt es und reicht mir die Zuckerdose herüber: „Ist der Kaffee zu bitter?“ In diesem Moment liegt etwas in ihren Augen, das ich nicht einordnen kann. Ich bin irritiert, versuche festzuhalten, was mir unbewusst für einen Moment in die Erinnerung huscht.

Dann wird es mir klar.

Als sie das Erkennen in meinem Gesicht registriert, lächelt sie mich an, nimmt ihr Buch und steht auf. „Es wird ungefähr zwanzig Minuten dauern. Es wird sehr schmerzhaft sein. Sie werden schreien, winseln, nach Luft röcheln. Genau wie mein Vater. Und wie bei ihm wird sich kaum jemand erklären können, wer Sie umbringen wollte und warum.“ Sie beugt sich zu mir herunter: „Aber wir beide wissen es, nicht wahr? Wir kennen das Motiv: der perfekte Mord.“

Dann steht sie auf und geht hinaus. Hinaus in die friedlichen Gässchen von Zwingenberg.

Das 3. Türchen

Wer hat Angst vorm Weihnachtsmann? Klaudia Jeske

Als Kind hatte sich Felice Talbach ein bisschen vor Knecht Ruprecht mit seiner Rute gefürchtet, aber das war mehr als dreißig Jahre her. So empfand sie weder Angst noch Argwohn als der Weihnachtsmann, weißbärtig und rotgewandet wie es sich gehört, plötzlich vor ihr auftauchte. Er drückte ihr das Fleischmesser in die Hand und huschte wortlos davon.

Hätte Felice eine Sekunde früher das Blutrote an der Klinge bemerkt, so wäre sie dem Mann hinterhergerannt oder hätte gerufen: „Haltet ihn auf!“ Aber der Gedanke, es könnte etwas nicht in Ordnung sein, dämmerte ihr zu spät.

Sie hielt das blutverschmierte Messer von ihrem Körper fern und blickte sich verdutzt um. Die anderen Aussteller auf dem Weihnachtsmarkt hatten anscheinend von der Szene nichts mitbekommen. Nina vom Verkaufsstand mit Töpferarbeiten, links nebenan, telefonierte und blätterte dabei in irgendeiner Liste. Lutz vom rechts angrenzenden Holzspielzeugstand war verschwunden. Vielleicht war er mal für kleine Jungs, dachte Felice, dann hatte er sicherlich Selma gebeten, ein Auge auf seine Waren zu haben. Vis-à-vis bot die zierliche Selma ihre Karten und Alben aus handgeschöpftem Papier feil, das sie mit Naturfarben aus Artischocke und Rotkohl eingefärbt hatte. Gerade jetzt wurde sie von einem Kunden verdeckt, der sich von ihr beraten ließ.

Vom Innenhof, in dem die Winzer ihre Getränke ausschenkten, waberte der Duft nach süffigem Glühwein in die Gasse. Hier an den Kunsthandwerkerständen wartete man noch auf den erhofften Besucheransturm. Der gerade eröffnete ‚Weihnachtsmarkt der Nationen‘ zog sich durch die romantischen Gassen von Rüdesheim und viele Leute hielten sich vermutlich erst einmal dort auf, bevor sie den Weg zu den Höfen der Winzer fanden.

Felice fühlte sich unbehaglich. Was sollte sie tun? Sie wusste nicht, ob sich der Weihnachtsmann bloß einen üblen Scherz mit ihr erlaubt hatte. Vermutlich war es nur rote Farbe, die an der Klinge klebte, beruhigte sie sich selbst.

Es wäre bestimmt albern, einen Aufstand zu machen oder gar die Polizei zu rufen, sie würde Gefahr laufen, sich zu blamieren.

Felice nahm ein verschmutztes Stück Filzstoff, das sie sowieso nicht mehr für die Hüte, Pantoffeln und putzigen Zwerge benutzen konnte, die sie anfertigte, und wischte die scharfe Klinge damit ab. Sie warf den Filz in einen Papierkorb und förderte unter dem mit dunkelblauem Samt verhüllten Verkaufstisch eine der Pappschachteln zutage, in der sie ihre Zwerge transportiert hatte. Sie öffnete den Kartondeckel, versenkte das Messer in der Schachtel, schloss sie wieder und stellte den Karton an seinen Platz zurück.

Aus den Augen – aus dem Sinn.

Dennoch war das Schuldgefühl, das sie im Alltag gewöhnlich ausblenden konnte, durch den seltsamen Vorfall erwacht. Unruhig schaute Felice auf ihre Armbanduhr. Wo blieb Gerda, die hier in Rüdesheim lebte und ihr an diesem Adventssonntag – wie schon oft bei ähnlichen Gelegenheiten – am Stand helfen sollte? Normalerweise galt Gerda Schöllermann als ein Muster an Pünktlichkeit, doch heute war sie spät dran.

Eine Kundin, die sich lang und breit das Filzverfahren erklären ließ, Felices Arbeiten ausnahmslos ganz entzückend fand und sich dann doch nicht zum Kauf entschließen konnte, lenkte sie eine Weile lang ab. Dann tauchte Gerda mit hektischen roten Flecken im Gesicht und vor Aufregung funkelnden Augen auf. „Stell dir vor, auf dem Dixi Klo haben die eine Leiche gefunden. Da sind jetzt überall Polizisten.“

Ein Schauer fuhr Felice den Rücken hinunter. Ihr Atem wurde schneller. „Wer ist es?“

„Das konnte ich leider nicht erkennen. Zu viel Blut.“

„Gerda, mir ist etwas ganz Seltsames passiert – gerade eben …“, setzte Felice an, doch dann verstummte sie, denn soeben hatte sich ein roter Mantel in ihr Blickfeld geschoben. Der Weihnachtsmann kam mit einem schweren Sack auf dem Rücken die Gasse hinaufgepoltert. Sie ließ ihn nicht aus den Augen. Gerda winkte ihm zu.

„Kennst du den?“, fragte Felice. Ihr Mund war trocken.

„Das ist Hans-Dieter. Der macht alle Jahre wieder für den Bürgerverein den Weihnachtsmann und verteilt Süßigkeiten an die kleinen Besucher.“

Hans-Dieter begrüßte Gerda mit besorgter Miene. Er war ein kurzbeiniges Weihnachtsmännchen mit einem natürlich wirkenden, dicken Bauch. Felice begriff, es konnte sich nicht um dieselbe Person wie vorhin handeln. Dieser hier war viel kleiner als der andere Weihnachtsmann, zu dem sie hatte aufblicken müssen.

„Ich bin gerade einem Kollegen von Ihnen begegnet. So einem Langen mit schmalen Schultern“, beeilte sie sich einzuwerfen, bevor Gerda und der Mann dazu kamen, das Gespräch aufzunehmen. „Gibt es denn einen zweiten Weihnachtsmann?“

Ganz offensichtlich fand Hans-Dieter ihre Frage momentan gänzlich unangebracht, denn er warf ihr einen verständnislosen Blick zu.

„Wie viele Weihnachtsmänner laufen denn hier herum?“, blieb sie hartnäckig.

„Also meines Wissens ist das ganz alleine mein Job“, brummte Hans-Dieter und wandte sich Gerda zu: „Wie es aussieht, ist Horst der Tote.“

„Horst?“, fragte Felice verstört.

„Horst Steinfatt“, sagte Gerda mit einem Kloß in der Stimme.

Es war, als fege plötzlich ein eiskalter Windhauch durch die Gasse. Felice spürte, wie die Wärme aus ihrem Körper wich. Der Gedanke, dass der Weihnachtsmann Lederhandschuhe getragen hatte, flutete ihr Gehirn. Mit weichen Knien beugte sie sich unter den Verkaufstisch. Das Messer musste schleunigst von hier verschwinden. Sie holte die Pappschachtel hervor und bat Gerda, die Stellung zu halten.

Als Felice auf dem Parkplatz in ihren Lieferwagen einsteigen wollte, stand er plötzlich neben ihr.

„Angst?“, fragte Martin.

Felice starrte ihren Ehemann an, der vor zwei Jahren aus ihrem Leben verschwunden war: Er trug eine unauffällige Jacke mit Schulterpolstern, die ihn breiter wirken ließen, als er eigentlich war. Im Gesicht spross ein schmuddelig grauer Vollbart.

„Was machst du hier, zum Teufel!“ Schon während sie es aussprach, keimte ein schrecklicher Verdacht in ihr auf. „Hast du den Steinfatt umgebracht?“

„Schade um ihn ist es nicht. Oder?“

Felice schüttelte fassungslos den Kopf. Nahm es denn nie ein Ende? Vor Jahren hatte Martin – gerade erst mit seinem Architekturstudium fertig und frisch mit Felice verheiratet – ein Geschäftskonzept entwickelt, um großstadtmüde Bauherren aufs Land zu locken. Blauäugig hatten Martin und Felice Talbach mehrere Hektar Land vom Bauern Horst Steinfatt gekauft und darauf vertraut, dass die Ausweisung als Bauland nur noch reine Formsache sei. Es hätte tatsächlich klappen können, doch dann waren Naturschützer im Namen von Zippammern auf den Plan getreten. Der folgende jahrelange Rechtsstreit, ob das Areal als Brutgebiet erhalten bleiben müsse, die Kreditschulden – alles war ihnen über den Kopf gewachsen, bis Felice einen Ausweg gefunden hatte.

Jemand ließ einen Motor an. Martin duckte sich hinter dem Lieferwagen. „Der Scheißkerl hat mich vernichtet“, zischte er.

„Wenn wir den Prozess nicht verloren hätten …“, sagte Felice.

„Du hast einen Lover, habe ich gehört“, unterbrach er sie. „Wohnst bei dem Kerl in seinem schmucken Einfamilienhaus. Wahrscheinlich sagen die Kinder schon Papa zu ihm! … So haben wir nicht gewettet, Felice. Du sanierst dich, machst dir ein schönes Leben und ich kann sehen, wo ich bleibe.“

„Verdammt, Martin, du wolltest dich nie wieder blicken lassen!“

Er machte ihr ein Zeichen, nicht weiterzusprechen. Aus seiner Jackentasche zog er ein Handy hervor und schaute kurz auf das Display. Dann nickte er. „Spür am eigenen Leib wie es ist, wenn du nicht bei deinen Kindern leben darfst … Wenn du alles verlierst.“ Er deutete auf die Pappschachtel, die Felice unter dem Arm trug. „Die Kripo wird dich verhaften, weil deine Fingerabdrücke auf dem Messer sind. Es ist nur gerecht.“

Sie schüttelte ungläubig ihren Kopf. Der Boden unter ihren Füßen wankte. Sie suchte Halt, lehnte sich an die Lieferwagentür. Ihre Stimme zitterte: „Wer hat mir das Messer in die Hand gedrückt?“

„Der Weihnachtsmann. Du hast ihn doch gesehen … “

„Schwachsinn!“

„Es ist nur gerecht“, wiederholte er.

„Damit wirst du niemals durchkommen!“

„Der Versicherungsbetrug ist auf deinem Mist gewachsen, Felice! Du hast mich ausgelöscht! Ich Idiot hab immer gemacht, was du wolltest. Ab jetzt bestimme ich die Spielregeln.“ Er drehte sich um und ging. Irgendwo zwischen parkenden Pkws und Kleintransportern verlor sie ihn aus den Augen. Kurz darauf tauchte die Polizei auf. Sie fragten nach dem Messer. Felice rückte es ohne Umschweife heraus.

Stundenlange Verhöre bei der Kripo folgten. Ein Zeuge habe beobachtet, wie sie das blutige Messer im Karton verstaute, erzählte man ihr. Verzweifelt versuchte sie den Beamten verständlich zu machen, was tatsächlich passiert war. Aber bei der Kripo glaubte niemand an den Weihnachtsmann. Und auch nicht an Gespenster. Denn Martin Talbach war vor zwei Jahren bei einem Brand ums Leben gekommen.

Damals hatte Felice die sterblichen Überreste ihres Mannes identifiziert.

Das 4. Türchen

So weiß wie Schnee, so rot wie Blut Thorsten Weiß

Seine Stimmung war düster wie die Mansarde, in der er saß. Der Schnee der vergangenen Nacht ließ nur wenige Sonnenstrahlen durch das winzige Dachfenster fallen.

„Schnee am ersten Advent“, murmelte er und betrachtete die weißen Kristalle wie eine Kostbarkeit.

Alexander Orban erinnerte sich an keinen so frühen Wintereinbruch, selbst im Odenwald. Doch was wusste er noch von der Welt hier draußen. Schließlich hatte er die letzten Jahre in einer neun Quadratmeter kleinen Zelle im Knast in Weiterstadt verbracht. Rückblickend war es geradezu prophetisch, dass seine Jugendfreunde ihn nicht Alex, sondern Al riefen – in Anspielung auf den brutalen Gangster Al Capone. Er konnte es ihnen nicht verdenken, waren sie doch immer wieder seinem Jähzorn zum Opfer gefallen.

Die Jahre im Knast hatte er jedoch ihr zu verdanken.

„Vergiss sie, Alexander“, hatte der Anstaltspsychologe geraten, „du bist jung, gerade einmal sechsundzwanzig, bau dir eine neue Existenz auf.“

Aber er wollte sie nicht vergessen. Lediglich ihren Namen hatte er sich zu denken verboten. Jedoch vergaß er niemals, dass sie sein Leben zerstört, ihm alles genommen hatte, was er liebte. Der aus Schmerz und Schuld geborene Wunsch nach Rache war das Einzige, das ihm blieb.

In einem halben Jahr würde seine Tochter in die Schule kommen. Alexander hatte sie seit jenem Tag nicht mehr gesehen. Damals war sie noch ein Baby und niemals würde er ihr herzzerreißendes Weinen vergessen, das ihn nach dem Öffnen der Wohnungstür bis ins Mark getroffen hatte. Sofort wusste er, dass etwas nicht stimmte. Ihre warme Altstimme, die ansonsten beruhigend auf die Kleine einredete, fehlte. Dafür kurze, spitze Schreie, untermalt von einem tiefen Stöhnen. Auch sie hatte er nur noch einmal gesehen, vor Gericht, während sie gegen ihn aussagte, auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht verzichtete. Es schmerzte wie eh und je, wenn er daran zurückdachte. Alexanders Brustkorb zog sich zusammen, ließ dem Herzen kaum Platz zum Schlagen, ganz so, als wäre es in einen Schraubstock gespannt. Erst die Wut sprengte die Umklammerung, weitete die Brust für stoßweise Atemzüge. Das hasserfüllte Antlitz, das ihm aus dem Spiegel entgegenstarrte, erinnerte ihn an die fast vergessenen Erzählungen des Großvaters aus der weihnachtlichen Sagenwelt des Odenwaldes:

„Der Benznickel trägt die Züge des Teufels, wenn er die Kinder in seinen Sack steckt und mitnimmt.“

Damals war der Benznickel alles andere als ein Kinderfreund. Eine furchterregende Gestalt, in Felle gehüllt, mit Ketten gefesselt, entsetzlich lärmend, vor der man ängstlich unter den Küchentisch kroch. Nicht wie heutzutage, wo er auf den Märkten als gütiger Nikolaus auftritt.

Sein Plan hatte lange reifen können. Über fünf Jahre hinweg hatte Alexander Mittel und Wege ersonnen, sich ihr unerkannt zu nähern. Und sie alle verworfen. Bis sich eine Möglichkeit in seinem Hirn festgesetzt und immer weiter verdichtet hatte. Seine Chance, ihr mit gleicher Münze heimzuzahlen, was sie ihm angetan hatte. Heute war es endlich so weit, er würde seinen Plan in die Tat umsetzen. Heute würde er sich in den traditionellen Benznickel verwandeln. Das Grauen, das er in der Kindheit wegen dieses bärbeißigen Gesellen empfunden hatte, sollte wahr werden. Für sie. Er richtete den Blick zum verschneiten Dachfenster, prüfte die Klinge des Springmessers.

„So weiß wie Schnee, so rot wie Blut“, flüsterte er.

„Because I’m happy, la laa, la la la laa, happiness is the truth.”

In gut drei Monaten begannen die schriftlichen Abiturprüfungen. Jasmins Konzentration sollte eigentlich darauf gerichtet sein, sich intensiv vorzubereiten. Stattdessen tanzte sie von einer Ecke des Zimmers in die nächste, wirbelte im Kreis herum und sang glücklich Pharrell Williams’ Gute-Laune-Hit. Dabei ließ sie die Haare wie tibetanische Gebetsfähnchen durch die Luft fliegen, sodass sie ihr strahlendes Gesicht perfekt umrahmten. Heute war ihr Tag. Ein lang gehegter Traum ging in Erfüllung. Unter all den Bewerberinnen hatte der Vereinsring sie ausgewählt, auf dem Benznickel-Markt das Christkindchen, die traditionelle Begleiterin des Benznickels, zu spielen. Gemeinsam würden sie die Spitzweck an die Kinder verteilen.

Obwohl in Neustadt geboren, wirkte Jasmin mit ihrer bronzefarbenen Haut und dem schwarzen Haar auf den ersten Blick nicht wie eine echte Odenwälderin. Ihre Eltern zogen vor Jahren aus der Türkei in den kleinen Ort zu Füßen der Burg Breuberg, weil ihr Vater eine Anstellung in der Pirelli-Fabrik gefunden hatte.

„Ein türkisches Christkindchen“, spotteten viele Freunde, nachdem Jasmin ihnen von der Bewerbung erzählte, „willst du über Nacht erblonden?“

Doch die willensstarke Jasmin hatte bereits in der Kindheit beschlossen, eines Tages das Christkindchen zu spielen.

„Jesus war kein blonder Wikinger“, hielt sie stolz dagegen, „er war Aramäer, genau wie ich.“

Charmant und beharrlich überzeugte sie den Vorstand des Vereinsringes davon, mit dem traditionellen Rollenbild zu brechen. So kam es, dass Jasmin an diesem ersten Advent glücklich durch den Raum tanzte. Dabei drückte sie das schneeweiße Gewand des Christkindchens an sich, als wollte sie es nie wieder hergeben.

Eine weit weniger gute Stimmung herrschte bei Anna ein Stockwerk tiefer. Jasmin hatte es sofort bemerkt, als sie ihr am Morgen im Treppenhaus begegnete. Jedermann in Annas Umgebung wusste stets um ihren aktuellen Gemütszustand. Dazu reichte ein kurzer Blick auf ihre Frisur. Trug sie die Haare offen, fühlte sie sich frei und unbeschwert. Wollte sie ein Ziel erreichen, band sie das Haar zusammen und ein Pferdeschwanz wippte in ihrem Nacken auf und ab. An diesem ersten Advent aber waren Annas Haare in einen so festen Knoten gezwungen, dass das bloße Betrachten schmerzte. Anna hatte Angst.

Sie hatte sich so sehr auf den Benznickel-Markt gefreut. Hatte ungeduldig auf die Buden und Stände mit dem bunten Weihnachtsspielzeug und den Naschereien gewartet. Auf die Spitzweck, die der Benznickel auf seinem Pony mitbrachte, um sie mithilfe des Christkindchens zu verteilen. Und mit ihren ständigen Fragen, wann es denn endlich so weit sei, ihrer Umgebung den letzten Nerv geraubt. Doch jetzt konnte sie nur noch daran denken, was passieren würde, sobald sie dem Benznickel begegnete.

„Ich bin so blöd“, schalt sie sich ein ums andere Mal, „wieso hab ich nicht an den Benznickel gedacht?“

Angesichts der drohenden Folgen hätte Anna ihre Tat am liebsten ungeschehen gemacht. Sie war davon überzeugt, dass der Benznickel wusste, was sie getan hatte, und sie bestrafen würde. Denn der Benznickel wusste alles, genau wie der Weihnachtsmann. Zugleich hoffte sie, dass er ihr vergab. Aber an ein gutes Ende glaubte Anna nicht.

Die Wege in Neustadt waren kurz. Das Flüsschen Mümling im Süden sowie der steile Hang des Breubergs im Norden lagen als natürliche Grenzen des Ortes eng beieinander. Doch Alexander konnte sich kaum noch in Geduld fassen. Auch die Jahre in Haft hatten ihn das Geschehen nicht in anderem Licht sehen lassen. Ihn marterte die Erinnerung, dass sie die Urheberin der kurzen, spitzen Schreie gewesen war. Im Schlafzimmer hatte er sie gefunden, in wildes Liebesspiel verstrickt. Wie ihre Haare über die Brust eines fremden Kerls peitschten, hatte sich ihm ins Gedächtnis gebrannt. Andere konnten vergeben, er konnte es nicht. Und so, wie sich sein Schmerz damals in einem unmenschlichen Schrei Bahn gebrochen hatte, so hoffte er heute, bei einem letzten, tödlichen Rendezvous mit ihr endlich seinen Seelenfrieden zu finden.

Ein abschließender Blick in den Spiegel bestätigte ihm, dass er ganze Arbeit geleistet hatte. Sein sehniger Körper verbarg sich unter einem unförmigen, gut ausgepolsterten Lodenmantel, den eine geflochtene Kordel in Höhe des vermeintlich massigen Bauches zusammenhielt. Ein künstlicher Vollbart verdeckte gemeinsam mit einem breitkrempigen Filzhut sein Gesicht. Er, Al Orban, war der Benznickel, niemand würde ihn erkennen, wenn er sich ihr näherte. Bis zu dem Augenblick, in dem sein scharfes Messer aufschnappte und den weißen Schnee mit ihrem Blut tränkte. Diese Vorstellung zog ihn derart in den Bann, dass er die Mansarde wie in Trance verließ. Erst das Geräusch der ins Schloss fallenden Haustür versetzte ihn aus dem Reich der Fantasie in die Gegenwart zurück. Er durfte sich kurz vor seinem Ziel keinen Fehler erlauben. Nur ihr Tod konnte ihn endlich aus dem Kreislauf aus Schmerz, Schuld und Rachegelüsten befreien. Von dem Schmerz, der ihn überkam, wenn er an das verlorene Glück zurückdachte. Der Schuld, die er auf sich geladen hatte, als er erst wütend, dann zunehmend verzweifelt auf ihren Liebhaber eingestochen hatte. Bis das Blut dieses Mistkerls das Bettlaken tränkte. Sechzehn Einstiche zählte die Gerichtsmedizinerin an der Leiche.

Sie hatte sein Leben zerstört und heute würde er sie bestrafen. Er wäre endlich frei, ein Leben ohne die Dämonen der Vergangenheit zu beginnen. Den nagenden Zweifel, ob er glücklich würde, wenn er seiner Tochter die Mutter nahm, verschloss Alexander so gut er konnte vor sich selbst.

Seine Gedanken wanderten zurück zu ihr und eine erregende Idee erfasste ihn. Er würde ihr vorab unbemerkt seine Aufwartung machen, ihr die Gefahr, in der sie schwebte, ins Unterbewusstsein pflanzen und wenn er zustach, in ihren Augen die Erkenntnis aufflackern sehen, unmittelbar bevor sie endlich starb. So wandte er sich nach links, folgte der schmalen Straße in die marktabgewandte Richtung. Historische Gebäude säumten die verwinkelten Gassen des alten Ortes, einige mustergültig saniert, andere dem Verfall preisgegeben. Er ging bewusst in gemütlichem Tempo, trotzdem dauerte es nur wenige Minuten, bis er das Haus erreichte, in dem sie heute lebte. Dort lehnte er sich an die Laterne auf der gegenüberliegenden Straßenseite und blickte an der Fassade hinauf zu ihrer Wohnung.