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Eine extrem brutale Mordserie erschüttert Wien. Danny Friedmann, die härteste Kommissarin des LKA, bittet ihren Freund Andorian van Anders um Hilfe bei den Ermittlungen. Ehe das Duo begreift, worum es wirklich geht, befindet es sich in einem tödlichen Wettlauf gegen die Zeit. Ihr Gegner hat keine Emotionen, nur einen Auftrag. Und er wird nicht ruhen, bis dieser erfüllt ist. Als dann noch kalte Finger aus der Vergangenheit nach Andorian greifen, ist nichts mehr, wie es scheint.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Tödliche Vergangenheit
Impressum
Roland Werner Tschische
© 2023 Roland Werner Tschische
Lastenstraße 23
1230 Wien
Illustration (Cover): Sonja Huber, www.diehuber.at
Umschlagmotiv unter Verwendung von
© RonnyDesign/freepik.com (Blut)
© Sir. Simo/unsplash.com (Foto)
Lektorat/Korrektorat: Mag. Nora PAUL, www.silbenfluss.at
Druck und Vertrieb im Auftrag des Autors:
ISBN: 9783757922405
Independently Published
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für meine geliebten Töchter Sophie und Neela!
Für meine großartige Frau
Dani!
Ihr seid das Licht in meinen Augen!
Ich liebe euch!
Dein Soundtrack zum Buch:
Rosanna – TOTO
Try – P!NK
Hungry Eyes – ERIC CARMEN
Road To Hell – CHRIS REA
Pour Some Sugar On Me – DEF LEPPARD
Non, je ne regrette rien – EDITH PIAF
Eye Of The Tiger – SURVIVOR
Eye In The Sky – THE ALAN PARSONS PROJECT
Eye Of The Beholder – METALLICA
Be My Lover – LA BOUCHE
Lola Montez – VOLBEAT
Africa – TOTO
Out Of The Frying Pan – MEAT LOAF
Heaven – BRYAN ADAMS
Die Vier Jahreszeiten, Violinkonzert in f-Moll, OP: 8, No. 4, RV: 297, Winter – ANTONIO VIVALDI
Candy Shop – 50 CENT
Soldier Of Fortune – DEEP PURPLE
Under Grey Skies – KAMELOT
Heroes – DAVID BOWIE
Supermen – DINO MERLIN
Bohemian Rhapsody – QUEEN
Give It Revolution – SUICIDAL TENDENCIES
Master Of Puppets – METALLICA
Long As I Can See The Light – CREEDENCE CLEARWATER REVIVAL
Black Velvet – ALANNAH MYLES
The Trooper – IRON MAIDEN
Sign Of The Times – HARRY STYLES
Love You To Death – TYPE O NEGATIVE
Air auf der G-Saite – JOHANN SEBASTIAN BACH
Lodi – CREEDENCE CLEARWATER REVIVAL
Dream A Little Dream Of Me – ELLA FITZGERALD
Prolog
Er öffnete seine Augen. Nur langsam erschloss sich das Bild, das sich ihm zeigte. Ein Keller, Polsterfliesen. Modergeruch. War er in einer Gummizelle? Es mutete so an. Er kannte solche Räumlichkeiten nur aus Filmen. Aber so sahen sie aus. Er saß aufrecht. Sein Nacken und ein Punkt an einer ganz spezifischen Stelle an der linken Seite seines Oberschenkels schmerzten. Dumpf, irgendwie unter der Oberfläche. Wie die Wange an der Stelle, wo der Zahnarzt seine Spritze gesetzt hatte, die am Tag nach dem Zahnarztbesuch noch immer wehtat. Das Kinn war ihm auf die Brust gesackt. Speichel lief ihm aus dem Mund und hatte bereits einen großen Fleck auf dem makellos gebügelten blauen Hemd hinterlassen.
Sein Gehirn tastete intern den ganzen Körper ab, ließ ein Diagnoseprogramm laufen. „Gibt es Verletzungen, ist alles heil?“ Schon an den Armen verharrte er. Eine Kanüle wie aus einem Krankenhaus steckte in seinem linken Arm. Dann zu den Händen. Auch dort stoppte die Sensorik. Er konnte seine Hände nicht bewegen, sie waren rückwärts an der Lehne des Sessels mit Stahlringen um seine Handgelenke fixiert. Die Sensorik wanderte abwärts. Genitalien. Ein Stopp. Ein dunkler und nasser Fleck um seine Leibesmitte herum gab Zeugnis davon, dass er irgendwann wohl unwillkürlich seine Blase entleert hatte. Er hatte sich eingenässt, bepinkelt.
Eine Welle aus Angst und Abscheu stieg mit kalten Fingern seine Wirbelsäule empor. Langsam wurde er auch des Geruchs gewahr, den sein Urin verströmte. Irgendwo in ihm regte sich sein Stolz. Was brachte einen erwachsenen Mann von hoher sozialer Position dazu, sich in die Hose zu erleichtern? Hatte er sich gehen lassen letzten Abend?
Weiter zu den Oberschenkeln, Knien, alles ganz und heil. Erneuter Stopp an den Knöcheln. Wie die Handgelenke waren diese an den Sessel gefesselt. Bewegung unmöglich. Er konnte sich absolut keinen Reim auf diese Situation machen. Wo war er hier? Wieso war er hier?
Er erinnerte sich an den letzten Abend, das Abendessen, den herrlichen Tafelspitz in Nussdorf. Gut, das eine oder andere Glas Wein, aber doch nicht mehr als sonst. Er hatte sich von seinen Freunden, einer Gruppe gutverdienender Männer mittleren und fortgeschrittenen Alters, verabschiedet. Gemeinsam waren ihnen die Ambitionen zur Wohltätigkeit. Der Club, wie sie sich nannten, traf sich wöchentlich, um Charity Events der nächsten Zeit zu organisieren. Dann der Gang zu seinem Jaguar. Dann Dunkelheit. Jetzt das hier.
Aus der Ferne vernahm er Schritte. Dann wurde eine Tür geöffnet. Zwei Männer traten ein und sahen ihn an. Ein großer Blonder mit halblangem Haar. Sein Gesicht kam ihm weit entfernt bekannt vor. Der andere Mann, deutlich kleiner, muskulös, in seinen Fünfzigern, mit den blauen Augen, war ihm gänzlich unbekannt. Er trug eine schwarze Hose mit Seitentaschen und ein Shirt, wie es Gewichtheber und Basketballspieler beim Sport trugen.
Sein Geist versuchte verzweifelt, aus dem sensorischen Brunnenschacht zu steigen, in den man ihn offensichtlich gestoßen hatte.
Er hob seinen Kopf und drehte ihn. Dies führte dazu, dass er sich augenblicklich erbrach. Ein Schwall, scharf und bitter, eine nach Galle schmeckende Flüssigkeit, schoss hoch und quoll ihm aus Nase und Mund.
Der eine Mann behielt seinen Blick auf ihm, der andere, der Blonde, wendete sich ab und würgte seinerseits. Dann hielt er sich ein großes Taschentuch aus Stoff vor die Nase. Mit der anderen Hand hantierte er an einem technischen Gerät. War das eine Kamera? Ein rotes Licht glomm auf.
„Sie sehen erbärmlich aus, Herr Rat, und Sie riechen auch so“, sagte der ihm bekannte Mann.
Wie war doch gleich sein Name? Pichler? Macher? Mittner? Pacher? Es wollte sich ihm nicht erschließen. Er hätte sich gut an Namen erinnert – unter normalen Umständen.
Er nannte ihn „Herr Rat“. Dies musste wohl bedeuten, dass er in seiner Funktion als Richter schon mit ihm zu tun gehabt hatte. Der andere war bis dato stumm an der Tür stehen geblieben.
„Wo bin ich? Was geht hier vor?“, stöhnte er mit aller Anstrengung. Die Laute kratzten sich dabei schmerzhaft aus seiner Kehle, hinaus in den Raum seines Gefängnisses.
„Sie sind in der Hölle, Herr Brandstätter! Ich werde Ihr Richter, Geschworener und Henker sein. Sie werden bezahlen und davor werden Sie Zeugnis ablegen und Ihre Missetat bereuen, auf dass der Schöpfer, unser Herr und Gott, Gnade zuteilwerden lassen kann, wenn Sie ihm gegenübertreten.“
Die Worte drangen wie durch Watte zu ihm. Wo hatte er dieses Gesicht schon einmal gesehen? Verzweifelt stocherte er mit dem Blindenstock seiner Erinnerung im trüben Grau seiner Gedanken. Ohne Erfolg.
„Was wollen Sie?“, stammelte er und kämpfte nach dem Heben seines Kopfes gegen einen neuen Schwindelanfall und einen übermächtigen Brechreiz an.
„Ich will, dass Sie leiden, Herr Rat. Dass Sie durch Schmerz und Qual Läuterung erfahren. Ich bin der Engel der Rache und dies ist mein Werkzeug!“, sagte der Mann und deutete dabei auf den Schwarzhaarigen mit blauen Augen, der bis dato noch kein Wort gesprochen hatte.
„Ich verstehe nicht! Was werfen Sie mir vor?“, fragte er.
„Herr Brandstätter!“, sagte der blonde Mann mit deutlich erhöhter Atemfrequenz. „Sie sollten wissen, dass jeder Fehler im Leben einmal Konsequenzen nach sich zieht!“
„Welche Fehler? Ich habe immer nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt!“
Der andere starrte ihn verächtlich an. Dann drehte er sich um, trat hinter die Kamera und lehnte sich an die Wand.
Nun trat der Schwarzhaarige vor. Er trat an den Sessel des Gefesselten. Er packte seinen Kopf, drückte ihn an die Rückenlehne. Augenblicke später legte sich ein Eisenring, der an der hohen Lehne des Sessels befestigt war, um den Kopf des Richters und einer um seinen Hals. Eine Stellschraube presste den Hinterkopf an das Holz. Er versuchte, seinen Kopf zu bewegen, und scheuerte dabei mit seiner Haut an dem kalten Metall, das seinen Schädel umspannte. Der Richter atmete schwer. Todesangst erfasste den alten Mann. Mit geübtem Griff, die Hände in schwarzen Plastikhandschuhen, öffnete der andere die Hose des Richters und zog sie gemeinsam mit dessen Slip nach unten bis zu den Knien. Der Schwarzhaarige führte einen dünnen Schlauch zu seinem Arm. Der Richter zitterte und war kurz davor, zu hyperventilieren.
„Was ist das?“
„Dies ist ein Mittel, das Sie bei Bewusstsein hält! Wir werden versuchen, Sie möglichst lange am Leben zu halten!“
„Nein, bitte, seien Sie doch vernünftig!“, krächzte der Alte.
Eine Sekunde später hatte der Schwarzhaarige ein Skalpell in der Hand. Dann erfüllte ein markerschütternder Schrei den kleinen Raum, der wenige Sekunden später erstarb.
20. November
Der Richter
All I wanna do when I wake up in the morning is see your eyes,
Rosanna, Rosanna,
I never thought that a girl like you could ever care for me, Rosanna…
(Rosanna – Toto; © David Paich, 1982)
Etwas mehr als drei Monate waren seit der spektakulären Befreiung der vier Frauen aus einem Keller eines Einfamilienhauses am Tulbinger Kogel vergangen. Andorian van Anders, der durch und durch bunte Privatdetektiv, hatte seitdem mehr Aufmerksamkeit bekommen, als ihm lieb war. Interviewanfragen aus Printmedien, ebenso Radio und Fernsehen, aber auch diverse Social-Media-Kanäle und Influencer wollten ihn zu einem Gespräch bitten. Der achtunddreißigjährige Milliardär hatte konsequent alle Anfragen abgelehnt. Dies hatte zur Folge, dass das Interesse an ihm als Person sowie an seiner beruflichen Tätigkeit als Detektiv in kürzester Zeit wieder verebbt war. Er hatte die zarten Bande der aufkeimenden Liebe zu seiner Sekretärin Isa zugelassen und beschlossen, mit ihr erst einmal Urlaub zu machen. Die Detektei war über ein Monat lang geschlossen. Nach sechs Wochen süßen Nichtstuns, Island Hopping in der Karibik, einem Cocktail auf Mauritius und Shoppingtrips in Los Angeles und Tokyo hatte Isa die Notbremse gezogen.
„Wir können nicht ewig so weitermachen“, hatte sie ihm ins Ohr geflüstert, als sie auf Gili Air, einer kleinen indonesischen Insel, ihre Füße in den weißen Sand streckten.
„Doch, das können wir, und du weißt das“, hatte er geantwortet und verschmitzt gelächelt. Nur um eine Sekunde später festzustellen, dass Isas Aussage keiner romantischen Stimmung ihrerseits entsprang, sondern purer Ernst war. Er stutzte.
„Ich will ins Büro, will nach Wien, will wieder arbeiten!“, sagte sie.
Er sah ihr in die Augen und hielt inne.
„Ich weiß, dass du über nahezu unbegrenzte Mittel verfügst, aber dieses Leben will ich nicht, nicht auf diese Art und Weise. Schau, unsere Gehirne würden innerhalb kürzester Zeit auf die Größe von Haselnüssen schrumpfen und irgendwann würden wir uns so auf die Nerven gehen, dass wir nichts mehr miteinander zu tun haben wollten!“
„Das wird niemals passieren!“, sagte Andorian zu ihr und küsste sie auf die Stirn. „Aber ich verstehe, dass du einen Sinn in deinem Leben haben willst. Ich denke, da verstehen wir einander exzellent.“
Sie hatte Andorian angelächelt und sich an ihn geschmiegt, während der unendliche Sternenhimmel über dem Indischen Ozean eine mehr als romantische Kulisse geboten hatte.
Tags darauf packten sie ihre Koffer und flogen nach Wien. Das Taxi brachte Isa in ihre Wohnung in der Hütteldorfer Straße. Vor der Wohnungstür küssten sie sich leidenschaftlich. Dann verschwand sie mit den Worten „Bis morgen im Büro, mein Geliebter!“ im Haustor. Er blieb verträumt wie ein Teenager vor der Tür stehen. Das wütende Hupen des Taxifahrers riss ihn aus seinen Gedanken und er stieg wieder ein.
Zehn Minuten später kam er mit einem mulmigen Gefühl in seiner Villa in Hietzing an. Wie einsam und still alles war im Haus und wie sehr er Isa jetzt schon vermisste. Ob er es in den letzten Wochen übertrieben hatte? Wollte sie mehr Abstand zu ihm? War sie sich gar nicht mehr sicher, was ihre Gefühle für ihn betraf? Er hatte ein Problem mit dem Loslassen, das wusste er. Diese Erkenntnis half ihm jedoch nicht über seine Selbstzweifel hinweg.
Er nahm eine kalte Dusche. Danach betrachtete er sich im Spiegel. Niemand konnte abstreiten, dass das bequeme Leben der letzten Wochen seine Spuren hinterlassen hatte. Er war deutlich birnenförmig geworden während der Reise. Zwar zeichnete sich noch immer der athletische Körper ab, dennoch war alles in einen kleinen feinen Wohlstandsspeckmantel gehüllt. Er nahm sich vor, das zu ändern.
Mit dem Handtuch um die Hüften trat er ins Schlafzimmer und griff nach seinem Telefon. Er wollte Isa noch eine gute Nacht wünschen, ihr sagen, wie sehr er in sie verliebt sei und wie glücklich ihn das mache! Er atmete seufzend aus, dann legte er das Smartphone wieder weg. Diese Entscheidung kostete ihn unglaublich viel Kraft, da er ihre Stimme so gerne noch einmal hören wollte.
***
Eine unruhige Nacht lag hinter Andorian van Anders. Nach einem kurzen Work-out in der Früh sprang er unter höchster Anspannung in die Dusche. Er sann darüber nach, welche Bedeutung es haben konnte, dass Isa so abrupt den Urlaub abbrechen hatte wollen, um nach Wien zurückzukehren. Orange Jeans und ein weißes Hemd, an dessen Manschetten und Kragen kaffeebraune Burberry-Karos angebracht waren, dazu braune Mokassins aus Nappaleder, rundeten seinen Stil heute ab. Sein langes, von Sonne und Meer gebleichtes lockiges Haar fiel ihm über die Schultern und kontrastierte seine exzellente Urlaubsbräune. Trotzdem gefiel er sich nicht. Zu aufgeregt war er, Isa wieder zu treffen. Augenblicke später brauste er auf der Breitenfurter Straße Richtung Autobahn. Eine lange Kolonne von Fahrzeugen war, stadteinwärts fahrend, auf dem Altmannsdorfer Ast zum Stillstand gekommen.
„Die neuesten Verkehrsmeldungen aus dem schnellsten Sender der Stadt!“, krähte es aus dem Autoradio. „Achtung an alle Autofahrer! Die Stadteinfahrt Wiens über die Altmannsdorfer Straße ist vorübergehend gesperrt! Es ist mit einem Zeitverlust von mehreren Stunden zu rechnen. Bitte umfahren Sie Altmannsdorfer Straße und Grünbergstraße großräumig!“
Er dankte dem Universum, nicht in diese Richtung zu müssen, und gab auf der Stadtautobahn Gas. Zehn Minuten später brauste er in seinem Mini Cooper Works den Parkring entlang. Eine Minute von seiner Detektei in der Weihburggasse entfernt klingelte das Telefon. „Büro“, verlautbarte die Anzeige seines Telefons. Über die Lenkradsteuerung nahm er das Gespräch an.
„Guten Morgen, Honey!“, flötete Isa und ihm wären beinahe vor Erleichterung die Sinne geschwunden. „Bis dato noch nichts los, jede Menge Mails zu beantworten, aber dafür habe ich den ganzen Tag Zeit. Wo bist du schon?“
„Mein Engel, ich bin eine Minute vor der Tiefgarage!“
„Oh, das klingt ausgezeichnet. Kannst du bitte Frühstück mitbringen? Ich bin am Verhungern, mein Kühlschrank ist Opfer eines fiesen grünen Pilzgeflechts geworden.“
„Euer Wunsch ist mir Befehl, Mylady“, scherzte er und grinste dabei von einem Ohr zum anderen.
Wie dämlich er ausgesehen haben musste, wurde ihm erst bewusst, als er, einen Rundblick tätigend, in das Gesicht des Autofahrers rechts von ihm starrte, der ihn begaffte und spöttisch lachte. Andorian schmunzelte vergnügt. Ihm war es egal. Er gab mit quietschenden Reifen Gas, um in der Bäckerei ein kulinarisches Verwöhnprogramm für seine geliebte Isa zu besorgen.
***
Where there is a flame, someone's bound to get burned
Just because it burns doesn't mean you gonna die
You gotta get up and try, try try…
(Try – P!nk; © Ben West, Busbee, 2012)
Kommissarin Daniela Friedmann stand in der Sagedergasse, direkt an der Ampel zur Altmannsdorfer Straße im zwölften Bezirk. Sie war auf dem Weg ins Präsidium. Auf dem Weg? Nein, die ganze Blechlawine stand! Stadteinwärts tat sich überhaupt nichts mehr. Pink sang ihren Durchhaltesong. Danny ließ sich von der Musik ergreifen und ein wenig Trost spenden. Trost für die vergeudete Lebenszeit hier im Auto. Nachdem sie die dritte Grünphase an der Ampel gestanden war, ohne einen einzigen Millimeter vorwärtsgekommen zu sein, überlegte sie sich, ob es vor Gericht zu rechtfertigen wäre, wenn sie sich den Weg bis in die Innenstadt freischösse, einfach draufloszuballern und zu fahren.
Sie hasste den aufkommenden Spätherbst. Es war dunkel, wenn sie morgens außer Haus ging, und es war dunkel, wenn sie abends wieder heimkam. Als Pink ausgesungen hatte, meldete sich der Verkehrsfunk:
„Achtung an alle Autofahrer! Die Stadteinfahrt Wiens über die Altmannsdorfer Straße ist vorübergehend gesperrt! Es ist mit einem Zeitverlust von mehreren Stunden zu rechnen. Bitte umfahren Sie Altmannsdorfer Straße und Grünbergstraße großräumig!“
Danny fluchte: „Was für eine verdammte Scheiße läuft hier? Welcher Idiot sperrt zur Rushhour die Südeinfahrt in die Stadt?!“
Vom Beifahrersitz ließ ihr Telefon ein Summen vernehmen. Sie hatte es noch auf stumm geschaltet, um ihre wohlverdiente Nachtruhe genießen zu können.
„Guten Morgen, Herr Dr. Hoffer!“, begrüßte sie ihren Chef. „Was kann ich zu so früher Stunde für Sie tun?“
„Guten Morgen, Frau Kollegin! Begeben Sie sich unverzüglich in den zwölften Bezirk zur Tivolibrücke! Sie übernehmen dort einen Fall. Es hat einen bestialischen Mord gegeben“, befahl ihr Vorgesetzter mit gefasster Stimme. „Kollegin Meinhardt und die Gerichtsmedizin sind bereits vor Ort!“
„Wird erledigt, Herr Dr. Hoffer!“, gab Danny knapp zurück, legte auf und lächelte. Dann griff sie hinter ihren Sitz, hob das magnetische Blaulicht auf, öffnete das Fenster und befestigte es auf dem Dach des dunkelblauen BMW M3. Sekunden später teilte sich der Nebel aus Autos vor ihr und sie fuhr die Altmannsdorfer Straße entlang, um über die Hetzendorfer Straße die Tivolibrücke zu erreichen.
Etwa zehn Minuten später konnte sie das wilde Durcheinander aus Blaulichtern unterschiedlicher Intensität dreihundert Meter vor sich erkennen, als sie in die Hohenbergstraße einbog. Unterwegs hatte sie Neela Meinhardt über ihr baldiges Eintreffen unterrichtet. Die Kollegin stand am Straßenrand, in eine dicke Daunenjacke gehüllt, und winkte ihr.
„Hey, Danny, da ist was los, das sage ich dir!“, begrüßte die junge Kriminalistin ihre Kollegin.
„Was haben wir? Was wissen wir schon?“, spielte Friedmann den Ball zurück.
„Wir haben eine Leiche, männlich, etwa sechzig Jahre alt. Sie baumelt vom Geländer der Brücke, direkt über der Grünbergstraße!“
„Sie baumelt? Selbstmord?“, fragte Danny.
„Nun, nicht so ganz, aber schau es dir einfach selbst an, mach dir ein Bild! Alma ist auch schon vor Ort, sie heben sie gerade mit einer Hebebühne der Feuerwehr von der Grünbergstraße aus zu dem Toten.“ Danny sah sich um. Zahlreiche Gaffer hatten ihre Smartphones gezückt und hielten auf die makabre Szene an. Danny winkte einem jungen Polizisten.
„Ah, Wallner! Guten Morgen! Sorgen Sie bitte dafür, dass diese sensationsgeilen Arschlöcher hier verschwinden. Von mir aus nehmen Sie alle wegen Behinderung polizeilicher Ermittlungen fest. In zehn Minuten s-p-ä-t-e-s-t-e-n-s ist hier niemand mehr außer den Hilfskräften. Ist das klar?“
Wallner nickte und rannte los.
„Wie ich diese Aasgeier hasse! Ich erinnere mich noch an den Anschlag aus dem Jahr 2020, da waren die ersten Videos in den Social-Media-Diensten, noch bevor die Polizei wusste, was überhaupt los war. Einfach widerlich!“
Meinhardt nickte zustimmend. Mittlerweile waren sie auf der Brücke und Danny konnte das Seil sehen, das am Geländer befestigt war. Sie sah über die Brüstung. Ihr stockte der Atem. Dr. Alma Selimovic, ihres Zeichens forensische Anthropologin der Gerichtsmedizin Wien, schwebte in einem Bergungskorb knapp unterhalb des Brückengeländers. Ein monströses Fahrzeug der Feuerwehr, etwa fünfzehn Meter unterhalb, war Ausgangspunkt der Reise gewesen.
„Hi, Doc!“, rief Danny nach unten.
Alma winkte ihr zu und zeigte dann mit einem behandschuhten Finger auf den Toten.
„Darf ich vorstellen? Richter Dr. Rudolf Brandstätter!“
„Brandstätter?“, entfuhr es Danny entsetzt.
Natürlich kannte sie den liebenswürdigen, aber strengen Richter. Sehr oft hatte sie bei ihm im Zeugenstand eine Aussage gemacht, wenn es darum gegangen war, Verbrechen, die sie aufgeklärt hatte, zu verhandeln. Er war ein fairer Mann gewesen, stets besonnen und gesetzestreu. Wieso um alles in der Welt hing er hier vom Geländer der Tivolibrücke?
„Alma, sag mir, was weißt du schon?“ Mit diesen Worten bat sie ihre Freundin um eine kurze erste Einschätzung.
„Okay, ein erster Überblick!“, kam es von unten. „Ich sehe, dass man ihn kastriert hat. Es befinden sich massive Brandspuren auf der Wunde. Jemand hat wohl versucht, die Blutung dadurch zu stillen. Seine Hoden befinden sich in seinem Mund, seine Zunge wurde ihm auf die Stirn genagelt und quer über seinen Bauch zieht sich ein tiefer Schnitt, der am rechten Ende nach oben gezogen ist. Die Eigenweide quellen aus der klaffenden Wunde.“
Danny hörte aufmerksam zu.
„Noch etwas! Er trägt ein Schild um den Hals. Auf diesem Schild steht: ‚Richtet nicht, sonst werdet ihr gerichtet!‘ Mehr sehe ich im Moment nicht“, sagte die Gerichtsmedizinerin.
„Mehr? Gott bewahre, dass der arme Mann noch mehr durchmachen musste!“, rief Danny nach unten.
Alma zuckte entschuldigend mit den Schultern.
„Das ist es, was ich bis jetzt habe. Ich denke, ich kann dir heute Abend mehr sagen, wenn ich ihn obduziert habe“, sagte die Medizinerin. Dann zückte sie einen Fotoapparat und begann, die makabre Szene aus allen Perspektiven für die Akten zu fotografieren.
„Sind die Angehörigen schon informiert?“, fragte Danny ihre Kollegin.
Diese nickte. „Ja, zwei Polizisten haben diese Aufgabe übernommen und das Team der Krisenintervention wurde auch verständigt.“
„Gut! Dann fahren wir ins Präsidium und erstatten Hoffer einen ersten Bericht!“
Mit einem erhobenen Daumen signalisierte ihre Kollegin Zustimmung und beide begaben sich zu ihren Dienstwagen.
***
Ingo Mitterer war in heller Aufregung. Es hatte funktioniert. Der Belgier hatte Vollzug gemeldet. Brandstätter war tot. Er hing im zwölften Bezirk von irgendeiner Brücke. Alles war genauso inszeniert worden, wie er es befohlen hatte. Dreihunderttausend Euro ließ er sich diesen Spaß kosten. Einhunderttausend für jede Leiche. Er hatte dafür das Firmenkonto belastet. Dieser Schritt war nötig, um seine Frau hier außen vor zu halten. Sie war so zerbrechlich seit der Sache.
Sein Magen krampfte sich zusammen und Tränen schossen ihm in die Augen. Tränen der Freude. Er würde sie bluten lassen. Alle! Das Geld war Peanuts für ihn. Seitdem die Japaner seine Geschäftspartner waren, floss der Euro in hohen sechsstelligen Beträgen auf sein Konto. Die Baufirma, Paradies-Bau, die er seit dem Tod seines Vaters als dessen Nachfolger weiterführte, florierte wie noch nie zuvor. Jeden Cent war der Belgier wert. Jeden Cent! Genussvoll biss er in sein Croissant und bestrich es mit feiner Marillenmarmelade.
Seine Frau betrat das geräumige Esszimmer in dem schmucken Einfamilienhaus im Liebhartstal am Fuße des Wilhelminenberges. Er sah seine Anita an und das Herz wollte ihm zerspringen. Alt war sie geworden in den letzten sieben Jahren. Sehr alt. Dabei war sie gerade Mitte vierzig. Ausgezehrt war sie. Ausgezehrt vom Schmerz und der Trauer. Die Medikamente taten den Rest. Die verdammten Pillen, die sie seit jenem Tag nahm. Jener verfluchte Tag! Aber sie würden bezahlen, alle drei …
Er stand auf, ging seiner Frau entgegen und umarmte sie. Ihr Körper war so ausgemergelt und dürr, dass er Angst hatte, sie zu zerbrechen, wenn er sie umarmte.
„Guten Morgen, mein Liebling! Darf ich dir eine Tasse Kaffee anbieten, mein Täubchen?“, flötete er und gab ihr einen zarten Kuss, den sie wortlos mit einer innigen Umarmung erwiderte. Er sah in die tief liegenden, schwarz geränderten Augen seiner Frau und spürte, dass er auf dem richtigen Wege war. Sie würden alle für ihr Unglück bezahlen.
***
I've been meanin' to tell you I've got this feelin' that won't subside
I look at you and I fantasize You're mine tonight Now I've got you in my sights…
(Hungry Eyes – Eric Carmen, Music + Lyrics: Previte, DeNicola, 1987)
Andorian war völlig außer sich vor Freude. Isa hatte ihn mit einem gierigen Kuss empfangen und ihn nur losgelassen, um von dem köstlichen Frühstück zu nehmen, das er kredenzt hatte. Wie sehr er ihren Körper liebte, weich und rund, wo immer er ihn anfasste! Sie war Plus Size und passte genau deshalb zu ihm. Er verstand sich als Plus Size in jeder Lebenslage.
„Die Kanzlei so lange zu schließen zieht einiges an Arbeit nach sich. Ich habe dir jede Menge Mails weitergeleitet, die du beantworten solltest. Da sind neuerdings auch Anfragen nach Personenschutz mit dabei. Du hast mächtig Eindruck hinterlassen mit deiner Aktion auf dem Tulbinger Kogel im August, mein Schatz!“, sagte sie, wandte sich um und verließ sein Büro.
Er setzte sich hinter seinen PC, startete das Betriebssystem und aktivierte den Einschaltknopf an der Stereoanlage im Büro. Der Song „Hungry Eyes“ aus dem Film „Dirty Dancing“ durchflutete den Raum. Einen Augenblick später stand Isa wieder in der Tür.
„Hast du dich schon bei Danny und Alma gemeldet, seit wir wieder hier sind?“, fragte sie und blickte dabei keck über ihre Brille mit Goldrand hinweg.
Er musste sich eingestehen, dass er den wichtigsten Menschen nach Isa nicht gesagt hatte, dass er wieder in der Stadt war. Mein Gott, konnte es sein, dass er sich aufführte wie ein pubertierender Teenager? Dass er alles vergaß, was zum guten Ton gehörte, nur weil er in seine Sekretärin verliebt war? Er musste sich wieder unter Kontrolle bekommen, und zwar schnell! Dieses trottelige Verhalten war nicht auszuhalten. Nicht einmal für ihn selbst, geschweige denn für andere. Als er zum Telefon griff und wählen wollte, begann es in seiner Hand zu vibrieren. Danny war auf dem Display zu lesen.
„Goooood morning, Kommissarin Reynolds!“, brüllte er aufgekratzt in den Hörer.
„Hey, Sherlock Holmes! Sag mir jetzt nicht, dass du schon drei Wochen wieder in Wien bist und vor lauer Liebe, Sex und Zärtlichkeit vergessen hast, dich bei mir zurückzumelden, du alter Gauner!“, neckte ihn die Kommissarin.
„Nein, keine Spur! Wir sind gestern kurz vor Mitternacht gelandet und versuchen gerade im Büro, die letzten Wochen aufzuarbeiten! Was kann ich für dich tun?“
„Nun … in der Tat eine ganze Menge. Ich habe gerade einen neuen Fall übernommen! Bei dem sind allerlei seltsame Dinge passiert, von denen ich meine, dass sie von großer Bedeutung sind. Du kannst für mich recherchieren, wenn du magst.“
„Ich bin bereit! Was sind deine Aufträge an mich? Justus Jonas macht sich frisch ans Werk, obwohl in diesem Moment doch mehr die Kompetenzen von Bob Andrews gefragt sind. Wie heißt es doch so schön: Recherchen und Archiv, Bob Andrews!“
Beide lachten herzhaft.
„Dem Mordopfer wurden die Hoden abgeschnitten, in den Mund gesteckt, davor wurde ihm die Zunge amputiert und an die Stirn genagelt. Ein tiefer Schnitt quer über den Bauch wurde angebracht und an der rechten Seite nach oben gezogen. Weiters trug er ein Schild mit einem Bibelspruch um den Hals. Darauf steht: ‚Richtet nicht, sonst werdet ihr gerichtet!‘“, beschrieb die Kommissarin die Faktenlage.
„Wooow, wooow, woooow! Da hat sich jemand ausgetobt. Gut, ich gehe das durch und konsultiere mal die Literatur dazu. Das Internet werde ich auch bedienen. Ich würde gerne heute mit euch zu Abend essen. Kannst du dir das vorstellen? Hättest du Zeit dafür? Sagen wir 19:30 bei mir in der Wittgensteinstraße? Gibst du auch Alma Bescheid?“
„Klar, von mir aus passt das! Schön, dass ihr wieder hier seid, wir haben euch vermisst! Ein Wort noch zum Urlaub?“
„Himmlisch!“
„Danke, das genügt mir!“, lachte Danny vergnügt ins Telefon. „Wir sehen einander heute Abend! Danke für deine Hilfe!“
Dann wurde eingehängt. Er stand auf und trippelte ins Vorzimmer! Isa sah vom Computer auf!
„Ja?“, sagte sie und lächelte ihn an. Sie konnte nicht anders, als zu lächeln, sobald sie sein Gesicht erblickte. Es war kitschig.
„Heute Abend Essen mit der Familie!“, verkündete Andorian.
Isa lächelte erneut und hob beide Daumen.
„Ich soll für Danny Recherchen anstellen. Sie hat einen Mord am Hals und braucht Hilfe!“
Van Anders erklärte ihr kurz den Sachverhalt. Isa verzog dabei mehrmals angewidert den Mund.
„Klingt nach irgendwelchen Ritualen!“, sagte sie halblaut vor sich hin.
„Ich gebe dir recht! Ich mache mich im Internet mal auf die Suche nach ähnlich gelagerten Fällen. Mal sehen, was Professor Google so ausspuckt!“
Er grinste sie an und verschwand wieder im Büro.
***
20. November
Ein neuer Auftrag
Ingo Mitterer war in seinem Büro angekommen. Das Büro war in einem Einfamilienhaus in der Anzengruberstraße im äußersten vierzehnten Bezirk am Stadtrand von Wien untergebracht. Die Paradies-Bau-GmbH war ein auf den Neubau von luxuriösen Eigentumswohnungen spezialisiertes Unternehmen. Seit dem Tod seines Vaters führte Diplom-Ingenieur Ingo Mitterer das Unternehmen. Die ständig wachsende Stadt und die Überalterung der Bevölkerung Wiens boten hier schier unbegrenzte Möglichkeiten. Paradies-Bau kaufte Grundstücke in und um Wien. Meist handelte es sich dabei um Liegenschaften, auf denen Einfamilienhäuser aus dem letzten Jahrhundert standen. Die Eigentümer waren großteils entweder alt oder bereits verstorben. Die Erben sahen keinen Sinn, eine Unsumme in die Restauration des Hauses zu stecken. Da trat Mitterer auf den Plan. Dies geschah derart, dass er eine stattliche Summe für den Erwerb der Liegenschaft bot, welche die Erben sich teilen konnten.
Geld regelte die meisten Probleme dieser Welt. Seitdem ein großer japanischer Konzern als Investor eingestiegen war, verfügte er über ein beinahe grenzenloses Budget. Natürlich war ihm von Anfang an klar gewesen, dass dies unbegrenzte Budget nicht aus dem Verkauf von Computern und Technik stammen konnte. Er vermutete hinter dem Konsortium, das bei ihm einstieg, eine Organisation, die mit Waren aller Art handelte. Und es machte ihm klar, dass sein Unternehmen zu einer Waschmaschine umfunktioniert wurde. Aber es war ihm egal, er fragte nicht nach. Das Geld stimmte und versiegte nicht. Also was kümmerte es ihn?
Er sollte sich nun nach Bauprojekten umsehen. Alles Einfamilienhäuser oder Liegenschaften. In den meisten Fällen verkauften die Menschen beinahe ohne jede Verhandlung. Dann wurde die Paradies-Bau als Bauträger aktiv. Man stellte ein Mehrparteienhaus mit je nach Grundstücksgröße bis zu fünfzig Eigentumswohnungen auf, gab dem Projekt einen klingenden Namen und verkaufte die entstandenen Wohnungen zu Wucherpreisen an zahlungskräftige Kundschaft. Die Wohnungen wurden dann von der Verwaltungsabteilung der Paradies-Bau betreut. Dies wurde den Eigentümern in Rechnung gestellt. Diese wiederum waren glücklich, dass der Rasen gepflegt, der Schnee geräumt und die Stiegenhäuser sauber waren. Dass sie dafür viel Geld bezahlten, spürten sie kaum. So konnte die Paradies-Bau auf allen Ebenen der Unternehmung Profit erzielen. Investition mit Verkauf, Bau der Immobilie, Verwaltung der Immobilie. Die Kasse klingelte und Ingo Mitterer freute sich über den stetig wachsenden Kontostand sowie den gehobenen Lebensstil. Er hatte seiner Familie alles ermöglichen können, was mit Geld zu bekommen war. Das alles war noch immer so, nur dass er jetzt keine Motivation mehr hatte zu leben. Er bestand nur noch aus Schmerz.
Mitterer wählte eine Nummer. Am anderen Ende wurde abgehoben, aber nicht gesprochen! Es war immer so, wenn man diese Nummer wählte. Er hörte, dass der andere dran war.
„Christian?“, fragte er in die Stille. Er sprach den Namen französisch aus, weil der andere mit einem Akzent sprach, den er aus dem Fernsehen kannte, wenn Franzosen Deutsch sprachen.
„Keine Namen!“, fauchte der andere. „Sind Sie bescheuert? Nennen Sie noch einmal meinen Namen und Sie baumeln morgen von der Brücke. Ist das klar?“
„Schon gut, schon gut“, beschwichtige Mitterer. „Ich brauche ein Treffen. Vierzig Minuten, Café Westend!“
Der Belgier hängte ein, ohne etwas zu erwidern.
„Ich muss schnell in die Stadt. Ich bin in einer Stunde wieder da. Ich habe noch eine Besorgung zu erledigen“, sagte Mitterer zu seiner Sekretärin und rauschte an ihrem Schreibtisch vorbei.
„Alles klar!“, erwiderte diese knapp, lächelte und freute sich, dass ihr Chef so guter Dinge war. Dies war in den letzten Jahren nicht allzu oft der Fall gewesen. Es war aber auch ein Drama, das der Familie da widerfahren war.
Mitterer schoss euphorisiert die Treppe aus der Station der U-Bahn Nummer sechs empor und bog gleich in das vereinbarte Café ab. Er war schon gespannt, wie der Belgier heute aussehen würde. Kein Treffen verlief gleich, er sah immer anders aus. Die einzige Konstante waren seine blauen Augen. An diesen Augen würde er ihn immer erkennen.
Er öffnete die Tür, verharrte kurz und schwenkte mit seinen Augen über die Menge der anwesenden Gäste. Da war er. Heute untersetzt mit einem braunen Parka, leicht verschwitzt, geröteter Kopf wie von zu hohem Blutdruck. Mitterer setzte sich und grinste von einem Ohr zum anderen.
„Danke! Das war sehr beeindruckende Arbeit heute Nacht! Danke!“
„Sie bezahlen, ich liefere!“, sagte der Belgier.
„Ich bezahle. Jawohl! Hier ist Ihr neuer Auftrag!!“
Er ließ seine Augen zu der Zeitung wandern, die er unter dem Arm eingeklemmt hatte, als er das Kaffeehaus betreten hatte. Diese Zeitung lag jetzt zwischen ihnen auf dem Tisch. Der Belgier nickte, nahm die Zeitung, stand auf, wendete sich auf dem Weg zur Tür noch einmal um und sah ihn durchdringend an.
„Ich melde mich!“, sagte er knapp und verschwand.
Mitterer hatte weiche Knie. Konnte es sein, dass es tatsächlich so einfach war? Irgendwie war der Typ unheimlich. Sein Kontakt in Japan hatte gesagt, dass er ein Spezialist sei. Er habe früher als Fremdenlegionär gedient. Niemand kannte seinen Namen, niemand konnte sich sicher sein, schon einmal sein wahres Gesicht gesehen zu haben. So war immer der höchste Standard im Bereich des Selbstschutzes gewährleistet. Aber er war unheimlich. Keine Frage. Mitterer genoss eine Schale Kaffee, besorgte dann Blumen und machte sich wieder auf den Weg.
Der Belgier bog zweimal um die Ecke, bis er in der Kaiserstraße war. Dort setzte er sich in einen alten VW Golf und fuhr los. Sein Domizil hatte er in einem Appartement in der Markgraf-Rüdiger-Straße aufgeschlagen, das er über eine Onlineplattform für Kurzzeitmieten gefunden hatte. Er hatte für drei Wochen gebucht.
Acht Minuten später betrat er die kleine Wohnung und ließ sich in das Sofa fallen. Dann faltete er die Zeitung auf. Darin befanden sich ein Computerausdruck in Größe A4 sowie ein Porträt eines Mannes Anfang vierzig. Der Computerausdruck, ein Steckbrief, wies den Mann auf dem Bild als Magister Gernot Schuster aus. Er war Anwalt. Der Belgier würde ihn im Laufe der nächsten vierundzwanzig Stunden ausfindig machen und einkassieren. Schuster würde dann kurz darauf sterben. Für was auch immer er getan hatte. Er stellte derlei Fragen nicht. Es war nichts Persönliches, es war Geschäft. Er legte beide Papiere in den Schredder und verarbeitete sie zu Schnipseln. Während die Maschine laut dröhnend ihren Dienst versah, startete er seinen Laptop und hackte sich in das städtische Melderegister ein. Er fand heraus, dass Schuster verheiratet war, aber offensichtlich kinderlos. Der Belgier wusste nun auch, dass zwei Fahrzeuge auf ihn angemeldet waren, ein schwarzer Mercedes S 600 sowie ein Porsche 911 Cabriolet. Seine Frau war die Eigentümerin eines Mercedes SL 500 Cabriolets und war Zahnärztin von Beruf. Dies war genug Information, um den Anwalt ausspionieren zu können.
Er streckte sich, stand auf und ging ins Badezimmer. Aus einem Utensilienkoffer zauberte er eine schwarze Langhaarperücke, legte etwas Schminke auf, danach den Fatsuit ab, den er bis jetzt getragen hatte, und befestigte an seinen Backen mit Hautkleber einen Bart. Vor ihm stand Antonio, der Tourist aus Italien. Er hatte nicht vor, zu sprechen oder sich auszuweisen, also würde die Legende keiner intensiveren Prüfung standhalten müssen. Dann machte er sich auf den Weg zu Schusters Kanzlei im Stadtteil Döbling.
***
20. November
Erste Gespräche
And the perverted fear of violence chokes a smile on every face And common sense is ringing out the bells This ain't no technological breakdown, oh no, this is the road to hell…
(Road To Hell – Chris Rea, Music + Lyrics: Chris Rea, 1989)
Der Tag neigte sich beinahe schon dem Ende zu. Danny fuhr durch Grinzing. Ihr Kopf nickte im Takt zu „Road To Hell“, das gerade im Autoradio spielte. Die Dunkelheit ergriff Besitz vom Himmel, als Danny gegen sechzehn Uhr bei Familie Brandstätter in der Reinischgasse ankam. Wien lag unter einer dicken Decke aus Nebel. Es war fast so, als ob das Wetter die perfekte Kulisse für ein unangenehmes Gespräch liefern wollte. Über dem Haus lag eine gespenstische Stille. Sie klingelte. Sekunden später ertönte der Summer und das Gartentor sprang auf. Danny durchschritt einen äußerst gepflegten Vorgarten und steuerte auf ein imposantes weitläufiges, aber flaches Haus zu. Die Tür wurde geöffnet. Ein junger Mann von etwa dreißig Jahren trat halb aus dem Entree heraus. Danny stellte sich vor, wies sich aus und wurde eingelassen.
Schritte hallten auf dem steinernen Fußboden, als sie einen langen Korridor durchgingen und dann in ein geräumiges Wohnzimmer einbogen. Auf einer stilvollen Ledergarnitur saß eine adrett gekleidete Frau, der ihr fortgeschrittenes Alter nicht anzumerken war. Sie erhob sich und sah Danny aus rot geäderten Augen an. Danny fielen die weiten Pupillen auf.
„Mein Name ist Ernestine Brandstätter! Können Sie mir bereits sagen, wer meinen Mann auf dem Gewissen hat?“, kam sie ohne Umschweife auf das Thema zu sprechen. „Bitte verzeihen Sie meine Langsamkeit. Ich habe mir von meinem Hausarzt ein Beruhigungsmittel spritzen lassen. Ich bin nach dem Eintreffen Ihrer äußerst fürsorglichen Kollegen heute Morgen kurzzeitig ohne Bewusstsein gewesen. Die Intervention, meinen Arzt hinzuzuziehen, erschien mir sinnvoll.“
Mit einer Handbewegung wies sie Danny einen Platz auf der Garnitur zu.
„Adrian, mein Lieber, würdest du uns bitte Wasser holen!“
Der junge Mann verschwand.
„Mein Sohn Adrian, er ist ebenfalls Jurist, ist mir eine große Stütze in diesem Chaos!“
„Frau Brandstätter!“, sagte Danny. „Ich habe Ihren Mann gekannt, er hat viele meiner Fälle verhandelt. Ich kenne ihn als freundlich, gesetzestreu, ehrlich und gerecht. Ich möchte Ihnen meine aufrichtige Anteilnahme aussprechen! Was immer Sie brauchen, ich bin für Sie da. Sie sind sehr, sehr tapfer. Danke, dass Sie mich empfangen.“
Während dieser Worte stahlen sich Tränen aus den Augen der Frau, für die die Welt seit heute Morgen nicht mehr dieselbe war. Adrian kam und brachte einen Servierwagen mit Wasserkaraffe, Gläsern und etwas süßem Gebäck. Er goss ein und stellte den Teller auf dem stilvollen Couchtisch ab, der die Gesprächspartnerinnen voneinander trennte. Dann setzte er sich neben seine Mutter und nahm eine ihrer zarten Hände zwischen die seinen.
„Die Frage, ob Ihr Mann Feinde hatte, erübrigt sich wohl bis zu einem gewissen Grad. Als Richter hatte er es beruflich in jeder Situation mit Gewinnern und Verlierern zu tun. Ich will dennoch fragen: Gibt es etwas, was besonders auffällig war in der letzten Zeit?“
„Was hätte uns auffallen können?“, fragte Adrian Brandstätter.
„Nun, Drohbriefe, Anrufe, Mails, Veränderungen in den Tagesabläufen Ihres Vaters, Beobachtungen an seinem Arbeitsplatz, Personen, die das Haus hier beobachten, Autos, die stehen bleiben, Ansammlung von Zigarettenresten in der Nähe des Gartentors … etwas in der Art!“
„Mein Mann hat zu Hause niemals über seine Arbeit gesprochen. Hier war er nur Vater und liebender Ehemann! Es gab keine Veränderungen in den Routinen meines Mannes, er war wie ein Uhrwerk. Diese Strukturen gaben ihm Sicherheit.“
Danny nickte und machte sich Notizen.
„Es macht vielleicht mehr Sinn, wenn Sie sich an die Mitarbeiterinnen in seinem Büro wenden, denn die haben vielleicht noch mehr Einblick in den Schriftverkehr meines Vaters. Ein Ansatzpunkt wäre auch, Haftentlassungen und Bewährungen zu checken. Das wäre wohl das Naheliegendste. Wer kam, sagen wir, während der letzten sechs Monate aus dem Bau? Wer könnte die Intelligenz und die Cleverness haben, so einen Schlag zu führen?“
„Das war auch mein erster Ansatzpunkt, Herr Brandstätter. Die Akten sollten morgen Vormittag aus dem Archiv bei mir auf dem Tisch landen.“
„Ich will, dass Sie dieses Tier fassen! Rudolf war ein gütiger Mensch. Was meinem Mann geschehen ist, war kein Zufall, da bin ich mir sicher. Das war ein barbarischer Akt. Ein … ein statuiertes Exempel. Für was auch immer. Danke, dass Sie gekommen sind, Frau Friedmann! Ich stehe jederzeit als Unterstützung zur Verfügung!“
Danny bedankte sich und gelobte, die Familie mit jeder Erkenntnis zu versorgen, die sie im Laufe der Ermittlungen gewinnen würde. Dann verließ sie das Anwesen und machte sich auf den Weg nach Hause.
***
20. November
Die Planung
Der Belgier hatte Stellung bezogen. Er hatte seinen Golf gegenüber der Einfahrt der Tiefgarage beim Q19, einem Einkaufszentrum in Döbling, geparkt. Es dauerte eine Weile, aber gegen 17:30 Uhr erkannte er Schuster, der ein stilvolles Jahrhundertwendehaus, in dem wohl seine Kanzlei lag, verließ und auf die Garage zusteuerte. Er ging direkt an seinem Golf vorbei, nahm aber keinerlei Notiz. Dann verschwand er in der Tiefgarage.
Es gab glücklicherweise kaum Kameras in der Garage, sie war nicht durch eine Securityfirma überwacht. Der Belgier konnte feststellen, dass Schuster einen fixen Parkplatz hatte, der für ihn reserviert war und ein Schild mit seinem Namen trug. In der Nähe dieses Platzes war nur eine einzige Kamera positioniert. Diese konnte er blockieren, indem er einen Lieferwagen auf dem Behindertenparkplatz davor abstellte. Dann, wenn der Anwalt parkte, würde er ihm mit einem schnellen Schritt die Narkose injizieren und ihn gleich in den Lieferwagen werfen. Bingo!
Gab es ein Risiko? Ja, gäbe es, wenn die Garage voller Menschen wäre. Dann käme Plan B zum Zuge.
Der S 600 bog aus der Garage und der Belgier reihte seinen Golf hinter ihm ein. Er wollte sich noch vergewissern, ob es eventuell eine bessere Gelegenheit gäbe, den Anwalt zu kassieren. Dieser fuhr die Sandgasse in Richtung Grinzing. Dann bog er links ab, um nach wenigen Minuten Fahrzeit ein Haus in der Paul-Ehrlich-Gasse zu erreichen. Dort parkte er in einer Tiefgarage unter einem Einfamilienhaus.
Der Belgier beschloss, am nächsten Morgen im Einkaufszentrum zuzuschlagen. Er streckte sich und fuhr in sein Appartement.
***
20. November
In der Villa van Anders
Love is like a bomb, baby, c’mon get it on Livin’ like a lover with a radar phone Lookin’ like a tramp, like a video vamp Demolition woman, can I be your man? (Your man)
(Pour Some Sugar On Me – Def Leppard, Music + Lyrics: Elliott, Collen, Savage, Allen, Elliott, Lange, Clark, 1987)
In der Wittgensteinstraße in Hietzing saßen Andorian, Isa, Danny und ihr Mann Robert sowie Alma auf einer weichen Polstergarnitur. Es roch nach Holzfeuer und Def Leppard klang leise aus den im ganzen Raum strategisch positionierten Lautsprechern. Sie lauschten aufmerksam den Erzählungen der Turteltauben. Aus Andorian und Isa sprudelte es nur so heraus.
Dann wurde Danny ernst.
„Nun, Sherlock, konntest du etwas finden für mich? Was haben deine Recherchen ergeben?“
Alle Blicke richteten sich auf Andorian.
„Nun, hier liegen dreierlei verschiedene Verstümmelungen vor. Die Kastration des Mannes: Seine Entmannung ist definitiv eine Erniedrigung, jemand wollte ihn von seinem hohen Ross herunterholen. Dafür spricht auch, dass man ihm die Hoden in den Mund steckte. Das Herausreißen der Zunge ist ein Symbol für Verrat. Man kennt solche Praktiken von der Mafia und aus dem Mittelalter. Sie wurden im Mittelalter auch bei Meineid praktiziert. Dass sie ihm an die Stirn genagelt wurde, dazu gab es keinen Präzedenzfall in der Literatur. Ich kann nur mutmaßen, dass der Täter sagen wollte, dass die Verfehlung des Richters wider besseres Wissen geschah. Dass er, was immer er getan hatte, es hätte besser wissen müssen. Natürlich nur aus der Perspektive des Täters.“
Er blickte in die Runde seiner Zuhörerschaft und hoffte auf eine Reaktion. Alma und Robert nickten.
„Der Kopf als Zentrum des Geistes und des Handelns! Vernagelt sein! Guter Denkansatz, Andorian!“, gab der Chef des Instituts für Gerichtsmedizin zu bedenken.
„Als Richter war er ja hauptsächlich mit dem Kopf zugange, was Arbeit betraf“, meinte Alma.
„Er war Richter?“, entfuhr es Isa und Andorian gleichzeitig.
„Ja, Dr. Rudolf Brandstätter ist das Opfer!“, wandte die Kommissarin ein. „Was meinst du zu der Bauchverletzung?“
„Wenn wir in Japan wären, hätte ich auf Seppuku getippt! Die traditionelle Selbsttötung mit dem Messer. Seppuku gibt dem Entehrten die Möglichkeit, seine Ehre durch Selbstmord wiederherzustellen. Es ist ein Schnittritual. Das Messer wird an der linken unteren Bauchseite tief in den Körper eingestochen, mit einem Ruck nach rechts gezogen, um dann in einem letzten Akt der Anstrengung auch noch nach rechts oben gerissen zu werden. Der Delinquent wird von einem Sekundanten, der hinter ihm steht, enthauptet. Wurde Brandstätter enthauptet?“
„Nein, sein Haupt war da, wo es sein sollte. Ach, Danny, du bekommst den Bericht morgen“, warf Alma Selimovic ein.
„Und der Bibelvers ist übrigens kein Bibelvers!“, referierte Andorian weiter. „Der steht ganz anders in der Heiligen Schrift. In Matthäus, Kapitel 7, Vers 1, heißt es: ‚Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.‘ Der Täter hat den Spruch also abgewandelt. Er wollte wohl sagen: ‚Du hast Mist gebaut, jetzt trägst du auch die Konsequenzen!‘“
Es setzte ein langes Schweigen ein. Es schien, als wären alle mit ihren Gedanken in dem Fall und Andorians Interpretation und Nachforschung eingefroren. Ein Klingeln riss alle aus ihrer Starre.
„Piero Pizza!“, rief Andorian und sprintete zum Eingang. Sie liebten die Pizzen und Gerichte von Piero im Winter, genauso wie sie im Sommer sein Eis liebten.
Schwatzend erhoben sie sich und versammelten sich um den Esstisch. Andorian balancierte fünf herrlich nach Knoblauch riechende Kartons auf einem Arm sowie eine Flasche Wein auf dem anderen. Er hatte den verdutzten Lieferanten mit einem Augenzwinkern und einhundertvierzig Euro Trinkgeld sowie offenem Mund auf der Türschwelle stehen lassen und war zu seinen Freunden zurückgegangen. Robert nahm Gläser aus dem Regal und Alma holte Besteck aus der Küche.
Kauend nahm Isa den Faden von vorher wieder auf: „So, wie sich das für mich darstellt, sollten sich die Ermittlungen in der ersten Phase auf alle besonders hart umkämpften Verhandlungen konzentrieren. Sobald diese eingegrenzt sind, sagen wir, auf dreißig Fälle, solltest du sehen, wer, sagen wir, während der letzten zwölf Monate aus der Haft entlassen wurde!“
Danny nickte.
„Definitiv mein Plan, Isa!“, sagte sie und nahm einen Schluck des Weins, der von Piero ab einer bestimmten Bestellsumme immer mitgeliefert wurde.
Alle schmatzten vergnüglich vor sich hin und Andorian spürte wieder diese Wärme in sich aufsteigen. Die allumfassende Liebe für diese Menschen, diese kleine Gruppe, den inneren Zirkel seines Herzens.
„Und, nur so am Rande, ich könnte, ganz inoffiziell natürlich, Nachforschungen und Observationen in alle gewünschten Richtungen anstellen. Also, nur wenn du magst. Natürlich mit Bedacht darauf, dass alle Erkenntnisse gerichtsverwertbar bleiben!“
Danny schmunzelte.
„Klar, Andorian, aber habt ihr gerade nichts Besseres zu tun?“
Robert knuffte seine Frau für diese neckische Übergriffigkeit mit dem Ellenbogen in die Seite.
„Was!?“, gab sie sich gespielt empört. „Du wirst diesbezüglich auch noch in die Pflicht genommen heute, junger Mann!“
Robert lachte: „Könnte romantisch werden mit der Portion Knoblauch, die wir gerade zu uns nehmen.“
„Klar doch! Redet alle über eure erotischen Eskapaden! Ich räume in der Zwischenzeit den Tisch ab. Sagt mir, wann ich wiederkommen kann“, warf Alma spöttisch ein. „Ich werde mich mit den Bildern und Erkenntnissen des heutigen Tages zur Ruhe begeben.“
Sie zog einen Schmollmund.
„Mein Schatz, du solltest in die Gänge kommen, was die Seite des leiblichen Wohls angeht“, stichelte Danny vergnügt in Richtung ihrer besten Freundin. „Wir finden dir einen Mann!“
Daraufhin applaudierten alle Anwesenden und schenkten neuen Wein ein.
Eine Stunde später, das Haus war leer, kuschelte Isa sich unter einer dicken Daunendecke an Andorian und sagte: „Es war gestern ungewohnt, ohne dich einzuschlafen. Hat viel länger gedauert als die letzten Wochen.“
Er grunzte wohlig und zog sie noch ein bisschen mehr an sich!
***
November vor sieben Jahren
Pia Mitterer stand neben ihrer besten Freundin Ayse auf der Schultoilette. Es war Freitag und die beiden planten ihr Wochenende.
„Ich denke, wir verbringen den Abend wieder mit den Jungs. Wie das letzte Mal. War doch schön, oder? Was meinst du?“, fragte Ayse.
„Ja, schon, es hat gepasst für mich, aber irgendwie fühlt es sich nicht richtig an. Ich weiß nicht, ich fühle mich nicht wohl. Meinst du, Daniels Eltern wissen, dass wir dort abhängen am Wochenende?“
„Ich denke, ja. Andernfalls würden sie ihn nicht alleine im Haus lassen, wenn sie an den Attersee fahren, oder? Also, was soll passieren?“, schmollte Ayse.
„Was passieren soll? Sorry, aber was ist das letzte Mal passiert? Die Nachbarn haben die Bullen gerufen und wir sind zum Toilettenfenster raus, mit einer Menge Gras im Rucksack, die für eine Kompanie gereicht hätte! Hast du es als angenehm empfunden, nachts im Michaelerwald herumzugeistern? Scheiß unheimlich war es da“, gab Pia empört zu bedenken.
„Du hast ja recht! Aber es waren nur ein paar Minuten, bis die Polizei wieder weg war! Und der Abend war doch der Hammer, oder? Ich kann mich erinnern, dass eine gewisse Pia voll auf ihre Kosten gekommen ist“, entgegnete Ayse und stieß ihre Freundin mit dem linken Ellenbogen in die Rippen. Pia schmunzelte.
„Du sagst einfach wieder, du schläfst bei mir! Dein Alter wird schon zustimmen, meinst du nicht? Dann klappt das schon. Wir fahren zu Daniel nach Döbling, feiern ein bisschen und schlafen dann bei mir. Und mit deinem Motorroller sind wir in null Komma nichts hin und her.“ Ayse sah ihre Freundin mit einem derartig gespielten Dackelblick an, dass Pia laut auflachen musste.
„Oooookay!“, sagte Pia seufzend.
Ayse zwinkerte. „Ich mache wieder Mario klar und du schnappst dir deinen Daniel.“
„Du kleines Luder! Was planst du? Du bist doch nicht ohne Hintergedanken so versessen auf diesen Abend!“, rief Pia im Scherz.
Ayse schlug die Augen nieder, schob die Unterlippe nach vor, tat unschuldig und hauchte: „Ich bin die personifizierte Unschuld. Schau mich nur an!“ Dann lachten beide Mädchen herzhaft.
„Scheiß drauf! Ich nehme mir, was ich will und wen ich will!“
Sie öffneten die Tür zum Gang und machten sich kichernd und glucksend auf den Weg in die Klasse.
***
21. November
Eine Botschaft
Non, rien de rien Non, je ne regrette rien Ni le bien qu'on m'a fait Ni le mal Tout ça m'est bien égal…
(Non, je ne regrette rien – Edith Piaf, © Dumont, Vaucaire, 1956)
In der Reinischgasse erhob sich Ernestine Brandstätter nach einer von traumlosem Schlaf durchsetzten Nacht. Sie schlurfte auf die Toilette. Adrian war schon wach. Das konnte sie am Klappern seines Bestecks auf dem Küchentisch erkennen. Tränen quollen aus ihren Augen. Sie verband dieses nur allzu vertraute Geräusch sofort mit ihrem geliebten Mann und Edith Piaf sang in ihrem Kopf immer und immer wieder, dass sie nichts bereue. Die Realität brach einen Wimpernschlag später mit der Gewalt eines heranrasenden Güterzuges über sie herein. Sie schwankte und musste sich am Waschbecken anhalten, damit sie nicht vornüber auf die Badezimmerfliesen stürzte.
Nach der Morgentoilette atmete sie auf, besah sich im Spiegel und beschloss, sich nicht unterkriegen zu lassen. Edith Piaf war verstummt und dem dumpfen Gefühl gewichen, dass dieser Albtraum noch nicht ausgestanden war. Aber nichts und niemand konnte ihr Schmerzen zufügen. Sie würde alles daransetzen, um den Mörder ihres Mannes zu finden. Geld genug hatte sie dafür.
„Guten Morgen, Mama“, sagte Adrian zärtlich und küsste sie auf die rechte Wange. „Ich habe dir frische Croissants geholt und dein Lieblingskaffee ist bereits angerichtet.“
„Danke, mein Schatz! Du bist sehr aufmerksam“, antwortete sie mit einem Lächeln und strich ihm dabei über die Wange. Sie verspürte keinen Appetit, nahm aber ihrem Sohn zuliebe Platz.
Links vom Teller lagen wie üblich die aktuellen Tageszeitungen, die ihr Mann abonniert hatte. Sie hob die erste auf und öffnete sie. Ein kleiner Umschlag aus Papier glitt aus den Seiten und fiel mit einem deutlich hörbaren Klacken zu Boden.
„Nanu, Adrian, war die Post schon da?“, fragte sie in Richtung ihres Sohnes.
„Keine Ahnung, Mama! Warum fragst du?“
Sie bückte sich und hob den Umschlag auf. Er war weder adressiert, noch war er frankiert. Sie stutzte, dann öffnete sie das Kuvert, das nicht verklebt war. Darin befand sich ein USB-Stick.
„Adrian!“
Adrian senkte sein Smartphone und blickte seine Mutter erstaunt an. An seinem verwirrten Gesichtsausdruck konnte sie erkennen, dass er ihr gar nicht zugehört hatte, als sie mit ihm gesprochen hatte. Sie hielt den USB-Stick hoch.
„Das ist ein USB-Stick, Mutter“, sagte er. „Wo ist der her?“
„Er war in dem Umschlag!“
„Welcher Umschlag?“, fragte er beiläufig.
„Adrian!“, entgegnete sie scharf. „Der Umschlag, der in den Zeitungen lag.“
„Ich habe keinen Umschlag gesehen. Was ist auf dem Stick gespeichert, Mutter?“
„Adrian, ich weiß nicht mal, wie man dieses Ding bedient. Könntest du mir jetzt bitte in angemessenem Maße deine Aufmerksamkeit schenken und mich unterstützen?“, blaffte sie mit schriller Stimme.
Ihr Sohn erhob sich und verschwand in einem Zimmer, nur um einen Augenblick später mit dem Laptop wiederzukommen. Er nahm seiner Mutter den Datenstick aus der Hand und steckte ihn seitlich in den Computer. Der Dateimanager öffnete sich und gab zu verstehen, dass sich auf dem Stick eine Videodatei befand. Gemeinsam erweckten sie mit einem Doppelklick die Datei zum Leben.
Eine Sekunde später stockte ihnen der Atem. Auf dem düsteren Bild war eindeutig ihr Mann bzw. Vater zu erkennen. Er war an Armen und Beinen an einen Sessel gefesselt und starrte angsterfüllt in die Kamera. Aus dem Off war eine Stimme zu vernehmen, die mit leicht französischem Akzent sagte: „Letzte Worte, Herr Richter?“
„Ernie, Adrian! Ich liebe euch! Ich habe nichts Unrechtes getan!“
Dann trat eine Gestalt in das Bild. Muskulös, in einem Shirt ohne Ärmel, wie es Ruderer oder Basketballspieler trugen. In der rechten Hand trug der Mann eine Rosenschere, in der linken eine Kombizange. Dann schrie ihr Ehemann. Ein gurgelnder Laut entfloh seiner Kehle. Ernestine Brandstätter schwanden die Sinne. Sie sackte bewusstlos auf den Esszimmerboden.
***
21. November
Ein Auftrag
Rising up, back on the street Did my time, took my chances Went the distance, now I'm back on my feet Just a man and his will to survive…
(Eye Of The Tiger – Survivor, Music + Lyrics: Sullivan, Peterik, 1982)
Andorian erwachte in Isas Armen. Sie saß halb aufrecht im Bett und las.
„Guten Morgen, Geliebter! Zeit für das Büro! Es ist bereits 7:30 Uhr. Wir müssen uns sputen.“
„Sputen? Och, komm! Ich war gerade noch auf der kleinen Insel, wo wir vor ein paar Tagen noch waren!“
Isa schwang sich auf und ging voran ins Badezimmer. Andorian grunzte. Halb aus Begierde, halb aus Frustration. Aber natürlich wusste er, dass sie recht hatte.
Er brauchte Musik, um in die Gänge zu kommen. Mit einem leisen Klicken erwachte das Soundsystem zum Leben und beschallte ihn mit „Eye Of The Tiger“ von Survivor. Andorian öffnete die Verdunkelungen und starrte in einen trüben, noch im Halbdunkel liegenden Garten hinaus. Er lugte ins Badezimmer. Isas wundervolle Silhouette, in Dampf eingehüllt, bewegte sich im Takt der Musik, spielte Luftgitarre, seifte sich ein. Er widerstand dem heftigen Drang, sie gleich unter der Dusche zu lieben. Es hätte ihm nur Troubles eingebracht, wenn er an die Geschäftsmäßigkeit dachte, mit der sie aus dem Bett gesprungen war. So wandte er sich ab und spulte mechanisch sein Trainingsprogramm ab.
Vierzig Minuten später saß er neben seiner Angebeteten in seiner Avalanche. Der Chevrolet gurgelte die Speisinger Straße stadteinwärts. Andorian hatte die rechte Hand auf Isas Oberschenkel. Sie kaute genüsslich an der Zimtschnecke, die sie Minuten zuvor gekauft hatten. Eine wohlige Stimmung erwärmte das Auto.
„Mir lässt die Verstümmelung des Richters keine Ruhe, Isa. Ich will da mehr unternehmen. Ich will Danny zur Seite stehen und recherchieren. Es wäre interessant, welche Verfahren, die Brandstätter verhandelt hat, hier in die engere Auswahl kämen. Wie können wir das anstellen, so ohne Auftrag?“
„Wir könnten einen Antrag auf Akteneinsicht stellen. Die Frage ist, ob wir dazu berechtigt sind, was ich grundsätzlich verneinen würde. Danny hat Einsicht, aber sie macht sich strafbar, wenn sie die Akten weitergibt. Wahrscheinlich wäre aber ein Name bereits hilfreich, damit wir aktiv werden können.“
Der Pick-up bog in die Weihburggasse ein. Andorian steuerte den Wagen über die Rampe in die Tiefgarage in der Hegelgasse. Hand in Hand schlenderten die beiden das Stiegenhaus zur Kanzlei hinauf. Sekunden später standen sie vor dem Portal zur Kanzlei und einem gut gekleideten Mann Mitte dreißig.
„Guten Morgen! Warten Sie auf uns?“, fragte Andorian erstaunt.
Er hatte das Gefühl, dass der Mann falsch war. Es war in all den Jahren noch nie vorgekommen, dass jemand vor der Tür auf sein Kommen wartete wie vor einem geschlossenen Supermarkt. Isa drängte sich vorbei und schloss die Tür zum Büro auf. Van Anders trat zu Seite und bat den Mann ins Vorzimmer. Der angenehme Duft alten Holzes umfing die kleine Gruppe.
„Mein Name ist Andorian van Anders und wenn Sie gekommen sind, um die Dienste eines Ermittlers in Anspruch zu nehmen, dann sind Sie bei mir richtig!“
Der Besucher nickte und streckte beiden die Hand entgegen.
„Mein Name ist Doktor Adrian Brandstätter. Mein Vater ist der ermordete Richter. Bestimmt haben Sie davon gehört!“
„Mein aufrechtes Beileid!“, kondolierte Andorian und ergriff erneut die Hand des jungen Mannes.
„Danke sehr“, entgegnete Brandstätter.
Isa öffnete die Tür zu Andorians Büro und geleitete beide Männer hinein. Dann schenkte sie zwei große Gläser Wasser ein und stellte sie auf den Tisch. Andorian nahm im großen Ledersessel Platz, Brandstätter gegenüber von ihm im bequemen Besucherstuhl.
„Wie kann ich Ihnen helfen, Herr Brandstätter?“
„Nun, das liegt wohl auf der Hand! Ich will, dass Sie den Mörder meines Vaters finden und zur Strecke bringen!“
Andorian stutzte. „Zur Strecke bringen? Ich werde keine Straftat begehen, das ist nicht mein Stil!“
„Verzeihen Sie bitte meine Ausdrucksweise! Selbstjustiz oder Rache ist nicht das Thema. Ich will, dass Sie die Person fassen und der Gerichtsbarkeit übergeben. Ich, das heißt meine Familie, verfügt über nicht unbeträchtliche finanzielle Mittel und über noch mehr politischen Einfluss. Wenn Sie den Fall also übernehmen, soll es Ihnen nicht an Unterstützung mangeln, das garantiere ich.“
Andorian nickte stumm und sah Brandstätter ins Gesicht.
„Wie hoch ist ihr Honorar?“ Adrian Brandstätter wirkte entschlossen und hart. Andorian spürte die Trauer und den Schmerz in seinem Gegenüber.
„Mein Honorar beläuft sich auf 500 € pro Tag inklusive Spesen und Fahrtkosten“, gab der Detektiv zu verstehen.
Brandstätter griff in sein Jackett und holt einen Umschlag heraus.
„In diesem Umschlag befinden sich zehntausend Euro. Wenn Sie den Mörder übermorgen finden, behalten Sie den Rest. Wenn der Vorschuss aufgebraucht wird, auch gut. Dann bekommen Sie mehr. Ich will diesen Menschen hinter Gittern sehen, koste es, was es wolle!“
Andorian schob den Umschlag zur Seite und blickte Brandstätter in die Augen. Dann nickte er.
„Herr Brandstätter, wieso ist Ihnen die Polizei nicht genug? Wieso ich?“
„Schnell erklärt: Ich bin der Meinung, dass Sie sich nicht so streng an die Regeln halten müssen wie die Polizei: Vielleicht täusche ich mich, aber ich habe die Hoffnung, dass Sie mehr Handlungsmöglichkeiten haben als die Exekutive.“
Van Anders nickte erneut. Brandstätter sah zu Boden.
„Es gab eine Entwicklung in dem Fall“, sagte Adrian Brandstätter. „Das war heute Früh in der Post.“ Er griff erneut in seine Jackentasche und zog den USB-Stick heraus, den seine Mutter gefunden hatte. Er legte ihn zwischen sich und van Anders auf den Tisch.
„Was ist auf diesem Stick?“, fragte Andorian.
Adrian Brandstätter schluckte und seine Augen füllten sich mit Tränen. „Die Ermordung und Folterung meines Vaters, Herr van Anders! Dieses Ungeheuer hat das Video meiner Mutter geschickt. Sie liegt jetzt im Krankenhaus, hatte einen Schwächeanfall, als sie das Video sah. Ich will, dass Sie dieses Schwein jagen und zur Strecke bringen! Koste es, was es wolle!“ Mit der Rechten wischte er sich verstohlen über die nassen Wangen.
Andorian sah dem jungen Mann in die Augen und nickte stumm. Adrian Brandstätter tat einen tiefen Atemzug, stand auf, wandte sich um und verließ das Büro. Andorians Finger schlossen sich um den schwarzen Datenträger, dann schob er ihn in den Slot des Laptops, der vor ihm auf dem Tisch stand. Zwei Mausklicks später öffnete sich eine Videodatei.
***
21. November
Der Anwalt
Der Belgier war in Position. Er hatte einen weißen Lieferwagen gemietet. Er trug eine blonde Langhaarperücke mit Pferdeschwanz und einen ebenso blonden Vollbart. Der blaue Arbeitsanzug spannte über dem Fatsuit. Er stand in der Ecke zwischen dem Ausgang und dem Parkplatz von Schuster. In der rechten Hand hatte er einen groben Besen. In der Linken hielt der Belgier eine Schaufel, mit der Reinigungskräfte normalerweise Abfall aufnahmen, ohne sich bücken zu müssen. Rechts in der Manteltasche befand sich eine Spritze mit einer kurzen Kanüle – perfekt, um eine Dosis Haldol intramuskulär in den Oberschenkel des Anwalts zu spritzen.
Das Parkhaus war wie ausgestorben. Die Läden öffneten um neun Uhr. Die Kanzlei um acht Uhr. Es war sieben Uhr dreißig. Er nahm an, dass die ersten Shopmitarbeiter nicht vor 8:30 Uhr eintreffen würden. Bis dahin wäre der Job erledigt.
Er begann damit, den Boden zu kehren, als er hinter sich das Aufheulen eines starken Motors hörte. Ein großer Audi schob sich langsam an ihm vorbei und parkte sich am Parkplatz gegenüber ein. Lange Beine in schwarzen Strümpfen schoben sich aus dem Fahrzeug. Die Frau sah kurz zu ihm herüber.
„Guten Morgen!“, ertönte es freundlich in seine Richtung.
Er hob die rechte Hand an seine Mütze und erwiderte den Gruß wortlos, aber mit einer Geste der Ehrerbietung. Sekunden später war die Frau in einer Türe zum Stiegenhaus verschwunden. Versonnen sah er ihr nach.
Plötzlich hupte es hinter ihm. Eine schwarze S-Klasse hatte sich beinahe ohne Geräusch hinter ihm positioniert. Der Anwalt hob zum Gruß die Hand hinter dem Lenkrad und deutete mit einem Lächeln auf die Parklücke vor ihm. Der Belgier trat zur Seite und die Limousine glitt auf ihren Parkplatz. Vor ihm parkte Gernot Schuster. Der Belgier drehte sich um und fegte weiter den Boden. Schuster schwang sich aus dem Wagen.
Dann ging alles ganz schnell. Schuster öffnete die hintere Türe seines Fahrzeuges und beugte sich in das Fahrzeuginnere, wohl um seine Aktentasche zu holen. Der Belgier trat mit einem großen Schritt an ihn heran und rammte die Kanüle in den linken Oberschenkel Schusters. Dieser quiekte kurz auf, wurde jedoch vom Körper des Angreifers daran gehindert, sich aufzurichten. So steckte Schuster mit gebeugtem Oberkörper im Fahrgastraum seines Mercedes fest. Fünfzehn Sekunden später erschlafften seine Bewegungen und er sackte auf dem Sitz zusammen.
Der Belgier atmete durch und blickte sich um. Alles war still. Dann zog er den bewusstlosen Anwalt an den Beinen aus seinem Auto heraus. Der Kopf des Juristen schlug dabei hart auf dem Boden auf. Ein dünnes Rinnsal Blut lief ihm aus der Nase. In Anbetracht der Tatsache, dass der Mann sowieso sterben würde, bereitete dies dem Belgier kein Kopfzerbrechen. Er zog den leblosen Körper zur Seitentür seines Lieferwagens und wuchtete ihn hinein.