Tödlicher Ehrgeiz - Marion Kummerow - E-Book

Tödlicher Ehrgeiz E-Book

Marion Kummerow

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Beschreibung

Wenn Ehrgeiz und Moral kollidieren... ... welchen Weg wird Anna gehen? Krankenschwester Anna dachte, sie hat bereits alles gesehen. Doch nicht einmal die schrecklichen Geschehnisse in Ravensbrück konnten sie auf das vorbereiten, was in der Berliner Charité vor sich geht. Von einem der berühmtesten Wissenschaftler in Deutschland, den sie seit vielen Jahren bewundert, in seine bakteriologische Forschungsgruppe geholt, ist sie endlich dabei ihren ehrgeizigen Traum von einer Karriere als Biologin zu verwirklichen. Aber ihr gesamtes Weltbild wird zerstört, als sie ein scheußliches Geheimnis der Nazis entdeckt. Versteckt vor der Weltöffentlichkeit passieren grausame Dinge – und Anna steckt bald mittendrin. Egal wie oft sie sich sagt, dass ein Erfolg Millionen Menschen retten kann, weiß sie dennoch, dass ihre Arbeit unmoralisch ist. Wird sie ihren Befehlen gehorchen und Professor Scherers Protegé bleiben, oder wird sie sich auflehnen, und damit sowohl ihre Berufschancen zerstören, als auch ihre gesamte Familie in Gefahr bringen? Tödlicher Ehrgeiz ist spannender Roman über moralische Dilemmas und schwierige Entscheidungen während des Dritten Reichs.

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Tödlicher Ehrgeiz

Kriegsjahre einer Familie, Band 3

Marion Kummerow

Tödlicher Ehrgeiz, Kriegsjahre einer Familie, Band 3

ISBNTaschenbuch 978-3948865016

© 2020Marion Kummerow

Herstellung und Verlag:

Marion Kummerow

Weißtannenweg 7

80939 München

Titelbildgestaltung: http://www.StunningBookCovers.com

Bildnachweis: Bundesarchiv, Bild 183-S91935 / CC-BY-SA 3.0

https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Buch darf – auch auszugsweise – nicht ohne schriftliche Zustimmung der Autorin kopiert werden.

Dieses Buch basiert auf historischen Begebenheiten, historische Persönlichkeiten und Vorfälle wurden sorgfältig recherchiert und wiedergegeben.

Die Namen der Hauptpersonen und die Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder realen Personen sind rein zufällig.

Inhalt

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Epilog

Anmerkungen der Autorin

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Kapitel 1

Januar 1944, Ravensbrück, Deutschland

Anna knöpfte mit weinender Seele und schmerzendem Körper ihre Bluse zu. Sie wagte es nicht, ihren Peiniger anzusehen – den Mann, der sie wieder und wieder misshandelt hatte. Beim Anblick seines selbstgefälligen Gesichtsausdrucks würde sie ihm am liebsten mit ihren bloßen Händen den Hals umdrehen und dabei zusehen, wie sein nutzloses Leben aus seinem Körper entwich. Entweder das, oder ihren Mageninhalt über ihn entleeren.

In ihren Gedanken nannte sie ihn Teufel. Jede einzelne bedauernswerte Seele im Lager würde ihr beipflichten, dass er der Leibhaftige war. Doktor Tretter, Chefarzt im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, fand Gefallen daran, Angst und Schrecken zu verbreiten. Und er tat es mit einem Lächeln.

Ein Schluchzer drohte ihrer Kehle zu entkommen, aber sie schluckte ihn tapfer herunter. So wie sie es immer tat, wenn das schiere Entsetzen über das, was aus ihrem Leben geworden war, sie zu überwältigen drohte. Sie hatte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Und hatte dabei den Kürzeren gezogen. Im Tausch gegen das Leben ihrer Schwester hatte sie ihm ihren Körper verkauft.

Sie rief sich das hagere Gesicht ihrer geliebten jüngeren Schwester Lotte in Erinnerung. Das Bild ihres abgemagerten Körpers, der nur noch aus Haut und Knochen bestand, zwang Anna dazu, einen weiteren Seufzer zu unterdrücken. Sie hatte das Richtige getan. Lotte hätte die Gräuel als KZ-Häftling nicht mehr lange überlebt. Egal wie schrecklich Anna sich gerade fühlte, sie wusste, dass sie das Gleiche wieder tun würde, um ihre Schwester zu retten. Und irgendwann würde Anna einen Weg finden, sich aus den Klauen von T zu befreien.

„Schwester Anna.“ Doktor Tretters näselnde Stimme jagte ihr einen Schauer den Rücken hinunter. Er ist doch fertig, oder etwa nicht?

„Jawohl, Doktor Tretter?“, antwortete sie müde und drehte sich um, um ihn anzusehen, weil sie wusste, dass er Wert darauflegte, dass sie ihm in die Augen sah, wenn er ihr Befehle gab. Sie hielt seinem Blick stand und verbarg so gut sie konnte ihren Hass auf ihn.

Seine Lippen kräuselten sich. „Du siehst wunderhübsch aus, Schwester Anna.“

„Danke“, sagte sie mit gedämpfter Stimme und blickte zu Boden, ganz so, als ob sein Kompliment sie erfreute.

„Du wirst meine perfekte Begleitung für eine Abendveranstaltung am kommenden Wochenende sein.“

Seine Worte verschlugen ihr den Atem und sie kämpfte um ihre Fassung. Bisher hatte er darauf beharrt, ihre Beziehung geheim zu halten. Die schmutzigen Details der Tatsache, dass er eine seiner Krankenschwestern beinahe täglich missbrauchte, sollten besser nicht ans Tageslicht kommen.

Annas Wangen flammten heiß vor Scham bei dem Gedanken, dass jemand annehmen sollte, sie mochte dieses Monster tatsächlich und ihre Beziehung mit dem Chefarzt von Ravensbrück war freiwilliger Natur.

„Mit deinem glatten, blonden Haar, deinem makellosen, weißen Teint und…“ Doktor Tretter machte einen Schritt auf sie zu und legte einen Finger unter ihr Kinn, woraufhin der Ekel sie übermannte und sie unwillkürlich die Augen schloss. „Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst mich ansehen, wenn ich mit dir rede?“ Seine andere Hand landete mit einer schmerzhaften Ohrfeige auf ihrer Wange.

„Verzeihen Sie, Doktor Tretter. Es wird nicht wieder vorkommen.“

„Gut. Denn wie gesagt wirst du mich zur Soiree bei Professor Scherer begleiten. Ich will, dass du halbwegs ansehnlich bist, und enttäusche mich nicht mit unmöglichem Verhalten.“

Alles Blut strömte aus Annas Gesicht. Professor Scherer war einer der renommiertesten Wissenschaftler des Reichs, ein Mann, den sogar Hitler konsultierte. Er war der Leiter der Abteilung für Medizin und Humangenetik an der berühmten Universitätsklinik Charité in Berlin. Seine einzigartige Arbeit in der Humanbiologie war dem Forschungsstand seiner Kollegen weltweit um Lichtjahre voraus.

Seit dem Tag als Anna mit zwölf beschlossen hatte, eines Tages Biologin zu werden, hatte sie seine Arbeit mit ehrfürchtiger Bewunderung verfolgt. Unter allen anderen Umständen hätte sie ihren rechten Arm dafür gegeben, um den Professor persönlich zu treffen, aber mit dem Teufel an ihrer Seite?

Sie zitterte vor Entsetzen.

„Sie haben gesagt... Sie wollen nicht, dass jemand von unserer.... Vereinbarung erfährt“, stotterte Anna.

Er sah sie mit einem höhnischen Grinsen an. „Und niemand wird davon erfahren. Ich habe schließlich einen Ruf zu verlieren.“ Dabei beäugte er sie von Kopf bis Fuß, ganz so als wäre sie ein lästiges Insekt, das er zerquetschen wollte. „Was die Leute sehen werden, ist eine dankbare Krankenschwester, die sich darum reißt, Zeit mit dem Arzt zu verbringen, den sie verehrt und dessen Arbeit sie in den höchsten Tönen lobt.“

„Sie erwarten von mir...“ Anna fühlte, wie die Galle in ihrer Kehle hochstieg, und atmete flach, in der Hoffnung, er würde ihre aufsteigende Panik nicht bemerken, „… dass ich allen erzähle, wie sehr ich Ihre Arbeit bewundere?“ Eine Forschung, die darin bestand, unschuldige Gefangene mit sadistischen medizinischen Experimenten zu foltern.

„Genau. Ich bewerbe mich um eine Professur an der Charité, und Professor Scherers Wertschätzung meiner Person und meiner wissenschaftlichen Arbeit ist von größter Bedeutung. Du wirst von meinen Erfolgen schwärmen oder die Konsequenzen tragen“, sagte er mit einem grausamen Lächeln.

Anna kannte die Konsequenzen nur zu gut. Exekution. Oder schlimmer noch, sie wurde zur Insassin in demselben Lager, wo sie als Krankenschwester arbeitete. Jeden Tag konnte sie mit eigenen Augen sehen, welche Qualen dieses Schicksal mit sich brachte.

„Ich werde Sie nicht enttäuschen“, sagte sie und wandte sich zum Gehen.

„Halt“, befahl er scharf, als sie ihre Hand auf die Türklinke legte. Sie drehte sich gehorsam um und starrte in seine graublauen Augen. Augen, die sie ihm nur zu gerne aus dem Gesicht gekratzt hätte. „Nimm das und kaufe dir ein Kleid, in dem du nach was aussiehst. Auf gar keinen Fall will ich mit dir in dieser drögen Schwesternuniform gesehen werden.“ Er warf ein paar Kleidermarken und Geldscheine in ihre Richtung.

„Jawohl“, quetschte Anna durch ihre zusammengepressten Lippen hervor und kniete sich hin, um die Scheine vom Boden aufzuheben. Gerade war sie noch tiefer gesunken und hatte eine Bezahlung für ihre Dienste angenommen.

Als sie aus seiner Wohnung floh, ballte Anna ihre Hände zu Fäusten, und rannte so schnell ihre Beine sie trugen, bis sie endlich über die Schwelle zu ihrem eigenen Zimmer im Schwesternwohnheim stolperte.

Kapitel 2

Anna riss sich die Kleidung vom Körper und schrubbte sich von Kopf bis Fuß mit einem nassen Waschlappen in der Kochnische ihres Zimmers, als ob das Schrubben ihrer Haut den Teufel aus ihrem Leben und ihren Gedanken verbannen konnte.

Sie wünschte sich sehnlichst eine heiße Dusche, um Doktor Tretters Geruch von ihrer Haut zu spülen, aber so spät nachts waren die Gemeinschaftsduschen im Wohnheim bereits geschlossen.

Sie hasste Doktor Tretter mit jeder Faser ihres Seins, aber zumindest eines musste sie ihm lassen: Er traf immer Vorsichtsmaßnahmen, um sie nicht zu schwängern. Er tat dies natürlich nicht aus Rücksicht auf sie, sondern um einen Skandal für sich selbst zu vermeiden. Allein der Gedanke, das Kind des Teufels unter dem Herzen zu tragen, saugte die verbliebene Energie aus ihren Knochen, und sie musste sich an der Spüle festhalten, um nicht auf den Boden zu sinken. Ihr zierlicher Körper krampfte einige Sekunden lang heftig, bevor sie die Kontrolle wiedergewann.

Dann schlüpfte sie in ihr Nachtkleid und sank schließlich mit einer Tasse heißem Tee in der Hand und einem schweren Seufzer auf den einzigen Stuhl. Sie verbannte alle unangenehmen Gedanken und begutachtete den kleinen Raum, den sie ihr Eigen nannte. In der Ecke stand ein schmales Bett, daneben ein kleiner Beistelltisch mit einer Lampe, auf der anderen Seite, direkt neben der Tür, waren eine Garderobe und eine brusthohe Kommode. Ein abgenutzter Teppich lag in der Mitte des Raumes und darauf stand der Stuhl, auf dem sie saß, sowie ein Metalltablett, das sie als Behelfstisch benutzte. Die Kochnische bestand aus einer winzigen Herdplatte, einem Wasserkessel und der Spüle.

Die Krankenschwestern im Lager brauchten keine richtige Küche. Da sie ihre Mahlzeiten in der Kantine einnahmen, erhielten sie nicht einmal Lebensmittelkarten.

Anna wärmte ihre eiskalten Hände an der heißen Tasse, betrachtete den spärlich eingerichteten Raum und sehnte sich nach dem Tag, an dem ihr Dasein hier nichts als eine traurige Erinnerung sein würde. Obwohl das Zimmer wenig Gemütlichkeit bot, kehrte sie doch jeden Abend nach ihrer schrecklichen Arbeit hierher zurück und fühlte sich, als wäre es das Paradies auf Erden.

Hier konnte sie den Gräueln entfliehen, die draußen vor der Tür warteten. Tod. Krankheit. Demütigung. Schrecken. Schmerzen. Ihr kleines Reich bot Schutz vor den unerträglichen Grausamkeiten, die zur Normalität geworden waren.

Ihr Blick fiel auf das Telefon auf dem Nachttisch. Sie nahm den Hörer ab und wählte die Nummer in Berlin, wo ihre Mutter und ihre ältere Schwester Ursula lebten. Ursula war der Inbegriff des braven Mädchens und war im Gegensatz zu Anna in ihrer ganzen Kindheit und Jugend niemals in Schwierigkeiten geraten.

Anna konnte immer noch nicht glauben, wie sehr sich ihre Schwester im vergangenen Jahr verändert hatte. Nachdem ihr Mann gefallen war, hatte sie – Gefängniswärterin in Plötzensee – einen entflohenen britischen Piloten entkommen lassen. Ich frage mich, wie es ihm wohl geht. Lebt er noch?

„Ursula Hermann“, kam es durch die Leitung. Annas Herz machte einen Hüpfer der Erleichterung, als sie die Stimme hörte. Das Bild ihrer Schwester erschien vor ihrem inneren Auge: Wie Anna selbst und ihr jüngerer Bruder Richard hatte Ursula himmelblaue Augen und lange, blonde Haare.

„Ich bin’s“, sagte Anna und konnte einen Moment lang nicht weitersprechen, weil ihre Augen feucht wurden. „Wie geht es dir?“

„Anna, Liebes, frag doch nicht, wie es mir geht... Wie geht es dir?“

Anna nahm einen zittrigen Atemzug und bemerkte, wie eine Träne über ihre Wangen kullerte. „Ich... mir ging es schon besser.“

„Ist... du weißt schon... besucht er dich immer noch?“ Ursulas Stimme war nur noch ein Flüstern.

„Fast jeden Tag. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte. Ich fühle mich so schmutzig“, schluchzte Anna in den Hörer.

„Schsch. Gibt es denn gar nichts, was du tun kannst?“

„Weißt du, als Elisabeth mir von ihrer Arbeit hier erzählt hat, habe ich ihr kein Wort geglaubt. Ich dachte, sie übertreibt, um sich wichtig zu machen.“ Anna erinnerte sich, wie Elisabeth zum ersten Mal in das Berliner Krankenhaus gekommen war, wo Anna gearbeitet hatte. Sie und Elisabeth hatten sich rasch angefreundet und die andere Krankenschwester hatte ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, warum sie um eine Versetzung von Ravensbrück in ein normales Krankenhaus ersucht hatte.

Elisabeth hatte sich durch die vergleichsweise gute Bezahlung und die besonderen Vergünstigungen wie zusätzliche freie Tage, Lederstiefel und einen warmen Wintermantel als Lagerkrankenschwester anwerben lassen – Dinge, von denen normale Bürger nur träumen konnten. Aber das freundliche Mädchen hatte die schrecklichen Dinge, die sie im Lager erlebt hatte, nicht ertragen können.

„Kannst du nicht um eine Versetzung bitten, wie Elisabeth es getan hat?“, fragte Ursula.

„Und Teufels Zorn riskieren?“ Anna hörte ein leises Klicken in der Leitung und fügte hinzu: „Außerdem bin ich dankbar für die Möglichkeit, so viel wie möglich zu lernen und gleichzeitig dem Reich zu helfen, sich von unseren Feinden zu befreien“.

Ursula begriff Annas Kode sofort. „Da bin ich ganz deiner Meinung. Auch meine Arbeit in Plötzensee ist so wichtig für die Kriegsanstrengungen. Ich wünschte, ich könnte noch mehr tun. Aber an manchen Tagen fühle ich mich überwältigt.“ Ursulas Stimme war so voller Elend, dass Anna sich schuldig fühlte, ihre Schwester auch noch mit ihren eigenen Problemen zu belasten.

„Wie geht es Mutter?“ Anna wechselte das Thema und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.

„Sie hat die Hoffnung, Vater oder Richard jemals wiederzusehen, so gut wie aufgegeben. Seit der Nachricht, dass Richards Einheit in Minsk vernichtet wurde, haben wir keine weiteren Informationen erhalten. Weder dass er gefallen ist noch dass er noch am Leben ist.“

„Hast du ihr von T... erzählt?“, fragte Anna.

„Gott bewahre, natürlich nicht. Glaubst du wirklich, ich würde unserer Mutter erzählen, dass...?“

Natürlich hatte Anna nicht geglaubt, dass Ursula mit Mutter auf ein solch heikles Thema zu sprechen kommen würde. Aber Mutter war sehr intuitiv, was ihre Kinder betraf, und spürte in der Regel sofort, wenn etwas nicht stimmte. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie eins ihrer Kinder so lange mit Vermutungen in die Enge trieb, bis diese die Wahrheit gestanden.

„Sie fragt auch nicht“, beendete Ursula Annas Gedankengang.

„Ich wünschte, wir könnten ihr gute Nachrichten bringen. Zum Beispiel, dass der Krieg vorbei ist und Richard und Vater bald nach Hause kommen.“

„Übrigens gibt es gute Nachrichten“, sagte Ursula.

„Erzähl!“

„Tante Lydia bekommt das Ehrenkreuz der Deutschen Mutter verliehen.“ Tante Lydia war Mutters jüngste Schwester. Mit siebzehn hatte sie den Sohn eines Bauern geheiratet und war zu ihm aufs Land nach Bayern gezogen. Seitdem hatte sie unermüdlich fast jedes Jahr ein Kind zur Welt gebracht. Die Jüngste, ein Mädchen namens Rosa, war im vergangenen Herbst geboren worden.

„Das sind wirklich gute Nachrichten. Es wird ihr Ansehen bei den Bezirksverantwortlichen weiter steigern.“ Anna wählte ihre Worte sorgfältig. Nach dem, was mit Lotte passiert war, hatte die ganze Familie Konsequenzen für Lydia und deren Kinder befürchtet. Aber die Tatsache, dass ihr Mann – wenn auch derzeit Soldat an der Front – gut vernetzt und in der Bauernschaft geschätzt war, hatte sie gerettet.

„Ja, Lydia rief an, um uns einzuladen zu Besuch zu kommen, wenn sie am Muttertag in einer feierlichen Zeremonie das Silberne Mutterkreuz verliehen bekommen wird“, sagte Ursula und seufzte dabei fast unhörbar.

„Wäre es nicht schön, nach Bayern zu reisen und Tante Lydia zu besuchen? Ich könnte ein paar Tage Erholung von der Arbeit gut gebrauchen.“ Und vom Teufel.

„Das Gleiche habe ich auch gedacht. Es ist sicherer auf dem Land als in Berlin mit den ganzen Luftangriffen unserer Feinde“, sagte Ursula.

„Seit wann bist du so besorgt um deine Sicherheit? Hast du mir nicht immer wieder gesagt, wie wichtig deine Arbeit als Gefängniswärter ist?“ Und nicht auf die Weise, wie ein Telefonzensor vermuten würde.

„Du hast recht, Anna. Natürlich werde ich meinen Kampfgeist bewahren und unser Land nicht enttäuschen.“

Anna kicherte beinahe über die Art, wie Ursula ihren Satz formulierte. Da viele Telefonate abgehört wurden, war es nie eine gute Idee, Führer und Vaterland auch nur andeutungsweise zu kritisieren. Die aufkeimende alberne Stimmung ließ sie daran denken, dass nicht alles in ihrem Leben düster war. „Oh, das hätte ich fast vergessen. Es gibt noch mehr gute Nachrichten. Ich wurde zu einer Abendveranstaltung bei Professor Scherer eingeladen.“

„Professor Scherer? Sollte ich den kennen?“

Anna seufzte. „Er ist nur der angesehenste Wissenschaftler Deutschlands auf den Gebieten der Medizin und Genetik.“

„Anna, Liebes, das ist wunderbar“, sagte Ursula mit einer Stimme, die zeigte, dass sie nicht wirklich verstanden hatte, wie phänomenal diese Einladung wirklich war. „Ich würde gerne weiterschwatzen, Schwesterherz, aber ich habe heute Nachtschicht und darf nicht zu spät kommen.“

„Pass auf dich auf.“

„Das tue ich, und du bitte auch. Wenn du mal wieder ein paar freie Tage hast, musst du uns unbedingt besuchen. Mutter würde sich freuen, dich mal wieder zu sehen.“

„Gute Nacht.“ Anna legte den Telefonhörer auf und starrte auf die graue Wand, während sie alle Gedanken an ihre grauenvolle Arbeit oder den schrecklichen Mann, der sie in der Gewalt hatte, beiseiteschob.

Kapitel 3

Anna stand vor dem Spiegel und trug Wimperntusche auf. Als sie aufblickte, um ihre Arbeit zu begutachten, starrte der knochige Schädel einer Frau zurück, die eingesunkenen schwarzen Augen voller Anklage. Anna blinzelte. Einmal, zweimal. Aber die Bilder der abgemagerten Gefangenen verfolgten sie weiter. Mörderin, rief eines der Gespenster. Verräterin an der Menschheit, flüsterte ein anderes. Abschaum.

Anna trat eilig vom Spiegel zurück und schlüpfte in das einfache, aber elegante schwarze Kostüm, das sie mit Doktor Tretters Kleidermarken gekauft hatte. Der Bleistiftrock endete in der Mitte ihres Unterschenkels und zeigte ihre schlanken Waden in den neuen Schuhen mit dem flachen Absatz. Die Kostümjacke war tailliert, mit Schulterpolstern und Schößchen, sodass ihre Taille unglaublich schmal aussah.

Sie drehte eine Pirouette und war sehr zufrieden mit der perfekten Passform des Kostüms. Herausgeputzt für die Arbeit! Prostituierte! Die Geister in ihrem Kopf attackierten sie wieder.

Heute war ein besonders abstoßender Tag bei der Arbeit gewesen. Anna war Krankenschwester geworden, um Menschen zu helfen, nicht um sie zu ermorden. Obwohl sie genau genommen niemanden tötete, war sie Teil des Systems, das darauf abzielte, große Teile der Bevölkerung zu vernichten. Sie hatte nicht den leisesten Schimmer, warum die Nazis überhaupt Krankenschwestern in den Lagern beschäftigten. Es gab nichts, was sie für die Gefangenen tun konnte, außer ihnen ein Lächeln zu schenken, wenn niemand hinsah, oder einen arbeitsfreien Tag auf der Krankenstation – bei reduzierten Rationen.

Ich wollte hier nie arbeiten. Ich musste es tun, um Lotte zu retten.

Zumindest die grausamen medizinischen Experimente hatten aufgehört, weil der Teufel damit beschäftigt war, seine Schlussfolgerungen aus der Wundbrand-Forschung, die er an diesen armen polnischen Frauen durchgeführt hatte, niederzuschreiben. Annas Atem gefror in ihrer Brust, als die schrillen, herzzerreißenden Schreie der zu Höllenqualen verdammten Gefangenen in ihrem Kopf widerhallten. Mit einem angespannten Kopfschütteln verdrängte sie die Erinnerungen. Es gab nichts, was sie tun konnte.

Zufrieden mit ihrem Aussehen glättete sie ihr bereits perfekt glattes blondes Haar ein letztes Mal und trug leuchtend roten Lippenstift auf. Make-up-Artikel waren heutzutage schwer zu bekommen, aber Doktor Tretters Geld hatte nicht nur für das neue Kostüm gereicht, sondern sogar, um Wimperntusche und einen roten Lippenstift zu kaufen. Den davor hatte sie jahrelang benutzt, bis das letzte bisschen Farbe aufgebraucht gewesen war.

Ursula wird so neidisch sein, dachte sie, bevor sie schauderte und ihre eigene Zurechnungsfähigkeit infrage stellte. Wer um Himmels willen würde eine Frau beneiden, die bei Tag zu einer Gehilfin des Sensenmannes und bei Nacht eine Prostituierte geworden war?

Scham brannte auf ihrem Gesicht und schimmerte blutrot durch den sorgfältig aufgetragenen Puder. Sie schloss für einen Moment die Augen, um Scham und Schuld zu vertreiben. Heute Abend würde sie die schreckliche Wirklichkeit vergessen und die Gelegenheit nutzen, um den Mann kennenzulernen – und zu beeindrucken – den sie bereits bewunderte, seit sie als Kind Frösche und Schnecken seziert hatte: Professor Scherer.

Ein Blick auf den Wecker auf ihrem Nachttisch sagte ihr, dass es höchste Zeit war, die Wohnung zu verlassen. Doktor Tretter würde nicht erfreut sein, wenn sie zu spät kam. Oder vielleicht würde er das. In den letzten Wochen hatte sie schmerzhaft erfahren, dass er es zu genießen schien, wenn sie auch nur die kleinste Verfehlung beging, weil ihm das einen Grund gab, sie zu bestrafen.

---ENDE DER LESEPROBE---