Tödlicher Nachrichten Terror - Frank von d. Hülst - E-Book

Tödlicher Nachrichten Terror E-Book

Frank von d. Hülst

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Beschreibung

Terror in Berlin. Ein Thriller, der alle Gedankengrenzen deutlich erweitert; eine dubiose Wahrheit ist irgendwo verborgen. Die Familie Herzfelde gerät in den Strudel eines Komplotts, dessen Spuren weit in die Zeit des "Kalten Krieges" zurück gehen. Alte Stasiakten tauchen auf und beschreiben die Verbrechen einer westlichen Schattenarmee, deren Kontakte über eine Geheimloge in allerhöchste Kreise der Politik und Wirtschaft reichen. Kriminalkommissarin Többlin ermittelt, Geheimdienstler Schmidts beobachtet. Der krakenhafte Strudel der organisierten Kriminalität entblößt langsam den Schlund eines wahnsinnigen Geheimgurus. "Jeder weiß etwas, aber nicht jeder weiß alles," lautet einer der geheimen Leitsätze innerhalb dieses elitären Vereins. Als Helena Herzfelde und der Fotojournalist Rudi Jowella nacheinander unter mysteriösen Umständen verschwinden, gerät der TV-Autor Kotte Herzfelde in eine tiefe Krise. Warum läuft da auf einmal alles so aus dem Ruder? Plötzlich entdeckt er etwas Sonderbares: Er ist Besitzer von codierten Geheiminformationen, die er kurz vor Helenas Verschwinden von ihr bekommen hat. Sie sagte, ihre Schwester wünsche keine Polizei. Was meinte sie damit? Wer hat was zu verbergen und warum? Wo sind die Verknüpfungspunkte, die das mosaikartige Gesamtbild in den Fokus der Erkenntnis rücken? Langsam aber sicher tritt dann die verblüffende Wahrheit ans Tageslicht. Auch die Instrumentalisierung der Medien, die sogenannte 'Strategie der Spannung', die den Terror als Mittel zum Zweck erkoren hat, wird thematisiert...

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Seitenzahl: 376

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Der Autor,

Frank von d. Hülst, geboren 1966 in Aurich, Ostfriesland, lebt und arbeitet seit 1987 in Berlin.

Impressum

Copyright: © 2013 Frank von der Hülst, Berlin

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-4969-9 (Buchform: 978-3-8442-4198-3)

1. Auflage

Umschlaggestaltung

Die Figuren und Handlungen, auch die Loge Thelema 11, sind frei erfunden. Einige Details der Geschichte entsprechen aber dennoch der Wahrheit.

Montag: 20. September 1999

RZ Terror in Potsdam

Hinter einer mit Efeu bewachsenen Mauer, die die Grenze zwischen den Potsdamer Wohnbezirken und dem Stadtpark 'Neuer Garten' markierte, hockte ein schwarzgekleideter Mann mit einer Motorradmaske über dem Kopf. Sein Name: Nick. Er blickte hinab auf einen Monitor, der per Funk mit mehreren versteckten Kameras verbunden war.

Jede kleinste Bewegung, die auf der anderen Seite der Mauer zu beobachten war, bemerkte er. Fußgänger, die einen Abendspaziergang unter dem Sternenhimmel machten, Autos, die im Schritttempo an den Villen vorbeifuhren, Fahrradfahrer, die ohne Licht unterwegs waren und Tiere, die ihre Reviere kennzeichneten.

Nick wusste, dass er sich auf historischem Boden befand. Er hatte während der Vorbereitungsphase beiläufig auf einer öffentlichen Informationstafel gelesen, dass der Park mit den erhabenen Bauwerken auf Weisung von König Friedrich Wilhelm II. ab dem Jahre 1787 angelegt worden war, derselbe König, der ein Jahr später das Wahrzeichen Berlins, das Brandenburger Tor, in Auftrag gab. Auch das Gebäude, das er mit der dritten Kamera im Visier hatte, wurde im Auftrag des Hochadels errichtet und 1902 von Kaiser Wilhelm II. eingeweiht. Seine Großmutter, Kaiserin Augusta, war die Stifterin der Institution, die dort einzog. Nachdem das Gebäude ursprünglich als Internat für Kriegswaisen gedient hatte, wurde es 1945 von den Alliierten beschlagnahmt und bis 1994 als Hauptquartier des russischen Geheimdienstes, KGB, genutzt. Danach fanden die leerstehenden Räume Verwendung für Ausstellungen unterschiedlicher Künstlergruppen.

„Achtung, die Ameisen nähern sich dem Bau,“ flüsterte Nick durch die winzige Sprechvorrichtung vor seinem Mund.

Direkt neben dem Eingang zum Park, versteckt hinter Büschen und der Mauer, empfing sein Komplize Rudi Jowella die Worte via Kopfhörer. Er hob eine Panzerfaust auf seine Schulter und flüsterte:„God save the bullet.“

Per Knopfdruck wechselte Nick das Kamerabild. Aus der Vogelperspektive konnte er nun die gepflasterte Auffahrt des Grundstücks und den pompösen Haupteingang des Gebäudes mit der breiten Treppe deutlich erkennen. „Die Potsdamer Kunstbanausen präsentieren,“ las er leise auf dem großen Pappschild, nur wenige Schritte vom Eingang entfernt, und plötzlich fuhren sie ins Bild, nacheinander, gemächlich und fast majestätisch, drei dunkle Limousinen; vor der Treppe blieben sie stehen. Ein Mann im dunklen Anzug stieg aus. Er blickte empor zum Balkon mit den vier tragenden Säulen und zog dabei kräftig an seiner grade erst angezündeten Zigarre.

Nick beobachtete, wie er mit zwei Sicherheitsbeamten die Treppe hinaufging und hinter den beiden mittleren Säulen im Gebäude verschwand.

„Achtung,“ flüsterte Nick, „die Vögel sind ausgeflogen. Das erste Nest ist leer.“

Plötzlich zischte es, ein lautes Krachen und die vordere Limousine brannte lichterloh. Die Räume des Erdgeschosses und die der ersten Etage verdunkelten sich. Zwei Personen, nur als Schatten zu erkennen, sprangen aus einem der unteren Fenster heraus und gingen flink hinter den gemauerten Pfeilern am Zaun in Deckung.

Inzwischen hatte Nick den Monitor in die Büsche geworfen und rannte so schnell er konnte; die Phosphormarkierungen an einigen Bäumen zeigten ihm den genauen Fluchtweg. Ein bisschen mehr Training und ein paar Glimmstängel weniger hätten ihm jetzt von Nutzen sein können, dachte er sich, als er keuchend über die Sandwege und Rasenflächen sprintete. Auch Rudi schien leichte Konditionsprobleme zu haben, zumindest machten die hechelnden Atemgeräusche, die Nick via Kopfhörer wahrnahm, den Eindruck. Im Gegensatz zu ihm hatte Rudi jedoch den großen Vorteil, dass sein Weg zum Fluchtwagen deutlich kürzer war.

„Verfluchte Mistkarre!“, hörte Nick seinen Komplizen plötzlich schimpfen, dazu die stotternden Geräusche eines Motors.

„Diese verdammte Scheißkiste springt nicht an!“

„Keine Panik! Unser Zeitfenster ist noch im grünen Bereich.“

Augenblicke später erreichte auch er den Fluchtwagen. Rudi saß schweißgebadet hinter dem Lenkrad und schlug wütend mit beiden Fäusten gegen das Armaturenbrett. Hektisch drehte er erneut den Zündschlüssel herum und stampfte auf das Gaspedal.

„Los! Spring an!“

„Hast du den Choke gezogen?“, fragte Nick und schaltete das umgebaute Autoradio an, um den Funkverkehr des Sicherheitsdienstes mitzuhören.

„Ich hab den Choke schon fast aus dem Motor herausgezogen und trotzdem springt diese beknackte Karre nicht an!“

„Lass uns die Plätze tauschen, schnell!“, keuchte Nick und sprang aus dem Wagen. Er setzte sich hinters Steuer und startete einen erneuten Versuch, dann noch einen und noch einen, vergeblich, der Wagen sprang nicht an. Parallel dazu meldete die rauschende Stimme einer der Sicherheitskräfte aus den Lautsprechern des Radios, dass entfernte Startgeräusche eines Motors im Park zu hören seien.

„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“, fluchte Rudi, „der muss hier schon ganz in der Nähe sein.“

„Locker bleiben,“ meinte Nick beschwichtigend, „wir haben noch unseren Plan B, also los: Kamera und Stativ aus dem Kofferraum raus, Spuren beseitigen und ab durch die Pampa!“

Als Rudi das Benzin aus dem Kanister auf den Sitzen verschüttete, brachte Nick schnell die TV-Ausrüstung etwas Abseits neben einem alten Edelkastanienbaum in Sicherheit.

„Hab kein Feuer! Brauch dein Feuerzeug!“, forderte er. Sekunden später brannte das Auto und beide eilten davon.

„Du Idiot!“, motzte Nick. „Hättest du nicht auch eine Benzinspur ziehen können, anstatt meinen goldenen Flammenwerfer in den Wagen zu schmeißen!?“

„Sorry!“ , schnaufte Rudi, „ich besorge dir ein Neues!“

***

Auf der Terrasse eines Mehrfamilienhauses, dessen Seiten mit einer hohen Hecke begrenzt waren, saß Kotte Herzfelde und las Zeitung. Schon während seiner frühen Schulzeit war aus dem Namen Konstantin die Kurzform Kotte geworden. Zuerst waren es zwei Freunde aus der Nachbarschaft, die ihn so nannten, später auch die Klassenkameraden, seine Grundschullehrerin und sogar seine eigene Mutter. Nur sein Vater, der den gleichen Vornamen trug, blieb beharrlich; gehörte er doch seit drei Generationen zur Familiengeschichte dazu. Traditionell wurde der Name Konstantin an den Erstgeborenen weitergeben. Einen Namen, den Kotte nicht so sehr mochte und daher zum großen Ärgernis seines Vaters damit brach; nicht nur bezogen auf seinen eigenen Vornamen, sondern besonders auch auf den seines Sohnes, den er Karlos nannte. Ihn so zu nennen, beruhte auf einer spontanen Entscheidung, die in der Geburtsstunde fiel: Er hörte auf dem Weg zur Klinik ein Stück des gleichnamigen Musikers Carlos Santana; es schallte mitten in der Nacht von einem buntbemalten Balkon herunter.

Kotte war 40 Jahre alt, und er hatte bis zu seiner Erwerbslosigkeit als Journalist in Kriegs- und Krisengebieten gearbeitet. Ein Burnout-Syndrom aus einem schweren Trauma herrührend, zwang ihn dazu seinen Job aufzugeben. Während er die Zeitung in aller Ruhe Seite für Seite studierte, war von seinem Kopf nur seine dunkelblonde Haarpracht zu sehen, die am oberen Rand herausquoll. Hinter ihm, auf der großen Wiese am Ufer des Sees, spielten seine beiden Kinder. Karlos war zehn Jahre alt und seine Schwester Marie sechs. Sie warfen flache Steine ins Wasser und wetteiferten um die meisten Steinhüpfer, wie Karlos sie nannte. Drei Sprünge über die Wasseroberfläche waren gut, vier sehr gut und fünf sein Rekord.

Helena, Kottes Ehefrau, öffnete die Terrassentür und kam mit zwei Kannen heraus, die sie auf den Tisch stellte.

„Marie und Karlos!“, rief sie und winkte den beiden Kindern zu. Sie kamen sofort herbeigeeilt und setzten sich an den Frühstückstisch, Marie neben Kotte und Karlos ihr direkt gegenüber.

„Sooo, und nun gibt es erst mal einen leckeren Kakao für meine beiden kleinen durstigen Raubkatzen,“ sagte Helena und reichte den beiden jeweils eine Tasse entgegen.

„Guck mal, ich hab ein Hi-Männchen auf meinem Brot,“ sagte Marie fröhlich und grinste ihren Bruder an. Karlos, frech wie er oft war, nahm die Ketchup-Tube und klatschte eine Portion auf das Lachgesicht der Brotscheibe.

„Du meinst wohl ein Matsch-Männchen.“

„Du Schwein! Na warte!“, schrie Marie und klatschte ihrem Bruder einen Löffel Marmelade auf sein Erdnussbutterbrot; ein Tropfen spritzte dabei so hoch, dass dieser an seiner Nase haften blieb.

„Karlos hat eine rote Warze, auf der Nase,“ lästerte Marie.

„Schluss jetzt!“, tönte es hinter der Zeitung hervor. „Esst euer Brot auf und dann ab mit euch in die Schule!“

„Wir müssen sowieso erst um 11.00 Uhr da sein, heute ist doch Schulfest.“

Kotte blickte leicht gereizt über den Rand der Zeitung zu seinem Sohn hinüber; beide hatten die gleiche Haarfarbe, aber unterschiedliche Längen. Bei Karlos waren sie bereits weit über die Schulter gewachsen, bei Kotte nicht; auch die spitze Stupsnase hatte der Sohn vom Vater geerbt. Marie hingegen entsprach äußerlich eher ihrer Mutter. Abgesehen von Helenas roter Löwenmähne, die gefärbt war, hatten beide die gleichen leuchtend grünen Augen und die gleiche Kinnpartie.

„So, so, um 11.00 Uhr müsst ihr erst in der Schule sein. Na gut, dann bitte in Ruhe aufessen und los gehts! Ich will hier keinen unnötigen Heckmeck am frühen Morgen haben. Klaro?“

„Ja,“ sagte Karlos leise.

„Bei dir auch, Marie?“

„Er hat aber angefangen!“

„Kein aber! Ihr werdet jetzt einen Friedensvertrag schließen und dann ab mit euch in die Schule.“

Kaum hatte Kotte sein Machtwort gesprochen, läutete es an der Tür.

„Ich geh schon,“ sagte er und verschwand hinter der Flügeltür. Marie folgte ihm.

An der Haustür stellte sich heraus, dass es der Gerichtsvollzieher war. Den hatte er völlig vergessen. Eine schriftliche Anmeldung hatte es zwar gegeben, doch irgendwie war dieser Termin im Chaos des vorangegangenen Wochenendes untergegangen. Völlig unvorbereitet ließ er den Gerichtsvollzieher in die Wohnung, gezwungenermaßen, und schleuste ihn zum Wohnzimmer hin. Gut wäre es gewesen, wenn er vorher noch einige Wertgegenstände in Sicherheit gebracht hätte, die neuwertige Stereoanlage zum Beispiel. Nun war es zu spät. Der Zahleneintreiber, wie Kotte ihn nannte, hatte bereits die Privatsphäre betreten und mit Argusaugen die Umgebung inspiziert. Bedächtig setzte er sich auf die dunkle Ledercouch.

„Ich bekomme 27.800 D-Mark von ihnen. Können sie diese Summe jetzt bezahlen?“

Er schüttelte seinen Kopf. Etwas widerwillig, zumindest machte es den Eindruck, kramte der Gerichtsvollzieher einige Formulare und 'Kuckuck-Aufkleber' aus seiner braunen Aktentasche hervor, die er auf dem ovalen Wohnzimmertisch ausbreitete. Er wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von seiner Halbglatze.

„Ich weiß, mein Erscheinen wird sie sicherlich nicht unbedingt erfreuen, aber Job ist nun mal Job, wenn sie verstehen, was ich meine.“

„Schon klar,“ antwortete Kotte und furzte ungebremst in den neuen Ledersessel.

„Heutzutage kann man sich seine Arbeit nicht mehr aussuchen, die Zeiten sind endgültig vorbei.“

„Wem sagen sie das?“

„Aber seien sie sich sicher, sie sind nicht die Einzigen. Gerade in letzter Zeit hat es eine Zunahme von über 30 Prozent gegeben. Von A wie Anwaltskanzlei bis Z wie Zahnarztpraxis war alles dabei. Vor Insolvenz und Arbeitslosigkeit ist eben heutzutage fast niemand mehr sicher.“

„Na, da können sie ja froh sein, dass es solche Menschen wie mich gibt,“ meinte Kotte. „Denn unser Leid, ist ihr Brot.“

„So drastisch würde ich das jetzt nicht unbedingt ausdrücken wollen“, erwiderte er und öffnete den obersten Knopf seines Hawaii-Hemdes.

Für einen kurzen Augenblick schien es Kotte so, als ob er über den tieferen Sinn seines Handelns nachdenken würde. Vielleicht, so hoffte er, würde dieser Mensch jetzt einfach aufstehen, Fünfe gerade sein lassen und verschwinden, einfach so. Natürlich, es war nur ein Gedanke, nichts weiter als ein Wunschgedanke, bei dem es auch bleiben würde, wie sich dann herausstellte. Seinem autorisierten Routineauftrag folgend, fischte er beiläufig einen silbernen Kugelschreiber aus der Innentasche seiner schwarzen Lederjacke und beugte sich über die Formulare.

„Ich bräuchte ihren vollständigen Namen, Geburtsdatum und ihre Berufsbezeichnung.“

Der Augenblick einer bitteren Wahrheit war gekommen. Kotte stand auf, machte zwei große Schritte und öffnete die Tür des antiken Wohnzimmerschranks.

„Wollen sie auch einen Schnaps, Herr..., wie war noch mal ihr Name?“

„Röst,“ antwortete der Gerichtsvollzieher. „Nein danke! Kein Alkohol bitte, ich bin im Dienst. Wenn es ihnen keine Umstände macht, dann bitte ein Glas kaltes Leitungswasser.“

Kotte ging zur Wohnzimmertür.

„Marie!“ , rief er hinaus.

„Jaha,“ ertönte es leise unter dem Wohnzimmertisch. „Ach, da bist du.“

Sie kroch unter dem Tisch hervor und zog dabei ihr kleines Katzenbaby, dass sie in einen roten Wollpullover eingehüllt hatte, auf dem hellen Flokati hinter sich her.„Der Onkel möchte gerne Wasser trinken. Sei doch bitte so nett und hol eine Flasche aus dem Keller, ja? Du weißt ja, wo sie stehen.“

„Ja, weiß ich,“ murmelte Marie und schlenderte mit der Katze im Schlepp aus dem Zimmer.

Im Korridor, bei der alten Kommode angekommen, platzierte sie ihr Katzenbaby darunter. Im Spiegel darüber imitierte sie ihren Vater, der auf einem der gerahmten Fotos zu erkennen war; sie streckte ihre Zunge heraus. Kotte hielt zusammen mit zwei Soldaten und dem Kameramann, seinem Schulfreund Rudi Jowella, ein Maschinengewehr hoch, aus dessen Lauf eine Blume ragte. Begeistert von der ungewohnten Mimik ihres Vaters, tänzelte Marie weiter in Richtung Kellertür.

***

Der Raum war schmutzig und düster, fast quadratisch, ziemlich klein und hatte keine Fenster. Rudi Jowella saß an einem Tisch, die Lichtverhältnisse schwach und diffus. Er hatte sich wieder eine schwarze Motorradmaske über den Kopf gezogen und um die Augen zu verdecken, eine runde Sonnenbrille mit blauen Gläsern aufgesetzt. An seiner schwarzen Militärjacke, genau an der Stelle, die eigentlich für den Namen vorgesehen war, baumelte ein selbstgebastelter Orden: die Anarchistenauszeichnung in Rot.

Hinter ihm an der Wand hing ein großes Plakat. Darauf deutlich zu erkennen das Logo der 'Revolutionären Zellen': ein großer roter fünfzackiger Stern, darin die beiden Buchstaben RZ. Rudi hob behäbig seinen Kopf und fing an zu reden:

„Was die imperialistischen Abzocker und neoliberalen Politiker über die korrumpierten Mainstream Medien verbreiten, ist nicht das, was wir Menschen denken, sondern was wir denken sollen. Zu behaupten, dass das monopolyhafte Faschistenspiel, genannt Globalisierung, gut sei, bedeutet auch eine Tolerierung der Ausbeutung und Massenverelendung großer Bevölkerungsschichten und die zunehmende Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlage: der Natur. Diese Form der Tolerierung dürfen wir nicht tolerieren! Daher fordern wir den sofortigen Stopp des Turbo-Kapitalismus, die öffentliche Kontrolle und Regelung aller Private Equity Unternehmungen, die Abschaffung der Zinseszinsen, die sofortige Einstellung von Leerverkäufen und außerdem die Enteignung aller asozialen Hedge-Fond-Gewinne.“

Dann sprang Rudi auf. Er griff nach einem Buschmesser, das vor ihm auf dem Tisch lag und hielt es zu einer Drohgebärde hoch.

„Ferner fordern wir...“

„Stopp!“, rief plötzlich eine zweite Stimme, die Stimme seines Komplizen Nick. Er stand hinter einer professionellen Beta SP TV Kamera und hatte Rudi in der Halbnahe im Sucher.

„Irgendwie sieht die ganze Sache noch nicht echt genug aus. Wenn wir nicht als unterbelichtete Hobbyanarchisten auffliegen wollen, sollten wir die Geschichte mit dem Messer doch lieber weglassen,“ sagte er. „Es sieht einfach viel zu gekünstelt aus und irgendwie auch völlig bescheuert.“

„Wenn du meinst, dass ich bescheuert wirke, dann mach es doch selber!“, schrie Rudi und riss sich die Motorradmaske vom Kopf, so dass seine wilde Mähne zum Vorschein kam. Seine dunklen Haare standen nach allen Seiten hin ab; sie waren etwas lockig und an der Stirn auch schon leicht schütter.

„Ich hab keine Lust mehr! Wir haben diesen ganzen Scheiß bestimmt jetzt schon vierzig oder fünfzig mal aufgenommen. Mal mit Motorradmaske, mal mit der Maske eines Clowns, mal mit Sonnenbrille, mal ohne und jetzt hab ich die Schnauze voll vom Experimentieren. Es reicht! Jetzt kommst du dran! Ich bin Kameramann und kein unterbelichteter Bewusstlosquatscher!“

Nach seiner Ausbildung als Fotograf hatte Rudi zunächst als Fotojournalist in Lateinamerika und im Irak gearbeitet. Ein paar Jahre später dann auch als Kameramann; den Umgang mit professionellen TV Kameras hatte er sich selber beigebracht. Da ihm sein Job allerdings schon mit Anfang dreißig so ziemlich auf die Nerven gegangen war, hatte er sich eine Frist gesetzt: Exakt für das Datum seines fünfunddreißigsten Geburtstags hatte er geplant, in ein Flugzeug zu steigen und seinen Job als Kameramann in Kriegsgebieten für immer an den Nagel zu hängen; und genauso hatte er es dann auch durchgezogen:

Kurze Abschiedsparty im Hotel mit den Kollegen vom Fernsehen und anschließend sofort mit dem Auto zum nächsten Flughafen hin. Der Abflug begann mit einer zweimotorigen Cessna über die Steppe, fast einen ganzen Tag lang, danach Airport Casablanca und schließlich Flughafen Berlin Tegel. Ganze drei Jahre hatte er es sich dann ziemlich gut gehen lassen in Berlin, besonders in den Kneipen und Restaurants rund um den Mauerpark im Stadtteil Prenzlauer Berg. Bis sich seine persönliche Finanzkrise allmählich ankündigte, und er Nick kennenlernte, war jeder Tag ein Feiertag.

Obwohl sein ehemaliger Arbeitskollege und Schulfreund Kotte Herzfelde in der selben Stadt wohnte wie er selber, sahen sie sich nur alle paar Monate auf ein Bier im Schwarzen Café in der Kantstraße. Die gemeinsamen Erlebnisse in Afrika wurden bei diesen Treffen aus einem bestimmten Grund kategorisch ausgeblendet, stattdessen wurde philosophiert und Schach gespielt. Rudi fragte sich oft, ob Kotte wohl sein schweres Trauma überwunden hatte, oder ob er es immer noch erfolgreich überspielte?

***

Die Helligkeit des Mondes sorgte dafür, dass die Umrisse der Möbel im Schlafzimmer gut zu erkennen waren. Kotte lag wach neben Helena im gemeinsamen Ehebett und starrte aus dem Fenster auf die türkisfarbenen Punkte des tief dunklen Nachthimmels. Es sah alles so anheimelnd friedlich aus. Natürlich wusste er, dass dieser Schein trügte. In Wirklichkeit herrschte dort draußen ein eisiger Kampf. In jede beliebige Richtung so weit die technischen Möglichkeiten des Menschen reichten, und sie reichten immerhin viele Millionen Lichtjahre, nichts, aber auch gar nichts, was auf menschenähnliche Intelligenz hindeuten könnte, nur lebensfeindliche Umgebungen. Spekulationen gab es zwar viele, aber eben keine echten Beweise. Wie lächerlich klein wirkte angesichts dieser unvorstellbaren Größe doch das ganze menschliche Getue um Geld und Ansehen? Dachte sich Kotte und nahm ein Schlückchen aus seinem Weinglas.

Auch Helena hatte ein Weinglas auf ihrem Nachttisch stehen. Wenngleich sie eigentlich nur an bestimmten Feiertagen oder Geburtstagen Alkohol trank, hatte sie sich an diesem Abend spontan dazu entschlossen, sich zusammen mit Kotte zu betrinken. Fast zwei Flaschen Wein und einige Gläser Absinth waren innerhalb weniger Stunden geleert worden. Während des laufenden Fernsehprogramms hatte sie sich schwankend einen gelben Plastikeimer neben ihr Bett gestellt und meinte, schon stark lallend, dass der Eimer nur für den Fall der Fälle sei. Kaum hatte sie sich wieder zugedeckt und den Bildschirm mit dem grade angefangenen Spielfilm wieder im Fokus gehabt, fielen ihr auch schon die Augen zu. Sie schnarchte leise und friedlich ihren Alkoholrausch aus. Helena war 37 Jahre alt und schlank. Sie war seit knapp 10 Jahren mit Kotte verheiratet, kannte ihn aber schon annähernd zwei Jahre länger. Damals hatte sie ihn angesprochen, an einer Bushaltestelle in Kreuzberg, Mehringdamm Ecke Yorkstraße. Sie hatte sich damals in einem Antiquariat grade ein Buch über Rennpferde in französischer Sprache gekauft. Ihre Schulkenntnisse reichten aber nicht mehr aus, um wirklich alle Wörter exakt verstehen zu können. Daher fragte sie Kotte, der zufälligerweise an der Bushaltestelle neben ihr stand, ob er französisch könne.

„Ja, mindestens genauso gut wie du,“ antwortete Kotte und hielt sich den Bauch fest vor Lachen. Sein Lachen war dermaßen ansteckend gewesen, dass sie irgendwann einfach mitlachte, auch wenn es ihr im ersten Augenblick eher peinlich war. Dieses schräge Lachen hatte einfach irgendwie einen Klick bei ihr ausgelöst. Anschließend verabredeten sie sich miteinander und alles entwickelte sich so, wie es kommen musste: Sie wurden ein Paar.

Während Kotte noch immer aus dem Fenster blickte und das Himmelsfirmament auf sich wirken ließ, rauschte im Hintergrund der Fernseher, das TV Programm war bereits zu Ende. Plötzlich kristallisierte sich aus dem Rauschen undeutliches Gemurmel hervor. Es riss ihn aus seiner Gedankenwelt heraus.

„Nein..., nicht... nein, bitte nicht...“

Kotte sah, dass Helena einen unruhigen Schlaf hatte. Als dieser an Intensität zunahm, schaltete er die Nachttischlampe an. Mit schweißnassen Haaren wälzte sie sich auf ihrem Kopfkissen hin und her.

„Alles wird wieder gut“, flüsterte Kotte und streichelte behutsam ihr Gesicht. Allmählich öffnete sie ihre Augen. Tränen liefen aus ihren Augenwinkeln heraus und versickerten im Kopfkissen.

„Ich habe einen richtig miesen Traum gehabt,“ schluchzte sie. „Ich habe davon geträumt, dass die Polizei unsere Kinder wegnimmt.“ Helena hielt kurz inne und kämpfte gegen die Tränenflut an. „Am Ende kam dann so ein Typ auf mich zu und klatschte mir einen von diesen runden Aufklebern an die Stirn.“ Helena deutete auf den antiken Spiegelschrank, genau dorthin, wo der Gerichtsvollzieher seine Spuren hinterlassen hatte. „Und weißt du, was dieser Scheißkerl meinte? Er meinte, wer nicht zahlen könne, müsse sterben oder die Schuld in der Hölle abarbeiten.“

Helena fing bitterlich an zu weinen. Kotte umarmte sie, und hielt sie fest in seinen Armen.

„Wir haben uns als sehr gutes Team und zusammen sind wir stark. Irgendwie werden wir da schon wieder raus kommen,“ flüsterte er.

„Wie schlimm ist es eigentlich wirklich?“

„Lass uns morgen darüber sprechen, ja?“

„Lieber jetzt!“

„Gut, wenn du es unbedingt wissen willst: Möglicherweise ist es fast so schlimm, wie dein Alptraum. Wir stehen kurz vor einer Zwangsversteigerung.“ Stille. Nur die Atmung und das leise Ticken eines Weckers waren zu hören. „Aber ich habe schon einen Plan,“ fügte er nach einer längeren Denkpause hinzu.

„Was für einen Plan?“

„Als du mit den Kindern im Badezimmer warst, habe ich meinen alten Kumpel Rudi angerufen und ein Treffen mit ihm vereinbart, und vielleicht kann er mir einen Job besorgen.“

„Rudi?!“, entfuhr es Helena. „Ich denke der sitzt wegen Steuerhinterziehung in Untersuchungshaft und ist völlig pleite?“

„Dachte ich auch, stimmt aber nicht! Dieser Halunke hat doch tatsächlich mit einem Kompagnon eine neue Firma gegründet.“

„Wie bitte?“

„Ja wirklich, ohne Scheiß jetzt. Dieser Mann ist einfach nicht unterzukriegen, der hat richtig Power. Ich denke, ich werde morgen mal bei ihm reinschauen und guten Tag sagen. Du kannst ja mitkommen, wenn du willst?“

***

BKA Büro, Zweigstelle Berlin

Die beiden Beamten, Kriminaloberkommissarin Marion Töpplin, Mitarbeiterin des Bundeskriminalamtes Abteilung SG-U2 und Rainer Schmidts, Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, saßen in einem abgedunkelten Konferenzraum und schauten gespannt auf die Mattscheibe eines Fernsehgerätes. Als Vertreter ihrer jeweiligen Behörde studierten sie grade die neusten Schreckensmeldungen gesuchter Terroristen, die in den vorangegangenen Tagen über sämtliche Fernsehanstalten verbreitet worden waren. Ihr Tagesprogramm: Informationen auswerten und austauschen.

Eine brennende Limousine vor dem Gebäude der Kaiserin Augusta Stiftung in Potsdam, einige Löschfahrzeuge der Feuerwehr, Polizeiautos und zahlreiche absichernde Polizeibeamte flimmerten als Bericht einer Nachrichtensendung über den Bildschirm. Kurz vor dem Ende der Aufzeichnung erhob sich Rainer Schmidts von seinem Platz und schlich sich auf Zehenspitzen zum Videorekorder hin. Er drückte auf die Stopptaste, als die Nachrichtensprecherin ins Bild kam.„Soweit die neuesten Meldungen,“ sagte er und schob eine zweite Videokassette ins Fach.

„Nun zu den Bekennern dieses Terrorattentats.“

Mit verzerrter Stimme, schwarzer Motorradmaske und Sonnenbrille, erschien Nick auf dem Bildschirm. Er sagte: „Der Anschlag auf den Generalbundesanwalt war eine Aktion der Revolutionären Zellen.“ Der Bildausschnitt wackelte etwas, die Kamera zoomte näher an seinen Kopf heran; er nahm einen Schluck Wasser und fuhr fort:

„Da die herrschende Sichtweise nicht die Sichtweise der Beherrschten ist, ist das Einzige was zählt der Widerstand, heute, morgen und übermorgen, wenn nötig bis zum letzten Atemzug. Wir werden nicht eher ruhen, bis die imperialistischen Ausbeuter und ihre Helfershelfer die menschenverachtenden Umtriebe eingestellt haben. Denn wir sind das Volk und wir wollen, dass unsere Enkel und Urenkel noch saubere Luft zum Atmen haben und lebendige Meere, die nicht verdreckt und verseucht worden sind. Daher fordern wir den sofortigen Stopp des imperialen Ausbeutergeistes, die staatliche Kontrolle aller Private Equity Unternehmungen, die Abschaffung der Zinseszinsen, ein Verbot für Leerverkäufe und die Enteignung aller asozialen Hedge-Fond-Gewinne. Außerdem fordern wir, dass an jedem dritten Samstag im Monat, eine Million D-Mark in kleinen Scheinen über noch zu bestimmende Städte und Dörfer aus dem Flugzeug heraus verstreut werden.“

Schmidts drückte erneut die Stopptaste und eilte im Halbdunkeln um die im Zentrum des Zimmers aneinandergestellten Tische herum.

„Anarchie, jetzt oder nie“, spottete er und drehte einen Schalter um. Ein knackendes Geräusch ertönte und die Außenjalousien fingen an sich langsam nach oben zu bewegen.

„Ach ja, bevor ich es vergesse,“ fuhr er fort, „das Bekennervideo ist nicht bei Reuters eingegangen, wie es ein Kollege von ihnen fälschlicherweise behauptet hatte, sondern bei der dpa.“

Többlin, tief in Gedanken versunken, presste den Kaffeebecher gegen ihr Kinn, so dass ihre brünetten, langen Haare das Gesicht zum Teil verdeckten. Marion Töpplin war 35 Jahre alt, und sie hatte sich auf eigenen Wunsch hin von Wiesbaden zur BKA Zweigstelle Berlin versetzen lassen. Als Teil der Sonderkommission „Yedi“ ermittelte sie im Fall der neusten Terroranschläge der 'Revolutionären Zellen' in Berlin und Potsdam.

„Clever sind diese Spinner ja, dass muss man ihnen lassen,“ murmelte sie. „Dass sie wöchentlich eine Millionen D-Mark verteilen wollen, hätte ihnen bestimmt einige Sympathiepunkte im Volk eingespielt, wenn die dpa das Bekennervideo den Fernsehanstalten verkauft hätte und diese gequirlte Scheiße vollständig ausgestrahlt worden wäre. Selbst als Standbild-Version mit gekürztem Off-Ton ist es eigentlich fast noch zu viel.“

„Noch cleverer finde ich allerdings,“ meinte Schmidts, „dass sie zwei Millionen, die nicht in dieser Videobotschaft auftauchen, für sich selber fordern. So etwas nenne ich Top-Management!“

Töpplin erhob sich und schlenderte zur Kaffeemaschine hin, die auf dem Kühlschrank neben der Tür stand.„Wollen sie auch noch eine Tasse?“

Schmidts fuhr sich mit der flachen Hand über seinen graublonden Haarmecki, kniff ein Auge zu und antwortete:

„Danke nein, hab mir heute schon genug Kaffeedröhnung reingepfiffen.“

Töpplin goss sich die Tasse fast bis zum Rand voll und setzte sich wieder an den Tisch.

„Gut, die Videos haben wir jetzt gesehen,“ fuhr Schmidts fort. „Was haben die Ergebnisse der Spurensicherung am Tatort ergeben?“

***

Die Glocken der Apostel-Paulus-Kirche in Berlin Schöneberg hatten grade begonnen zu läuten, als Helena durch die angrenzende Akazienstraße fuhr. Parkende Autos waren längs der Fahrbahn auf beiden Seiten dicht zusammengepfercht, kein Parkplatz in Aussicht. Kotte saß auf dem Beifahrersitz und las den Kleinanzeigenteil einer Tageszeitung. Nach der fünften Runde ums Karree fand sie endlich eine passende Parklücke und setzte den Wagen, einen alten R4 Kombi, rückwärts hinein.

„Wurde auch Zeit,“ murmelte Kotte.

„Verarschen kann ich mich selber,“ zischte Helena und legte ihre Brille zurück ins Etui. „Hätten wir die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt, wie ich es vorgeschlagen hatte, hätten wir wahrscheinlich viel Zeit sparen können.“

Kotte knurrte leise. Sie zupfte ihre abstehende rote Löwenmähne im Spiegel zurecht und schien auf eine Äußerung zu warten. Doch er schwieg. Er faltete die Zeitung zusammen und überlegte sich, ob er den provozierenden Gedanken aussprechen sollte oder nicht. Aber nein, ein Streit, nur wegen so einer blöden Lappalie, wollte er auf gar keinen Fall auslösen, nicht jetzt, später in der Badewanne, vielleicht.

„Was grinst du denn so blöd?“, fragte Helena.

„Ach, ich musste grade an kaltes Wasser denken.“

„Ich glaub, du lachst über mich!?“

„Nein! Was denkst du dir da für einen ungetrennten Müll zusammen? Ich musste grade an etwas Lustiges denken,“ sagte er und öffnete die Tür. Plötzlich ein dumpfer, lauter Knall in unmittelbarer Nähe, Kotte und Helena zuckten zusammen.

***

BKA-Beamtin Többlin hatte einem Aktenordner mehrere Fotos entnommen, und sie in Reihe und Glied an die Pinnwand geheftet. Konzentriert und sachlich referierte sie dazu die ersten Ermittlungsergebnisse: „Gefunden wurden: eine Panzerfaust russischer Herkunft, ein ausgebranntes Autowrack, ein goldenes Feuerzeug mit den Initialen N.K., Phosphorspuren an einigen Bäumen, Fußabdrücke von zwei Personen, ein Monitor, sowie drei kleine Kameras. Eine davon hing an einem Baum, beziehungsweise sie war in einem Vogelhäuschen versteckt.“

„Verstehe,“ nuschelte Rainer Schmidts. „Demnach haben wir es auch hier, wie bei den vorangegangenen Anschlägen auch, wieder einmal mit einer Zweiergruppe zu tun, die als Aktivisten unterwegs waren. Was ist mit Fingerabdrücken oder DNA-Spuren?“

„Negativ. Es sind weder am Tatort, noch an den Videokassetten Spuren entdeckt worden.“

„Was ist mit dem ausgebrannten Wagen? Konnte der Halter ermittelt werden?“

„Also diese Geschichte ist nun wirklich sehr makaber.“ „Wieso makaber?“

„Vorweg muss ich dazu sagen, dass das Fahrzeug als gestohlen gemeldet worden war und der Halter ermittelt werden konnte. Das makabere hierbei ist,“ fuhr Töpplin fort, „dass es sich bei diesem Fahrzeug um einen Leichenwagen gehandelt hat.“

„Wie bitte?“

„Ja, sie haben richtig gehört: ein Leichenwagen. Offensichtlich haben die Terroristen einen Leichenwagen in Schwerin gestohlen, um hier in Berlin die Panzerfaust unauffälliger in einem Sarg transportieren zu können. Doch damit nicht genug.“

„Nicht genug?“, hakte Schmidts erstaunt nach. „Was denn noch?“

„Sie erinnern sich doch bestimmt noch an den Fall 'Grufti' vor drei oder vier Monaten. Ging seinerzeit tagelang durch alle Medien.“

„Grufti? Ja, so halbwegs. Sie wollen doch jetzt nicht etwa sagen wollen, dass die Terroristen...“

„Doch!“, meinte Töpplin, „die Terroristen sind mit großer Wahrscheinlichkeit die vermeintlichen Grufties. Nachdem die Diebe unterwegs festgestellt hatten, dass der Sarg in dem gestohlenen Leichenwagen besetzt war, erlaubten sie sich einen höchst makaberen Scherz und banden die Leiche an der Eingangstür der Staatskanzlei in Schwerin fest.“

„Oh ja, jetzt erinnere ich mich genau. Das war wirklich ziemlich makaber. Wenn ich mich richtig entsinne, hatte dieser Tote auch noch ein Schild um den Hals gebunden mit der Worten: 'Liebe Freunde, leider geht es mir nicht so gut.'“

„Ganz genau! Aber leider auch hier, keine brauchbaren Spuren.“

„Na ja,“ entgegnete Schmidts, „auf jeden Fall wissen wir jetzt, dass es keine normalen Grufties waren, sondern eine Gruppe der 'Revolutionären Zellen'.“

„Stimmt. Einen Schritt sind wir durch diese Erkenntnis zwar weiter gekommen, aber leider eben nur einen kleinen. Früher ging alles mal wesentlich schneller. Da hatten die Terroristen wenigstens noch ihren Fingerabdruck als Beleg auf den Bekennerschreiben hinterlassen.“

„Sie meinen doch wohl nicht etwa die Anfänge der 'Roten Armee Fraktion'?“

„Doch die meine ich.“

„Da vergleichen sie aber Äpfel mit Birnen. Diese beiden Terrorgruppen hatten eine völlig andere Organisationsstruktur. Neben der dezentralen Strukturierung der 'Revolutionären Zellen' war der größte Unterschied zur RAF die Anonymität. Während die Mitglieder der RAF im Untergrund lebten und steckbrieflich gesucht wurden, konnten die Aktivisten der RZ am legalen Leben teilnehmen.“

„Das ist mir bekannt,“ sagte Többlin. „Deswegen hat man die Mitglieder der 'Revolutionären Zellen' ja auch öfter mal als Feierabendterroristen bezeichnet. Bekannt ist übrigens auch, dass die RZ im Gegensatz zur RAF die Liquidierung von Menschen kategorisch ablehnten.“ „Diese Aussage würde ich so nicht unterschreiben wollen. Denken sie an die Opec-Geiselnahme in Wien im Jahre 1975, wo mehrere Menschen kaltblütig ermordet worden sind.“

„Richtig, aber richtig ist auch, dass es innerhalb der RZ mehrere Strömungen gegeben hat, nationale und eben auch ein internationaler, und ich habe grade von den Hauptströmungen der RZ gesprochen.“

„Wenn sie alles so genau wissen, warum machen sie überhaupt den Vergleich mit der RAF?“

„Auch deswegen, weil einige RAF-Mitglieder während ihrer aktiven Zeit offensichtlich irgendwann bei der RZ in die Lehre gegangen sein müssen.“

„Wie meinen sie denn das?“

„Ich meine es bezogen auf die Anschläge der sogenannten dritten Generation. Nach über zehn Jahren intensivster Ermittlungsarbeit ist es den zuständigen Kollegen bisher noch nicht gelungen die Täter zu ermitteln, geschweige denn die Mörder festzunehmen, fast keine Spuren, wenige greifbare Hinweise und Beweise schon gar nicht. Beispielsweise sind eigentlich weder der Fall Herrhausen, noch der Fall Rohwedder wirklich geklärt worden und auch die Fälle der zweiten Generation, wie Buback, Ponto und Schleyer, geben noch einige Rätsel auf. Mit anderen Worten: Die Mörder leben hier wahrscheinlich noch irgendwo unerkannt unter uns, trinken jeden morgen in aller Gemütlichkeit ihren Kaffee und lächeln über die dilettantische Arbeit der Polizei und der Geheimdienste. Diese Mörder müssen sich als kleine Götter fühlen. Sie schlagen plötzlich zu, tauchen wieder ab und gehen wahrscheinlich ihrem täglichen Broterwerb nach. Vielleicht arbeiten sie als Bank- oder Postangestellte, vielleicht aber auch als Arzt oder Professor. Sie machen einfach, was sie wollen, töten hochprofessionell und verschwinden spurlos.“

„Als dilettantisch würde ich die Arbeit des Verfassungsschutzes und der Polizei nicht beschreiben wollen,“ meinte Rainer Schmidts. „Immerhin werden über 90 Prozent aller Morde hierzulande aufgeklärt. In welchem Land ist das schon der Fall?“

„Trotzdem, das Einzige, was wirklich feststeht, ist, dass die RAF teilweise ihre Strategie im Stile der RZ geändert hat, und die dritte Generation wenigstens zu einem gewissen Teil aus hochqualifizierten Waffen- und Technikspezialisten bestehen muss.“

„Ich würde jetzt dennoch nicht soweit ausholen wollen. Wir sollten uns auf den hiesigen Fall konzentrieren und den Terror der RAF außen vor lassen. Auch die Gruppierungen der 'Revolutionären Zellen' haben Entwicklungen hinter sich.“

„Darf ich ihnen mal eine etwas persönlichere Frage zum Thema stellen?“

„Nur zu.“

„Wie lange arbeiten sie eigentlich schon als Terrorismusexperte beim Bundesamt für Verfassungs-schutz?“

„Fast fünfzehn Jahre,“ antwortete Rainer Schmidts. „Warum fragen sie?“

„Ganz einfach, finden sie es nicht auch etwas merkwürdig, dass sich die RZ nach so langer Zeit wieder meldet? Bis vor wenigen Monaten hatte ich nämlich gedacht, dass sie sich im Jahre 1993 aufgelöst hätten.“ „Das ist zwar richtig, aber Terroristen, egal wie sie ihre Gruppe auch selber nennen mögen, handeln nun mal nicht immer logisch und folgerichtig.“

„Wohl wahr. Bestes Beispiel hierfür dürften da wohl die Stammheimer RAF-Terroristen der ersten Generation im Jahre 1977 sein. Anstatt mit den in die Knastzellen hineingeschmuggelten Waffen Geiseln zu nehmen und den Sprengstoff strategisch wirksam einzusetzen, haben sie sich selber umgebracht und verzichteten auf die böse Überraschung mit dem großen Knall. Eine einzige Sprengstoffexplosion hätte höchstwahrscheinlich ausgereicht und jeder der zuständigen Polizeibeamten hätte ihnen jede Attrappe als echte Bombe abkaufen müssen.“

„Wie gesagt: Soweit würde ich jetzt gar nicht ausholen wollen. Nehmen wir ein jüngeres Beispiel: Den vereitelten Sprengstoffanschlag der RZ auf die Berliner Siegessäule im Januar 1991. War dieses Ziel logisch?“ „Na ja, vielleicht dachten die Attentäter ja, dass die Goldelse tatsächlich aus purem Gold ist?“

„Sehr witzig“, sagte Schmidts und drehte Töpplin den Rücken zu. Er ging zur Pinnwand und betrachtete die Fotografien einzeln nacheinander. Währenddessen fuhr er sich mit seinem linken Zeigefinger über das Nasenbein und klopfte sich an die Stirn; eine Gewohnheit, die er immer dann zu tun pflegte, wenn er nicht weiter wusste und angestrengt nachdachte.

Schmidts war 45 Jahre alt, hatte kurze graublonde Haare und wirkte sehr sportlich. Hundert Liegestütze in der Horizontalen vom Stuhl oder Heizkörper abwärts waren für ihn kein Problem; Hundertzweiundzwanzig waren sein Rekord.

„Na gut,“ sagte Rainer Schmidts schließlich, „als Nächstes bräuchten wir wohl dringend das ungeschnittene Videomaterial über den Terroranschlag in Potsdam. Vielleicht hat der Kameramann unwissentlich irgendetwas aufgenommen, vielleicht eine winzige Kleinigkeit, die uns von Nutzen sein könnte.“ „Schon erledigt,“ antwortete Többlin. „Die zuständige Fernsehredakteurin hat mir mitgeteilt, dass der Bericht von einem freien Mitarbeiterteam der Firma N.& R. TV stammt. Name und Adresse des Autors und auch des Kameramanns liegen bereits vor.“

„Klasse,“ lobte Schmidts. „Sie werden es bei der Polizei noch weit bringen, und sagen sie bloß, sie haben auch schon eine Kopie des Videomaterials?“

„Nein, das wohl noch nicht, aber es ist schon ein Termin für die Abholung vereinbart worden und zwar für heute.“ „Na bestens! Eine Kleinigkeit wäre da aber noch.“

„Ja?“

„Ich werde sie diesmal bei diesem Termin begleiten wollen.“

„Verstehen sie mich bitte nicht falsch, Herr Schmidts. Aber ich glaube, da überschreiten sie ihre Kompetenz.“ „Ja, ja, ich weiß. Es gibt die formale Trennung zwischen Polizei und Geheimdienst, auch aus historischen Gründen, das ist mir schon klar. In diesem Fall habe ich mir allerdings eine Sondergenehmigung eingeholt.“

„Und das bedeutet im Klartext?“

„Sie leiten weiterhin die Ermittlungen, ich beobachte nur und notiere mir besondere Auffälligkeiten, das ist alles.“ „Mit anderen Worten: Sie observieren Journalisten, weil sie über ein heikles Thema berichtet haben?“

„Ja und nein. Die Aufgabe des Verfassungsschutzes ist es, bestimmte Tendenzen und Bestrebungen zu beobachten. Nicht jedes heikle Thema ist für uns hierbei wirklich relevant und interessant.“

„Verstehe, aber wieso ausgerechnet die Berichterstattung zum Thema Terrorismus?“

„Das ist ein Sonderfall.“

„Und warum?

„Ganz einfach: Jemand, der darüber berichtet und recherchiert, interessiert sich auch dafür. Daher besteht immer die Gefahr, dass, ja, nennen wir es eine Art Stockholm Syndrom, entstehen kann.“

„Verstehe.“

„Gut und wie gesagt: Sie sind der Boss, alles im Rahmen der Gesetze.“

***

Als sich Kotte und Helena der Kreuzung näherten, entdeckten sie die genaue Ursache des Knallgeräusches: Ein weißer PKW war an der Ampel einem roten aufgefahren; Öl lief auf die Fahrbahn. Bis auf die massiven Blechschäden an beiden Fahrzeugen schien nichts weiter passiert zu sein, keine Verletzten, keine Toten.

„Nur die beiden Steinfiguren waren die Zeugen,“ sagte Kotte, als er am Erker des Eckgebäudes in Höhe der ersten Etage die großen Statuen entdeckte. Sie schienen direkt auf den Unfall an der Kreuzung Grunewald Ecke Goltzstraße hinunter zu blicken. Neben diesen Steinzeugen war eine kleine Tafel angebracht, darauf deutlich zu erkennen, eingebettet im Mauerwerk, das Jahr der Erbauung des Gebäudes: 1892. Aber spätestens im Hauseingang hätte er es auch ohne Angabe der Jahreszahl gewusst, dass es sich bei diesem Gebäude nur um einen Altbau handeln konnte. Die hohen Decken im Korridor und die Stuckverzierungen um den Kronleuchter herum waren sichere Indizien dafür. Altbau vor dem ersten Weltkrieg, Neualtbau zwischen den beiden Kriegen und Neubau danach, dachte er sich. Er betrachtete die kunstvollen Verzierungen an den Wänden und fragte sich, ob es seit der Erbauung wohl gröbere Veränderungen gegeben hatte. Mit einem Mal hörte er Helenas entfernte Stimme im Treppenhaus:

„Hey Kotte! Wo bleibst du denn?“

„Jaaa, bin schon unterwegs!“, rief er, „ich musste nur noch ein bisschen träumen,“ fügte er etwas leiser hinzu.„Was musstest du?“

„Schon gut! Hab halt ein bisschen mit den Wänden gequatscht.“

„Lieber Kottelchen, wir sind hier nicht zum Blödeln hergekommen!“

„Ja, hast ja recht, aber Wandblödeln tue ich ja auch nicht!“

„Sondern?“

„Geschichte erleben! Aber lass uns jetzt bitte nicht streiten.“

Helena legte ihre Stirn in Falten und stierte auf ihn herunter. Je weiter sie sich dann der zweiten Etage näherten, desto deutlicher wurden Technobeats hörbar. Offenbar kamen sie aus den Räumen des Bürokollektivs N.&.R.-TV-Produktion. Kotte drückte auf den Klingelknopf. Augenblicke später öffnete sich die Tür. „Wir kaufen nichts, und wir wollen auch nicht bekehrt werden,“ sagte Nick und wollte die Tür grade wieder schließen, als Kotte erwiderte:

„Hey stopp! Wir haben eine Verabredung mit Rudi! Ich bin Kotte und das ist meine bessere Hälfte Helena.“

Nick zog seine im Gesicht hängenden rotbraunen Haare hinters Ohr. Er war 42 Jahre alt, hatte ein schmales jugendliches Gesicht und fröhliche blaue Augen. Besonders auffällig war seine bunte Kleidung: eine dunkelblaue Batik Hose und ein dunkelrotes Batik Sweatshirt. Darüber trug er ein dunkles Jackett.

„Stimmt! Verzeihung! Das habe ich ganz vergessen,“ sagte er plötzlich sehr freundlich. „Rudi hatte mir gestern Abend davon erzählt.“ Er reichte den beiden nacheinander die Hand. „Ich heiße Nicolas, aber ihr könnt mich ruhig Nick nennen. Freunde von Rudi sind auch meine Freunde.“

Kotte und Helena betraten den Korridor. Weiß gestrichene Wände, an denen einige Aquarelle hingen, und ein bemalter Holzschrank waren die ersten optischen Eindrücke, die sie wahrnahmen. Während sie ihre Jacken an die Garderobe hängten, nahm Nick einen kleinen, grauen Karton aus dem Schrank heraus.

„Jetzt bitte nicht laut schreien,“ flüsterte er, „sonst fliegt meine kleine Racheaktion auf.“

„Rache? Wieso Rache?“, fragte Kotte.

Nick hobt den Kartondeckel ab und zum Vorschein kam eine haarige handgroße Vogelspinne. Helena machte einen weiten Schritt zurück und konnte sich nur mit Mühe beherrschen.

„Komm mir bloß nicht zu nahe damit!“, sagte sie schroff.„Pssst, nicht so laut, sie ist ausgestopft, keine Bange. Ich will nur Rudi ein bisschen erschrecken, der hat nämlich auch panische Angst vor Spinnen.“

„Schön und was soll das?“

„Na ja,“ fuhr er fort, „gestern hat Rudi etwas gemacht, was ich überhaupt gar nicht so lustig fand, ist ja jetzt auch egal. Auf jeden Fall bin ich jetzt dran ihn zu verarschen.“

„Das gefällt mir,“ sagte Kotte. „Was würdest du davon halten, wenn ich ihm die Spinne serviere?“

„Du?“

„Ja, so quasi als lieben Gruß mit kleiner Überraschung nach fast fünf Monaten.“

Nick lächelte verschmitzt. „Dass ich da nicht selber drauf gekommen bin, dich zu fragen...“ Er gab ihm die Pappschachtel mit der Spinne und nahm einen leicht verstaubten Fotoapparat mit einem 50mm Objektiv aus dem Schrank heraus. „Ich werde mal nachsehen, ob die Luft rein ist,“ flüsterte Nick und schlich sich zur Tür hin. Er drückte behutsam die Klinke herunter und äugte in das abgedunkelte Zimmer hinein: Rudi saß lässig mit dem Rücken zur Tür hinter seinem Schreibtisch und bewegte seinen Kopf im Takt der Musik, so dass seine gewellten dunklen Haare dabei hin und her wippten. Vor ihm auf dem Monitor flogen die Raumschiffe eines martialischen Computerspiels umher. Aus den Lautsprecherboxen döhnten in unregelmäßigen Abständen die krachenden Geräusche von Laserkanonen und roboterhaften Stimmen hervor, die miteinander kommunizierten und Befehle gaben; das Ganze war untermalt mit Technobeats.

Nick winkte die beiden herbei. Kotte nahm die Spinne aus der Pappschachtel heraus, zwischen Daumen und Mittelfinger geklemmt und pirschte sich an Rudi heran. Helena und Nick blieben bei der Tür stehen und kämpften gegen eine Lachattacke an. Zur Belustigung seiner beiden Zuschauer zögerte Kotte die Aktion etwas in die Länge. Er streichelte die langen haarigen Beine der Spinne und kraulte sie am Rücken. Und Nick, professionell wie er war, schaffte es den Fotoapparat in Position zu halten. Na dann: guten Flug! Dachte er sich, als sich Rudi überraschend umdrehte. Ein Blitz erhellte den Raum und der Augenblick des Entsetzens war auf dem Foto gebannt. Jedoch nicht das von Rudi, sondern es war Kotte, dem der Schreck im Gesicht stand. Denn Rudi hatte sich eine täuschend echt aussehende Totenkopfmaske aus Latex ins Gesicht geklebt.

„Reingefallen!“, grölte Rudi und lachte.

„Du Arsch!“, brüllte Kotte. „Ich hätte es wissen müssen, du warst früher schon leicht durchgeknallt und bist es heute noch genauso.“ Nick krümmte sich vor lachen, auch Helena war sichtlich amüsiert.

„Ihr beide seid echte Arschgeigen! Das war doch von A bis Z abgekaspert.“

„Schön dich mal wieder zu sehen,“ lallte Rudi und bekam einen erneuten Lachkrampf. Der lachende Totenkopf mit den knochigen Wangen und den behaarten Augenbrauen sah dermaßen skurril aus, dass auch Kotte allmählich nicht mehr anders konnte und mitlachen musste. Nach Luft ringend zog Nick schließlich die Moltonvorhänge zur Seite und öffnete das Fenster. Der schwarze Stoff bauschte sich am Rande des Abgrunds und lockere Ascheflocken stoben über die glatte Fläche des Arbeitstisches hinweg.

In den hellen Holzregalen, die über Eck an den Wänden standen, lagerte die Ton-, Licht- und Kameratechnik. Hierbei stachen besonders die großen HMI Scheinwerfer, die farblich geordneten Aluminiumkoffer und die zahlreichen Videokassetten hervor. Auf dem Fußboden, unmittelbar vor dem Regalabschnitt mit der Tontechnik, stand eine Beta SP Kamera, befestigt auf einem Stativ. Vier zusammengestellte Tische, bedeckt mit einigen Papierbögen, Zeichnungen und Stiften, bildeten das Zentrum im Zimmer. Darunter befanden sich zwei Kartons mit Videokassetten und Requisiten, auch jene, die für die terroristische Videobotschaft verwendet wurden: schwarze Militärjacke, Sonnenbrille und Motorradmaske. Völlig übermüdet hatte Rudi die Requisiten nach den letzten Dreharbeiten aus einem Koffer herausgenommen, gedanklich entfernt auf den Kartons deponiert und dort vergessen.

„Es ist auch schön dich mal wieder zu sehen,“ meinte Kotte und setzte sich an einen der Tische.

„Hättest dich zwischendurch ruhig mal wieder melden können,“ erwiderte Rudi, während er dabei war, die furchterregende graue Latexmaske aus seinem Gesicht zu entfernen.

„Stimmt! Aber du kennst das Problem mit der Zeit: Sie vergeht manchmal einfach viel zu schnell und bevor man sich dessen wirklich voll bewusst ist, sind schon wieder einige Monate vergangen.“

„Hallo Rudi!“, sagte Helena, die noch immer etwas im Hintergrund neben der Tür stand.

„Moin Helena, du Traum meiner nebulösen Träume, lange nicht gesehen!“ Er lächelte und küsste ihre Hand.„Wie geht's dir?“

„Wie dem Alptraum: Kurz vor dem Aufprall kam das Erwachen.“

„Tja, wenn du mich damals geheiratet hättest, dann wärst du heute eine Prinzessin und würdest in einem großen Schloss wohnen.“

„Wohl eher mit einem großen Schloss, direkt vor der Tür.“

„Aber Helena, glaubst du etwa immer noch, ich sei der große Pascha, der seine Freundin aus Eifersucht in einen Kerker einschließt?“

„Was heißt hier glauben?!“

Rudi verdrehte die Augen und wendete sich sichtbar eingeschnappt ab, niemand wusste mehr etwas zu sagen. Die fröhliche Stimmung schien abrupt in Ernsthaftigkeit umgeschlagen zu sein.

„Möchte vielleicht noch jemand einen Kaffee?“, fragte Nick laut und auf einmal waren sich wieder alle einig. „Ja, gute Idee, für mich bitte ohne Milch und Zucker,“ sagte Kotte. Dann verließen Nick und Helena den Raum.„Deine Frau wird von Jahr zu Jahr zusehends attraktiver,“ sagte Rudi leise. „Da hast du dir damals wirklich die Richtige ausgesucht.“

„Sie hat mich ausgesucht!“, entgegnete Kotte. „Nicht die Männer suchen sich die Frauen aus, sondern es ist meistens umgekehrt. Die Frauen sind die Anglerinnen, die ja oder nein sagen, nicht die Männer; sie beißen nur an oder eben auch nicht.“

„Ja, wahrscheinlich hast du recht, aber was ist mit dir? Am Telefon meintest du, dass du in großen Schwierigkeiten stecken würdest.“

„Schulden, Schulden und noch mehr davon und das Schlimme dabei ist: kein Job und keine Kohle.“

„Das klingt ziemlich bitter! Ich kann dir etwas Kohle leihen wenn du willst, kein Problem. Ich bin grade etwas flüssig.“

„Was ich brauche, ist ein Job! Ein Job, der Kohle abwirft, so dass ich den Banken ein paar Brocken vor die Füße werfen kann.“

Rudi hielt kurz inne. Er fuhr seinen Computer runter und schaltete den Monitor aus.

„Die Sache ist die: Du weißt, du bist einer meiner besten Freunde, aber, ach warte mal, wir werden mit Nick darüber sprechen müssen.“

Wenige Minuten später kam er, gefolgt von Helena. Als er das Tablett mit der Kaffeekanne, den Tassen und den Keksen bei Kotte auf den Tisch stellte, entdeckte Nick zu seinem Entsetzen die verräterischen Requisiten auf einem der beiden Kartons unter dem Tisch.

„Mein alter Kumpel Kotte braucht dringend einen Job! Hast du nicht eine Idee? Könnte er uns nicht vielleicht irgendwie unter die Arme greifen?“

Nick strauchelte. „Einen Job? Hier arbeiten? Wie stellst du dir das vor?“

„Eigentlich ziemlich gut.“