Tödlicher Tanz - Sophie Richmond - E-Book

Tödlicher Tanz E-Book

Sophie Richmond

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Beschreibung

Ida und ihre Zwillingsschwester Mara sind neu an der BASE, der Ballet Academy of Southern England. An der Tanzschule herrscht ein harter Konkurrenzkampf. Als sich Idas Talent zeigt und sie ihre Mitschülerinnen überflügelt, werden neidische Stimmen laut. Eines Tages findet Ida die Leiche von Cynthia, der besten Tänzerin der Schule, im schuleigenen Schwimmbad. Dieser Schock löst bei ihr Erinnerungen an die Vergangenheit aus, die sie verzweifelt zu verdrängen versucht hatte. Sie hat all das schon einmal erlebt. Dann gerät Ida auch noch in Verdacht, ihre Konkurrentin kaltblütig ermordet zu haben. Während sie versucht, ihre Mitschüler von ihrer Unschuld zu überzeugen, wird plötzlich auch ihr eigenes Leben bedroht. Und die junge Tänzerin verstrickt sich immer tiefer in das Netz aus Lügen und Intrigen an der Akademie …

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Die AutorinSophie Richmond, geboren 2000, lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Stuttgart. Bereits in der Grundschule entdeckte sie ihre Liebe zum Schreiben. Inzwischen besucht sie das Gymnasium. Mit dreizehn Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Roman. In ihrer Freizeit tanzt sie am liebsten Ballett, arbeitet an ihren Texten oder spielt Klavier.

Das BuchIda und ihre Zwillingsschwester Mara sind neu an der BASE, der Ballet Academy of Southern England. An der Tanzschule herrscht ein harter Konkurrenzkampf. Als sich Idas Talent zeigt und sie ihre Mitschülerinnen überflügelt, werden neidische Stimmen laut. Eines Tages findet Ida die Leiche von Cynthia, der besten Tänzerin der Schule, im schuleigenen Schwimmbad. Dieser Schock löst bei ihr Erinnerungen an die Vergangenheit aus, die sie verzweifelt zu verdrängen versucht hatte. Sie hat all das schon einmal erlebt. Dann gerät Ida auch noch in Verdacht, ihre Konkurrentin kaltblütig ermordet zu haben. Während sie versucht, ihre Mitschüler von ihrer Unschuld zu überzeugen, wird plötzlich auch ihr eigenes Leben bedroht. Und die junge Tänzerin verstrickt sich immer tiefer in das Netz aus Lügen und Intrigen an der Akademie …

Sophie Richmond

Tödlicher Tanz

Thriller

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.  Originalausgabe bei Midnight Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin März 2016 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016  Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat  ISBN 978-3-95819-065-8  Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.  Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

1. Kapitel

Meine Lippen waren beinahe schneeweiß, so fest presste ich sie zusammen. Auf meiner Stirn standen Schweißperlen und ich versuchte verbissen, mir die Anstrengung nicht anmerken zu lassen.

»Das Bein länger halten!«, rief Catherine und drehte meinen Fuß weiter auswärts. Als wäre dies nach der kräftezehrenden Technikstunde bei Mrs Carper heute Morgen nicht schon anstrengend genug. Ein Mädchen hinter mir gab ein leises Stöhnen von sich.

Meine Muskeln zitterten bereits vor Erschöpfung und meine Zehen in den Spitzenschuhen schmerzten. Zwar hatte sich mein Körper in den letzten zwei Wochen bereits an das viele Training an der BASE, der Ballet Academy of Southern England, gewöhnt, doch ich wurde trotzdem hin und wieder vom Muskelkater geplagt. Und dieser machte sich nun deutlich in meinem Oberschenkel bemerkbar.

Von allen Lehrern war Catherine wahrscheinlich die netteste, deshalb aber nicht weniger streng. Vor zwei Wochen hatte ich es noch als Scherz empfunden, von jemandem in der elegantesten Weise des Tanzes, dem Spitzentanz, unterrichtet zu werden, der so viel auf die Waage brachte wie drei meiner Mitschülerinnen zusammen. Doch nun wusste ich, dass ich mir niemand Besseres hätte wünschen können.

Catherine korrigierte jeden Fehler sofort, sodass dieser nicht den Hauch einer Chance hatte, sich einzunisten. Außerdem bemerkte sie Dinge, die meiner alten Ballettlehrerin in London nie aufgefallen wären. Verglichen mit den Lehrern an der Akademie war dieser kaum etwas ins Auge gesprungen.

»Rücken gerade lassen«, ermahnte Catherine gerade meine Zwillingsschwester Mara auf der anderen Seite des Raumes, die offensichtlich ebenso mit der Kombination zu kämpfen hatte wie ich.

Maras Gesicht war vor Anstrengung gerötet und auch die anderen Mädchen sahen nicht weniger erschöpft aus. Selbst Alison, die ganz vorne an der Stange stand und die ich wegen ihrer angeber- und rechthaberischen Art nicht ausstehen konnte, wirkte angespannt.

Mit einer flüssigen Bewegung streckten alle noch ein Mal das Bein zur Seite und ich musste meine volle Konzentration aufbieten, um mich gleichzeitig auszubalancieren und mein Bein so weit oben wie möglich zu halten. Die harte Box meiner Spitzenschuhe rieb an meinen Zehen und ich ahnte bereits jetzt, dass ich morgen mindestens eine Blase haben würde. Doch ich biss die Zähne aufeinander und versuchte, einen möglichst gelassenen Gesichtsausdruck aufzusetzen.

»Gut, Ida«, sagte Catherine an mich gewandt und ich beobachtete, wie Alison bei ihren Worten das Gesicht verzog.

Amy, mit der ich mir ein Zimmer teilte, schien sich heimlich ins Fäustchen zu lachen und zwinkerte mir im Spiegel kurz zu. Sie teilte meine Abneigung gegenüber Alison.

Die letzten Töne der Klaviermusik verklangen und ich ließ mein Bein erleichtert sinken. Mein schwarzes Trikot klebte bereits an meinem Rücken und ich atmete tief durch, während Catherine die letzte Kombination erklärte.

Als ich mich umschaute, blickte ich in verschwitzte und entkräftete Gesichter. Die Erschöpfung war uns allen anzusehen und ich lehnte mich an die Stange. Meine Füße fühlten sich tonnenschwer an.

»Die letzte Übung für heute, dann seid ihr entlassen«, meinte Catherine und klatschte in die Hände. Das Stöhnen, das dieses Mal auf ihre Ansage folgte, klang erleichtert und ich gab mir einen Ruck. Nicht mehr lange und ich konnte endlich den freien Samstagnachmittag genießen.

Ich steckte noch einmal meine letzte Kraft in die Kombination, die mir alles abverlangte. Die vielen einbeinigen Relevés, bei denen ich mich scheinbar mühelos vom ganzen Fuß auf die volle Spitze erheben musste, ließen meine Waden brennen. Dazu noch die schnellen Bewegungen mit dem Spielbein und die passende Armbewegung.

Zwar machte ich keinen Fehler und hatte mich auch nicht von dem Rhythmuswechsel in der Musik aus dem Takt bringen lassen, doch als Catherine uns endlich entließ, fühlte ich mich ausgelaugt und meine Zehen brannten.

»Ich kann nicht mehr«, seufzte Amy, kaum dass unsere Lehrerin den Raum verlassen hatte, und ließ sich neben mir auf dem Boden nieder. Ein paar ihrer blonden Locken hatten sich aus dem strengen Dutt gelöst und klebten ihr im Nacken.

»Geht mir genauso«, kam Mara mir zuvor und setzte sich zu uns, um ihre Füße aus den engen Spitzenschuhen zu befreien.

Ich brachte nur noch ein zustimmendes Nicken zustande und löste den Knoten in den Satinbändern. Ein stechender Schmerz durchzuckte mich, als ich den Schuh vorsichtig auszog. Meine Zehen waren gerötet und ich sah, dass sich während der Stunde bereits zwei Blasen gebildet hatten.

»Ich könnte direkt noch eine Stunde lang tanzen«, flötete Alison und ich bedachte sie nur mit einem kurzen Blick. Ihr Gesicht war zwar nur leicht gerötet, aber auch sie konnte die Anstrengung nicht verbergen.

»Lass sie reden, sie ist genauso erschöpft wie wir alle. Auch wenn sie der Meinung ist, die beste Tänzerin zu sein und dass alles für sie eigentlich viel zu leicht ist«, meinte Amy und verdrehte die Augen. »Na, immerhin hast du sie gestern mit deinen Pirouetten ziemlich in den Schatten gestellt. Jetzt muss sie ihr Image erst wieder etwas aufpolieren.«

Bei dem Gedanken an die gestrige Stunde lächelte ich. Pirouetten waren das, was ich am besten konnte. Nachdem ich gestern die Einzige gewesen war, die Mrs Carpers Drehkombinationen gemeistert hatte, hatte Alison mich die ganze Zeit ignoriert. Was mir jedoch nicht unrecht gewesen war.

Während Alison weiter verkündete, wie energiegeladen und frisch sie sich trotz der zwei Stunden Training an diesem Vormittag doch fühlen würde, packten wir unsere Sachen zusammen. Als die Handvoll Mädchen, die sich stets um Alison herum versammelten, laut auflachten und einen Blick in unsere Richtung warfen, war ich mir sicher, dass sie gerade nicht unbedingt positiv über uns sprachen.

»Ida, warum widersetzt du dich eigentlich den Regeln und trägst immer deine Armbänder, obwohl du sie beim Tanzen eigentlich ablegen solltest?«, fragte Alison zuckersüß und machte ein paar Schritte in meine Richtung.

Für einen Moment kam mein Herz aus dem Takt, doch ich fing mich sofort wieder, auch wenn sich langsam ein Kloß in meinem Hals bildete. Mara sah mich mit großen Augen an und schüttelte unmerklich den Kopf. Es war eine unausgesprochene Regel zwischen uns, nicht mehr darüber zu reden.

»Hat dir das etwa niemand gesagt, als du an die Akademie gekommen bist?«, bohrte Alison weiter und bedachte mich mit einem süffisanten Lächeln.

Mein Körper versteifte sich und ich tastete automatisch nach den Lederarmbändern an meinem Handgelenk. Ich musste mich zwingen, ruhig zu bleiben und mir nicht anmerken zu lassen, dass Alison mit ihrer Frage eine meiner Schwachstellen getroffen hatte.

Du musst nicht antworten, formten Maras Lippen und ich nickte fast unmerklich. Das hatte ich nicht vorgehabt, auch wenn die herausfordernden Blicke von Alisons Clique mich nervös machten und die Spannung deutlich spürbar war, die in der Luft lag.

»Lasst uns gehen, das strapaziert meine Nerven«, knurrte Amy schließlich, bevor Alison weitere Fragen stellen konnte, und hakte sich bei Mara und mir unter. »Die anderen warten sicherlich schon beim Mittagessen.«

Da hatte sie recht. Die meisten unserer Mitschülerinnen hatten den Raum bereits verlassen und sich auf den Weg zum Speisesaal gemacht.

Gerade als wir auf den Flur hinaustraten, kam unsere Techniklehrerin Mrs Carper uns entgegen. Ihr Erscheinungsbild war das genaue Gegenteil von Catherine. Ihr schmales Gesicht erinnerte mich an eine Ratte und die aufmerksamen, braunen Augen bemerkten jeden Fehler. Die grauen Haare hatte sie stets zu einem strengen Knoten im Nacken zurückgebunden und den dünnen Körper immer in eine Strickjacke gehüllt, obwohl es Ende April nicht mehr allzu kalt war. Bis jetzt hatte ich sie noch nie lächeln sehen, ihr eiserner Gesichtsausdruck wirkte wie eine Maske. Deshalb hatte sie auch nicht mehr als ein Nicken für uns übrig, als sie an uns vorbeilief.

»Eigentlich würde mich das auch interessieren«, meinte Amy, während wir schweigend den anderen Schülern folgten.

Ich musterte meine Freundin. Wir kannten einander zwar erst seit etwas über zwei Wochen, doch ich hatte das Gefühl, sie schon viel länger zu kennen. Sie war auch diejenige an der Akademie, mit der ich am meisten Zeit verbrachte und mich am besten verstand. Doch es gab Dinge, über die ich am liebsten nie wieder reden würde und die ich in London hinter mir zurücklassen wollte. Nicht zuletzt deswegen hatten Mara und ich uns entschlossen, für die BASE vorzutanzen und aus Liebe zum Tanzen die Schule vorzeitig zu verlassen. Auch wenn meine Schwester diejenige gewesen war, der die Akademie um einiges mehr am Herzen gelegen hatte.

»Nicht jetzt«, sagte ich ausweichend. Vielleicht auch gar nicht. »Zuerst möchte ich etwas essen, ich bin am Verhungern.«

Mit diesen Worten betraten wir den Speisesaal und ich erblickte bereits Scarlett, die uns zuwinkte. Am selben Tisch saßen auch die anderen, mit denen Mara und ich uns in den letzten Tagen angefreundet hatten.

»Und, was wollt ihr heute noch machen?«, fragte Brooke, die zusammen mit Ruby das Zimmer neben Amy und mir bewohnte, kaum, dass wir uns an der Essensausgabe einen Teller Suppe geholt und uns gesetzt hatten. Ihre fast hüftlangen, braunen Haare fielen ihr in lockeren Wellen über die Schulter und wieder einmal beneidete ich sie darum.

»Schwimmen gehen«, antwortete ich. Das hatten Amy und ich bereits gestern beschlossen. Ich konnte es kaum erwarten, nach den Anstrengungen der vergangenen Tage im kühlen Wasser ein paar Bahnen zu ziehen, auch wenn meine Mitbewohnerin immer wieder betont hatte, dass das Schwimmbad der Akademie winzig sei.

»Möchte jemand von euch mitkommen?«, erkundigte sich Amy, aber keiner gab etwas Zustimmendes von sich.

Schade, denn eigentlich hatte ich gehofft, dass Noah und Dylan uns begleiten würden. Doch Noah fuhr sich lediglich durch die verwuschelten blonden Haare und zwinkerte mir zu, als er bemerkte, dass ich ihn ansah. Auf der Stelle wurde ich rot und schaute schnell weg.

»Gehst du denn auch schwimmen?«, fragte Dylan meine Zwillingsschwester, die daraufhin lächelte. Irgendwie schien er an ihr einen Narren gefressen zu haben, denn er war während der letzten Tage kaum von ihrer Seite gewichen. Ihr gefiel das und sie war in seiner Anwesenheit stets gut gelaunt, auch wenn ihre Laune davor am absoluten Tiefpunkt gewesen war.

Beim Gedanken daran musste ich schmunzeln und beobachtete, wie Dylan ihr etwas ins Ohr flüsterte, woraufhin Mara in Lachen ausbrach. Hätte sie ihre Haare offen getragen, hätte sie sie vermutlich zurückgeworfen, wie sie es immer tat, wenn ihr jemand sympathisch war.

»Darf ich kurz durch?« Ein Junge aus der sechsten Tanzklasse, etwa ein Jahr älter als wir, quetschte sich zwischen Rubys und dem Stuhl eines anderen Mädchens hindurch. Sofort wechselte Rubys normale Gesichtsfarbe zu einem Tomatenrot, das ihrer Haarfarbe hätte Konkurrenz machen können.

Auch wenn ich noch nicht lange hier wohnte, hatte man mich sofort über Vincent, den Schwarm sämtlicher Mädchen, aufgeklärt. Doch ich konnte nicht verstehen, was alle an ihm so toll fanden. Er schien zwar nett zu sein und war laut Amy einer der besten Tänzer der Akademie, aber gegen solche Menschen hegte ich instinktiv eine Abneigung.

Vincent schenkte Ruby ein Lächeln, was die grünen Augen meiner Freundin zum Leuchten brachte, und Scarlett seufzte leise auf. Amy hatte wirklich nicht übertrieben, als sie gemeint hatte, dass fast jedes Mädchen an der Akademie schon einmal für ihn geschwärmt hatte. Auch wenn ich das nicht nachvollziehen konnte.

Mein Blick folgte Vincent, der sich einen Weg durch die Schülermenge bahnte. Bei einem Tisch, ein paar Meter entfernt, blieb er stehen und beugte sich zu einer älteren Schülerin hinunter, um ihr einen Kuss auf den Mund zu geben. Auch von ihr hatte ich schon jede Menge gehört.

Vincent und Cynthia, das Traumpaar der ganzen Schule. Einer perfekter als der andere. Und ich musste zugeben, dass ich selten einen so schönen Menschen wie Cynthia gesehen hatte.

Ihre langen, dunkelbraunen Haare fielen ihr stets wie ein Schleier über die Schultern und selbst wenn sie vom Training kam, zeigte ihr ebenmäßiges Gesicht nicht einmal den Hauch einer Anstrengung. Sie besaß einen Kirschmund, um den jedes Model sie beneidet hätte, schokoladenbraune Augen mit langen Wimpern. Zudem wurde ihr nachgesagt, trotz ihrer siebzehn Jahre talentierter als die erwachsenen Tänzerinnen der siebten Tanzklasse zu sein.

Doch Cynthia schien sich ihres elfengleichen Erscheinungsbildes genau bewusst zu sein. Ich hatte schon mehrmals erlebt, wie sie arrogante Bemerkungen über andere gemacht hatte, die nicht so hübsch und beliebt waren wie sie selbst. Als würde sie sich für etwas Besseres halten. Hübsch, beliebt, Alleskönner, Angeber. Diese Sorte Mensch konnte ich nicht leiden. Denn meistens bekamen sie auch alles, was sie nur wollten, ohne einen Finger dafür zu rühren. Und rieben dann jedem unter die Nase, wie toll sie doch waren und was sie bereits alles geleistet hatten.

»Manchmal frage ich mich wirklich, wie man es mit einer Person wie Cynthia aushalten kann«, murmelte Amy, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

»Aussehen perfekt, Charakter defekt«, kommentierte Noah, der Amys Worte gehört hatte.

Meine Mitbewohnerin verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie hat Vincent definitiv nicht verdient.«

Zwar hatte Amy mir versichert, dass sie nicht eine derjenigen sei, die für ihn schwärmten und bei seinem Anblick fast in Ohnmacht fielen, doch allem Anschein nach stand auch sie ihm nicht wirklich objektiv gegenüber.

Ich warf einen weiteren Blick in die Richtung des Paares. Vincent und Cynthia saßen nebeneinander und hielten Händchen, aber redeten nicht miteinander. Cynthia gestikulierte mit ihrer freien Hand herum, während Vincent lediglich seine Suppe löffelte. So perfekt war die Beziehung der beiden meiner Meinung nach nicht.

»Finde ich auch«, meinte Scarlett und Ruby nickte finster.

»Was finden nur alle Mädchen an ihm?« Noah seufzte.

Ich hob die Schultern. Genau das fragte ich mich seit zwei Wochen auch. In den wenigen Sätzen, die ich mit Vincent gewechselt hatte, hatte ich keine Besonderheiten an ihm erkannt, die seine Beliebtheit erklären könnten.

»Wann ist eigentlich das Vortanzen für das Sommerballett?«, wechselte Brooke das Thema.

»Sommerballett?«, fragte ich und runzelte die Stirn. »Was ist das?«

»Das ist das Highlight des ganzen Jahres! Es gibt im Jahr drei Ballettstücke, eins im Winter, eins im Frühling – das war kurz vor den Ferien – und eins im Sommer. Im Winter und im Frühjahr tanzen wir meistens bekannte Stücke, das waren dieses Jahr Schwanensee und Romeo und Julia.

Aber im Sommer schreiben alle Lehrer der Akademie ein Stück zusammen, die ganze Geschichte und die Choreographie. Und die Musik ist immer sehr unterschiedlich, manchmal sogar mit Sängern. Letztes Jahr hatten wir sogar ein Stück mit Rap! Außerdem suchen die Lehrer gemeinsam die Besetzungen für die Rollen aus. Jeder hat also theoretisch eine Chance auf eine Hauptrolle«, erklärte Amy.

»Das ist ja toll«, meinte ich begeistert. Es hörte sich wirklich gut an, Schwanensee hatten wir nämlich schon insgesamt drei Mal an unserer alten Ballettschule in London getanzt. »Und bald ist das Vortanzen dafür?«

Meine Freundin nickte. »Ganz genau. Aber inzwischen mache ich mir keine Hoffnungen mehr auf die Hauptrolle. Die hat Cynthia nämlich im letzten Jahr immer getanzt. Vielleicht haben wir ja dieses Mal Glück und einer von uns bekommt ein Solo.«

»Nichts ist unmöglich«, sagte ich und schob mir einen Löffel Nudelsuppe in den Mund.

»Besser zu tanzen als Cynthia schon«, erwiderte Ruby und ihre Stimme klang bitter.

Amy nickte. »Aber ich denke, dass Maras und deine Chancen nicht schlecht stehen, auch wenn ihr neu seid.«

Angesichts des Kompliments musste ich lächeln und sah zu meiner Zwillingsschwester hinüber, die jedoch tief in ein Gespräch mit Dylan vertieft war. Sie hatte nicht einmal wahrgenommen, dass ihr Name gefallen war. Die beiden verstanden sich wirklich außerordentlich gut.

»Viel Spaß euch beiden im Schwimmbad, wir gehen ins Dorf«, verabschiedete sich Brooke und stand gleichzeitig mit Scarlett auf.

Was sie im Dorf unternehmen wollten, war mir schleierhaft. Die Akademie lag mitten im Nirgendwo, umgeben von Hügeln und Feldern. Bis zum nächsten Ort musste man mindestens zehn Minuten mit dem Auto fahren. Und das lohnte sich für die kleine Ansammlung von Häusern kaum. Dort gab es lediglich einen winzigen Supermarkt, eine Bäckerei, ein Café, das nur am Wochenende geöffnet hatte, und eine kleine Bibliothek.

»Danke, euch auch«, antwortete ich und aß den Rest meiner Suppe.

Nach den beiden verließen auch Vincent, Cynthia und deren Freundinnen den Speisesaal. Ruby, Mara, Dylan und Noah erhoben sich ebenfalls.

»Wir sehen uns beim Abendessen«, meinte Noah und lächelte mir zu, als gelte der Gruß nur mir.

»Lass uns auch gehen.« Amy nahm einen Schluck aus ihrem Wasserglas und lehnte sich zurück. »Bevor wir uns aber auf den Weg zum Schwimmbad machen, möchte ich mich erst noch etwas ausruhen. Ich bin noch immer ziemlich erschöpft.«

»Klar«, stimmte ich ihr zu und sah Noah nach, der hinter Dylan den Speisesaal verließ.

»Wollen wir los?«, fragte Amy.

»Gerne«, erwiderte ich und lächelte sie an. Wir waren bereits umgezogen und ich schlüpfte noch schnell in das Sommerkleid, das ich für warme Tage mitgenommen hatte.

»Super!« Amy schnappte sich ihre Tasche. Auch ich griff nach meiner und folgte ihr aus dem Zimmer hinaus.

Wir liefen wieder die endlosen Gänge entlang. Obwohl ich schon seit zwei Wochen hier wohnte, hatte ich noch immer Schwierigkeiten damit, mir die Wege zu merken. Für mich sah einfach jeder Flur gleich aus. Deshalb ging ich Amy einfach hinterher, als sie plötzlich stoppte.

»Mist, ich habe meine Schwimmbrille vergessen. Ohne die bekomme ich immer rote Augen«, fluchte sie. »Ich gehe noch einmal zurück, du kannst ja schon vorauslaufen. Jetzt einfach zwei Mal links abbiegen, dann der zweite Gang rechts. Bis gleich.«

Ich nickte langsam, woraufhin sie sich umdrehte und losrannte. Verunsichert sah ich mich um. Wie sollte ich mich denn hier zurechtfinden? Im Schwimmbad war ich noch nie gewesen und ich hatte keinen blassen Schimmer, in welcher Richtung es lag.

Ich ging noch einmal Amys Anweisungen im Kopf durch. Links, links, dann bei der zweiten Abzweigung rechts. Langsam ging ich weiter. Der Gang machte schon nach wenigen Metern eine Biegung nach links und ich bog ab.

Fast wäre ich in zwei ältere Mädchen hineingelaufen, beide hatten noch nasse Haare und ich meinte mich zu erinnern, dass sie beim Essen immer mit Cynthia an einem Tisch saßen. Ungeschickt wich ich ihnen aus.

Wie Amy gesagt hatte, lief ich dann gleich wieder links. Nun nur noch ein Mal rechts. Der Gang schien wieder ewig lang, ich verlangsamte mein Tempo, als ich an eine Abzweigung kam. Hatte ich vielleicht eine übersehen, war das die zweite? Wieder blickte ich mich um.

Sollte ich auf Nummer sicher gehen und auf Amy warten? Nicht, dass ich am Ende an einem ganz anderen Teil der Akademie ankam und dann lange nach meiner Freundin suchen musste. Ich wog die Möglichkeiten gegeneinander ab und entschloss mich, Amys Anweisungen umzusetzen und darauf zu vertrauen.

So marschierte ich los und nach ein paar Metern rückte rechts eine weitere Abzweigung in mein Blickfeld. Schon roch ich das Chlor. Als ich abbog, sah ich eine Glastür mit der Aufschrift Schwimmbad.

Der Geruch wurde intensiver, als ich sie öffnete. Links und rechts gab es eine Tür, hinter der sich die Umkleiden befanden.

Erleichtert atmete ich auf. Dann zog ich die weiße Tür zur Mädchenumkleide auf. Dort sah ich mehrere weiße Bänke, konnte aber keine Taschen oder Handtücher darauf entdecken. Ich blickte auf die Uhr, die über dem Eingang zum Schwimmbad hing. Amy würde bestimmt noch etwas Zeit brauchen, bis sie hier war.

Gemächlich zog ich mir das Kleid über den Kopf und kämmte mir meine hellblonden Haare. Sie hatten eine Wäsche dringend nötig. Im Spiegel sah ich, dass sie noch von dem Haarspray verklebt waren, das ich heute Morgen hinein gesprüht hatte.

Seufzend packte ich meine Bürste und mein Kleid in die Tasche und lief zu den Duschen, wo ich mich kurz abduschte. Dann öffnete ich die Tür zum Schwimmbad. Warme Luft und Chlorgeruch schlugen mir entgegen. Schon jetzt freute ich mich darauf, endlich in das Wasser einzutauchen und seine Kälte auf meiner Haut zu spüren.

Der kurze Gang machte einen Knick und schon stand ich vor dem Becken.

Ich schrie auf.

Vor meinen Augen verschwamm alles. Die Erinnerungen, alles, was ich seit diesem Tag zu verdrängen versucht hatte, alles kam wieder hoch. Wie Schlaglichter spielte sich das Erlebte vor meinen Augenlidern ab.

Ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, meine Lungen schienen wie verschnürt. Zuerst kam nur ein leises Röcheln aus meinem Mund, dann auf einmal konnte ich wieder atmen und es drang ein langer Schrei heraus.

Wie damals.

Alles wie damals.

Mein Mund schloss sich, aber in meinen Ohren gellte noch der Schrei. Plötzlich knickten meine Füße wie zerbrochene Streichhölzer unter mir weg und ich fühlte, wie ich hart auf dem gefliesten Boden aufschlug. Obwohl ich es nicht wollte, öffneten sich meine Augen.

Meine Lippen formten ein Wort, das ich selbst nicht verstand, aber aus meiner Kehle kam nur ein Gurgeln.

In dem Becken, die schwarzen Haare wie eine Blüte um sie herum ausgebreitet, lag Cynthia. Ich konnte ihren Kopf nicht sehen, er war unter den vielen Haaren verborgen.

Der linke Arm lag seltsam verdreht auf ihrem Rücken, der rechte war vom Körper abgespreizt wie ein Flügel. Dazu noch das weiße Kleid. Sie sah aus wie ein Engel. Ein gefallener Engel.

Doch das Kleid war bereits fast überall in einem hellen Rot gefärbt. Das Blut breitete sich langsam wie ein See in dem Schwimmbecken aus.

Mir wurde schlecht.

Ich hustete und hustete, um meine Atemwege freizubekommen.

Cynthia war tot. Ohne jegliche Zweifel. Noch eine Tote. Und wieder hatte ich nichts tun können.

An meinen eisigen Wangen liefen die ersten heißen Tränen hinunter. Sie tropften leise auf den Boden. Voller Angst huschte mein Blick hin und her, doch ich war allein. Kein Laut außer meinem keuchenden Atem und dem leisen Plätschern des Wassers war zu hören.

»Warum?«, flüsterte ich und wurde von einem Schluchzer unterbrochen, der meine Kehle hinaufdrang. Vorsichtig robbte ich vom Becken weg. Ich konnte meinen Blick nicht von Cynthia losreißen.

»Warum, warum, warum?«, schrie ich. Meine Stimme machte mir Angst. Keuchend drückte ich mich gegen die geflieste, kalte Wand.

Eine kleine Welle schwappte über Cynthias Körper und die Haare bewegten sich. Sie war wunderschön.

Wunderschön gewesen.

Wieso, wieso hatte sie sterben müssen? Wieso sie? Wieso, wieso, wieso?

Fast hätte ich wieder angefangen zu schreien. Meine Unterlippe bebte und weitere Tränen lösten sich aus meinen Augen.

Ich war ein Unglücksbringer. Überall, wo ich hinkam, geschah Unglück.

Bei dem Gedanken krallten sich meine Finger an einer Fliese fest. Einer meiner Nägel brach ab und kurz zuckte ich vor Schmerz zusammen.

Zwei Menschen waren gestorben. Und ich hatte es nie verhindern können.

Das letzte was ich fühlte, war ein dumpfer Schlag an meinem Kopf.

2. Kapitel

»Ida? Ida?« Eine leise Stimme bahnte sich ihren Weg durch mein Ohr. Dann langsam durch meinen Kopf, wo sie zu einem lauten Summen anschwoll.

Ich schrie, versuchte, sie zu vertreiben. Doch sie verschwand nicht, wurde immer lauter. Meine Augen öffneten sich.

Für einen Moment wurde ich von dem grellen Licht geblendet. Ein unscharfes Bild setzte sich zusammen, dann verschwamm es wieder. Erneut schloss ich die Augen, öffnete sie wieder. Dieses Mal wurde es sofort scharf. Augenblicklich verschwand das Summen.

»Ida, wie geht es dir?« Amy beugte sich über mich. Auch Noah und Mara kamen in mein Sichtfeld.

Als ich probierte, mich aufzusetzen, zuckte ein Stechen durch meinen Kopf. Es fühlte sich an, als würde ich jeden Moment explodieren.

»Mein Kopf«, war das einzige, was ich hervorbrachte, bevor ich mich wieder in das weiche Kissen sinken ließ.

»Der Arzt hat gesagt, du hättest eine leichte Gehirnerschütterung. Weil du umgekippt bist und zwar direkt mit dem Kopf auf den Boden«, sagte Amy.

Meine Finger tasteten nach der Stelle, von welcher der Schmerz ausging. Unter den Fingerspitzen fühlte ich einen Verband. Schnell zog ich meine Hand wieder zurück. Ich wollte den Schmerz nicht noch einmal spüren.

Dann blickte ich nacheinander Amy, Mara und Noah an. »Was ist mit Cynthia?«, flüsterte ich.

Die drei sahen sich an. Verzweifelt schaute ich vom einen zum anderen.

»Was ist mit Cynthia?«, wiederholte ich mit bebender Stimme.

»Sie ist tot«, meinte Mara und griff nach meiner Hand.

Sie war tot.

Tot.

Dieses Wort hallte in mir nach. Ich schloss kraftlos die Augen.

Bilder von Cynthia tauchten vor meinem inneren Auge auf. Beim Abendessen, als ich sie das erste Mal gesehen hatte, wie sie mit ihrer Clique durch die Gänge stolzierte und schließlich im Pool.

Sofort riss ich meine Augen wieder auf. Mara sagte etwas. Zuerst verstand ich es nicht, doch dann merkte ich, dass es Deutsch war. Wir hatten fast nie mehr Deutsch gesprochen, seit unser Vater sich von unserer Mutter getrennt hatte. Sie war Britin und hatte uns nach der Scheidung immer ermahnt, Englisch zu reden, und wir waren ihrer Bitte stets nachgekommen.

»Was hast du gesagt?«, fragte ich, ebenfalls auf Deutsch.

»Du solltest schlafen«, antwortete sie.

Mit zusammengekniffenen Augen blickte ich sie an, dann schüttelte ich den Kopf. »Das war nicht das, was du gerade gesagt hast«, stellte ich fest.

»Stimmt.« Mara verschränkte die Arme und musterte mich. Als müsste sie mich abschätzen. Dann wurde der Blick meiner Schwester weicher, sogar mitleidig. »Wahrscheinlich weißt du es schon«, zögerte sie.

»Was?«, fragte ich unverblümt. Was wusste ich schon?

Sie nickte und holte tief Luft. »Cynthia wurde ermordet. Es ist fast wie…« Ihre Stimme brach ab und ihre Lippen formten lautlos ein Wort. Damals.

Für einen Moment hörte mein Herz auf zu schlagen. Mein Mund öffnete sich. Dann schloss er sich wieder.

Warum hatte ich nur gefragt? Und dann, ich konnte es nicht verhindern, fing ich an zu weinen. Es war mir egal, dass Amy und Noah zusahen. Mir war alles egal.

Amy reichte mir wortlos eine Packung Taschentücher. Doch ich wollte keine. Was halfen Taschentücher schon gegen die Leere, die sich in mir breitmachte? Was halfen sie schon gegen das Bedürfnis zu weinen, bis mir die Tränen ausgingen? Nichts.

Im Zimmer war es still, ich hörte nichts außer meinem eigenen Schluchzen. Nur noch den leisen Atem meiner Mitschüler. Ich fühlte Maras Blick auf mir. Wahrscheinlich bereute sie, mir das erzählt zu haben. So wie ich es bereute, überhaupt gefragt zu haben.

»Was hast du ihr gesagt?«, fragte Amy meine Schwester leise.

»Dass Cynthias Beerdigung vermutlich am Freitag ist«, antwortete Mara. In ihrer Stimme konnte ich keine Spur einer Lüge entdecken. Obwohl sie stets die schlechtere Schauspielerin von uns beiden gewesen war.

Am Freitag schon. Weitere Tränen liefen meine Wangen hinunter. Schon jetzt wusste ich, dass ich nicht hingehen würde.

Ich musste wohl eingeschlafen sein, denn irgendwann wachte ich von dem Pochen in meinem Kopf auf. Das Erste, was ich registrierte, waren meine Kopfschmerzen. Das Zweite, dass jemand meine Hand hielt. Und das Dritte, dass dieser jemand Noah war.

Als er merkte, dass ich aufwachte, zog er seine Hand schnell weg.

»Du bist ja endlich wach«, stellte er in dem Moment fest, als ich meine Augen aufschlug.

Erschöpft nickte ich. »Sieht ganz so aus.«

Trotz des Wummerns in meinem Kopf setzte ich mich auf und stopfte mir das Kissen in den Rücken. Wahrscheinlich war es schon Abend, denn die Rollläden waren heruntergelassen und lediglich meine Nachttischlampe verbreitete sanftes Licht. Amy und Mara konnte ich nirgends entdecken.

»Wo sind die anderen?«, fragte ich.

»Die sind schon seit einer Stunde weg, sie wollten zuerst zum Abendessen und dann noch mit der Polizei reden«, sagte er.

Mit der Polizei. Unwillkürlich musste ich schlucken. »Und warum bist du nicht beim Essen?«, erkundigte ich mich, um mich selbst von meinen eigenen Gedanken abzulenken, und sah ihn an.

Er hatte unglaublich blaue Augen. Eine Mischung aus Dunkelblau, Hellblau und Türkis. Meeraugen.

»Keinen Hunger«, meinte er und zuckte mit den Schultern. Dann wurde er rot. »Und jemand musste da sein, wenn du aufwachst. Haben die Ärzte gesagt.«

Ich lächelte ihn an. Eigentlich wollte ich etwas erwidern, doch ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Also schwieg ich einfach.

So wie Noah. Er blickte zu Boden, als wäre dieser eine ausgiebige Betrachtung wert. Die blonden Haare fielen ihm ins Gesicht und verdeckten eine Hälfte seines Gesichts.

»Hast du Hunger?«, fragte er unvermittelt und unsere Blicke trafen sich.

»Nein«, sagte ich, ohne nachzudenken.

Genau in diesem Moment knurrte mein Magen. Mein Gesicht nahm die Farbe einer überreifen Kirsche an.

Noah lachte leise. Dann reichte er mir ein Tablett. Bei dem Anblick der Sandwiches lief mir das Wasser im Mund zusammen. Wie hatte ich nur sagen können, ich hätte keinen Hunger? Ich bemerkte erst jetzt, wie leer mein Bauch sich anfühlte.

Geduldig sah Noah mir beim Essen zu. Wie ich ein Sandwich nach dem anderen in mich hineinstopfte. Obwohl ich so viel aß, hatte ich das Gefühl, dass es die Leere in meinem Magen nicht füllen konnte.

»Möchtest du auch etwas?«, fragte ich mit vollem Mund.

Er lachte wieder. »Nein, danke.« Dann wurde er wieder ernst. »Du musst übermorgen mit der Polizei sprechen. Tut mir leid, wir haben mit den Lehrern geredet, aber wir konnten es nicht weiter hinauszögern.«

Ich erstarrte beim Auspacken des vierten Sandwiches.

Jedes Detail würden sie aus mir herausquetschen. Jedes. Und das, obwohl ich alles getan hatte, um Abstand gewinnen zu können.

»Ich komme mit, wenn du möchtest. Amy und Mara könnten dich bestimmt auch begleiten«, bot Noah mit leiser Stimme an.

Für einen Moment sah ich ihn an, dann nickte ich und schob das Tablett weg. Der Appetit war mir bei seinen Worten gründlich vergangen.

Wenn ich von Cynthia erzählen würde, würde ich nicht zulassen, dass mich die Erinnerungen einholten. Meine Hand ballte sich zu einer Faust und ich schüttelte mich.

»Ja, bitte komm mit«, sagte ich und blickte Noah fest in die blauen Augen.

»Gerne«, meinte er. »Dir hängt da etwas in den Haaren.« Noah streckte seine Hand nach mir aus und berührte meine Haare.

Mein Herz begann schneller zu schlagen. Es schien fast aus meiner Brust zu springen, so heftig pochte es.

Erschrocken zuckte ich zusammen. Wie konnte ich nur solche Gefühle empfinden, nachdem vor wenigen Stunden eine Mitschülerin ermordet worden war? Mein Atem stockte und ich schluckte.

Ich wich etwas zurück und zupfte den Brotkrumen, der sich in meinen Haaren verfangen hatte, heraus.

»Hallo, ihr beiden!« Die Tür öffnete sich und Amy betrat das Zimmer. »Wie ich sehe, bist du wach, Ida.«

Noah stand auf. »Ich sollte dann mal gehen, es ist schon kurz nach zehn.«

»Gut, bis morgen«, sagte Amy und hob langsam die Hand.

»Bis morgen«, verabschiedete er sich und lächelte mir zu. Wenn er lachte, bekam er ein Grübchen in der Wange.

Ich lächelte schüchtern zurück. »Danke, dass du hier warst.«

»Geht es dir besser?«, fragte Amy und setzte sich an mein Bett. Ihre sonst so lebensfrohe Art war verflogen. Stattdessen lagen Müdigkeit und Erschöpfung in ihrem Blick.

»Ein bisschen«, erwiderte ich leise.

»Tut mir leid, dass ich nicht früher kommen konnte. Ich musste bei der Polizei aussagen«, sagte sie und strich mir über die Hand. »Aber zum Glück hat sich Noah angeboten und ist bei dir geblieben, damit du nicht so allein bist.«

»Ist schon gut, mach’ dir keine Sorgen«, beschwichtigte ich sie.

Meine Freundin seufzte. »Mache ich aber. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, in deiner Haut stecken zu müssen.«

Vorsichtig zog ich meine Beine näher an meinen Oberkörper heran und schüttelte den Kopf. »Das glaube ich dir sofort. Du siehst nicht gut aus, ich aber bestimmt auch nicht.«

Sie fuhr sich durch die blonden Locken. Ihre Wangen waren blass und nicht so rosig wie sonst. »Vielleicht sollten wir versuchen, ein wenig zu schlafen. Irgendwie glaube ich zwar nicht, dass es funktionieren wird, aber ich fühle mich so kraftlos, als hätte ich einen Marathon hinter mir.«

Ich kannte das Gefühl. Viel zu gut, leider.

Wir schwiegen und Amy begann, an ihren Fingernägeln zu knabbern, was sie noch nie getan hatte. Es erinnerte mich an Mara, die dasselbe tat, wenn sie gestresst und überlastet war.

»Ich bewundere Noah wirklich dafür, dass er vorhin so ruhig geblieben ist, als uns allen offiziell von Cynthias Tod berichtet worden ist. Man hat ihm zwar angemerkt, wie sehr es ihn getroffen hat, doch er war der Einzige, der versucht hat, es zu verbergen. Es war eine gute Idee, dass er bei dir geblieben ist. Jeder andere hätte vermutlich niemals neben dir sitzen können, ohne eine einzige Träne zu vergießen.« Amy presste die Lippen aufeinander und ich bemerkte die leichte Rötung in ihren Augen, als hätte sie noch vor wenigen Minuten geweint.

Obwohl ich mich selbst nicht besser fühlte, drückte ich ihre kalte Hand. »Lass uns nicht mehr darüber reden. Zumindest nicht heute.«

»Ist gut«, stimmte Amy leise zu und umarmte mich. Ihre Wärme beruhigte mich ein wenig und ich war froh, dass es jemanden gab, der bei mir war und mit dem ich reden konnte. Auch wenn ich im Moment noch nicht dazu bereit war.

3. Kapitel

Ich rannte. Die Wände der dunklen Gasse konnte ich nur noch schemenhaft erahnen. Das letzte Tageslicht bahnte sich einen Weg durch die vielen Ritzen und erleuchtete spärlich die schmale Straße.

Mein Herz schlug schneller, als ich an seine Nachricht dachte. Es war fast still, ich hörte nur meinen eigenen keuchenden Atem und meine Schritte.

Bald, bald war ich da. An der Straßenecke, an der wir uns immer trafen. Schon der Gedanke gab mir mehr Energie und ich lief noch schneller. Nur noch ein paar Biegungen.

Eine schwarze Katze huschte aus dem Schatten einer Mülltonne hervor und rannte mir fast direkt vor die Füße. Für einen kurzen Moment setzte mein Herz aus, dann normalisierte sich mein Herzschlag wieder. Ich atmete erleichtert aus, obwohl ich weder ängstlich noch feige war.

Langsam lief ich weiter. Sah mich um. Konnte aber niemand entdecken.

Wenige Meter vor der letzten Biegung überkam mich ein beklemmendes Gefühl, das ich schon gehabt hatte, als ich aufgebrochen war. Doch ich schob es zur Seite.

Als ich um die Ecke bog, fing ich an zu schreien.

Meine Füße schienen unter mir wegzuknicken und ich fiel. Der Schrei aus meinem Mund hallte in meinen Ohren.

Nein, ich wollte das nicht, nicht alles noch einmal durchleben. Etwas legte sich auf meine Schulter.

Ich schrie. So laut ich konnte.

»Ida!« Eine zärtliche Stimme flüsterte mir etwas in mein Ohr. Ich schlug die Augen auf und blickte voller Angst in Maras blaue Augen. »Ida!« Meine Schwester legte ihre Arme um meinen Rücken.

Ich begann zu zittern. Meine Augen begannen zu brennen. Langsam füllten sie sich mit Tränen. Ein kleiner Schluchzer entfloh meiner Kehle.

Mara drückte mich fester an sich und strich mir beruhigend über die Haare. »Was ist denn los?«

»Ich hab von damals geträumt«, flüsterte ich kaum hörbar.

Für einen Moment erstarrte meine Schwester, dann ließ sie mich los. »Beim Schlafen hast du geschrien und um dich geschlagen, deswegen hat Amy mich geholt«, meinte sie und sah mir in die Augen.

Ich drehte mich weg und schlang meine Arme um mich. Die Tränen liefen mir lautlos die Wangen hinunter. Mir war kalt. Meine Schultern begannen zu beben.

»Ida, hör mir zu.« Sanft drehte Mara meinen Kopf zu sich. »Du musst jetzt stark sein, sehr stark. Ich weiß, dass das nach allem sehr viel verlangt ist, aber ich weiß auch, dass du das schaffst. Damals hast du es auch geschafft.«

Bei diesen Worten konnte ich ihr nicht in die Augen schauen. Denn ich hatte es nie ganz geschafft. Jeder einzelne Moment hatte sich tief in mein Gedächtnis und meine Seele eingebrannt. Hatte Narben hinterlassen. Narben, die nie ganz verheilt waren.

»Wir schaffen das zusammen«, sagte meine Schwester. »Du und ich.«

In mir war alles dunkel und leer. In Maras Augen konnte ich meine eigenen sehen. Groß und vor Angst geweitet.

»Damals…«, begann sie.

Ich wollte nicht, dass sie von damals erzählte. Legte es denn jeder darauf an, dass ich mich erinnern musste?

»Nein!«, entfuhr es mir. Meine Stimme war laut und schrill, fast hatte ich Angst vor mir selbst. »Rede nicht von damals!«

Die letzten Worte waren schon mehr ein Fauchen. Mit einem Mal war ich wütend auf meine Schwester. Am liebsten hätte ich sie angeschrien. Doch ich beherrschte mich und sog langsam Luft durch die Zähne ein.

»Tut mir leid«, sagte Mara. »Ich wollte dir einfach nur sagen, dass ich immer für dich da bin. Und ich dich immer lieb haben werde.«

Dafür liebte ich meine Schwester. Sie konnte einfache Dinge so schön aussprechen, dass mir, wie jetzt, fast die Tränen kamen. Und dass sie es schaffte, mir mit wenigen Sätzen das Gefühl zu geben, dass ich auf sie zählen konnte.

»Danke«, flüsterte ich und Mara nahm meine Hand. Vorsichtig strich sie über die Armbänder.

»Was ist mit denen?«, fragte sie. »Möchtest du sie nicht mal abnehmen? Ich meine, es ist schon lange her und du wirst es nie schaffen, alles hinter dir zu lassen, wenn du sie immer trägst.«

Bei dem Gedanken daran wurde mir schwindelig. Vielleicht hatte sie recht, aber irgendwie wusste ich, dass ich sie noch länger tragen würde. Und sie abnehmen, das konnte ich nicht.

Eindringlich sah mich meine Zwillingsschwester an. Sie wusste, dass ich diesen Blick hasste. Wenn sie mich ansah, als könnte sie von oben bis unten wie Glas durch mich hindurchschauen, all meine Gedanken lesen.

Und genau das wollte ich nicht. Meine Gedanken würden ihr Sorgen machen.

Mara sah mir noch kurz fest in die Augen. Dann stand sie auf. In dem Bademantel wirkte ihr dünner Körper noch schmäler. »Ich gehe jetzt schlafen, es ist kurz vor halb drei. Schlaf gut, Ida«, sagte sie und lächelte mir kurz zu, bevor sie das Zimmer verließ.

Ich schlang meine Decke um mich. Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn meine Schwester noch länger geblieben wäre.

Doch jetzt fühlte ich mich allein. Allein und verlassen. Das Zimmer erschien mir größer und dunkler. Es kam mir so vor, als würde die Zimmertemperatur in ihrer Abwesenheit um mehrere Grade sinken, und so wickelte ich mich noch fester ein.

Plötzlich merkte ich, dass sich etwas bewegte. Für einen kurzen Moment setzte mein Herz aus, doch dann erkannte ich, dass es nur Amy war, die aus der dunklen Ecke bei ihrem Bett hervorkam, wo sie wahrscheinlich die ganze Zeit gesessen hatte. Auch sie hatte ihre Decke um den Körper geschlungen. Die blonden Haare fielen in lockeren Wellen darüber.

»Was ist mit dir? Was ist mit deinen Armbändern?«, fragte Amy leise. Dabei sah sie mich eindringlich an. »Und was war damals?«

Ich schloss für einen Moment die Augen. Einerseits wollte ich mich nicht erinnern, andererseits war Amy meine Freundin, wahrscheinlich sogar meine beste an der Akademie. Sie hatte ein Recht darauf, alles zu erfahren. Bevor ich ihr aber etwas erzählen würde, musste ich ihr noch eine Frage stellen.

Eine einzige. »Wer hat mich am Pool gefunden?«, flüsterte ich.

»Ich«, antwortete Amy. Die dunklen Augenringe stachen aus ihrem blassen Gesicht hervor. Ich war anscheinend nicht die einzige, die von Albträumen gequält worden war. Außerdem realisierte ich, dass weder Amy noch ich viel von unserer gegenseitigen Vergangenheit wussten. Sie nichts von meiner, ich nichts von ihrer.

»Was ist?«, fragte sie. Wahrscheinlich musste ich sie die ganze Zeit angestarrt haben.

»Nichts«, antwortete ich und sah zu Boden.

»Sag schon!« Amy rang sich ein erbärmliches Grinsen ab, doch dann ergriff wieder die Erschöpfung von ihr Besitz.

Kurz überlegte ich. Wenn ich diesen Schritt wagen würde, würde ich ihr sehr vertrauen müssen. Tat ich das?

Tief in mir forschte ich nach einer Antwort. Amy wirkte nicht, als sei sie eines der sensationslustigen Mädchen, die mit einem Geheimnis vom einen zum anderen liefen, sodass es innerhalb von wenigen Stunden die Runde machte. Vielmehr sah sie aus, als könnte sie jetzt nichts mehr schockieren.

»Ich weiß fast nichts über dich. Wo du herkommst, was du alles schon erlebt hast,…«, begann ich vorsichtig.

»Das stimmt«, meinte meine Freundin und massierte sich die Schläfen. »Aber ich weiß auch nur ziemlich wenig von dir.«

»Ja.« Ich biss mir auf die Lippe.

»Dann sollten wir wohl daran etwas ändern«, sagte Amy. »Ich komme in dein Bett, dann muss ich nicht durch das ganze Zimmer schreien.«

Schnell rutschte ich ein Stück zur Seite, um ihr Platz zu machen. Mit einem leisen Quietschen meines Bettes ließ sie sich mitsamt Decke neben mich fallen.

»Ich zuerst.« Ohne ein Wort der Zustimmung begann sie zu erzählen. »Ich komme aus der Nähe von Manchester. Meine Familie und ich wohnen ungefähr eine halbe Stunde davon weg, in einem Dorf mit etwa 400 Einwohnern. Dort wohne ich schon mein ganzes Leben lang und bei uns kennt so ziemlich jeder jeden. Meine Eltern haben einen großen Bauernhof mit Hofladen, in dem ich immer ausgeholfen habe, um mir selbst das Geld für die vielen Tanzsachen zu verdienen, die ich eben benötige. Außerdem hat mein älterer Bruder Rick immer mitgeholfen und es hat meistens Spaß gemacht.

Ballett tanze ich seit ich fünf bin, also seit zehn Jahren. Dazu musste ich jeden Tag nach Manchester fahren, weil dort das nächste Ballettstudio war. Gleich nach der Schule im Nachbardorf habe ich den Bus dorthin genommen. Jeden Tag außer Sonntag. Wenn ich dann abends nach Hause gekommen bin, musste ich noch Hausaufgaben machen und lernen.

In der Schule war ich immer Durchschnitt. Ich hatte ja keine Zeit, um so ausgiebig zu lernen. Aber Durchschnitt reichte mir, mehr brauchte ich nicht. Für das Ballett habe ich schon vor ein paar Jahren alle meine anderen Hobbys, zum Beispiel Cello spielen, aufgegeben. Aber wenn ich ehrlich bin, ich habe nie etwas so geliebt wie das Tanzen.

Vor zwei Jahren erzählte mir meine damalige Ballettlehrerin von der BASE. Dass ich das Potential hatte, um dort vorzutanzen. Und dass ein Ballettinternat wahrscheinlich besser wäre, als jeden Tag nach Manchester zu fahren.

Es war ziemlich schwer, meine Eltern zu dem Vortanzen zu überreden. Auf unserem Hof war ich eine wichtige Arbeitskraft und meinen Eltern war nicht wohl bei dem Gedanken, mich hier alleine wohnen zu lassen.

Doch nach endlosen Diskussionen gaben sie schließlich nach und stimmten dem Vortanzen zu. Ich wurde also eingeladen und tanzte hier vor. Dass nach ein paar Wochen meine Aufnahmebestätigung kam, damit hatte niemand gerechnet.

Das war so ziemlich das Beste, was mir in meinem Leben passieren konnte. Jeden Tag frage ich mich, was wäre, wenn ich nie vorgetanzt hätte. Ob ich dann immer noch Tag für Tag nach Manchester fahren und mit meinem Bruder im Hofladen aushelfen würde. Und ich habe es noch nie bereut, dass ich hierhergekommen bin. Nur seit gestern zweifle ich daran«, sagte Amy und schlug die Augen nieder.

Meine Finger verkrampften sich um die Decke. Ich wollte nicht an Cynthia denken. Nicht schon wieder. Gerade hatte ich es geschafft, sie ansatzweise zu verdrängen, doch jetzt kam es mir so vor, als wäre sie mir dadurch nur noch präsenter geworden.

»Ich weiß, dass du nicht darüber reden willst. Aber glaub mir, manchmal hilft es wirklich. Und ich möchte dir helfen, so gut ich kann.

Als ich dich gefunden habe, habe ich zuerst nur dich gesehen. Wie du auf dem Boden lagst und das Blut an deinem Kopf. Cynthia habe ich erst bemerkt, als ich mich nach jemandem umgeschaut habe, der mir helfen könnte. Sie lag mit dem Kopf unter Wasser, und ich dachte, dass sie vielleicht noch lebt. Das Blut habe ich zwar gesehen, aber es hätte auch von einer einfachen Verletzung stammen können. Zumindest habe ich es gehofft und es mir selbst eingeredet, obwohl ich tief in mir gewusst habe, dass es nicht stimmt.

Ich bin zu ihr hingeschwommen, aber selbst wenn ich noch schneller gewesen wäre, ich hätte ihr nicht mehr helfen können. Als ich bei ihr ankam und ihren Körper umdrehen wollte, war er schon ganz kalt. Doch in der Hektik habe ich nicht wirklich darauf geachtet und nur versucht, sie umzudrehen.« Amy schluckte. Sogar in dem schwachen Licht konnte ich erkennen, dass ihr Gesicht unnatürlich bleich war.

Eigentlich wollte ich nicht, dass sie weiter erzählte. Das, was Mara mir über Cynthias Tod gesagt hatte, reichte mir vollkommen. Auf die gleiche Art wie damals. Diese eine Information und mir wurde schlecht.

Nein, Amy!, dachte ich. Bitte erzähl nicht weiter!

»Hör auf, Amy! Bitte!«, flehte ich. Sie sah mich nur wortlos an und nickte dann.

Wir schwiegen und in meinem Kopf liefen Amys Erzählungen wie ein Film vor mir ab. Wie sie sich neben mir hinkniete, sich umsah und dann ins Wasser sprang. Wie das Blut Muster an der Wasseroberfläche zeichnete, als Amy hindurchschwamm.

Sofort erschauderte ich und hielt mir die Augen zu, um die Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben.

»Du bist dran. Ich habe alles Wichtige gesagt«, meinte Amy und ich bemerkte, dass ihre Hände zitterten.

Ich atmete tief durch, dann begann ich mit bebender Stimme zu erzählen. »Ich komme aus London. Mein Vater und meine Mutter sind seit sieben Jahren geschieden. Mara und ich wohnen bei unserer Mutter, mein Vater lebt in Liverpool. Er arbeitet dort als Manager bei irgendeiner Firma, ich weiß nicht genau wo.

Seit wir acht waren, tanzen Mara und ich. Und wie es sich gehört, waren Mara und ich immer unzertrennlich. Na ja, zumindest fast.

Bis Andrew an unsere Schule kam. Das war vor ungefähr einem Jahr. Er war eineinhalb Jahre älter als ich. Niemand kannte ihn richtig, ich hatte das Gefühl, dass das nicht mal seine Clique tat, von der er in jeder Pause umgeben war.

Normalerweise bin ich immer eine von diesen Null-Romantikern gewesen. Jedes Mal, wenn ich von Liebe auf den ersten Blick gehört habe, habe ich immer die Augen verdreht, weil ich dachte, dass es so etwas nicht gibt. Aber als ich Andrew das erste Mal gesehen hab, war es einfach nur so… Keine Ahnung, wie ich es beschreiben soll. Jedenfalls habe ich mich kopfüber in ihn verliebt, ohne ihn überhaupt richtig zu kennen.

Ich weiß nicht, ob er das gemerkt hat, aber eines Tages hat er mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, nach der Schule etwas mit ihm zu machen. Natürlich dachte ich mir nichts dabei. Doch als ich dann ein paar Tage später mit ihm nach Hause ging, war alles komplett anders, als ich es mir vorgestellt hatte.

Er wohnte nicht in einem der teuren Stadtviertel wie wir, sondern in einem der schlechtesten. In einem, vor dem man seit Kindesbeinen an gewarnt wurde. Aber mir war das damals egal, auch das Andrews Zwei-Zimmer-Wohnung im dritten Stock eines heruntergekommenen Gebäudes lag und der Putz von den Wänden bröckelte, störte mich nicht. Hauptsache, ich war bei ihm.

Seine Mutter sah ich kaum. Meistens war sie arbeiten, ansonsten betrunken. Andrews Welt war so anders als meine. Der komplette Gegensatz. Wahrscheinlich war es auch das, was mich an ihm so fasziniert hat.

Mir war klar, dass meine Mutter mir nie erlauben würde, mich mit einem Jungen aus diesen Verhältnissen zu treffen, der auch nur dank einem Stipendium an unserer Schule war. Meine Geschwister kannten die Wahrheit, meiner Mutter sagte ich, dass ich nach der Schule zu einer neuen Freundin gehen würde. Wir waren stets nur bei Andrew zu Hause, haben geredet und für die Schule gelernt.

Wenn seine Mutter kam, war es für mich Zeit zu gehen. Nach dem Grund dafür habe ich ihn nie gefragt. Es war einfach eine unausgesprochene Regel und ich wagte es nicht, sie zu brechen.

Ich liebte Andrew so. Alles an ihm. Wie er sprach, seine Gestik, wenn er mir Dinge erklärte, die ich nicht verstand. Er konnte mich selbst an den Tagen glücklich machen, an denen ich mich normalerweise am liebsten in mein Bett verkrochen hätte.

Jeden freien Tag verbrachte ich bei ihm. Mara mochte das nicht, sie verriet meiner Mutter jedoch auch nie etwas. Aber ich wusste, dass sie meinen Freund nicht ausstehen konnte.

Andrew und ich trafen uns auch manchmal an der Ecke einer kleinen Gasse, wo wir stundenlang saßen. Ich vermute, dass das an den Tagen war, an denen seine Mutter zu Hause war. Er hatte ein miserables Verhältnis zu ihr und ich habe mehrmals gehört, wie sie ihn angeschrien hat. Darüber gesprochen hat er nie mit mir, aber ich wusste, dass er darunter litt, obwohl er immer versuchte, seine Gefühle vor mir zu verstecken.

Hauptsache, ich sei glücklich. Das hat er mir oft gesagt. Das war auch eines der Dinge, die ich an ihm geliebt habe. Dass er so selbstlos handelte und mich nicht mit seinen Problemen belastete. Im Nachhinein denke ich, dass er es vielleicht doch hätte tun sollen. Vielleicht hätte ich ihm helfen können.

Es gab nur eine Sache, die mich an ihm verwundert hat. Wir haben uns zwar geküsst, aber »Ich liebe dich« hat er nie gesagt.

Bis auf ein Mal. Das war der Zeitpunkt, an dem ich gemerkt habe, dass etwas nicht stimmte. Er hatte mir eine Nachricht mit diesen drei Wörtern geschickt und ich habe mich sofort auf den Weg gemacht.

Dabei hatte ich ein ungutes Gefühl. Ein sehr ungutes Gefühl. Ich konnte mir nicht erklären, woher es stammte, aber es erschien mir seltsam, dass Andrew mir per SMS sagte, dass er mich liebte, obwohl er es davor noch nie getan hatte.

Noch immer kann ich mich an jedes Detail des Weges erinnern. Der Zug war überfüllt und die Luft so stickig, dass ich kaum atmen konnte. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, verschwand nicht. Je näher ich dem Viertel kam, desto mulmiger wurde mir.

Sobald ich den Bahnhof verlassen hatte, begann ich zu rennen. Zuerst lief ich zu Andrews Haus und klingelte, doch es öffnete mir niemand. So eilte ich zu dem Punkt, an dem wir uns auch manchmal getroffen hatten.

Als ich ankam, wunderte ich mich zuerst, wo Andrew war, weil ich ihn nirgendwo entdecken konnte. Doch dann sah ich das Graffiti an der Hauswand. Und im Schatten Andrew darunter liegen. Er hatte sich selbst die Kehle durchgeschnitten.«

Meine Stimme versagte und eine Träne löste sich aus meinem Auge. Wortlos legte Amy einen Arm um mich und drückte mich fest an sich.

Eine Weile saßen wir einfach nur da, ich weinte leise vor mich hin und Amy umarmte mich stumm.

Die ganzen Bilder tauchten vor meinem inneren Auge auf, Bilder, die ich so lange zu verdrängen versuchte. Ich sah Andrew an der Hauswand lehnen, um ihn das ganze Blut. Sein Gesicht, sein Hemd, überall Blut.

Vielleicht, wenn ich nur eine Minute früher da gewesen wäre, hätte ich ihn noch retten können. Oder wenn ich ihm geholfen hätte, seine Probleme zu lösen.

Bei diesem Gedanken schluchzte ich laut auf. Dieser Punkt belastete mich mehr als alles andere. Andrews Leben, ich hätte es vielleicht retten können.

»Tut mir so leid für dich«, flüsterte Amy. »Ich wünschte, ich könnte dir irgendetwas Aufmunterndes sagen.«

Ich schüttelte den Kopf und wischte mir ein paar Tränen von der Wange. »Ich weiß nicht, ob ich das noch einmal verkrafte«, schluchzte ich. »Dass jemand stirbt und ich es wieder nicht verhindern konnte.«

»Du hast es doch letztes Mal auch geschafft. Und du wirst das auch dieses Mal schaffen«, sagte meine Freundin.

Meine Finger tasteten automatisch nach den Armbändern.

»Ich glaube, wir sollten schlafen gehen. Oder es nach allem zumindest versuchen«, flüsterte Amy.

Sie drückte mich noch kurz an sich, dann verzog sie sich mitsamt Decke in ihr Bett, wo sie sich zusammenrollte. Kaum hatte sie sich zur Wand gedreht, da hörte ich auch schon wenige Minuten später ihren regelmäßigen Atem, der sich nach und nach in leises Schnarchen verwandelte.

Ich beneidete sie. Noch immer hatte ich meine Decke um mich geschlungen und saß in meinem Bett. Meine Füße waren kalt. Und meine Finger.

Langsam legte ich mich hin und zog die Decke über mich. Bis zum Kinn, so wie ich es als kleines Kind immer gemacht hatte, um mich zu verstecken. Aber vor den Bildern konnte ich mich nicht verstecken. Sie waren in meinem Kopf. Und dort würden sie für immer sein.

Andrew, wie er lachte, mich an der Hand nahm und wie wir gemeinsam durch die einsamen Gassen liefen. Wie er unbeschwert Witze erzählte und wir alles für einen Moment vergaßen. Wenn auch nur für einen winzigen. Insgesamt waren wir drei Monate und vierundzwanzig Tage ein Paar gewesen. Und wir wären es noch länger gewesen. Wenn Andrew sich nicht plötzlich das Leben genommen hätte.

Bei dem Gedanken kniff ich die Augen zusammen. Jetzt wollte ich nicht daran denken. Weder an Andrew noch an Cynthia. Im Moment wollte ich einfach nur an etwas Schönes denken, an etwas, mit dem man gut einschlafen konnte.

Aber es gab nichts, was meine Stimmung heben konnte. Meine Augen fühlten sich vom Weinen trocken an und meine Augenlider wurden schwer. Das Letzte, was ich fühlte, bevor ich in einen unruhigen Schlaf fiel, war eine Träne, die meine Wange hinunterrann.

4. Kapitel

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war es schon fast elf Uhr. Die Sonne schien durch das gekippte Fenster und ließ die Staubpartikel in der Luft glitzern.

Amys Bett war leer und bereits ordentlich gemacht. Wahrscheinlich war sie ganz normal zum Unterricht gegangen. Falls denn welcher stattfand. Auf dem Boden lag eine Haarnadel, die sie verloren hatte.

Ich seufzte. Wie sehr hätte ich es mir jetzt gewünscht, Amy hier bei mir zu haben. Mein Kopf schmerzte nur noch ein wenig, als ich die Stelle berührte, an der sich die Wunde befand. Der Verband unter meinem Finger fühlte sich rau an, am liebsten hätte ich ihn jetzt einfach abgenommen.

Vorsichtig ließ ich meinen Kopf wieder in mein Kissen sinken und betrachtete noch eine Weile den Tanz der funkelnden Staubteilchen, die sich langsam durch den Raum bewegten. Irgendwie wunderschön.

Mein Magen knurrte. Resigniert richtete ich mich auf und schlug die Decke zurück. Sofort drang statt der Wärme angenehme Kälte an meine Haut.

Nachdem ich mich angezogen und gekämmt hatte, nahm ich meinen Schlüssel und verließ das Zimmer. Auf den Gängen war niemand zu sehen. Alles war still und leer. Jeder war beim Unterricht. Das Leben musste weitergehen.

Meine Schritte schienen unendlich viel Lärm zu machen, alles schien plötzlich lauter zu sein. Als ich mich Richtung Speisesaal wenden wollte, bemerkte ich, dass ich nicht mal genau wusste, wo er war. Angestrengt kramte ich in den hinteren Ecken meines Gehirns nach dem Schlossplan, den ich mir erst vor wenigen Tagen angesehen hatte. Und obwohl ich nicht wusste, wohin ich gehen musste, fanden meine Füße den Weg irgendwie von alleine.

Als ich endlich vor dem Speisesaal stand, war ich zwei Mal falsch abgebogen, hatte aber dennoch den richtigen Weg gefunden.

Ich betrat den leeren Raum. Aus der benachbarten Küche konnte ich das Klappern von Geschirr hören. Ein wenig roch es schon nach Essen. Wahrscheinlich Nudeln mir Tomatensoße. Sollte ich warten, bis das Essen fertig war oder lieber nach einem belegten Brötchen fragen? Fragend schaute ich mich um.

Und realisierte, dass ich nicht alleine war.

Vincent drehte sich zu mir um. Sein Blick bohrte sich in meine Augen. Eine Weile stand ich einfach nur da und starrte zurück, bis er mir mit einer Geste bedeutete, zu ihm zu kommen.

Kurz überlegte ich. Dann setzte ich mich wortlos neben ihn.

Er sah auf seine Hände, die er ineinander verschlungen hatte. Ich fand, dass er schöne Hände hatte. Lange und gerade Finger, deren Fingernägel sorgfältig geschnitten waren. Keine Narben oder sonst etwas. Zumindest konnte ich nichts sehen.

»Ist etwas?«, fragte ich ihn, weil er keinerlei Anstalten machte, ein Gespräch in Gang zu bringen.

»Ich weiß nicht. Wie geht es dir?«, erkundigte er sich. Das war nicht das, was er eigentlich hatte sagen wollen. Und auch nicht das, worauf ich antworten wollte.

»Geht so«, sagte ich wahrheitsgemäß.

Bestätigend nickte er. »Ich habe fast gar nicht geschlafen. Ich kann immer nur an Cynthia denken.« Bei diesen Worten löste er den Blick von seinen Händen und sah mich an.

»Geht mir auch so«, erwiderte ich leise und schluckte.

»Kann ich dir etwas anvertrauen?«, fragte er.

Ich nickte. Wir kannten einander kaum. Aber ich hatte das Gefühl, dass uns Cynthias Tod verband. Er hatte dadurch seine Freundin verloren und ich musste mich wieder an alles erinnern, was ich immer versucht hatte, zu verdrängen.

Es war seltsam, doch als ich Vincent in die Augen schaute, hatte ich das Gefühl ihn zu kennen. Als hätten wir schon über so viel miteinander geredet, obwohl wir in Wahrheit lediglich ein paar Sätze gewechselt hatten.

»Tut mir leid, aber ich muss das bei irgendjemandem loswerden und damit auch das schlechte Gewissen, das ich nicht erst seit gestern habe«, ergänzte er.

»Nur zu«, sagte ich.

»Ich hatte das Gefühl, dass ich Cynthia nicht mehr richtig geliebt habe. Schon seit ein paar Wochen. Doch ich habe es nicht geschafft, ihr es zu sagen. Weil ich mich nicht getraut habe. Aber jetzt, jetzt ist sie tot. Und sie ist als meine Freundin gestorben. Das fühlt sich so falsch an. Als hätte ich sie betrogen.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und in seinen Augen standen Tränen.

Vincents Worte hallten in mir nach. Er hatte sie nicht mehr geliebt. Und keine Möglichkeit gehabt, ihr es zu sagen.

Eine Leere breitete sich in mir aus. Andrew hatte auch mir keine Möglichkeit mehr gegeben, ihm zu helfen oder ihm noch etwas zu sagen.

Eine Weile saßen wir schweigend da und jeder hing seinen Gedanken nach. Hin und wieder sah ich, dass sich Vincent mit dem Ärmel über die Augen rieb.

»Hast du Hunger?«, fragte er schließlich, um uns beide abzulenken.

»Ja«, antwortete ich und sofort verstärkte sich mein Hungergefühl.

»Gut, dann bleib einfach hier sitzen und ich hole uns etwas zu essen«, erwiderte er. Ohne eine Antwort abzuwarten, schob er seinen Stuhl zurück und machte sich auf den Weg in Richtung Küche.

Es nagte an mir. Der Gedanke daran, dass ich ihm noch hätte helfen können. Diese Ungewissheit machte mich fast wahnsinnig. Ich hätte ihm noch so viele Fragen stellen wollen. Aber Andrew war tot.

Trauer überkam mich. Warum hatte Andrew sterben müssen? Und warum auch Cynthia? Keiner der beiden hatte es verdient, obwohl ich Vincents Freundin nie wirklich hatte leiden können.

Maras Worte. Auf die gleiche Art wie damals. Cynthia war die Kehle durchgeschnitten worden. Wie damals bei Andrew, der die Klinge selbst angesetzt hatte. Und ich hatte weder ihm noch Cynthia helfen können.

Jedes Mal war ich etwas zu spät gekommen. Ich glaubte nicht an einen Zufall.

Jemand versuchte, mich zu zermürben. Zwei Menschen, auf die gleiche Art gestorben, von mir gefunden. Dahinter steckte mehr als nur Zufall. Bei dem Gedanken fröstelte ich und schlang die dünne Strickjacke enger um mich. Jetzt begann ich wahrscheinlich schon, Gespenster zu sehen und in jedem einen Verbrecher zu vermuten.

»Bitteschön.« Vincent stellte zwei Tablette mit Toast, Marmelade, Wurst und Käse vor mir ab. Bei dem Anblick des Essens wurde mir schlecht. Mein Hunger war verflogen.

»Hast du keinen Hunger mehr?«, fragte Vincent, als er sah, dass ich das Essen nicht anrührte.

Ich schüttelte mich, um den Gedanken an Cynthia und Andrew loszuwerden. Doch es klappte nicht. Wie ein lästiger Virus hatte er sich in mir festgesetzt.

»Was ist los?« Fragend sah Vincent mich an.

»Nichts«, log ich und lächelte ihm zu, auch wenn es wohl ein ziemlich misslungenes Lächeln war.