Tödliches Familienidyll - Anja Sietz - E-Book

Tödliches Familienidyll E-Book

Anja Sietz

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Beschreibung

Eingeschlossen in der Dunkelheit ihrer eigenen Gedanken, erlebt Sünje, wie Menschen verschwinden, die ihr nahestehen - als letztes ihre Freundin Walburga. Als sie selbst entführt wird, gerät sie in höchste Lebensgefahr. Ihr selbsternannter Beschützer verfolgt eine grausame Logik, und jede Entscheidung wird zu einer Frage von Leben und Tod. Kann Sünje den Wettlauf gegen die Zeit gewinnen oder reißt sie ihre Freundin mit in den Tod?

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Anja Sietz

Tödliches Familienidyll

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2 — Zehn Tage vorher

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71 — Drei Monate später

Danksagung

Über die Autorin

Impressum

Tödliches Familienidyll

von

Anja Sietz

Impressum

Copyright © 2025, Anja Sietz

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: c/o Sissis Autorenlounge

Steig bei der Warte 15

67596 Bechtheim

Deutschland

[email protected]

www.anja-sietz.de

Lektorat: Kerstin Schmitz-Schuldt

Korrektorat: Sabine Steck

Coverdesign und Umschlaggestaltung: Florin Sayer-Gabor - www.100covers4you.com

Unter Verwendung von Grafiken von Adobe Stock: showcake, stockpics

und mit freundlicher Genehmigung von S. Stehnken

Prolog

Vorsichtig drückte er das Geschenk. Die bunten Autos auf blauem Hintergrund lachten ihn freundlich an. Er lächelte zurück und merkte, wie seine Oberlippe an den Rändern seiner Zahnlücke vorbeiglitt.

Sachte tasteten seine Finger über das Geschenkpapier, begierig, zu erraten, was sich unter den lachenden Autos verbarg. Das Geschenk war viereckig, glatt und gab nicht nach. Das Papier knisterte. Besonnen löste er den ersten Klebestreifen, darauf bedacht, es nicht zu beschädigen. Als etwas blaue Farbe am Klebestreifen hängen blieb und einen weißen Fleck auf dem Geschenkpapier hinterließ, hielt er angespannt inne. Die Verpackung sah so schön aus. Sie musste heil bleiben. Unbedingt.

Andächtig schlug er das Papier auseinander. Seine Augen wurden groß. Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, als er den Gegenstand hervorzog.

Es war ein Buch. Als er es aufschlug, schalt er sich kopfschüttelnd: Nein, kein Buch. Es war ein Heft zum Reinschreiben. Auf dem Umschlag war ein gelbes tierähnliches Wesen mit großen schwarzen Augen, spitzen Ohren und einem gezackten Schwanz zu sehen. Oh, endlich hatte er auch etwas von diesem Wesen, das kein Tier war. Die anderen Jungen an seiner Schule tauschten bereits seit einiger Zeit Spielkarten aus, aber er konnte nur zusehen, denn er hatte keine. Sein Vater weigerte sich, ihm welche zu kaufen. Jetzt endlich hatte er auch einen Gegenstand von diesem Wesen. Sein persönlicher Schatz.

Kurz überlegte er, sich bei der Frau zu bedanken, die sein Vater heute mitgebracht hatte. Schnell verwarf er den Gedanken jedoch. Sein Vater und die Frau, die bestimmt ganz nett war, hatten jetzt keine Zeit für ihn. So war das immer, wenn sein Vater Besuch bekam. Vielleicht würde er sich später bedanken.

Stattdessen ging er zu seinem Ranzen und holte sein Federmäppchen hervor. Er wollte eine Geschichte schreiben. Vielleicht würde er der Frau später vorlesen, wenn er durfte. Da musste er jedoch erst Papa fragen.

Hoch konzentriert schrieb er, denn Schreiben konnte er schon gut. Leise sprach er jedes Wort vor sich hin.

Es war einmal ein Magier. Der war böse. Er wohnte mit einem Zauberschüler in einem verwunschenen Schloss. Der Magier konnte machen, dass die Menschen dachten, er sei nicht böse und so lieb wie die anderen Menschen. Aber das war er nicht.

Auch der Zauberschüler konnte schon etwas zaubern. Die Menschen dachten, die beiden wohnten in einem ganz normalen Haus. Vom Schloss wussten sie nichts. Nur die Prinzessinnen, die der böse Magier manchmal in das Schloss zauberte, wussten das. Dann waren sie traurig und der kleine Zauberschüler tröstete sie. Aber er war noch nicht so groß und so mächtig wie der böse Magier. Das war schade.

Er hielt inne und überlegte, ob die Geschichte zu Ende war. Eigentlich war sie das.

Er lauschte. Die Frau im anderen Zimmer weinte, und sein Papa war sauer. Das kannte er schon.

Vorhin hatte niemand auf ihn geachtet. Da hatte er das Geschenk aus dem Rucksack der Frau genommen. Sein Vater hatte ihn zuvor achtlos auf den Boden geworfen. Sicherlich würde sein Vater den Rucksack später im Garten verbrennen. Das machte er immer mit den Sachen.

Aber jetzt kamen ihm doch Zweifel. Was, wenn sie ihn beobachtet hatten, und die Frau deshalb weinte? Schnell klappte er das Heft zu und versteckte es zusammen mit dem Geschenkpapier unter seinem Bett. Wenn die Frau und sein Vater sich beruhigt hätten, würde er das Heft wieder hervorholen und die Geschichte weiterschreiben. Er nickte. Noch fehlte das gute Ende.

Kapitel 1

Das Fernlicht erhellte die kahlen Bäume neben der vereisten Landstraße und ließ sie wie ein Rippenbogen erscheinen, um hoffentlich das zu schützen, was sich darunter befand.

Walburga Yeboah verscheuchte den Gedanken an Anatomievergleiche und konzentrierte sich auf die vereiste Fahrbahn. Bereits auf der Auffahrt ihrer Kommilitonin war der Ford Galaxie 500 von 1972 ins Rutschen geraten und hätte fast die ordentlich aufgestellten Mülltonnen am Straßenrand mitgenommen. Zum Glück hatte sich der Wagen auf den letzten Millimetern gefangen und die Mülltonnen waren verschont geblieben.

Walburga wollte sich nicht ausmalen, wie ihr Bruder reagieren würde, wenn sein Oldtimer Kratzer erhielte. Er hatte ihr das Auto nur widerwillig geliehen.

Dabei sind die Wetterverhältnisse nicht meine Schuld, dachte sie grimmig.

Das Zusammenspiel des Fernlichts und der kahlen Bäume wirkte hypnotisierend. Vor der Windschutzscheibe tanzten dicke Schneeflocken einen Walzer. Im gleichmäßigen Rhythmus wurden sie wie durch Magie von der Scheibe angezogen, nur um kurz vor dem Aufprall ruckartig nach oben entweichen zu wollen. Vergeblich. Die Scheibenwischer taten ihr Bestes, um den geplatzten Träumen des gefrorenen Wassers Einhalt zu gebieten.

Entspann dich, dachte Walburga, als ihr bewusst wurde, wie sie hinter dem Lenkrad verkrampft auf die Fahrbahn starrte.

Sie atmete tief aus, ließ die Schultern sinken und lehnte sich im Sitz zurück. Ein Blick auf die Armatur neben dem Lenkrad verriet ihr eine Außentemperatur von minus fünf Grad. Walburga fröstelte, obwohl es im Wagen unangenehm warm war. Die Klimaanlage des Ford war seit dem Herbst kaputt und ließ die Heizfunktion auf Hochtouren laufen. Ihr Bruder bestand auf einer Reparatur mit Originalteilen und wartete seit Wochen auf eine Benachrichtigung durch seine Werkstatt. Jeder der seltenen Fahrgäste fühlte sich seitdem innerhalb weniger Minuten wie im ghanaischen Hochsommer, wie ihr Bruder spaßeshalber sagte. – Zumindest stellten sich Walburga und ihr Bruder die Temperaturen im Geburtsland ihrer Großeltern ungefähr so hoch vor. Beide waren noch nie dort gewesen.

Walburga befand sich gefühlt im Niemandsland und hoffte, bald die Stadtgrenze zu erreichen. Sie verfluchte den einsamen Wohnort ihrer Kommilitonin. Warum lebte die Studienfreundin nur so weit außerhalb der Stadt? Aber Walburga brauchte die Unterstützung für die anstehende Anatomieprüfung und hatte keine andere Wahl. Die unbekannte und vereiste Straße, die winterliche Dunkelheit und der geliehene Oldtimer erforderten all ihre Aufmerksamkeit.

Wenn ich hier einen Unfall hätte, würde mich kein Mensch entdecken, kam ihr in den Sinn.

Ihr Magen knurrte nervös und die Nackenhaare stellten sich auf. Gern hätte Walburga zur geistigen Entspannung den Musiksender verstellt, denn der Rocksender war scheußlich. Aber Uwe hatte ihr strengstens untersagt, die Einstellungen zu ändern, und die alten Anzeigen und Drehknöpfe waren ihr ohnehin nicht geheuer.

Unerwartet blitzte etwas Großes in einigen Metern Entfernung auf der Straße auf.

„Ach du Scheiße!“

Einem Reflex folgend schaltete sie das Fernlicht aus. War das ein Reh gewesen? Blitzartig versuchte sie, sich an das Vorgehen zu erinnern, das sie erst vor ein paar Monaten in der Fahrschule gelernt hatte. Die Worte ihres Fahrlehrers hatten sich ihr tief eingeprägt. Wie er gepredigt hatte, hupte Walburga, gab zugleich Gas und steuerte auf den Punkt zu, an dem es vor einer Sekunde geblitzt hatte. Da das Fernlicht ausgeschaltet war, konnte Walburga die Umrisse der Umgebung nur erahnen.

Da trat etwas mitten auf die Straße und riss übernatürlich lange Arme in die Höhe. Walburga schrie vor Schreck auf und trat die Bremse bis zum Anschlag durch. Der massige Fort Galaxie 500 ohne Antiblockiersystem verlor umgehend den Kontakt zur Straße und drehte sich wie ein außer Kontrolle geratenes Karussell auf dem Jahrmarkt um die eigene Achse. Schrie sie noch oder knirschte das Metall des Autos? Die Welt wurde zu einem Kaleidoskop, die eindringenden Reize eine Abfolge unzähliger Bilder, die sich überlappten. Sie schloss die Augen. Dann kam der Wagen ruckartig zum Stehen.

Stille.

Sie blinzelte. Ihr war schwindelig und ihr Herz raste. Vor ihr war nächtliche Dunkelheit. Eine dünne Schneeschicht hatte sich umgehend auf der Frontscheibe niedergelassen, glücklich darüber, von den Scheibenwischern nicht verscheucht worden zu sein.

Walburga rieb sich das Gesicht. Was war ihr passiert? Erschrocken nahm sie die Hände vom Gesicht. Sie konnte kein Blut sehen.

„Das ist gut“, murmelte sie.

Sie zog den Schlüssel aus dem Zündschloss. Das Armaturenbrett wurde dunkel. Ihr Puls beruhigte sich etwas. Das Schwindelgefühl blieb. Sofort legte sie ihre Hände auf ihren Bauch und spürte in sich hinein. Sie spürte kein Ziehen und keinen Schmerz und nahm es als gutes Zeichen.

In den ersten Wochen ihres Medizinstudiums hatte sie in einer Vorlesung erfahren, dass Verunfallte oft nicht wahrnahmen, ob das Auto auf dem Dach lag oder nicht. Befreiten sie sich unbedacht vom Sicherheitsgurt, konnte dies ungeahnte Verletzungen nach sich ziehen. Walburga hatte sich über diesen Fakt sehr gewundert, daher war er ihr im Gedächtnis geblieben. Sie hatte eine Idee, um diesen Irrtum zu umgehen: Mit der rechten Hand griff sie in ihre weite Manteltasche, holte ein Bonbon heraus und ließ es fallen. Es fiel schräg nach unten. Das Auto lag also nicht auf dem Dach, stellte sie erleichtert fest.

Ein dumpfer Aufprall genau neben ihrem Kopf und ein Klackern ließen Walburga zusammenzucken. Gleichzeitig legte sie ihre Hände schützend auf ihre Brust. Sie zog die Schultern zusammen, drehte den Kopf zum Seitenfenster und sah einen pastellfarbenen Pulli sowie zwei weiße Handflächen, die sich auf der Scheibe abstützten. Der Pulli kam ihr seltsam bekannt vor. Da verschwand die Tür gen düsteren Himmel. Kalte Luft drang in die tropische Hitze des Wageninnern.

„Sind Sie okay? Wir müssen hier unbedingt weg. Sofort!“

Walburga hörte die Stimme und dachte, sie stünde auf Grund des Unfalls völlig neben sich. Sie kannte die Stimme, aber das war unmöglich, denn sie befand sich im Nirgendwo, an einem Waldrand, und diese Stimme gehörte in die Stadt.

Der Körper, der in dem pastellfarbenen Pulli steckte, verschwand aus ihrem Blickfeld, um dem Kopf des Besitzers Platz zu machen. Unendlich lange Sekunden sahen sich beide Frauen schockiert und überrascht an.

„Walburga?“

Es war mehr ein Hauchen als ein Fragen. Sie sah eine Dampfwolke vom Gesicht ihres Gegenübers davonschweben.

„Sünje?“, fragte Walburga ungläubig zurück.

„Wir müssen hier weg. Sofort! Zur Polizei!“

Sünje klang panisch, was Walburga die Absurdität der Situation vor Augen führte.

Hoffentlich bin ich nicht beim Crash gestorben und dies ist meine erste Erfahrung als Geist, dachte Walburga.

„Das ist doch Schwachsinn. Lass mich erst mal aussteigen“, sagte sie laut und in der Hoffnung, dass die Realität sich ihrer wieder bemächtigte.

Was sie nicht tat. Nur mit Schwierigkeiten konnte sie aus dem in Schieflage geratenen Ford Galaxie aussteigen. Ihre Freundin auf der anderen Seite der Autotür half ihr beim Verlassen des Wagens. Während Walburga unsicher auf dem verschneiten Straßenrand das Gleichgewicht ausbalancierte, bückte sich Sünje, um zwei Gehhilfen aufzuheben. Walburga sah die Orthese an ihrem linken Fuß.

Nein, mein Gehirn würde mir nicht solch konkrete Erinnerungen heraufbeschwören, urteilte Walburga. Das hier ist Realität.

Sie drehte sich zum Ford Galaxie um. Seine Schräglage war beängstigend. Um ihn wieder auf die Straße zu stellen, müsste ein entsprechender Abschleppwagen kommen. Hoffentlich hat er nicht zu viele Schrammen oder ist gar ein Totalschaden, dachte Walburga.

Kaum stand Sünje – ihr Gewicht auf den Gehhilfen verteilend – vor ihr, legte Walburga ihr die Hände auf die Schultern.

„Was machst du hier?“, fragte sie. „Wo warst du die letzten Tage? Wir haben uns Sorgen gemacht.“

Sünje antwortete nicht. Sie warf hektisch einen Blick über ihre Schulter und drehte sich wieder zu ihr um. Ihre Lippen waren leicht bläulich und auf ihrem blonden Haar, das ungepflegt und in fettigen Strähnen auf ihre Schultern fiel, sammelten sich Schneeflocken. Walburga konnte Sünjes Panik und Angst förmlich spüren, denn riechen konnte sie nichts. Dazu war es einfach zu kalt. Wie ein dunkler, gefährlicher Nebel griff die Furcht um sich und nahm Walburga ungefragt in Besitz. Ihr Herzschlag, der sich gerade beruhigt hatte, stieg in ungewohnte Höhen.

„Sünje, was machst du hier? Ohne Jacke? Mitten im Nirgendwo? Fuck! Uwe bringt mich um. Der Wagen ist bestimmt Schrott.“

„Walburga!“ Sichtlich bemüht, ruhig zu sprechen, sah ihre Freundin sie intensiv an. „Wir müssen hier weg.“

„Du bist ja richtig panisch.“ Walburga umfasste die Schulter fester und blickte ebenso intensiv zurück. „Ich rufe die Polizei. Einverstanden? Und einen Krankenwagen für dich.“ Sie versuchte, zuversichtlich zu klingen. So, wie sie später auch mit einem Angstpatienten sprechen wollte. Souverän und ruhig.

Es scheint zu wirken, dachte sie, denn Sünje nickte.

Walburga klopfte ihre Manteltaschen ab. Irgendwo hier musste ihr Smartphone sein. „Mensch, wo ist denn mein Handy?“, murmelte sie. Hatte sie es womöglich bei ihrer Kommilitonin vergessen oder lag es noch im Auto? Sie war sich unsicher.

Da hörte sie ein Motorengeräusch.

Sünje hatte es auch gehört, denn sie drehte ihren Kopf in die Richtung, aus der das Röhren gekommen war. „Zu spät“, murmelte sie.

Walburgas Blick glitt von der Straße zu Sünje. Sie sah etwas Nasses im Gesicht ihrer Freundin. War das eine Träne oder eine geschmolzene, sehr dicke Schneeflocke?

„Er kommt. Walburga, es tut mir so leid.“

Kapitel 2 — Zehn Tage vorher

Im Büro war es diese Woche außergewöhnlich stressig gewesen, was sich deutlich in der Stimmung widergespiegelt hatte. Die Firma lief nicht gut. Das wusste jeder, der für den Betrieb arbeitete, und auch die Kunden schienen das drohende Unheil zu riechen. Neue Aufträge gingen nur noch vereinzelt ein, und die Bewertungen auf den entsprechenden Plattformen wurden vermehrt negativ. Einzig und allein die Geschäftsführung schien davon nichts mitbekommen zu wollen. Störrisch hielt sie an den Dogmen längst vergangener Zeiten fest.

Am Nachmittag hatte Sünje eines dieser Telefonate, die in letzter Zeit zunehmend ihren Arbeitsalltag bestimmten, geführt. Der Kunde hatte eine E-Mail an die Buchhaltung geschickt und diese mit einem aufgebrachten Anruf in ihrer Abteilung, der Auftragssachbearbeitung, untermauert. Zunächst versuchte sie, freundlich und sachlich zu antworten. Nachdem der Anrufer jedoch seine Selbstbeherrschung verlor, trat auch bei Sünje ihre Erziehung in den Hintergrund. Das restliche Telefonat verlief unschön.

Uwe, der jedes aufgebrachte Wort der unsachlichen Unterhaltung hörte, versuchte, sich hinter dem Computerbildschirm unsichtbar zu machen. Bei einer Körpergröße von knapp einsneunzig ein unmögliches Unterfangen. Als sie das Gespräch wutentbrannt weggedrückt hatte, verharrte er einige Sekunden in völliger Stille, um dann langsam wieder die Tasten der Tastatur zu drücken und dadurch eine normale Bürolautstärke herzustellen.

Keine Stunde später stand ihr Teamleiter, Frank Trölling, im Büro und bat sie zu einem sofortigen Gespräch unter vier Augen. Uwe sprach währenddessen hochkonzentriert in sein Headset und tippte auf seiner Tastatur herum. Er beachtete sie und den Abteilungsleiter nicht, und sie war ihm sehr dankbar dafür. Ihr war klar, dass er simulierte. Das Telefon hatte weder geklingelt noch hatte er ein Telefonat begonnen, bevor die Teamleitung das Büro betreten hatte.

Sie atmete tief durch, schluckte und sah sich im Geiste bereits ihre Kündigung entgegennehmen. Eine Abmahnung wegen einer versäumten Krankmeldung lag bereits seit dem Sommer in ihrer Personalakte.

Eine Kündigung! Das wäre das i-Tüpfelchen auf dem Scherbenhaufen, der einmal mein Leben war, dachte sie.

Wortlos stand sie auf und folgte dem korpulenten Mann auf den Flur.

In Tröllings Büro roch es angenehm nach seinem Aftershave, und sie wäre am liebsten vom bequemen Gästesessel verschluckt worden. Die beiden Sessel vor dem Schreibtisch waren so behaglich, dass sich grundsätzlich alle im Team über Gespräche in seinem Büro freuten.

In dieser Situation freute Sünje sich jedoch nicht. Sie hatte unprofessionell reagiert und wusste es. Der Kunde hatte sich beschwert, und der Kunde hatte immer recht. Morgen wäre sie deswegen arbeitslos.

„Sünje, ich will nicht um den heißen Brei herumreden. Herr Rudlinski rief mich an. Er hat sich über Ihr Verhalten beschwert.“

Eine besondere Eigenart ihres Chefs war es, alle Mitarbeitenden mit Vornamen anzusprechen und zeitgleich zu siezen. Sünje kannte keinen anderen Menschen auf der Welt, der dieses Geflecht nutzte. Sie sah konzertiert auf ihre Knie und nickte. Was gab es da zu widersprechen oder zu rechtfertigen? Sie hatte sich wie eine Anfängerin benommen und fertig. Sie hatte schlechte Arbeit abgeliefert und erhielte die Quittung. Morgen müsste sie zum Arbeitsamt gehen. Zum ersten Mal in ihrem Leben.

„Entschuldigen Sie den Ausdruck, aber Herr Rudlinski ist … ein selbstgerechtes Arschloch.“ Die Stimme ihres Vorgesetzten war mit jedem Wort lauter geworden.

Verwirrt hob Sünje den Kopf und sah Trölling an. Er, der immer akkurat mit Anzug und Krawatte ins Büro kam und für den wahrscheinlich das Wort „politische Korrektheit“ erfunden worden war, hatte „selbstgerechtes Arschloch“ gesagt? Befand sie sich plötzlich in einem Paralleluniversum?

„Na, stimmt doch“, grummelte Frank Trölling etwas beherrschter. „Was können wir dafür, dass der Kopf des Fisches stinkt. Wir sind nur die Flossen. Zumindest vorerst noch.“

Sünje nickte, diesmal unsicher, welche Reaktion in dieser Situation angebracht war.

Frank Trölling fand so schnell, wie er seine Contenance verloren hatte, wieder zu seinem souveränen Auftreten zurück. In einem ruhigen, professionellen Tonfall gab er ihr den Rat, künftig zwar alles denken zu dürfen, aber nur das Richtige zu sagen.

„Ich bekomme keine Kündigung?“, fragte sie zum Schluss des Gesprächs. Sie hasste Ungewissheit und brauchte eine klare Orientierung.

„Kündigung?“, echote Frank Trölling und schüttelte den Kopf. „Wenn überhaupt, gäbe es eine weitere Abmahnung, aber ich wüsste nicht, wofür. Es ist doch nichts passiert, oder?“ Er blickte sie unschuldig abwartend an.

Abermals konnte Sünje nur nicken. „Danke“, murmelte sie und stand auf.

Sie ging zu ihrem Büro zurück. Das sonderbare Verhalten ihres Vorgesetzten war ihr ein deutliches Zeichen, dass die Tage der Firma gezählt waren. Nie zuvor hatte sie ihn so frei von der Leber weg sprechen gehört. Und wahrscheinlich war dies eine einmalige Erfahrung. Eigentlich hätte sie sich über die Reaktion ihres Vorgesetzten freuen sollen, aber dieses Gefühl wollte sich nicht richtig einstellen.

Als sie das Doppelbüro betrat, stand Uwe neben seinem Schreibtisch. Mit den Armen stützte er sich auf der Arbeitsplatte ab. Sein Blick wanderte konzentriert zwischen dem Bildschirm und der Person hin und her, die auf seinem Bürostuhl saß und eifrig viele Tasten drückte.

„Hallo, Münzel“, grüßte Sünje den Mann und ließ sich auf ihren Stuhl plumpsen.

Der IT-Fachmann blickte nur kurz auf, nickte grüßend und vertiefte sich wieder in das vor ihm liegende Problem.

Sünje beobachtete die beiden Männer gedankenverloren. Im Vergleich zu ihr sahen beide sportlich aus. Die zählen bestimmt keine Kohlenhydrate oder müssen darauf achten, ihr Gewicht zu halten, überlegte Sünje.

Schluss jetzt, ermahnte sie sich rasch. Kannst du endlich damit aufhören, andere Menschen mit dir zu vergleichen? Du hast gerade keine Abmahnung erhalten. Freu dich! Und das sind Männer. Die haben einen anderen Stoffwechsel und sind daher kein guter Vergleich für dich.

Sünje seufzte die Gedanken weg und legte ihre Hände auf die Tastatur.

„Siehst du?“, erklärte Münzel. „Wenn du hier bestätigst, hängt sich der Vorgang nicht mehr auf. Das ist ein Systemfehler, der mit der neuen Programmversion nicht mehr auftauchen sollte.“

Uwe atmete hörbar erleichtert aus. „Danke, Mann. Du warst die Rettung. Mal wieder.“ Er klopfte dem Besucher kameradschaftlich auf die Schulter.

Der drahtige ITler stand auf, winkte ab und wandte sich Richtung Tür. „Da nicht für. Macht’s gut, ihr beiden.“ Er hob grüßend die Hand.

Sünje tat es ihm gleich, aber er hatte das Büro bereits verlassen, gefolgt von Uwe.

„Na, wie war’s?“, fragte ihr Kollege einige Minuten später.

Er hatte sich einen Becher Kaffee aus der Küche geholt und für Sünje einen Tee aufgegossen. Dankbar nahm sie ihn an.

„Eigentlich nicht schlecht. Trölling hat … oh, Moment, mein Handy.“

Uwe winkte bestätigend ab und setzte sich zurück an seinen Schreibtisch. Sünje griff nach ihrem Handy, das neben der Tastatur auf dem Schreibtisch lag. „Werkstatt“ stand auf dem Display. Sünje lächelte in der Hoffnung, ihr Auto abholen zu können. Das wurde auch Zeit.

Sie hörte dem Mechatroniker zunächst interessiert zu, aber mit jedem Satz wurde ihr Lächeln verkrampfter. Sie war darauf bedacht, sich nichts anmerken zu lassen. Uwe durfte nicht mitbekommen, dass das Gespräch eine gänzlich andere Wendung nahm als erwartet. Ihre Welt wurde wieder dunkler, stickiger und wertloser.

Ihr alter Kleinwagen war seit ein paar Tagen in der Werkstatt. Uwe hatte ihr von sich aus angeboten, als Überbrückung eine Fahrgemeinschaft zu bilden. Erst hatte Sünje dankend ablehnen wollen, aber die Aussicht, mit vielen anderen Menschen Bus und Bahn teilen zu müssen, hatte sie die Offerte annehmen lassen. Sünje wollte der Firma nicht unnötig Zeit in Form der Anfahrt opfern.

Der Augenblick war da, Feierabend zu machen. Endgültig.

Kapitel 3

Prüfend hob Sünje den dunkelblauen Nylonrucksack ein paar Zentimeter an. Die Schokolikörflasche kippte etwas zur Seite, blieb aber aufrecht stehen. Der Likör blubberte verführerisch. Selbst wenn sich die Flasche später im Bus oder auf der Fähre in die Horizontale legen sollte, wäre es nicht schlimm. Sie war noch originalverschlossen.

Ein kleines Handtuch, ihr Portemonnaie, der Thriller, den sie aktuell las und noch auf der Fahrt beenden wollte, sowie ihr Kleinkramtäschchen hielten die Flasche in Position. Der Blister mit den Tabletten nahm kaum Platz weg.

Wie auf Kommando spürte Sünje den Geschmack des süßen Sahnelikörs auf ihrer Zunge. Sie überlegte, ob sie nicht schon jetzt einen Schluck trinken sollte. Einen letzten unschuldigen Schluck, bevor sie nachher am Flussufer …

O Gott!, dachte Sünje erschrocken. Wenn meine Gedanken jemand hören könnte, dächte der ja, ich wäre meine Mutter. Zumindest die alte Trinkervariante.

Sie schüttelte den Gedanken angewidert ab. Weder wollte sie über ihre Mutter nachdenken noch darüber, was andere Menschen über sie denken könnten. Ihr Limit an Gedanken war erreicht. Es war für alle Beteiligten besser, wenn sie ihren Plan durchzog. Die Enttäuschung der anderen wäre anfangs groß, aber wenn sie die volle Wahrheit erfuhren, würden sie Sünjes Entscheidung verstehen. Vielleicht wunderten sie sich auch, warum sie nicht eher die Reißleine gezogen hatte.

Sie selbst hatte bereits alle Möglichkeiten durchgespielt und war immer wieder zum selben Ergebnis gekommen: Sie konnte es schlicht nicht. Seitdem sie ihr eigenes Geld verdiente, haderte sie mit dem Haushalten. Zunächst waren Ratenzahlungen ihr Verderben gewesen. Alles, was ihr möglich gewesen war, hatte sie in Raten bezahlt. Kleine, scheinbar leicht verträgliche Geldbeträge. Den Überblick hatte sie innerhalb weniger Monate verloren. Gerade, als sie das Gefühl hatte, langsam die Oberhand zu gewinnen, hatte sie Marco kennengelernt. Ihre große Liebe. Ihr größtes Unglück. Sie hatte Marco den Betrag gezahlt, den er verlangt hatte, auch wenn Sünje nicht stolz darauf war, wie sie das Geld organisiert hatte.

Der Anruf der Werkstatt hatte ihr heute Nachmittag den Rest gegeben. Über siebenhundert Euro wollte das Autohaus für den TÜV, Ölwechsel und die neue Lichtmaschine haben.

Woher, bitte schön, soll ich das Geld nehmen?, fragte sie sich. Wo nichts ist, kann auch nichts genommen werden. Ich bin am Ende.

Vorsichtshalber hatte Sünje für ihren letzten Ausflug keine Checkliste geschrieben, wie sie es sonst gern tat. Bei ihrem Hang zum Chaos hätte sie die Liste womöglich irgendwo verloren. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Uwe oder ihre Nachbarin Thekla die Liste gefunden hätte. Das wäre ihr persönlicher Albtraum gewesen, denn sie hätten Fragen gestellt. Fragen, die Sünje nicht beantworten wollte. Sie war eine Versagerin, aber aussprechen wollte sie das Offensichtliche nicht.

Das Einzige, was sich Sünje abzuspeichern erlaubte, war der Verbindungsnachweis zum finalen Ort ihrer letzten Reise.

In Gedanken ging sie noch einmal ihre Checkliste durch. Dabei drückte sie sachte den Daumen ihrer rechten Hand nacheinander an die Kuppen der anderen Finger. Das Handy wurde mit dem Zeigefinger bedacht, der Mittelfinger stand für die Tabletten, der Ringfinger für den Likör und der kleine Finger für die …

„Fuck, die Kopfhörer! Wo sind die?“, murmelte sie. „Eine Kacke ist das!“

Sie verfluchte ihren Ordnungssinn. Warum hatte sie die In-Ear-Kopfhörer nicht bereits nach der letzten Nutzung zur Seite gelegt, wie sie es sonst immer tat? Sie wollte unbedingt währenddessen Musik hören. Nur für sich über Kopfhörer, damit sie nicht die Aufmerksamkeit möglicher Fußgänger, die vielleicht noch mit ihren Hunden eine letzte Runde gingen, auf sich zöge. Die In-Ear-Kopfhörer waren enorm wichtig. Sie musste sie finden, um ihre Playlist „Zeit“ zu hören.

Sünje konnte sich nicht in Erinnerung rufen, wann sie die Playlist ursprünglich erstellt hatte. In Abständen war die Liste gewachsen. Schöne, traurige und schwermütige Songs, die sie bewegten. Ihre Stimmung wiedergaben. Sünje wollte diese Lieder unbedingt hören, wenn sie die letzten Vorbereitungen vor Ort traf, die Tabletten nahm und diese mit dem Schokoladenlikör runterspülte. Wenn der Alkohol seine kurzfristige Wirkung entfaltete und ihr ein Gefühl von innerer Wärme vermittelte, wollte sie die passende Musik dazu hören. In den Fluss treten und von der Strömung weggespült werden.

Ihr Plus beschleunigte sich. Ihr wurde kalt. Jetzt bloß nicht hinsetzen und nachdenken. Bleib in Bewegung, ermahnte sich Sünje. Nicht passiv werden. Wann habe ich sie das letzte Mal gesehen?

Beim Joggen, schoss es ihr durch den Kopf. Oder, um es präziser auszudrücken, dem Versuch, zu joggen. Ein sinnloses Experiment, Sport zu treiben. Nach wenigen hundert Metern war sie ins Walken gewechselt. Bei diesem Misserfolg hatte sie die pastellfarbene Joggingjacke getragen.

Sie ging zur Garderobe, aber dort hingen nur ihre Übergangsjacke und ihre Winterjacke. Sie sah sich suchend um und fluchte innerlich. In Gedanken ging sie ihren Bewegungsablauf nach dem letzten Joggen durch. Die Kopfhörer mussten in einer der Jackentaschen sein. Sie war sich sicher, denn bei aller Unordentlichkeit ging ihr nur selten etwas verloren.

Ein kurzer Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass der Bus in fünfzehn Minuten fahren würde. Hektik war nicht angebracht, aber sie durfte sich keine Verzögerung mehr leisten.

Sünje hastete in ihr Schlafzimmer. Das Chaos im Raum sprang ihr entgegen und klammerte sich besitzergreifend an sie. Die Frage, ob sie nicht zumindest ihre Wohnung vorher hätte aufräumen sollen, streifte ihre Gedanken.

Das meiste wird bestimmt im Müll landen, mutmaßte sie.

Auch gut. Daran konnte sie nichts ändern.

Sie sah auf ihr Handy: Die Zeit lief. Noch zwölf Minuten.

Sünje sah den Kleiderberg auf ihrem Stuhl und seufzte. Wo war ihre verdammte Joggingjacke? Ihr Stuhl war über und über mit Kleidungsstücken der letzten Tage, vielleicht auch Wochen belegt. Der Stuhl an sich war nicht mehr zu erkennen. Irgendwo da auf dem Berg lag ihre pastellfarbene Joggingjacke mit den Kopfhörern.

Sie nahm wahllos Pullis, Shirts und Hosen vom Stuhl und ließ sie auf den Boden fallen. In solchen Momenten war sie selbst von ihrer ständigen Unordnung zutiefst genervt.

Aber auch damit ist bald Schluss, dachte sie bitter.

Ihr Handy piepte. Sünje warf einen flüchtigen Blick auf das Display.

„Mach dich schon mal fertig, damit du deine Verbindung …“ Mehr zeigte ihr die App des öffentlichen Nahverkehrs nicht an. Sie wusste jedoch, auch ohne den ganzen Satz zu lesen, dass die Zeit knapp wurde. Sie schwitzte aus allen Poren.

Da kam aus dem Flur ein Geräusch ins Schlafzimmer geschlichen. Es war ein leises Rauschen, das schnell zunahm und in einem Rums endete. Ihr Kopf ruckte zum Flur. Sie hielt inne und überlegte: Der kleine Rucksack, den sie für die Arbeit nahm, musste von der Kommode gefallen sein. Sie zuckte mit den Schultern. Egal. Das Portemonnaie und alles andere Wichtige war bereits im Nylonrucksack. Der kleine Rucksack war nicht mehr wichtig. Er konnte unbeobachtet auf dem Fußboden liegen bleiben.

Suchend scannte sie weiter den Wäschebergstuhl ab. Ein heller Fleck erregte ihre Aufmerksamkeit, unter einer Bluejeans und einem grauen Kapuzenpullover. Sie griff nach den Stückchen Stoff, hielt mit dem einen Arm die Kleidungsstücke über dem Stoff in Schach und zog mit der anderen Hand ihre Jacke hervor. Ein Glücksgefühl durchströmte ihren Körper. Hastig tastete sie die Taschen ab und fühlte etwas Hartes in der linken Seite.

„Ha!“, rief Sünje triumphierend. Sie wollte mit ihrer Hand in die Tasche gleiten, wurde jedoch von dem Reißverschluss gestoppt, der die Ohrstöpsel schützte. Er hatte sich verhakt und gab die In-Ear-Kopfhörer nicht frei. „Kacke!“, kreischte sie voller Anspannung und Frust. Sie holte tief Luft und zog den Verschluss betont langsam und behutsam nach unten. Der verkeilte Stoff gab den Reißverschluss frei. In der jetzt zugänglichen Tasche lagen die Kopfhörer. Damit hatte sie alles beisammen und konnte den Bus noch erreichen, wenn ihr nichts mehr dazwischenkam. Hastig verließ sie das Schlafzimmer, um sich den Rucksack aus der Küche zu greifen.

Weiter als in den Flur kam sie jedoch nicht. Sie registrierte zu spät, dass sich ihr linker Fuß in etwas verfangen hatte. Prompt verlor sie das Gleichgewicht und fiel ungebremst auf den gefliesten Boden.

Eine Schrecksekunde lang regte sie sich nicht. Sie lag einfach da und versuchte zu verstehen, was passiert war. Etwas in ihrem Körper hatte sich maßgeblich verändert, das spürte sie. Ein Schmerz durchzuckte ihr linkes Fußgelenk. Sie setzte sich vorsichtig auf und sah zu ihrem Fuß. Die Schlaufen ihres Büro-Rucksacks und ihr Fuß waren miteinander verknotet.

„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“, fluchte Sünje. Konnte ein Mensch so viel Pech haben?

Mühsam holte sie ihr Handy aus der hinteren Hosentasche und prüfte die Uhrzeit. Sie hatte noch sieben Minuten. Sie konnte den Bus mit etwas Glück noch erreichen. Das war äußerst wichtig, denn den letzten Bus durfte sie auf keinen Fall verpassen.

Vorsichtig versuchte sie, die Riemen vom Gelenk zu streifen, hielt aber erschrocken inne, als ein ihr unbekannter Schmerz vom Knöchel ausging. Ohne Vorankündigung war er da und forderte ihre gesamte Aufmerksamkeit. Sünje jaulte wie ein getretener Welpe.

Nachdem der Schmerz sich verzogen hatte, holte sie tief Luft und trennte bedacht die Trageriemen vom Knöchel. Ganz vorsichtig, denn diesen Schmerz wollte sie nicht noch einmal spüren.

Obwohl ihr die daraus resultierende Folge bewusst war, schaute sie trotzdem ein letztes Mal auf ihr Handy. Den Bus würde sie nicht mehr rechtzeitig erreichen.

Kapitel 4

Thekla hörte einen lauten dumpfen Aufprall und sah besorgt zur Zimmerdecke. Sie überlegte einen Moment, welcher Bereich der kleinen Einliegerwohnung sich über ihr befand. Dort musste der Flur sein. Das Geräusch hatte unnatürlich und eindringlich elementar geklungen. Sie befürchtete fast, in der Decke Risse zu sehen. Hatte ihre Mieterin einen massiven Schrank umgestoßen?

Haben die jungen Leute heutzutage überhaupt noch stabile praktische Schränke oder nur noch Regale und Anrichten?, fragte sie sich.

Thekla versuchte, sich die Einrichtung von Sünje ins Gedächtnis zu rufen, aber außer grober Konturen wollte sich kein konkretes Bild abzeichnen. Der letzte Besuch bei Sünje war jedoch auch bereits einige Monate her, die Erinnerung verblasst.

„…fe“, hörte es Thekla aus der Nachbarwohnung.

Thekla legte ihren Nordseekrimi, den ihr eine Bekannte aus dem Yoga-Anfängerkurs empfohlen hatte, aus der Hand und lauschte. Hatte Sünje „Hilfe“ gerufen? Oder hatte sie vielleicht Besuch und schlicht laut gelacht, weil der Besuch eine lustige Bemerkung gemacht hatte?

Thekla bekam nur bedingt mit, wer das gemeinsame Treppenhaus betrat, und sie hatte auch kein Interesse daran, ihre junge Mieterin zu überwachen. Der Umgang war sehr vertrauensvoll, und sie hatte Sünje gegenüber fast schon freundschaftliche Gefühle. Trotzdem wahrten beide die Privatsphäre der jeweils anderen. Diese Art der Nachbarschaftsbeziehung gefiel ihr sehr, und sie wollte daran auch nicht rütteln, trotz der negativen Aura, die die junge Frau immer wieder umgab. Thekla wusste um ihre schwere Kindheit und fühlte sich geehrt, dass Sünje sie ihr vor Jahren einmal offenbart hatte.

Thekla hingegen hatte sich nicht geöffnet. Über den eigenen Schatten zu springen, war nicht einfach für ihre Generation. Vielleicht würde Thekla ihr eines Tages einmal ihre persönliche Geschichte erzählen. Aber nicht heute. Heute hatte Sünje Besuch. Thekla hatte nicht das Ansinnen, zur alten, neugierigen und allwissenden Hausmeisterin zu mutieren und nachzufragen, ob in der oberen Wohnung alles in Ordnung sei.

Sie wollte sich gerade wieder ihrem Krimi zuwenden, als sie leise, aber deutlich ihren Namen hörte. Vielleicht war Sünje doch etwas zugestoßen?

Lieber einmal zu viel nachsehen als zu wenig, überlegte Thekla.

Sie schloss den Krimi, der es bisher nicht geschafft hatte, sie zu fesseln, legte ihn auf den gekachelten Sofatisch, stemmte sich hoch und ging zur Wohnungstür.

Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, rief sie der Entfernung entsprechend laut: „Sünje, alles in Ordnung bei dir?“ Dann lauschte sie.

Keine Antwort.

„Sünje? Alles in Ordnung?“, wiederholte sie die Frage ins kleine Treppenhaus.

„Nein!“, kam es gequält aus dem oberen Stockwerk zurück. „Ich brauche deine Hilfe!“

Erschrocken legte Thekla ihre rechte Hand auf den Brustkorb. Sie hatte sich nicht getäuscht. Sünje war in Not und sie gab es auch noch zu. Es musste etwas Schwerwiegendes passiert sein. Ihre Mieterin war kein Mensch, der gern oder oft um Hilfe bat.

„Ich komme!“ Suchend sah sich Thekla um. Wo waren ihre Gartenschuhe? Sie konnte doch nicht in ihren Pantoffeln die Wohnung verlassen. Was würde Sünje von ihr denken?

Die Gartenschuhe standen auf dem Schuhregal, wo sie immer standen, stellte Thekla beruhigt fest. „Ordnung ist das halbe Leben“, war ihr Motto. Sie ging hastig zum Schuhregal und streifte sich einen Hausschuh ab, hielt jedoch abrupt inne. Wen interessierte es, welche Schuhe sie trug? Sünje bestimmt nicht, und Gottfried, ihr verstorbener Mann, war nicht mehr. Schnell schlüpfte sie wieder in ihren Pantoffel und lief, so schnell es ihre alten Knie zuließen, die Treppe hoch.

Auf halber Strecke machte sich ihr Rheuma bemerkbar und zwang sie zu einer kurzen Pause. Schmerzerfüllt verzog sie das Gesicht. Warum ausgerechnet jetzt, schimpfte sie mit ihrer Krankheit. Warum immer, wenn ich dich gerade nicht gebrauchen kann?

„Ich bin sofort da!“, rief Thekla aufgeregt, nachdem der Schmerz sich wieder verzogen hatte. Sünje sollte auf keinen Fall denken, dass sie sich Zeit ließ.

Oben angekommen klopfte sie vorsichtig an die Wohnungstür und ärgerte sich im selben Moment über ihre Angewohnheit. Sünje hatte sie gerufen, weil sie Hilfe brauchte. Es gab keinen Grund, anstandshalber zu klopfen. Bevor ihre Mieterin „Herein“ rufen konnte, öffnete Thekla daher sachte die Wohnungstür.

Was für ein Glück, dass wir so viel Zutrauen haben, dass wir die Türen nicht abschließen, dachte sie. Das zeugt von einem Grundvertrauen. Ein gutes Stichwort. Die Sache mit der Mietzahlung muss ich zeitnah ansprechen. Missverständnisse sind nicht gut.

---ENDE DER LESEPROBE---