Tödliches Vergessen - Tina Lundgren - E-Book

Tödliches Vergessen E-Book

Tina Lundgren

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Schuld findet dich, egal wie schnell du rennst …
Der packende Survival-Thriller für Fans von Loreth Anne White

Als Strafverteidiger Tim Eichner sich auf ein letztes Treffen mit seiner Exfreundin Vanessa einlässt, hätte er nicht ahnen können, was ihn erwartet. Denn am nächsten Morgen wacht er in ihrem Bett auf, neben sich die blutüberstömte Leiche seiner Exfreundin. Panisch flieht Tim in eine einsame Waldhütte, denn eins weiß er sicher: Niemand wird ihm glauben, dass er sich an nichts erinnern kann. Bald schon ist ihm die Polizei auf der Spur, doch die junge Kriminalbeamtin Miriam Waltz, eine Bekannte von Tim, zweifelt an seiner Schuld. Kann sie den Fall lösen, bevor Tim den zehrenden Kampf gegen die Wildnis verliert?

Erste Leserstimmen
„Dieser rasante Thriller ist clever konstruiert und wird am Ende gut aufgelöst.“
„Die Charaktere sind feinfühlig und authentisch gezeichnet, sodass ich die ganze Zeit gefesselt war.“
„Besonders gepackt hat mich an diesem Krimi Tims Überlebenskampf in der Wildnis.“
„realistisch, bedrohlich und durchgehend spannend“

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 479

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Über dieses E-Book

Als Strafverteidiger Tim Eichner sich auf ein letztes Treffen mit seiner Exfreundin Vanessa einlässt, hätte er nicht ahnen können, was ihn erwartet. Denn am nächsten Morgen wacht er in ihrem Bett auf, neben sich die blutüberstömte Leiche seiner Exfreundin. Panisch flieht Tim in eine einsame Waldhütte, denn eins weiß er sicher: Niemand wird ihm glauben, dass er sich an nichts erinnern kann. Bald schon ist ihm die Polizei auf der Spur, doch die junge Kriminalbeamtin Miriam Waltz, eine Bekannte von Tim, zweifelt an seiner Schuld. Kann sie den Fall lösen, bevor Tim den zehrenden Kampf gegen die Wildnis verliert?

Dies ist eine Neuauflage des bereits 2020 erschienenen Titels Die Flucht.

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe Januar 2021

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-422-8 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96817-426-6

Vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack, Hamburg.

Copyright © 2020, dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2020 bei dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH erschienenen Titels Die Flucht (ISBN: 978-3-96817-031-2).

Covergestaltung: Vivien Summer unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com: © SanchaiRat © Eky Studio © andreiuc88 Lektorat: Daniela Höhne

E-Book-Version 06.07.2023, 12:57:22.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Unser gesamtes Verlagsprogramm findest du hier

Website

Folge uns, um immer als Erste:r informiert zu sein

Newsletter

Facebook

Instagram

TikTok

YouTube

Tödliches Vergessen

Vorwort

Wie gehst du damit um, wenn du ein Mörder bist? Diese Frage war die Idee zu meinem Roman.

Sie kam mir bei einer Schreibaufgabe, die wir uns in meiner Autorengruppe „Waldstadtstifte“ gestellt haben. Gemeinsames Setting: Ein Waldhotel, in dem bei einem Unwetter der Strom ausfällt. Das Hotel bleibt einige Zeit von der Außenwelt abgeschnitten. Was könnte passieren?

Meine Gedanken sprudelten: Ein Blitz zuckt durch die Dunkelheit, gleichzeitig knallt der Donner. Regen platscht dir ins Gesicht. Du zitterst, hustest – ein ratterndes Röcheln. Es knackt, ein dicker Ast kracht neben dir zu Boden. Sehr knapp! Du musst raus aus dem Wald. Siehst die Lichter des Hotels. Sollst du es wagen? Du – Jan Bischof – bist ein gesuchter Mörder, doch du wagst dich in das Hotel. Denn du bist körperlich und seelisch am Ende.

Die Rezeptionistin schenkt dir ein Höflichkeitslächeln, doch in ihren Augen erkennst du Abscheu. Du siehst abgewrackt aus, dabei warst du mal ein erfolgreicher Strafverteidiger und hast Wert auf dein Äußeres gelegt. Du bist froh, erstmal raus aus dem Sturm zu sein. Du kannst durchatmen und dich kurz ausruhen … doch dann fällt der Strom aus, du wirst erkannt und kommst nicht mehr in dein Zimmer. Ohne Schuhe, deine Sachen und dein Geld fliehst du wieder in den Wald. Und du hattest gedacht, es hätte nicht mehr schlimmer kommen können.

Mach doch mehr daraus, sagten meine Autorenkolleginnen. Ich plante einen Roman in Form von zwölf Kurzgeschichten. Ein experimenteller Text, Identifizierung mit dem Mörder, Du-Perspektive … Gibt es eine Situation, die dich zum Handeln treibt, das gegen all deine Überzeugungen steht?

Doch mein Konstrukt platzte. Ein Thriller brauchte mehr als ein Kurzgeschichtenformat und ein paar aufrüttelnde Fragen, sondern den Fluss eines Romans. Also entwickelte ich meine Hauptfigur neu. Sie erhielt einen neuen Namen: Tim Eichner war geboren. Ich erweiterte die Handlung zu einem ganzen Roman und wechselte in die personale Perspektive. Die Kriminalbeamtin Miriam Waltz kam hinzu, mit einer eigenen Vergangenheit, Zielen und Wünschen, die dem Roman eine weitere Dimension verliehen.

Das Endprodukt hältst du in den Händen. Ich wünsche dir viel Lesevergnügen. Lass dich von Tim Eichner in die Gedankenwelt eines Mörders entführen. Vielleicht pflanzt er dir ebenfalls die Frage in den Kopf: Was würdest du tun, wenn du einen Menschen getötet hast?

Tina Lundgren

Kapitel 1

Metallischer Geruch kratzte Tim in der Nase, noch bevor er die Augen aufschlug. Vorsichtig drehte er den Kopf, blinzelte.

Blut!

Er schnappte nach Luft und sprang aus dem Bett, stolperte über Schuhe, stürzte zu Boden, prallte mit dem Rücken gegen die Wand.

Eine Frau.

Ein Messer in ihrem Bauch. Blutdurchtränkte Bettlaken.

Ihre leeren Augen starrten Richtung Decke.

Tims Herz raste. Was war passiert? Hektisch sah er sich um. Ein Schreibtisch, ein Schrank, Parfumflacons auf der Fensterbank, seine Kleidung über dem Schreibtischstuhl. Wie war er hierhergekommen? Wann hatte er sich in dieses Bett gelegt? Neben … Vanessa? Ihm wurde schwindelig, der Boden unter ihm schwankte. Langsam zog er sich am Türrahmen hoch. Seine Hände zitterten, die Knie wurden weich, drohten jeden Augenblick, einzuknicken. Lebte sie womöglich noch?

Er trat näher ans Bett heran. Der Gestank nach Tod und Endgültigkeit stieg ihm in die Nase. Saure Galle reizte seine Kehle, nahm ihm die Luft zum Atmen. Er presste die Finger gegen ihre Halsschlagader. Was war er nur für ein Trottel! Natürlich war dort kein Pulsieren, kein Leben mehr in diesem Körper. Er würgte, beugte sich zur Seite und erbrach sich. Es platschte auf den billigen Teppich. Widerlich, dieser kurze Moment, in dem man keine Luft mehr bekam, keine Kontrolle hatte. Nie verlor er die Kontrolle. Was war hier los?

Er stand auf und wich ein paar Schritte zurück. Der Raum kam ihm plötzlich so klein vor. Die Wände schienen auf ihn zuzukommen. Luft! Er brauchte Luft. Er tastete mit der Hand nach dem Griff und kippte das Fenster an. Wieso war es nicht geöffnet gewesen? Er schlief immer mit geöffnetem Fenster.

Der Puls wummerte in seinen Schläfen. Tim konzentrierte sich, lenkte die Gedanken auf den gestrigen Abend, doch die Erinnerung war wie glitschige Seife, die ihm immer wieder aus der Hand rutschte. Ein pochender Schmerz drückte gegen seine Schädeldecke. Wie viel Alkohol hatte er gestern in sich hineingekippt?

Vanessa hatte ihn angerufen. Viermal. Er hatte ihre Anrufe ignoriert, hatte vergessen, ihre Nummer zu sperren. Warum hatte sie nicht begreifen können, dass es mit ihnen nichts wurde? Er hatte von Anfang an klargemacht, worauf es hinauslief: eine Affäre. Mehr nicht. Er hatte keinen Bock mehr auf Enttäuschungen. Gefühle konnten ihm gestohlen bleiben. Eine langfristige Beziehung mit Vanessa – nein danke. Sie hatte ihm nicht glauben wollen. Und dann hatte sie ihm diese WhatsApp geschrieben. Wieso hatte er die Nachricht nicht direkt gelöscht? Drei Wörter, die alles verändert hatten: Ich bin schwanger. Seine Beine hatten gezittert, er hatte sich an einem Stuhl festhalten müssen. Wütend hatte Tim zurückgerufen. Er hatte ihr klargemacht, dass es nicht sein könne. Weil sein Arzt ihm vor Jahren attestiert hatte, dass er zeugungsunfähig war. Was hatte sie noch gesagt? Tim schlug sich gegen die Stirn, wollte die Erinnerungen heraufbeschwören. Gesprächsfetzen, ihre verweinte Stimme, ein Gefühl der Verlorenheit.

Sie hatte ihn überredet, sich mit ihr im Café Extrablatt zu treffen. Sie war in einem roten Cocktailkleid aufgetaucht, ein Vamp, hatte ihn gereizt, sie gleich wieder zu nehmen, war sich mit ihren feingliedrigen Fingern durch das braune Haar gefahren. Sie versprühte diese erotische Aura, die ihn anzog, aber diesmal hatte sie die Rechnung ohne ihn gemacht. Er war kein Mann für eine Beziehung oder gar eine Ehe. Verbindung auf Lebenszeit. Niemals! Zudem war sie viel zu jung. Sie hatte den Schwangerschaftstest nicht dabei gehabt. Er hatte darauf bestanden, ihn zu sehen, und war mit zu ihr gegangen. Sie hatte den Test aus dem Badezimmer geholt. Er hatte ihr an den Kopf geworfen, dass er nicht der Vater sein konnte. Erneute Beteuerungen, nur er käme als Vater infrage. Sie strafte Ärzte Lügen. Er ein Vater? Konnte er doch Kinder zeugen? Vielleicht hatten sich die Mediziner geirrt. Wenn es wirklich so war, dann …

Er verdrängte den aufkommenden Gedanken und besann sich wieder auf den gestrigen Abend. Sie hatte Sekt aufgemacht. Für sich nur einen Schluck – klar mit einem Wesen im Bauch. Und er? Er hatte das Zeug hinuntergekippt. Wollte die Neuigkeit im Rausch ertränken. Und dann? Nichts mehr. Leere in seinem Kopf. Die Synapsen wie durchgeschnitten, ausgelöschte Stunden. Wie viel hatte er sich nur genehmigt? Und was, zum Teufel, war dann geschehen?

Er blickte zu ihr, zu dem Blut, dem Messer – zu der Leiche. Er schluckte. Ein Schauer durchfuhr ihn. Er hatte direkt neben ihr geschlafen. Sie waren allein in der Wohnung. Und sie war tot! Also konnte nur er … Nein! Es konnte, durfte nicht sein. Er würde doch keinen Menschen umbringen.

Wie absurd!

Und dann eine Frau, seine Affäre, die ihn zwar mit ihrer Anhänglichkeit bedrängte, aber auf ihre Weise wunderbar war. Jung und lebenslustig. Tim drückte den Handballen gegen die Stirn und versuchte, so den pochenden Schmerz zu vertreiben.

»Scheiße!«, schrie er und setzte murmelnd hinterher: »Vanessa! Was ist passiert?«

Er musste die Polizei rufen. Die würde den Tathergang rekonstruieren. Es würde herauskommen, dass er nicht der Täter war.

Bullshit!

Seine Fingerabdrücke waren überall! Er war der Letzte, der bei ihr gewesen war, hatte neben ihr geschlafen, womöglich war sein Sperma in ihr. Das würde für eine Untersuchungshaft reichen. Sie würden ihn einsperren, verhören, ebenso seine Familie und Freunde. Sein Partner Richard und seine Angestellten würden davon hören, es würde in der Zeitung stehen. Auch wenn er wieder auf freien Fuß käme: Sein Ruf wäre ruiniert. Der Strafverteidiger, der selbst des Mordes verdächtigt wurde. Wer würde ihm noch vertrauen? Er ballte die Hand. Scheiße. Was redete er sich ein? Wer sollte es sonst gewesen sein? Der abgenutzte Teddybär am Kopfende des Bettes?

Tim schüttelte den Kopf. Die Erkenntnis erwischte ihn eiskalt: Er musste der Mörder sein, so absurd es auch sein mochte. Er hatte Vanessa getötet. Aber wieso?

»Was hast du nur getan?«, schrie er sie an.

Sie musste über das Baby geredet haben. Sein Baby? Sie hatte doch die Pille genommen, hatte sie zumindest gesagt. War das eine Lüge gewesen? Hatten sie sich gestritten? Darüber? Aber das war doch kein Grund, sie zu töten! Und doch musste irgendwas passiert sein, irgendwas …

Er konnte sich kein Szenario ausmalen, das ihn dazu getrieben haben mochte, ihr ein Messer in den Bauch zu rammen. Trotzdem lag sie tot vor ihm. Er hatte einen Menschen auf dem Gewissen. Nein. Zwei! Er hatte auch das ungeborene hilflose Wesen kaltblütig erstochen. Ein eisiger Schauer lief ihm den Rücken herunter. Mit dieser unvorstellbaren Realität musste er sich abfinden. Blaue Sterne tanzten vor seinem Blickfeld. Er hustete, keuchte.

Was sollte er tun? Nachdenken, verdammt noch mal! Er schaute sich um. Den Tatort reinigen und die Leiche verschwinden lassen? Aber wohin mit ihr? Vielleicht in den Unterbacher See oder in den Rhein. Das war albern. Jemand würde ihn beobachten, die Leiche würde auftauchen. Die Kriminaltechniker würden etwas finden, auch wenn er gründlich war. Eine Faser, eine DNA-Spur. Das war keine Option.

Weg! Er musste weg!

Aber wohin? Ihm kam ein Gedanke. War er dem gewachsen? Er biss die Zähne zusammen. Fliehen und alles hinter sich lassen? Hatte er keine andere Idee? Er hatte doch sonst immer die besten Einfälle. Sollte er ins Ausland? Nach Guinea oder Honduras? Staaten, die gesuchte Straftäter an Deutschland nicht auslieferten. Aber was, wenn Vanessa so schnell gefunden wurde, dass er noch bei der Passkontrolle am Flughafen abgefangen wurde? Außerdem krampfte sich sein Magen zusammen, wenn er daran dachte, in ein Flugzeug steigen zu müssen. Er brauchte eine andere Lösung. Der verlassene Bauernhof seiner Großeltern lag brach, seitdem seine Oma im letzten Jahr gestorben war. Dort könnte er sich verstecken. Nein. Die Verbindung war zu offensichtlich, die Polizei würde ihn dort rasch ausfindig machen.

Querdenken, neue Wege gehen!

Er könnte ehemalige Mandaten anrufen und nach einem Versteck fragen. Vielleicht besaß jemand eine abgelegene Hütte. Auch das kam nicht infrage. Die Polizei war clever, es würde nicht lange dauern, bis sie vor seiner Tür stehen würden.

Er musste verschwinden, unsichtbar werden. Aber wie?

Wald, Freiheit, kein Menschenkontakt. Er hatte nach einem Survivaltraining gegoogelt und diverse Termine im Blick gehabt. Ein Leben in der freien Natur. Was war schon dabei?

»Ahhh!« Er schlug den Kopf gegen den Türrahmen. Wie hatte es dazu kommen können? Es musste ein Traum sein. Wutwellen durchfluteten seine Glieder. Er blickte zu Vanessa. Seine DNA in ihrer Wohnung – überall. Sie würden ihn kriegen. Er war dran, kein Entkommen. Totschlag – ohne Zweifel. Anhörung, Anklage, das ernste Gesicht von Richterin Hellmann. Die Lippen mit dem albernen Pink würden das Urteil sprechen. Mindestens fünf Jahre, wohl eher zehn. Strafgesetzbuch zweihundertzwölf. Wer wusste es besser als er?

Er spürte die Handschließen um die Handgelenke zurasten, die Hand, die seinen Oberarm packen und ihn aus dem Gerichtssaal führen würde, rein ins Auto, auf den Rücksitz rechte Seite, den Schlampersitz. Wer da alles schon gesessen hatte.

Es würde in die JVA Düsseldorf gehen. Das graue Gebäude, die Gitter, die kleinen Zellen. Die Tür würde sich hinter ihm schließen, mit einem Klacken ins Schloss fallen, er würde allein sein, fünf Quadratmeter Lebensraum. Zu wenig, um zu atmen. Zu wenig, um zu leben. Sein Hals schwoll an, er fasste sich an die Kehle. Schweiß rann ihm den Rücken hinunter.

Es roch nach frisch gemähtem Gras und Blumenerde – wie vor fünfundzwanzig Jahren. Mit sieben Jahren hatte er sich für ein paar Minuten im Schuppen verstecken wollen. Dann hatte ein Luftzug die Tür ins Schloss gefegt. Er hatte sie nicht mehr aufbekommen, an der Klinke gezerrt, gegen das Holz gehämmert und Rotz und Wasser geheult. Seine Eltern waren im Haus, wähnten ihn in seinem Zimmer. Vier Stunden war er eingeschlossen gewesen. Vier Stunden Dunkelheit und Begegnungen mit Monstern und Scar, dem bösartigen Löwen aus seinem Lieblingsfilm, der ihn in die düsterste Ecke gedrängt hatte. Es war Tim vorgekommen wie ein ganzer Tag, bis seine Mutter ihn aus der Hütte des Schreckens rettete. Nie wieder hatte er diesen Schuppen betreten. In vielen Nächten war der Albtraum über ihn geschwappt und hatte ihn aufgeschreckt.

Nein! Er ließ sich nicht einsperren. Niemals!

Tim strich sich über die schweißfeuchte Stirn und schüttelte den Kopf. Vanessa war tot, er der Letzte in der Wohnung. Was sollte ein Anwalt daraus machen? Verminderte Schuldfähigkeit? Warum? Wegen des Alkohols? Lachhaft.

Die Gefängnismauern rauschten auf ihn zu, verkleinerten die Zelle auf die Größe eines Umzugskartons, er musste die Beine anziehen, um hineinzupassen, die Luft wurde knapp. Das würde er nicht durchstehen! Ein erneuter Würgereiz, bloß saure Galle, das Gefühl zu ersticken.

Er blickte zu Vanessa, zu dem leblosen Körper. Das Blut – rot. Sie war zur Leiche geworden. Zu einem Fall. Und er zu einem Täter, einem Monster. Solche Anblicke bekam er sonst nur auf Tatortfotos zu sehen. In echt sah ein Strafverteidiger sowas normalerweise nicht.

Tim lief ins Bad und spritzte sich Wasser ins Gesicht, spülte den Mund aus und rieb sich die Augen, um so die Benommenheit auszutreiben. Er brauchte einen klaren Kopf, einen Plan. Die Idee verfestigte sich. Wald. Überleben. Freiheit. Sollte er alles hinter sich lassen? Die Wohnung, sein Leben und alles, was er sich aufgebaut hatte? Vom Badezimmerfenster aus konnte er auf einen Park blicken. Ein Mädchen im Teenageralter ging spazieren, um sie herum sprang ein Golden Retriever. Tim hatte sich früher einen Hund gewünscht. Sein Vater hatte es rigoros abgelehnt. Er würde stinken und Dreck machen. Wenn er und seine Schwester Tiere sehen wollten, sollten sie zur Oma gehen. Rein und sauber musste es sein. Nicht nur in der Wohnung, auch nach außen hin. Was sollen die Nachbarn sagen? Oft hatte Tim diesen Spruch zu hören bekommen.

Und nun? Vater würde von der Tat erfahren, noch bevor es in den Medien kursierte. Die Kriminalpolizei würde seine Eltern verhören und seine Schwester. Beim Gedanken an sie fuhr ihm ein Stich ins Herz. Niemand sollte Nicole und ihre Kinder mit reinziehen. Sie würde sich zu Tode erschrecken. Er würde es ihr so gerne ersparen. Am liebsten würde er sie anrufen und es ihr erklären. Die fehlende Erinnerung. Dass er es selbst nicht glauben konnte. Tim wünschte sich, dass seine Schwester ihn verstand, ihn in den Arm nahm und er mit ihr darüber reden konnte. Hass mich nicht, dachte er.

Zurück im Schlafzimmer zwang er sich, Vanessa ein letztes Mal anzusehen. Sie war immer noch schön. Was hatte er bloß getan? Hätte er sie doch niemals kennengelernt. Alles zu spät! Zu. Spät. Scheiß Alkohol! Er schrie seine Wut hinaus und rang nach Luft, fühlte sich ein bisschen besser. Was war, wenn … Kalle … Wäre das eine Möglichkeit? Würde er es schaffen, hier sauber zu machen? Er griff nach dem Smartphone, das ihm fast aus der Hand fiel. Tim hatte Kalle rausgehauen und der hatte gesagt, wenn er mal ein Problem haben würde, könnte er helfen. Stimmte das? Aber dann gäbe es einen Mitwisser mehr. Und die Nachbarin hatte Tim gestern Abend gesehen. Sie würde ihn bestimmt beschreiben können.

Nein! Es gab keinen anderen Weg. Er musste sich von seinem bisherigen Leben verabschieden. Er blickte aus dem Fenster. Eine Frau im adretten Anzug rannte zu einem Smart, sprang hinein und schlängelte sich in den Berufsverkehr. Die Stadt begann zu erwachen.

 *** 

Tim betrat sein Appartement und lehnte sich von innen an die Tür. Das Blut und die Aufregung pulsierten durch seine Adern. Tief durchatmen. Geschafft. Er war unbemerkt aus ihrer Wohnung und dem Haus gelangt. Mit zittrigen Knien durchquerte er den Flur, strich über die Kommode, berührte die Metallgriffe. Die Glasschale war mal wieder überfüllt mit Kassenbons, Kaugummis, Treuepunkten von Rewe, Zahnseide und dem Fahrradreparaturset. Zeit, mal wieder auszumisten. Quatsch. Jetzt war alles egal. Sein Spiegelbild blickte ihn mit trüben Augen an. Unrasiert, die Haare zerzaust, das Hemd zerknittert, am Ärmel Blutspuren.

Er ging ins Bad, ließ die Kleidung auf den Boden fallen und stieg unter die Dusche. Er stellte das Wasser so heiß, wie er es gerade so ertragen konnte. Schloss die Augen und stützte sich an den Fliesen ab. Das Wasser belebte seine Haut. Er lebte. Noch war er frei. Neue Energie durchflutete seine Glieder. Er wusch sich mögliche DNA-Spuren und den Hauch des Todes vom Körper. Als seine Fingerkuppen schrumpelig wurden, trocknete er sich ab. Er zog sich an und stopfte die dreckige Kleidung in einen Plastikbeutel. Vanessa. Es kam ihm vor wie eine verblasste Erinnerung. Vielleicht war alles nur ein perfider Traum ohne Erwachen? Er schüttelte den Kopf, kannte die Wahrheit.

Im Arbeitszimmer zog er den Survivalguide aus dem Bücherregal. Hätte er ihn doch schon gelesen. Eine nette Idee, hatte er sich gedacht, als er das Buch bestellt hatte. Mal ein paar Tage im Wald bleiben – ohne Zelt und Komfort. Seine Hände zitterten, als er das erste Kapitel »Vorbereitungen« aufschlug. Er fand eine Checkliste, strich alles an, was sich in der Wohnung befand: Regenjacke, Mütze, Halstuch, Ersatzsocken, Ersatzschnürsenkel, Tüten, Sonnenbrille, Feuerzeug, Taschenlampe, Messer, Erste-Hilfe-Set, Rettungsdecke, Abfallbeutel, eine Schnur oder Seil, Lebensmittel, Trinkflasche, Besteck, Topf, Becher, Toilettenpapier, Taschentücher, Insektenschutzmittel.

Resigniert schüttelte er den Kopf. Wie sollte er das alles in den Rucksack bekommen? Er musste Prioritäten setzen. Er suchte die Sachen zusammen und durchforstete den Medizinschrank. Verbandszeug, Pflaster, Wundsalbe, aber kein Antimückenspray. Bestimmt nicht tragisch. Die Rettungsdecke aus der ausrangierten Verbandstasche aus dem Auto konnte auch nicht schaden. An transportablen Lebensmitteln fand er Butterkekse, eine Packung Studentenfutter, zwei Bananen, drei Äpfel, zwei Dosen Tunfisch und fünf Scheiben Brot. Frischkäse aufs Brot, mit Salami und jeweils einem Salatblatt – so wie Nicole früher ihre Schulbrote zusammengebaut hatte. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals, er schluckte.

Nicht drüber nachdenken. Funktionieren. Wie im Gerichtssaal. Den Plan befolgen, die Strategie beachten.

Sorgfältig packte er den Rucksack. Das verdammte Ding war viel zu klein. Wieso hatte er sich damals keinen größeren zugelegt? Tim packte nur eine Rolle Toilettenpapier und zwei Flaschen Wasser ein. Er musste unterwegs Wasser besorgen. Wasserfilter oder Wasserreinigungstabletten standen in der Checkliste. Wo sollte er die herbekommen? War nicht gerade etwas, das sich in jeder Haushaltsapotheke finden ließ. Dann musste er eben ohne auskommen. Und Funktionsunterwäsche? Auch die besaß er nicht. Dafür schlang er sich einen Fleecepullover um die Hüften und setzte die Kappe mit dem Emblem eines Pokerturniers auf. Was Besseres hatte er nicht. Das Halstuch und die Sonnenbrille sortierte er aus und steckte dafür noch die Zahnbürste ein.

Tim schulterte den Rucksack und warf einen letzten Blick in die Wohnung. Der Ambilight-Fernseher, das teure Sofa, die Playstation. All das war ihm so wichtig gewesen. Was blieb ihm davon? Was würde damit, wenn er unauffindbar blieb? So hoffte er doch. Verschollen in einem anderen Universum, fernab von der Schuld und den engen Zellen. Allein in der Freiheit. In der Natur! Ein Erlebnis auf Lebenszeit.

Es hörte sich endgültig an. Vielleicht würde es nicht so schlimm werden. Vielleicht fand er seinen Frieden und konnte sich irgendwo ein neues Leben aufbauen. Mit einem neuen Zuhause, einem Rückzugsort und neuen Freunden. Vielleicht würde er untertauchen können und mit der Zeit würde Gras über den Fall wachsen. Auch wenn sein Foto in den Medien kursieren würde, hätten die Menschen sein Gesicht in zwei oder drei Jahren vergessen. Hoffentlich. Ein neuer Name, ein anderes Leben. Aber erst mal weg von hier.

Er schloss die Tür und stieg die Treppen hinunter. Robert trottete ihm entgegen, Fluppe im Mund, brummte etwas, das eine Begrüßung sein konnte. Sein Herz pochte. Er hielt die Luft an, schielte auf seine Hände. Alles abgewaschen, da war nichts mehr. Sein Nachbar konnte nicht erkennen, was passiert war. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass ein Wort auf seiner Stirn eingebrannt war: Mörder. Dabei war er kein Mörder im juristischen Sinne. Totschlag würde die Anklage lauten. Aber »Totschläger« würde keiner sagen. Seine Eltern, Freunde, Bekannte würden keinen Unterschied machen. Sie würden ihn einen »Mörder« nennen.

Tim atmete erleichtert auf, als er draußen auf die Straße trat. Er stieg in den blauen Ford Mustang, sein Traumauto seit Kindertagen. Mit den Fingern zeichnete er das Pferd auf dem Lenkrad nach. »Ich vermisse dich jetzt schon«, flüsterte er.

Er drehte den Schlüssel im Zündschloss. Die Lichter des Armaturenbretts leuchteten auf und die Musik sprang an. Tiësto. Sein Lieblings-DJ. Er drehte den Lautsprecherregler auf, genoss die Beats in den Ohren und das Wummern in der Brust. Genialer Subwoofer. Musik – auch darauf würde er verzichten müssen.

Er schob die Gedanken beiseite und fuhr los. Er durfte nicht sentimental werden, sondern musste zusehen, dass er untertauchte. Wer wusste schon, wann Vanessa gefunden wurde und wie schnell man ihm auf die Spur kam. Vermutlich würde sie bereits heute vermisst werden, in der Schule. Vielleicht würde noch an diesem Tag jemand in der Wohnung nachsehen. Länger als drei Tage würde es sicherlich nicht dauern.

Sein erster Weg führte ihn zur Filiale der Deutschen Bank. Er parkte auf dem Kundenparkplatz und begab sich unauffällig zum Geldautomaten. Das Gerät spuckte zweitausend Euro aus. Tim schielte zum Schalter. Sollte er es wagen? Die Polizei würde sowieso herausfinden, dass er hier gewesen war. Er erkannte neben dem Hinweisschild hinter getöntem Glas die Überwachungskamera des Automaten. Unwillkürlich zog er die Kappe tiefer ins Gesicht. Sie würden ihn ohnehin erkennen. Er reihte sich hinter einer Oma mit Stock in die Schlange. Eine gefühlte Ewigkeit musste er warten. Dauerte es immer so lange? Sonst ging er nie zum Schalter. Die alte Frau vor ihm schien ihre ganze Rente abzuholen.

Dann forderte die junge Bankangestellte ihn mit einem herzlichen Lächeln auf, zu ihm zu kommen. Um ihren Hals klimperte eine Kette und die Bluse spannte sich über der üppigen Oberweite. Er reichte ihr seine Bankkarte.

»Ich würde gerne Geld von meinem Sparkonto abheben.«

Sie lächelte ihn breit an. »Gerne. Wie viel benötigen Sie?«

Ab welcher Geldsumme wurde es auffällig? »Ich brauche fünftausend«, sagte er.

Sie nickte, holte einen Auszahlungsbeleg hervor und notierte den Betrag darauf. »Haben Sie das Geld vorbestellt?«

Er zog die Stirn kraus. »Nein. Müsste ich das?«

»Bei großen Summen wäre das hilfreich.«

»Was verstehen Sie unter großen Summen?«

»Ab fünftausend.«

»Dann machen Sie doch viertausendneunhundertneunzig daraus«, sagte er und setzte sein charmantes Lächeln auf. »In Hunderten bitte.«

Er bekam ein gekünsteltes Lächeln als Antwort. »Darauf kommt es nun auch nicht an.« Sie tippte etwas in den Computer, ließ den Beleg bedrucken und bat ihn um eine Unterschrift. Seine Hände zitterten. Siebentausend Euro würde er gleich haben. Damit würde er im Notfall Sachen kaufen können. Auch wenn er vorhatte, im Wald zu leben, wollte er nicht unvorbereitet sein.

»Darf ich fragen, wofür Sie das Geld brauchen?«

Nein! Das geht Sie nichts an! Ungläubig sah er die Bankangestellte an.

»Ich frage nur, falls Sie das Geld anlegen wollen.«

»Möchte ich nicht.«

War es unverfänglicher, sich eine Ausrede einfallen zu lassen oder es dabei zu belassen? Er setzte wieder sein Lächeln auf, mit dem er die Damen in einer Bar oder Disco ansprach.

»Ich muss die Spesenkasse in meiner Kanzlei auffüllen. Viele Geschäftsessen, wissen Sie?«

Ein bisschen überheblich, aber sie schien mit dieser Antwort zufrieden zu sein. Würde bestimmt nicht mit ihrem Chef darüber sprechen. Die Angestellte ließ ihn auf einem Sessel Platz nehmen, und kurze Zeit später bekam er das Geld in einem Umschlag überreicht.

Erleichtert verließ er die Bank und stieg in den Mustang. Die letzte Fahrt. Tiësto auf Volldampf. Das letzte Mal Gas geben. Das letzte Mal die Beschleunigungskräfte fühlen. Demnächst würde alles im Schneckentempo laufen. Der Rausch des Lebens würde für ihn unerreichbar werden. Tim Eichner verschwände von der Bildschirmfläche und eine Steinzeitversion von ihm würde durch die Wälder streifen.

Er fuhr auf den überfüllten Park-and-Ride-Parkplatz an der Universität und ergatterte einen der letzten Stellplätze. Er hoffte, dass sein Auto in der Anonymität der vielen Fahrzeuge bei einer Fahndung untergehen würde. Er verriegelte das Auto und sah ratlos auf den Schlüssel. Was tun damit? Er ließ ihn in die Hosentasche gleiten und machte sich auf den Weg Richtung Bahnhof. Ihm würde schon etwas einfallen.

Normalerweise würde er die Straßenbahn nehmen, doch heute ging er zu Fuß. Er wollte nicht von den Kameras in der Bahn eingefangen werden, er musste die Spuren verwischen.

Tim lief mit gesenktem Blick über die große Kreuzung und ein Stück die Hauptstraße entlang. Er bog in eine Seitenstraße ein, kam an zwei Friedhofsgärtnereien vorbei und betrat den Friedhof.

Blätter rauschten, eine Krähe meckerte, Singvögel zwitscherten fröhlich. Diese Geräusche würden ihn bald ständig begleiten. Die Motorengeräusche der nahe gelegenen Straße drangen in die Ruhe ein und wirkten wie ein Fremdkörper.

Eine ältere Dame mit Dauerwelle und braunem Rock kam ihm entgegen, zwei Teenager auf Fahrrädern, ansonsten war es gespenstig menschenleer. Gedenkt man der Toten nicht? Wäre er schnell bei seinen Mitmenschen vergessen? Das wünschte er sich und doch legte sich dieser Gedanke wie Blei auf seine Brust.

Tim sah sich nach einem geeigneten Platz für den Schlüssel um. Den Mülleimer schloss er aus und auch die aufgewühlte Erde, neben dem ein Bagger stand. Unter Kirschlorbeerbüschen lag ein verwitterter Tontopf, in dem kaum mehr als eine Primel gewesen sein konnte. Tim blickte sich um. Niemand in der Nähe.

Er kroch unter die Büsche, schaufelte mit dem Tontopf ein Loch in die Erde und legte den Schlüssel und die Tüte mit der blutverschmierten Kleidung hinein. Und sein Handy? Nein. Er wollte nicht beides zusammen loswerden, außerdem konnte er sich von seinem digitalen Leben noch nicht trennen. Dafür würde er eine andere Möglichkeit finden müssen.

Er verschloss das Loch mit Erde, kroch unter dem Buschwerk hervor und legte den Topf unter einen anderen Busch.

Er kam an dem Krematorium und der Kapelle vorbei. Am Hintereingang stand ein silberner Leichenwagen. Ein Zeichen? Tim unterdrückte das ungute Gefühl und ging weiter.

Im Volksgarten waren mehr Menschen unterwegs und genossen die Ruhe fernab der hitzigen Stadt. Hundebesitzer gingen spazieren genauso wie Mütter mit ihren Kindern. Eine Gruppe von jungen Menschen hatte am Grillplatz ein Feuer entfacht und lachte laut. Er beneidete sie um ihre Unbeschwertheit. Enten und Schwäne badeten im See.

Nach einer Dreiviertelstunde war er am Bahnhof. Sollte er den weniger frequentierten Nordeingang nehmen? Nein! Auch dort hingen Kameras und er hoffte, in der Menschenmenge am Haupteingang unterzugehen, falls die Polizei sich irgendwann die Videoaufzeichnungen ansehen sollte. Ein großer Mann mit Aktenkoffer in der Hand rannte hinein, eine fünfköpfige Familie zog ihre Koffer hinter sich her. Eine Taube lief vor ihm her und flog davon, als er sich näherte. Tim zog sich die Kappe tief ins Gesicht und achtete darauf, stets den Blick gesenkt zu halten.

Vor dem Eingang lungerten zwei Obdachlose, die den Passanten ihre Pappbecher entgegenhielten. Ein zerzauster Hund lag zwischen ihnen auf einer Decke und beobachtete die Vorbeilaufenden mit müden Augen.

Tim betrat die hohe Eingangshalle. Auf der rechten Seite der Buch- und Zeitschriftenladen, in dem er sich häufiger die Tageszeitung gekauft hatte. Auf der linken Seite der Informationsschalter der Deutschen Bahn. Tim scannte die Umgebung ab, hielt nach der Polizei Ausschau, konnte jedoch keine Beamten ausmachen. Beruhige dich, befahl er sich. So schnell würde Vanessa nicht gefunden werden. Hoffentlich. Trotzdem fühlte er sich unwohl. Er sah auf den Abreiseplan, kaufte sich ein Ticket am Automaten und bahnte sich den Weg durch die vielen Reisenden zum Gleis. Ein letzter Blick auf sein Smartphone. Er hatte Werbemails von web.de und Vorwerk bekommen. Außerdem eine Bestätigungsmail, dass die zwei neuen Hemden versendet worden waren. Per WhatsApp hatte ihm Nicole ein Foto von Julia und Samira geschickt, wie sie im Sandkasten saßen und eine Burg bauten. Er lächelte traurig. Würde er sie jemals wiedersehen?

Er schaltete das Handy aus, zerlegte es in die Einzelteile, zerstörte die Chipkarte und warf sein digitales Leben in den Mülleimer. Er wandte sich den Schienen zu, auf einer Schwelle lag ein Trinkpäckchen. Wieso konnten die Leute ihren Müll nicht ordnungsgemäß entsorgen? Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie sich ein junger Mann mit rot gefärbten Haaren, mit Anstecknadeln besetzter Lederjacke und löchriger Jeans über den Abfalleimer beugte. Was machte der Punk da? Er steckte den Arm hinein. Er würde doch wohl nicht … Im nächsten Moment hatte er die drei Teile des Handys in der Hand, die Tim entsorgt hatte. Der Punk sah auf, ihre Blicke trafen sich, dann rannte er den Bahnsteig entlang.

Tims Herzschlag beschleunigte sich. Sein Handy in fremder Hand. Mit all seinen Daten. Was würde passieren? Was, wenn die Fahndung lief und er es den Ermittlern übergab? Tim spurtete los, Slalom zwischen den Wartenden, die Treppen hinunter. Der Punk zehn Meter vor ihm, blickte über die Schulter, nahm mehrere Stufen auf einmal. Tim tat es ihm gleich. Der Punk verschwand um die Ecke. Scheiße! Er konnte ihn nicht mehr sehen. Tim hetzte weiter. Der Typ durfte ihm nicht entwischen. So viel Pech konnte er doch nicht haben! Er sprang die letzten Stufen hinunter und rannte um die Ecke.

Wo war der Kerl? Im ersten Moment konnte Tim ihn nicht unter den vielen Reisenden ausmachen. Dann sah er ihn. Der Typ hatte Meter gewonnen. Tim setzte ihm nach, als hinge sein Leben davon ab. Seine Schulter prellte gegen den Oberkörper einer Mutter, die ihre Tochter an der Hand hielt und ihn beschimpfte. Egal. Der Punk sah sich zu ihm um, rempelte ebenfalls gegen Menschen, stieß schließlich mit einem Anzugträger frontal zusammen, taumelte und drehte sich im Kreis. Jetzt oder nie! Tim setzte alle Kraft in die Beine, packte den Punk an der Lederjacke und drückte ihn an die Wand. Er stank nach Zigaretten und billigem Fusel. Es musste schnell gehen. Sie hatten schon zu viel Aufsehen erregt. Tim riss ihm die Handyteile aus der Hand und stopfte sie sich in die Hosentasche.

»Verpiss dich!«, schrie der Punk und schubste ihn.

Tim wich zurück. Ihre Blicke ein Augengefecht. Passanten starrten sie an.

Zu viel Aufmerksamkeit!

Tim rannte aus dem Bahnhof, lief Richtung Nordeingang und lehnte sich an einen Baum. Er keuchte. Verdammt! Das war nicht so gelaufen, wie er sich erhofft hatte. Er warf die Handyteile auf den Boden und trat darauf. Es war nicht so einfach, sie zu zerstören. Bestimmt würden Techniker die Daten rekonstruieren können. Und jetzt? Er hob den Schrott auf. Als er sich aufrichtete, schlenderte der Punk keine zwanzig Meter entfernt über den Bahnhofsvorplatz und rauchte eine Zigarette. Er beobachtete ihn. Scheißkerl! Er würde ihn erkennen, wenn die Fahndung lief. Hoffentlich hatte er selbst so viel Dreck am Stecken, dass er mit der Polizei nichts zu tun haben wollte.

Tim stopfte die Reste seines Smartphones in seine Tasche und streifte durch die Straßen. Immer wieder sah er sich um, bis er sich sicher war, dass der Punk ihn nicht verfolgte. Dann warf er die Einzelteile seines Handys in verschiedene Mülleimer.

Aus einem Supermarkt humpelte ein beleibter Mann mit Dreitagebart und schleppte zwei Einkaufstüten. Er schwankte bei jedem Schritt. Musterte der Dicke ihn? Tim senkte den Kopf und eilte zurück zum Bahnhof.

Er musste endlich untertauchen! Durfte keine Zeit verschwenden.

Als er am Gleis auf den nächsten Zug wartete, zitterten immer noch seine Hände. Das war kein guter Start. Er sah sich um, doch den Punk konnte er nicht erblicken. Der Bahnsteig füllte sich. Ein Mädchen im Teenageralter mit kurzem Rock und Glitzerballerinas schlich vor ihm auf und ab und tippte auf ihrem Smartphone herum, Kopfhörer im Ohr. Sie hatte noch ihr digitales Leben. Tims Atem beruhigte sich. Er konnte sowieso nichts mehr an dem Handydesaster ändern. Und woher sollte der Punk sein Reiseziel kennen? Von diesem Gleis fuhren schließlich mehrere Züge ab.

Der Regionalzug nach Minden rauschte heran. Ein roter Koloss auf Schienen. Sein Gefährt in die Freiheit. Mit einem Zischen öffnete sich die Tür. Er zögerte. Musste er wirklich in dieses beengte Gefährt einsteigen?

Er gab sich einen Ruck und betrat den Zug. Sein Brustkorb fühlte sich wie zugeschnürt an, doch er ignorierte das Gefühl. Wie lange war er nicht mehr Bahn gefahren? Als Jugendlicher vielleicht. Er hasste den Moment, in dem die Türen zugingen. Eingeschlossen in dem engen Schlauch, ohne Möglichkeit hinauszukommen – bis zum nächsten Bahnhof. Am schlimmsten war es, wenn der Zug heillos überfüllt war. Heute ging es.

Die Reisenden nahmen keine Notiz von ihm. Ein dicker Glatzkopf las Bild-Zeitung. Jugendliche spielten an ihren Handys herum, zwei südländische Frauen mit Kopftuch diskutierten in einer fremden Sprache – er schätzte Türkisch. Keiner sah ihn an.

Er suchte sich einen freien Zweierplatz. Die Luft war verbraucht und stickig. Er riss das Fenster auf und ließ sich auf den Sitz fallen, streifte die Kappe ab und rieb sich über die Stirn. Tim hasste Mützen und Hüte, doch er setzte sie wieder auf. Er stellte den Rucksack zwischen die Füße und lehnte den Kopf an. Tief durchatmen. Es ist nur eine Zugfahrt. Die wirst du schon überstehen!

Als der Zug anfuhr, kam es ihm vor, als hätte er es geschafft. Dabei fing es gerade erst an. Wer Vanessa wohl finden würde? Er verspürte Mitleid mit der Person. Ein schrecklicher Anblick. Er hatte Lust, sich zu betrinken, die Sinne zu vernebeln und in eine andere Welt abzudriften. Das konnte er sich nicht leisten. Er öffnete den Rucksack und holte das Buch heraus. In der Natur heimisch werden, back to the roots, Vorbereitungen treffen und sich auf sich selbst besinnen. Er las etwas über Handwerkszeug, die Wahl des Messers, Schleifsteine und Äxte. Er hatte das Abenteuer mit Markus gemeinsam erleben wollen. Ein Outdoor-Trip. Hoffentlich erinnerte sich sein Freund nicht daran und erzählte es nicht den Cops.

»Hallooo …«

Erschrocken sah er in das strenge Gesicht der Schaffnerin. Hohe Stirn, klobige Nase, mindestens dreißig Kilo zu viel auf den Rippen. Sie musterte ihn eindringlich. Oder kam es ihm nur so vor? »Die Fahrkarte bitte.«

Er fummelte das Ticket aus der Hosentasche und reichte es ihr. Sie warf einen prüfenden Blick darauf, stempelte es mit dem Gerät ab und gab es ihm achtlos zurück. Weiter zum nächsten Fahrgast. Würde sie sich an ihn erinnern können? Aber warum sollte die Polizei sie befragen wollen? Sie müsste wissen, dass er mit dem Regionalexpress Richtung Minden unterwegs war. Die Kameras auf dem Bahnhof, fiel es ihm ein. Es würde leicht herauszufinden sein. Hatte er überhaupt eine Chance zu entkommen?

 *** 

»Schreibst du den Bericht?« Oliver stand an der Bürotür. In der einen Hand die leere Kaffeetasse, die andere lag auf der Klinke. Es war keine Frage. Miriam war die Neue im Team, die Schreibarbeit würde für einige Zeit an ihr hängenbleiben.

»Natürlich«, sagte sie und unterdrückte ein Seufzen. Sie setzte sich an den Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. Ohne ein weiteres Wort war er aus dem Büro verschwunden. Er hätte sie fragen können, ob sie auch etwas trinken wollte.

Miriam rief das Programm auf, öffnete das Dokument und begann zu tippen. Der Raubüberfall auf den Kiosk direkt am Rhein beschäftigte sie seit gestern. Der Täter hatte die Besitzerin bedroht, mit einer Wodkaflasche niedergeschlagen und die Tageseinnahmen gestohlen. Zusätzlich hatte er Smartphone und Tablet-PC mitgehen lassen.

Nachdem sie heute Morgen einen Tipp bekommen hatten, hatten sie den Täter festnehmen können. Miriam war mit Oliver in der Wohnung des Verdächtigten gewesen und hatte nach Hinweisen gesucht. Im Schlafzimmerschrank hatten sie siebzehn Elektrokleingeräte gefunden und sichergestellt.

Sie trank ihr Wasser aus, brauchte etwas Neues. Eine Cola Zero wäre toll, doch sie hatte keine Lust, runter in die Kantine zu laufen. Wo blieb eigentlich Oliver? Er wollte sich doch nur einen Kaffee holen.

Sie ging zur Küche, verharrte jedoch auf dem Flur, als sie Stimmen und ihren Namen hörte.

»Du musst ihr eine Chance geben.«

»Ich weiß.« Das war Oliver. »Keiner kann ihn ersetzen.«

»Aber sie kann nichts dafür.«

Miriam schluckte. Was war da los? War Oliver deswegen so distanziert? Sie hatte sich auf die Stelle in Düsseldorf beworben und man hatte ihr gesagt, es wäre jemand in Rente gegangen. Steckte mehr dahinter?

Als ein Kollege am anderen Ende des Flurs erschien, machte sie auf dem Absatz kehrt und ging ins Büro zurück. Sie wollte nicht beim Lauschen erwischt werden, obwohl sie zu gerne weiter zugehört hätte. Sie könnte ihren Chef danach fragen, verwarf den Gedanken jedoch wieder.

Sie widmete sich erneut dem Bericht und trug die elektrischen Geräte ein, die sie in der Wohnung des Täters gefunden hatten. Sie war fast fertig, als ihr Handy vibrierte. Miriam war froh über die Ablenkung und holte es aus der Schreibtischschublade. Eine Nachricht von ihrer Schwester Denise. Kevin lässt mich nicht in die Wohnung. Wir haben uns gestritten. Kannst du kommen?

»Nein, verdammt«, rief Miriam und ließ das Smartphone in die Schublade fallen. »Habe ich dich nicht vor diesem Typen gewarnt?« Jahrelang hatte sie versucht, ihrer Schwester zu helfen, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Jetzt hatte sie keine Lust mehr. Es war einer der Gründe, warum sie sich auf die Stelle in Düsseldorf beworben hatte. Sie musste weg, wollte nicht mehr in der Verpflichtung sein. Denise war mit ihren fünfundzwanzig Jahren alt genug, um sich selbst um ihr Leben zu kümmern. Wenn ihre Schwester glaubte, sie würde sich dreißig Kilometer durch den Berufsverkehr quälen, nur weil sie mit dem Finger schnippte, dann hatte sie sich geschnitten. Es war an der Zeit, an sich zu denken.

Miriam schloss die Augen und sah Tim vor sich, wie er mit dem Bier in der Hand am Geländer lehnte. Sie hatte letzte Woche das erste Mal das Training der A-Jugend geleitet. Anschließend hatten sie darüber gesprochen. Es war ihre erste Bewährungsprobe gewesen, aber er war zufrieden und hatte ihre gute Vorbereitung gelobt.

Sein Lächeln hatte direkt in ihr Herz geschienen. Seit drei Wochen war sie seine Co-Trainerin. Der letzte war abgesprungen und da sich niemand sonst fand, hatte sie sich ihm anschließen dürfen. Sie hatte sich nur angeboten, da er der Trainer war und sie bei seinem Anblick dieses freudige Kribbeln spürte. Und die letzten drei Wochen hatten sie nicht enttäuscht. Er war locker, immer mit einem coolen Spruch auf den Lippen, dennoch war er ein Gentleman und wusste, wie man sich Frauen gegenüber benahm.

Heute Abend würde sie ihn wiedersehen. Sie sah die braunen Augen, seinen Dreitagebart und das herzliche Lächeln vor sich. Ihr Herz flatterte, wenn sie an ihn dachte.

Letzte Woche hatte sie ihm erzählt, wie schwer es ihr fiel, sich in der neuen Stadt einzugewöhnen, und gehofft, er würde ihr anbieten, sie ihr zu zeigen. Er war kurz davor gewesen, als plötzlich der Herrentrainer dazu gestoßen war. Vertrautheit passé. Vielleicht würde sie heute die Gelegenheit dazu bekommen. Hoffentlich ging der Arbeitstag schnell vorbei. Sie wollte nicht mehr warten, bis das Glück ihr zuflog, sondern es selbst in die Hand nehmen. Olga aus der Mannschaft hatte ihre Blicke gedeutet und ihr geraten, sich von ihm fernzuhalten. Er sei nichts für sie. Wahrscheinlich war sie nur eifersüchtig. Miriam wollte sich nicht mehr von anderen ihr Leben bestimmen lassen.

Sie nahm das Smartphone und verfasste eine Antwort an ihre Schwester. Kann nicht. Habe Dienst. Du musst alleine zurechtkommen. Oder frag Papa!

Die Tür wurde aufgerissen und Miriam schreckte auf. Sie fühlte sich ertappt. Ihr Chef Lothar Seemann steckte den Kopf herein. Er strafte sie mit einem prüfenden Blick, als er das Handy erblickte. Er war noch von der alten Schule, hatte selbst kein privates Handy, wie sie an ihrem ersten Tag von den Kollegen erfahren hatte. Sie ließ es auf den Schreibtisch sinken.

»Was kann ich für dich tun?«, fragte sie. Sie empfand es immer noch als seltsam, ihn zu duzen. Auch wenn er erst Mitte fünfzig sein mochte, erinnerte er sie an ihren Opa. Die breite Nase, die faltige Stirn und die grauen Haare. Zudem trug er jeden Tag ein kariertes Hemd.

»Bist du fertig mit dem Bericht?«, fragte er.

»Ich formuliere den letzten Satz.«

»Dann beende ihn und komm. Wir haben eine Tote in Eller.«

Miriams Pulsschlag beschleunigte sich. Das erste Tötungsdelikt in Düsseldorf. Sie legte das Handy zurück in die Schublade und beendete den Bericht. Dann schnappte sie sich ihre Jacke und stürmte auf den Flur, wo die Kollegen auf sie warteten.

 *** 

Tim trat mit zwei anderen Passagieren auf den Bahnsteig. Ein offener Bahnhof mit drei Gleisen – mitten im Sauerland. Lennestadt Altenhundem. Jetzt hieß es, sich unauffällig zu bewegen. Er lief die Treppen hinunter und durchquerte die Unterführung. Am Ende starrte ihn von einem Plakat ein Indianer aus dunklen Augen durchdringend an. Die Stirn bemalt, eine Feder vom Scheitel bis zum Ohr. Willst du mich warnen vor diesem Ort?, fragte Tim ihn in Gedanken. Er erhielt keine Antwort, also stieg er die Stufen hinauf und befand sich auf einem Bahnhofsvorplatz.

Drei Taxis warteten auf Fahrgäste, Jugendliche standen an der Bushaltestelle im Kreis und scherzten. Vor ihm das Bahnhofsgebäude mit einem Pressehaus und einem Café. Menschen unterhielten sich angeregt, einige mit Zigaretten und Coffee to go, andere mit Wanderkarte und Rucksack. Nicht auf der Flucht wie er, aber auf dem Weg in die umliegenden Wälder.

Tim sah sich um. Hinter den Häusern erhoben sich bewaldete Berge. Dort musste er hin. Er ließ den Bahnhof hinter sich, überquerte die Straße, kam an einem Dönerladen vorbei. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Nein. Er durfte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Der Besitzer kam heraus und wischte einen Tisch ab, sah ihm kurz in die Augen.

Tim senkte den Blick und eilte weiter. Verdammt. Schnell weg hier. Tim lief an der Kirche und der Sparkasse vorbei in ein Wohngebiet hinein, den Berg hinauf. Außer Puste erreichte er den Waldrand. Er blieb stehen und lehnte sich an einen aufgetürmten Brennholzvorrat. War es wirklich sinnvoll gewesen, sich das bergige Sauerland auszusuchen?

Eine Frau mit einem kläffenden Dackel kam aus dem Wald gelaufen. »Guten Tag«, grüßte sie freundlich.

Tim senkte den Kopf und murmelte eine Begrüßung. Er musste weiter. Ein kleines Andachtshäuschen war der Mutter Gottes gewidmet, frische Blumen standen unter dem Bild. Vier Wanderwege führten in den Wald. Er wählte den Weg, der geradeaus mitten in den Wald hineinführte. Ein letzter Blick zurück. Die Häuser der Stadt waren durch die Bäume kaum zu erkennen. Ein Auto hupte laut und penetrant. Sein altes Leben – er vermisste es schon jetzt.

Was würde ihn erwarten und wie lange würde er in der Wildnis überleben? Würde ihn die Natur behutsam in Empfang nehmen oder zu seinem ärgsten Feind werden? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Entschlossen stapfte er in den Wald hinein, in sein neues, ungewisses Leben.

Er blieb ein Stück auf dem Wanderweg, dann bog er ab und ging querfeldein. Viel zu gefährlich, wenn ihm auf den Wegen Spaziergänger oder Wanderer entgegenkamen. Hoffentlich war das Netz der Wege nicht zu dicht. Nach ein paar hundert Metern schaute er gen Himmel. Die Tannen bogen sich im Wind nach der Waldmelodie. Tim schloss die Augen und lauschte. Die Vögel zwitscherten unablässig, ein Konzert der Singvögel, wie bei einem einstudierten Orchester, als würden sie miteinander kommunizieren. Wie unterschiedlich ihre Laute waren, das eine mehr ein Zwitschern, das andere ein Singen oder ein Meckern. Der Wind rauschte durch die Blätter, streichelte sein Gesicht, umspielte die Wangen wie ein zärtlicher Kuss von …

Jäh öffnete er die Augen und zuckte zusammen. Was machte er hier? Er durfte nicht verweilen. Er wandte sich Richtung Osten und stapfte weiter. Der Sonne entgegen und tiefer ins Sauerland hinein. Gut, dass er die Wanderschuhe schon eingelaufen hatte.

Er beschleunigte den Schritt und redete sich ein, dass er sich bloß auf einer eintägigen Wandertour befand. Entspannen am Wochenende, weg vom Alltag, vom Stress, von den jammernden Mandanten. Wie es wohl in der Kanzlei lief? Seine Sekretärin machte sich sicherlich Sorgen. Seinen heutigen Termin mit dem Geschäftsführer, der Firmengelder veruntreut haben sollte, hatte sie bestimmt schon abgesagt. Während sein Geschäftspartner Richard vermutlich vor lauter Arbeit sein Fehlen noch nicht bemerkt hatte. Und Miriam würde ihn heute Abend beim Basketballtraining der A-Jugend vermissen. Aber sie war nicht nur als Spielerin talentiert, sondern hatte auch Ideenreichtum und Durchsetzungsvermögen als Trainerin gezeigt. Sie würde die Bande gut im Zaum halten.

Nach einiger Zeit ging Tim die Puste aus, die Berge machten ihm zu schaffen, und er musste das Tempo verringern, aber sich trotzdem so weit wie möglich vom letzten Standort entfernen. Die Polizei war nicht dumm. Sie würde seine Route nachverfolgen, ermitteln, dass er mit dem Regionalexpress nach Essen und von dort aus nach Lennestadt gefahren war. Die Frage war nur, wie lange sie dafür brauchte.

Nur, wenn er in kurzer Zeit große Distanzen zurücklegte, hatte er eine Chance. In einer Dokumentation hatte er gehört, dass Luther auf der Reise nach Rom durchschnittlich achtundzwanzig Kilometer am Tag zurückgelegt hatte. Das war ein Anreiz. Oder waren es vierundzwanzig gewesen? Egal, er konnte die gutgemachten Kilometer nicht nachvollziehen. Wie hilfreich wäre ein Smartphone mit Navigation und Tracking-App gewesen. Er könnte sich ein Neues in einer Stadt kaufen, genug Geld hatte er, aber wofür ein Handy kaufen, wenn man keinen Strom hatte? Und wahrscheinlich musste er seine Daten preisgeben. Kein Prepaidhandy ohne Ausweis. Er würde der Polizei keine neue Spur auf dem Präsentierteller liefern. Er musste sich neu organisieren, neu denken, eins mit der Natur werden.

Tim ließ sich auf einen Baumstamm nieder und streifte den Rucksack ab, knetete die Schultern. Er kam zu Atem, spürte, wie der Puls sich normalisierte. Er trank einen großen Schluck Wasser und aß eine Banane, deren Schale er in einem Plastikbeutel verstaute. Nicht, dass die Polizei ihn wegen so einer Nachlässigkeit aufspürte. Aber sie würden ihn nicht finden, er konnte es schaffen.

Zuversicht bereitete sich als warmes Gefühl in seiner Brust aus. Er beschloss, die Natur als einen Verbündeten anzunehmen. Die Sonne bildete helle Flecken auf dem Boden, tauchte den Wald in ein malerisches Licht- und Schattenspiel. Tim atmete tief ein, wobei der Duft der Freiheit ihm in die Nase stieg. Erde, Moos, Holz, Grün, Erwachen – all das waren neue Gerüche für ihn. Es raschelte, es summte, in der Ferne klopfte ein Specht. Diese Ruhe und gleichzeitig Lebendigkeit des Waldes, die schien er noch nie wahrgenommen zu haben. An einem Wandertag waren seine Gedanken immer auf ein Ziel gerichtet gewesen, jetzt hatte er keines – zumindest kein örtliches. Er würde nicht zum Auto zurückkehren. Er schaute nur nach vorn, zu den Fichten, die wie standhafte Wächter das Tor zur Freiheit für ihn offenhielten.

Kapitel 2

Die Staatsanwältin traf gleichzeitig mit Miriam, Oliver und ihrem Chef am Tatort ein. Die Kollegen von der Schutzpolizei hatten den Eingangsbereich der Wohnung abgesperrt.

»Was haben wir?«, fragte Lothar den uniformierten Kollegen.

»Eine weibliche Leiche im Bett, ein Messer steckt in ihrem Bauch, ziemlich viel Blut, eine riesige Sauerei.«

»Kennen wir die Identität des Opfers?«, fragte Lothar.

Der Kollege nickte. »Vanessa Marks. Zwanzig Jahre alt. Sie wohnt hier.«

»Wer hat sie gefunden?«

Der Schutzpolizist zeigte den Flur hinunter. Eine Sanitäterin kniete neben einer jungen Frau, die auf dem Boden saß, die Beine angewinkelt, den Kopf mit den Armen abschirmend.

»Eine Freundin. Sina Meiers. Da Vanessa Marks heute nicht in der Schule aufgetaucht ist, wollte sie nachsehen. Sie hat einen Schlüssel und ist rein.«

Lothar klopfte dem Kollegen auf die Schulter. »Gute Arbeit.«

Sie warfen einen Blick ins Schlafzimmer, ohne den Tatort zu ruinieren. Der stechende Geruch nach Blut und Tod schlug Miriam entgegen. Sie hielt die Luft an, während sie sich einen Überblick verschaffte. Eine braunhaarige Frau lag auf dem Rücken im Bett, sie trug einen Slip und ein Shirt. Der Arzt hatte es mit der Leichenschau anscheinend nicht so ernst genommen. Eigentlich hätte er die Leiche ausziehen müssen. Das Bettzeug war voller Blut. Auf den Teppich hatte sich jemand übergeben. Sie musste Luft holen und schluckte. Auch wenn es nicht ihre erste Leiche war, die sie sah, war es noch nicht zur Routine geworden. Meist verfolgte sie dieser Anblick in den ersten Nächten bis in die Träume.

Auf dem Bett lag ein flauschiger Teddybär, gegenüber stand ein Schreibtisch mit Laptop, an den Wänden kleine Bilder, auf der Fensterbank Parfumflacons und Fotos. Das Zimmer erinnerte sie an das eines Teenagers.

Ein Kollege von der Kriminaltechnik kam mit seinem Koffer. »Wir übernehmen jetzt. Ihr dürft gleich weitermachen.«

Sie zogen sich zurück. Lothar koordinierte die weiteren Aufgaben und beauftragte sie und Oliver, erst Sina Meiers und dann die Nachbarn zu befragen.

»Ich mach das«, sagte Miriam, als sie auf die Frau zugingen, die nun von der Sanitäterin einen Pappbecher mit einem dampfenden Getränk in die Hand gedrückt bekam. Die Augen der jungen Frau waren gerötet, das Tränen-Mascara-Gemisch hatte schwarze Streifen auf ihren Wangen hinterlassen.

Miriam kniete sich zu ihr und zeigte der Frau ihren Polizeiausweis. »Wir sind von der Kriminalpolizei. Fühlen Sie sich in der Lage, uns kurz eine Auskunft zu geben?« Als die Frau den Ausweis nicht beachtete, steckte Miriam ihn wieder ein.

Sina Meiers schniefte und wischte sich mit den Handrücken Tränen aus dem Gesicht. »Weiß nicht«, flüsterte sie.

»Sie müssen nicht«, mischte sich die Sanitäterin ein.

Miriam legte der Frau eine Hand auf die Schulter und sah ihr in die Augen. Strähnen ihres rötlichen Haares fielen ihr ins Gesicht. »Ich weiß, wie schwer es für Sie sein muss. Sie haben etwas Schreckliches erlebt und möchten sich am liebsten verkriechen. Aber Sie wollen auch, dass der Täter dafür büßt. Helfen Sie uns dabei.«

»Okay«, krächzte sie.

Miriam setzte sich zu ihr. Sina Meiers stellte den Pappbecher neben ihre Füße.

Miriam nahm die Hände der Frau und drückte sie. Sie musste die Zeugin belehren, doch in solchen Situationen fielen ihr die Formalien besonders schwer, daher fasste sie sich kurz. »Sie müssen keine Angaben machen, wenn Sie mit einem Beteiligten verwandt oder verschwägert sind. Sie dürfen die Antwort verweigern, wenn sie sich oder Angehörigen in Gefahr bringen, wegen einer Straftat verfolgt zu werden. Aber wenn Sie uns etwas erzählen, müssen Sie die Wahrheit sagen, ansonsten könnten Sie sich strafbar machen.«

»Okay«, murmelte Sina Meiers abwesend.

»Haben Sie das verstanden?«

Die Zeugin nickte.

»Erzählen Sie mir, was passiert ist.«

»Vanessa kam heute nicht in die Berufsschule. Ich habe ihr geschrieben, aber sie hat nicht geantwortet. Ich dachte erst, sie ist krank und zum Arzt gegangen. Ich hab ihr mehrere Nachrichten geschickt, es ist total untypisch, dass sie nicht zurückschreibt.«

»Das fanden Sie seltsam.«

»Ich wusste, irgendwas stimmte nicht. Wir wollten heute Nachmittag zusammen shoppen gehen. Also bin ich nach dem Unterricht zu ihr und in ihre Wohnung.«

»Sie haben einen Schlüssel.«

Frau Meiers schniefte. »Ich hab geklingelt und geklopft. Ich hab gewartet und war unschlüssig, ob ich reingehen sollte.« Sie hielt die Hände vors Gesicht und schluchzte auf. »Wie lange hätte sie dort gelegen, wenn ich nicht reingegangen wäre!«

Miriam rieb der Frau über den Rücken. »Sie sind jedoch rein.«

»Ja«, flüsterte sie.

»Und dann haben Sie Ihre Freundin gefunden.«

»Ich … hab sie nicht angefasst, ich …« Ihre Stimme brach.

»Es ist alles in Ordnung.«

»Ich konnte sie nicht weiter ansehen.«

»Das ist verständlich. Ist Ihnen etwas Besonderes in der Wohnung aufgefallen?«

Frau Meiers schüttelte den Kopf.

»Können Sie sich vorstellen, wer das getan haben könnte?«

Wieder verzweifeltes Kopfschütteln. »Nein, wer sollte denn Vanessa umbringen?« Sie weinte hemmungslos, ihr ganzer Körper zitterte. Miriam drückte sie an sich und übergab sie der Sanitäterin.

»Frau Meiers, das haben Sie sehr gut gemacht. Wenn Sie sich erholt haben, würden wir Sie gerne noch mal auf dem Präsidium sprechen.«

Doch die junge Frau hörte nicht mehr zu.

»Sehr einfühlsam, werte Kollegin«, sagte Oliver mit einem kurzen Lächeln. Dann wurde seine Miene wieder ernst. Es war, als hätte er das Lachen verlernt. Immer lag ein Schatten unter seinen braunen Augen, die eine tiefe Traurigkeit ausstrahlten. Es erinnerte sie an sie selbst, als sie vor drei Jahren in ein tiefes Loch gestürzt war und Trauer und Verzweiflung sie wochenlang begleitet hatten. »Danke«, sagte sie und freute sich über sein erstes Lob.

 *** 

Ein Bach plätscherte über ein Steinbett. Tim setzte sich, aß und trank den letzten Schluck aus der Flasche. Was für eine Wohltat! Er füllte sie mit Bachwasser, obwohl er den Warnhinweis aus dem Ratgeber genau vor sich sah: Niemals aus Bächen oder Flüssen trinken, ohne das Wasser entkeimt zu haben. Die Folgen davon – Durchfall und Erbrechen – konnte er im Moment gar nicht gebrauchen. Ohne Filter oder Reinigungstabletten würde er das Wasser abkochen müssen. Aber nicht jetzt! Erst mal musste er sich so weit wie möglich von Lennestadt entfernen. Und dann stand noch das Nachtlager an.

Er las im Buch das Kapitel über Camp und Lager. Natürliche Unterstände wie Höhlen, Felsvorsprünge und dichte Baumkronen sollte man nutzen, wenn man sie fand. Der Ratgeber erklärte, wie man Pultdachunterstände oder Wigwams baute, gab Anleitungen, wie man Schnur herstellte und Knoten band. Der Autor riet, vieles zu Hause zu üben, bevor man sich in die Wildnis aufmachte.

Tim lachte auf. Wie hätte er sich auf das hier vorbereiten sollen? Er sah zum Himmel, um anhand des Sonnenstandes die Uhrzeit zu bestimmen. Von so etwas hatte er keine Ahnung, konnte sich nur auf sein Gefühl verlassen. Es war bestimmt erst sechzehn Uhr. Er rieb sich das Handgelenk an der Stelle, wo normalerweise die Armbanduhr zum festen Bestandteil ihres Trägers wurde. Nicht mehr bei ihm. Er wusste noch nicht mal, ob sie sich im Nachttischschrank oder im Flur in der Schublade befand, so sehr hatte er sich mittlerweile auf sein Handy verlassen.

Ob die Teile seines Handys noch in den Mülleimern unter Pappbechern und Bananenschalen vergraben waren oder versuchte jemand bereits, sein digitales Leben daraus zu entschlüsseln?

Ein Klopfen ließ ihn jäh herumfahren. Waren sie ihm schon auf den Fersen? Geschwind erhob er sich und scannte die Umgebung ab. Fichten so weit das Auge reichte, aber keine Polizei.

Er schloss die Lider und sah Vanessa vor sich. Das Messer in ihrem Bauch, wo ihr gemeinsames Baby drin gewesen war. Es hätte zu einem wundervollen Wesen heranwachsen können, doch er hatte diese Chance in einem kurzen Augenblick zerstört. Es schien ihm, als würde sein Kind ihm aus dem Jenseits zurufen. Seine Augen brannten, Tränen drückten sich aus seinem Inneren hervor, doch er schüttelte den Kopf und blinzelte die Traurigkeit weg. Dieses Selbstmitleid konnte er sich nicht leisten.

Als er die Augen öffnete, sah er einen Jungen durch den Wald laufen und mit einem Ast gegen die Stämme schlagen. In dem Moment wurde ihm bewusst, dass nicht sein Kind ihn gerufen hatte, sondern dieser Junge nach seiner Mutter, die kaum mit ihm mithalten konnte. Tims Herz begann zu rasen. Er war noch nicht weit genug in den Wald vorgedrungen. Hastig stopfte er alles zurück in den Rucksack und rannte los.

 *** 

Eine alte Dame in einem altmodischen Blümchenkleid öffnete Miriam und Oliver die Tür. Ein Dackel kam kläffend angelaufen, fletschte die Zähne.

»Guten Tag. Kriminalpolizei. Wir haben ein paar Fragen an Sie«, begann Oliver das Gespräch.

Die Augen der alten Frau glühten vor Aufregung. »Möchten Sie Tee oder Kaffee?«

»Nein danke«, sagte Oliver.

Sie nahmen auf dem billigen Stoffsofa Platz. Die Schrankwand vollgestellt mit kleinen Figürchen. Es roch nach Zigarettenrauch und Hund.

Die Frau hielt den kläffenden Köter auf dem Schoß, nachdem sie sich gesetzt hatte. Sie schaute sie erwartungsvoll an, als ob es etwas zu gewinnen gäbe. Hoffentlich kamen sie hier schnell wieder raus.

»Wissen Sie, was passiert ist?«, fragte Oliver.

»Ich habe von einer Leiche gehört.«

»Genau. Wir werden Sie nun als Zeugin zu dem Tötungsdelikt an Vanessa Marks befragen.«

Die Frau nickte eifrig. An einer Wand ein großes Foto von zwei Kindern mit einem Bernhardiner in der Mitte.

»Ich muss Sie darüber aufklären, dass Sie keine Angaben zur Sache machen müssen, wenn Sie mit einem Beteiligten verwandt oder verschwägert sind. Außerdem können Sie die Antwort verweigern, wenn Sie sich oder einen nahen Angehörigen damit in die Gefahr bringen würden, wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden.«

»Da machen Sie sich mal keine Sorgen.« Die Frau wedelte mit der Hand, was ihr Köter mit einem Kläffen quittierte.

»Wenn Sie Angaben zur Sache machen können, sind Sie gehalten, die Wahrheit zu sagen, andernfalls könnten Sie sich strafbar machen.«

»Ich sage immer die Wahrheit.« Sie hob den Kopf, als sei es eine unerhörte Unterstellung.

»Haben Sie alles verstanden?«, fragte Oliver.

»Gewiss.«

»Fürs Protokoll brauche ich noch Ihren Namen und Ihren Personalausweis.«

»Hannelore Bilcher.« Sie stand auf, ohne den Hund loszulassen, und holte den Ausweis aus dem Flur.