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Michael Boenke

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Beschreibung

Fronleichnam - eigentlich eine Zeit der Besinnung, doch nicht so im Oberschwäbischen. Der Alt-Wirt des »Güldenen Adlers«, Bruno, wird mit Speiseresten zu Tode gefoltert. Sein Kollege Stavros, Besitzer des romantisch im Ried gelegenen »Poseidon«, wird kurz darauf kopfüber aufgehängt im Schlachtkeller gefunden. Als dann auch noch Frieda, die alte Wirtin des »Goldenen Ochsen« spurlos verschwindet, ermittelt ihr Schwiegersohn Bönle mit seinen Motorradfreunden auf eigene Faust. Liegt die Lösung des Falles in der Vergangenheit der Wirtsleute?

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Seitenzahl: 327

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Michael Boenke

todsatt

Küchenkrimi aus der Provinz

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Bei Fragen zur Produktsicherheit gemäß der Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (GPSR) wenden Sie sich bitte an den Verlag.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Satz: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © voltan / stock.adobe.com; hanohiki / stock.adobe.com; niloo / stock.adobe.com

ISBN 978-3-7349-3304-2

Widmung

Für Johannes, Judith und Gregor, denen die Heilige Apollonia immer hold sein möge.

Und für meine Gattin, der (nomen est omen) die Heilige Katharina zur Seite stehen möge.

Die Fischerin vom Bodensee

Mittwoch, 22. Mai, abends

Und wieder kannst du alles alleine machen. Auf den Anderen war ja noch nie Verlass. Schon beim Ausspähen hatte er immer seine ganz privaten Bedenken angemeldet. Aber, selbst ist der Mann!

Mit so viel Gegenwehr hättest du bei dem Alten jedoch nicht gerechnet. Manchmal läuft trotz eines guten Planes vieles zuwider. Es war schon nicht ganz einfach, unbemerkt durch den Hintereingang in das Schlafzimmer des Alten zu kommen, obwohl alles über viele Tage hinweg gut ­ausbaldowert wurde. Und dazu noch die ständigen Diskussionen mit dem Anderen. Man solle es sich noch einmal überlegen, es könne schlimmer ausgehen als geplant, man müsse trotz der gründlichen Vorbereitung damit rechnen, überrascht zu werden, die Gäste könnten auch unliebsame Zeugen sein … So oder so ähnlich wurde er ständig von ihm bedrängt. Und vor allem seine Moralpredigten, unerträglich …

Trotzdem ist es ganz gut, dass so viele Gäste im Außenbereich dem Akkordeon-Trio zuhören, lachen und trinken. Somit sind sie abgelenkt, außerdem kann keiner von ihnen ahnen, was wenige Meter vom volksmusikalischen Event entfernt geschieht.

Der Alte hat gleich nichts mehr zu lachen. Die Idee mit dem Sekundenkleber war einfach genial. Zuerst wolltest du den Kleber nur für die Hände und die Füße, um sie zu fixieren. Aber es kommt immer anders, als man denkt. Gott sei Dank hattest du eine große Tube mitgenommen.

Du kommst, wie geplant, in das Zimmer, den Weg bist du nicht nur im Kopf unzählige Male abgelaufen. Jede Bewegung hast du einstudiert. Und als du vor wenigen Tagen von einer Bedienung, die eilends von der Küche herkam, gefragt wurdest, ob du dich verlaufen hättest, hast du nur etwas von »Toilette« und »dringend« gemurmelt. Außerdem war deine Erinnerung gar nicht schlecht. Trotz der vielen Jahre.

Du willst ins Halbdunkel zum mächtigen Sessel schleichen, erschrickst jedoch zu Tode, als er dich aus der Ecke heraus anglotzt, trotz des gesenkten Blickes wirkt er leidend. Unterhalb seiner nackten Füße sind jeweils links und rechts Kerzen aufgestellt. Er ist fixiert und nahezu nackt, Blut läuft ihm ins Gesicht – dem Heiland in der Ecke. Du ignorierst den kindsgroßen Gekreuzigten im dunklen Herrgottswinkel des dämmerigen Zimmers, obwohl er, durch die Kerzen zum flackernden Leben erweckt, dir einen kurzen Schrecken eingejagt … und er sofort flüsternd seine obligaten Bedenken angemeldet hat und dich zur Umkehr bewegen will. Du ignorierst ihn.

Dein eigentlicher Adressat hat dich gottlob noch nicht bemerkt. Er sitzt, wie die Abende zuvor, als er unter Fernglas-Beobachtung stand, im rot-grün gestreiften Bademantel mit Kopfhörern auf den Ohren in dem rotledernen, kopfhohen Ohrensessel. Seine Blickrichtung geht nach draußen, an dem mächtigen Kastanienbaum vorbei, hin zum großen See diesseits der Berge. Hinein in den milden Abend, getüncht mit seichter Musik. Neben dem Sitzenden, dem friedlich Halbschlummernden, steht ein Nierentischchen mit einem Bierkrug, in dem ein Stauchstab steckt, um das Hopfengetränk für die alten Gedärme angenehm zu temperieren. Auf einem Teller befindet sich eine angeknabberte Scheibe Brot mit einem Rest vom Schwartenmagen, angetrockneter Senf krustet an Messer und Gabel. Im Rhythmus zur unhörbaren Kopfhörermusik bewegt der Alte leicht wiegend sein kahles Haupt und sanft taktend den linken Fuß im Dämmerzustand, die Augen sind halb geschlossen. Nicht mehr lange.

Die Akkordeonmusik und Singsang-Fetzen wehen zum geöffneten Fenster herein.

Du näherst dich mit all deinen Utensilien im Rucksack von der Türe her dem Sessel von hinten, du hast kein Auge für den herrlichen Blick ins Zwielicht des endenden Tages zum Fenster hinaus. Dämmerung und gedämpfter, akkordeonbegleiteter Singsang drängen sich in den heimeligen Raum. Du konzentrierst dich auf den Knebel und den Klebstoff. Alles muss jetzt möglichst schnell und geräuschlos abgehen. Den zusammengeknüllten Stoffballen, noch von hinten anschleichend, in den vor jähem Erstaunen schnappenden Mund gepresst. Geschwind Klebstoff auf die rote Lederarmlehne, die Hände darauf mit aller Kraft fixieren. Der Alte windet sich, mit zäher Kraft schlagen die dürren Beine aus. Schmerzhaft trifft er dich am Schienbein. Du drehst dich ihm entgegen. Ersticktes Stöhnen dringt gedämpft aus dem Mund. Die pfeifend durch die Nase ausgestoßene Atemluft spürst du bis in dein Gesicht. Länger als nötig presst du die altersfleckigen Hände auf das Leder, dann sind sie endlich untrennbar damit verbunden. Die karierten Pantoffeln trommeln einen verzweifelten Rhythmus auf den Holzboden. Du befürchtest, dass man den Stepptanz des Entsetzens draußen hören kann. Der Alte windet sich wie ein Fisch am Haken. Adern treten wie kleine, blaue Würmer aus Schläfe und Handrücken. Du hast gedacht, es wäre einfacher, ihn in Position für dein Vorhaben zu bringen. Panik steigt in dir auf, du zischt den Anderen an:

»Tu doch auch was, muss ich denn alles alleine machen? Mach das Fenster zu!«

Natürlich tut er nichts, alles musst du nun alleine machen. Dann bleibt eben das Fenster geöffnet, du kannst nicht von deinem Opfer weichen. Plötzlich erschlafft der Alte, stoßweise, hektisch atmend. Die Füße rasch aus den Schlappen, mit zwei energischen Zügen die Socken von den gelblichen Füßen getrennt, Klebstoff auf den Holzfußboden, schnell die Füße fixieren. Mit deiner Schulter gegen den Körper des sich nur noch zaghaft Windenden gedrückt, versuchst du nun gebeugt, die dürren, Halt suchenden Beine ruhig zu stellen. Der Klebstoff verschmiert sich über den Boden, wird zäh. Mit deinen eigenen Füßen stellst du dich kurzerhand auf die gelblichen Füße deines nun wehrlosen Gegenübers und hältst dich an seinen Schultern fest. Kopf an Kopf, keine Handbreit voneinander entfernt. Mit weit geöffneten Augen stiert er dich entsetzt an.

Endlich an Händen und Füßen fixiert, scheinen dem Alten die Kräfte schnell zu schwinden. Du holst aus dem Rucksack den Trichter mit dem Schlauch, ziehst den Knebel aus dem Mund und schiebst dem würgenden, nach Atem ringenden Alten den Schlauch tief in den Rachen, befüllst den Trichter mit dem vorbereiteten Brei und drückst die grau-braune Masse mit der Flaschenbürste durch den Trichter und den Schlauch in den Magen des Wehrlosen. Sein Kopf schlägt krampfartig vor und zurück, der Trichter schlägt dir gegen die Brust, der nach Verwesung stinkende Brei schwappt heraus und versaut dein Hemd. Du wirst sehr wütend und stopfst und stopfst.

Tränen laufen zäh aus den Augen des Gefolterten, der kahle Kopf schüttelt sich nun panisch in alle Richtungen. Du unterbrichst die Fütterung, nimmst den Rest des Klebers, schmierst ihn an den kahlen Hinterkopf deines Opfers und drückst ihn mit aller Gewalt gegen die lederne Kopflehne des hohen Ohrensessels. Bald schon ist der Kopf fixiert. Du kannst nun in Ruhe deine Arbeit fortsetzen und stopfst und stopfst.

»Guten Appetit!«

Der Andere macht sich zögerlich, kaum hörbar bemerkbar und stottert vor Erregung:

»Das … das reicht, lass uns abhauen, du, du, du bringst ihn noch um!«

Du ignorierst sein Gestammel, schnappst dir das Stück Schwartenmagen vom kleinen Tischchen und steckst es dir demonstrativ in den Mund.

Friedas Reich oder Fisch mit Dill

Donnerstag, 23. Mai, morgens

»Jesses, wer hat den Dill aufgebraucht? Los, schneid mir einen frischen! Aber schnell, Fisch mag keine Wärme, der muss, bis er in der Pfanne landet, wieder in den Kühlschrank!«

Frieda fuchtelte aufgeregt mit dem Ausbeinmesser, das sie zum Öffnen der Fische und zum sorgfältigen Ausräumen der Eingeweide verwendet hatte.

»Und eins musst du wissen: Meine Forelle braucht einen Dill! Die heißt immerhin Friedas feinste frische Forelle! Und da gehört eine Zitronenscheibe, die gute Butter und ein Sträußchen Dill hinein. Etwas Salz, weißer Pfeffer und gut ist’s. So hat es schon meine Mutter gemacht. Und so wird’s immer gemacht! Was hat mein Vater, Gott hab auch ihn selig, immer gesagt: ›Ein Fisch ohne Dill ist wie eine Frau, die nicht will.‹«

Frieda fuchtelte mit der Kräuterschere in Richtung des Hinterausgangs, dorthin, wo ihr ganzer Stolz, der Kräutergarten, seine Farben und seinen Duft in den noch jungen Sommer hinein üppig verschwendete.

Die Küchenhilfe stand ratlos da, schaute verzweifelt zur Kräuterschere und fragte:

»Was Dill?«

Frieda wischte die vom Forellensäubern feuchten und schleimigen Hände an der blau geblümten Kittelschürze ab und rief in die Küche hinein:

»Oh, es ist ein Elend, wenn man heutzutage nicht alles selbst macht! Komm mit, Mädle, ich zeig dir, was ein Dill ist und was kein Dill ist! Jesses, man muss doch wissen, was ein Dill ist!«

Die blonde ukrainische Küchenhilfe, die durch Kriegswirren nach Riedhagen geschwemmt worden war, trottete folgsam hinter Frieda her, nachdem diese die Forellen im Kühlschrank verstaut hatte, und wiederholte mit kehliger Stimme:

»Dill Jesses, Dill Jesses.«

Frieda kniff, aus dem dämmrigen Licht der Küche kommend, von vormittäglicher Sonne geblendet, die Augen zusammen und schritt strammen Schrittes am Hühnerstall vorbei zum von einem Holzzaun eingegrenzten pittoresken Kräutergarten.

»Auf, Mädle, beweg deinen Arsch, der Fisch hat nicht derweil, der will gefüllt werden und wieder in den Kühlschrank. Der muss heute Abend frisch auf den Tisch. Das mögen die Leut’, meine Forelle. Manche kommen wegen der von weit her. Bis vom See kommen die her!«

Frieda platzierte sich ins Zentrum ihres Kräuterreiches, vollführte trotz ihrer Leibesfülle eine 360-Grad-Drehung mit ausgestreckter rechter Hand und referierte fachfrauisch, geradeso, wie sie es in ihrem samstäglichen Volkshochschulkurs »Gegen alles ist ein Kraut gewachsen – nur nicht gegen schlechte Köche« tat:

»Das hier sind alles Küchenkräuter, von mir und der Cäci selbst angepflanzt. Einige sind mehrjährig, andere sind saisonal. Die einen stehen eher schattig, die anderen brauchen volle Sonne. Die einen wollen es feuchter, die anderen lieben die Trockenheit. Das ist wie bei den Leuten auch, der eine mag es so, der andere mag es so. Das Schöne an dem Grünzeug ist, dass viele von den Pflanzen zu den sogenannten Schwachzehrern zählen, das heißt, die brauchen nicht viel, die sind anspruchslos. Hast du verstanden, Mädle, Schwachzehrer? Aber wie überall gibt es da natürlich Ausnahmen, das ist wie bei den Menschen auch, nicht jede aus der Ukraine ist so hübsch wie du. Verstehst mich, Mädle?«

Frieda geriet inmitten ihrer Kräuterpracht ins Schwärmen und Referieren, wie sie es in ihrem aktuellen Volkshochschulkurs praktizierte. Mit erhobenem Zeigefinger lehrte sie: »Ausnahmen gibt es immer, vor allem, wenn es um den geeigneten Standort geht. Mediterrane, mehrjährige Kräuter wie Rosmarin, Lavendel, Thymian oder Salbei gehören an einen sonnigen, eher trocknen Standort mit nährstoffarmem Boden. Verstehst du? Nährstoffarm! Da darf nicht viel Mist hin. Der Lorbeer dagegen, das ist der da hinten, der mit den dunkelgrünen, glänzenden Blättern, der liebt es eher feucht und mag nährstoffreichen Boden. Den habe ich sogar über viele Winter gebracht. Kräuter, die schnell wachsen und große, empfindliche Blätter haben, wie Pfefferminze, Beifuß oder Basilikum, gedeihen am besten im Halbschatten und brauchen Wasser. Merk dir, Mädle: Je dünner das Blatt, umso mehr Wasser! Hast du das kapiert, Mädle? Wiederhol das mal! Was braucht der Lorbeer, was braucht die Minze?«

Die schöne Ukrainerin blinzelte ratlos in die Sonne, kratzte sich verlegen im blonden Haar und schüttelte langsam den Kopf.

»Jesses, das wirst dir doch merken können, das ist doch nicht so schwer. Die einen Sonne, die anderen Schatten, und wieder andere Halbschatten. Sag schon! Sonne, Schatten, Halbschatten.«

Die groß gewachsene Ukrainerin stotterte inmitten der Kräuterpracht schulterzuckend:

»Jesses, Chalbschatten!«

Frieda schüttelte energisch den Kopf, monologisierte weiter und führte Ekatarina durch ihr Kräuterreich und erzählte der aufmerksam Nickenden zu jedem Busch und Sträußlein eine kleine Anekdote. Die Ukrainerin lauschte gespannt den Worten der weisen Wirtin. Immer wieder fragte sie wissbegierig nach und versuchte die Ordnung und den Nutzen von Friedas Gärtchen zu verstehen. Nachdem sie gemeinsam am jungen Dill gerochen hatten, gingen sie mit einem aromatischen Strauß des grünen, zart gefiederten Krautes zurück in die duftgeschwängerte Küche, wo auf dem riesigen alten Herd Brühenredukte sanft vor sich hin sutterten, ein großer Schweinebraten im Röhrle bei niedriger Temperatur garte und einige Soßen vorbereitet wurden.

»Wer von euch hat denn wieder die Salzschütte mit dem Zucker vertauscht? Wenn man nicht alles selbst macht. Das sieht man doch, der Zucker ist gröber, der glänzt ganz anders. Gott sei Dank hab ich es bemerkt, das hätte was gegeben, eine süße Forelle, das hätte was gegeben! Da springen mir ja die Stammgäste davon. Jesses, Josef und Maria, wenn man nicht alles selbst macht. Guck her, Mädle, so macht man das: Salz und Pfeffer, das Zitronenscheible … Jesses, was tust auch? Den Dill doch erst am Schluss! Eine Forelle braucht Liebe, sonst klappt das nicht. Kennst du das Lied? Ihr Russen seid doch so, so, so … künstlerisch.«

Ekatarina empörte sich:

»Ich bin keine Russin, ich bin Ukrainerin!«

»Äh, ja, natürlich, aber kennst du das Lied mit der Forelle?«

Die Angesprochene blickte mit großen Augen zu ihrer Chefin, die eine Forelle hochhob, ein paar unbeholfene, tänzerische Schritte durch die Küche machte, mit hoher Stimme anhob und ihr das Lied mit dem munteren Fisch präsentierte, der in froher Eil durch das Wasser schoss. Sie sang auch vom Bade und Gestade und fragte die erstaunte Ukrainerin: »Weißt du überhaupt, was ein Gestade ist? Das ist das Ufer, der Strand!«

Frieda tanzte und sang weiter, zuckte in theatralischer Pantomime, als das Fischlein an der Angelrute zappelte. Die Küchenhilfe fummelte verzweifelt an Forelle, Zitrone und dem Dill herum. Frieda summte und meinte: »Ja, ja, Mädle, nimm dich in Acht vor den Kerlen … mit der Rute, sonst blutest auch du und zwar dein Herz!«

Ekatarina murmelte verwirrt:

»Jesses, Dill an Schluss.«

»Wo ist eigentlich die Aleksandra? Der würde es auch nicht schaden, beim Zubereiten der Forelle zuzuschauen. Weil, die Forelle, die muss stimmen, das war dem Vatter seine Leibspeise! Und wir müssen für morgen noch welche vorbereiten, für den Freitag. Jetzt sind Pfingstferien. Die Leute sind es gewohnt, bei mir um die Zeit Forellen zu bekommen!«

Frieda seufzte schwer, die Augen zwinkerten feucht. Ekatarina zeigte mit der geöffneten Forelle zum Fenster hin, wobei das Dillsträußchen und das Zitronenscheibchen, noch nicht im geöffneten Leib der Bachforelle verankert, der Schwerkraft folgend auf den alten, hell-dunkel gemusterten Terrazzoboden in Friedas Küche fielen.

»Ist bei Bönle, Jesses. Macht Kindsmagd für die kleine Annamirl Bonneville. Hilde hat keine Zeit.«

Frieda schniefte, zog ein Stofftaschentuch aus den Tiefen ihrer Kittelschürze, zog die Brille mit den verschmierten Gleitsichtgläsern mit der einen Hand von der Nase, wischte sich mit dem Tuch in der anderen die feuchten Augen. Die Erinnerung an ihren Mann, den sie »Vatter« nannte, hatte sie temporär sentimental gemacht.

Frieda füllte, alte Zeiten in Tagträumen durch die Küche schweben lassend, nun wieder tänzelnd summend, ohne aufzuschauen die Forellen und murmelte gerührt, während die gertenschlanke Ekatarina sich geschmeidig bückte, um Zi­trone und Dill vom Boden aufzusammeln.

»Das hab ich mir gedacht. Bei der Annamirl. Mir hat früher auch niemand geholfen, die Cäcilia aufzuziehen und nebenher die Landwirtschaft, danach die Gastwirtschaft … und nach dem Tod vom Vatter alles alleine!«

Frieda seufzte aus der Tiefe des fülligen Leibes:

»Jessesjosefundmaria, und es hat auch geklappt. Doch nicht wieder reinstopfen! Das war auf dem Boden, das geht in den Abfall! Wenn man nicht alles selbst … Wegen der Hygiene, Jesses, Jesses! Wegen der Hygiene, Jesses!«

Aus der Küchenhilfe mit dem Dill-Zitronen-Arrangement in der Hand echote es fragend:

»Jesses?«

Frieda schüttelte resigniert den Kopf, lächelte jedoch still in sich hinein, ein heiterer Schatten wehte kurz über das altersgefurchte Gesicht. Sie war zufrieden, auch mit ihren beiden neuen Küchenhilfen Aleksandra und Ekatarina. Da hatte sie schon ganz andere gehabt. Ganz andere! Und dem Vatter hätten die beiden auch gefallen, das wusste sie.

Das Telefon in der Küche, ein altes Siemens-Gerät mit Wählscheibe, klingelte sie in die Realität zurück. Ein Anruf zu dieser Uhrzeit war ungewöhnlich.

»Ach, du bist’s, Cäci. Ist was mit den Kindern?«

Aus der Hörmuschel krächzte es. Frieda ließ den knochenförmigen Telefonhörer fallen. An der gedrillten Kabelschnur baumelte er hilflos hin und her.

Frieda war bleich und stammelte:

»Das gibt’s doch nicht! Sodom und Gomorrha, Jessesjosefundmaria!«

Schatten über dem Güldenen Adler

Donnerstag, 23. Mai

Der stolze Gasthof, der sich mittlerweile Bio-See-Gasthof nannte, lag im Zentrum der kleinen Ortschaft, die an die südliche Hälfte des Tales geklebt schien und bei Föhn einen ungetrübten Blick auf Bodensee und Alpenmassiv bot. Von links nach rechts der Blick über die österreichischen, italienischen, deutschen, Schweizer zu den französischen Alpen hin. Verschwitzte Wanderer, neonfarben bekleidete E-Bike-Fahrer, nach Leder stinkende Motorradfreaks, faule Automobilisten aus Friedrichshafen und Überlingen sowie Busse mit beschwipsten und laut kreischenden Witwen waren immer erwünscht und als zahlende Gäste wohlgelitten. Um diese Uhrzeit herrschte jedoch üblicherweise im Außenbereich Ruhe. Nur im Inneren der mächtigen Gastwirtschaft tobte ansonsten die Vorbereitungsschlacht.

Heute war jedoch alles anders, der Schatten einer Tragödie hatte sich über die Gaststätte gelegt.

In der neunten Generation, so verkündete die schwere, braune, in Kunstleder gebundene Speisekarte auf der ersten, in zartem Beige gehaltenen Seite, war der Güldene Adler im Besitz der Familie Dreher. Die Ursprünge reichten jedoch noch weitere einhundert Jahre in die Vergangenheit. Aus der Vergangenheit entlehnt schien auch ein großer Teil der Speisekarte, um dem Namen Bio-See-Gasthof Güldener Adler, wenn schon die Gestade des Schwabenmeeres erst in 20 Kilometer Entfernung lockten, gerecht zu werden, sollte wenigstens die Speisekarte die rustikale Gesundheit der Region durch die Attribute Bio und Vegetarisch widerspiegeln. So waren auf der Karte nebst Rahmschnitzel mit Pommes unter anderem auch Hirse- und Dinkelprodukte zu finden.

Die rot lackierten Fingernägel fuhren geduldig Wort für Wort, Seite um Seite durch die Speisekarte. Der blonde Kopf in schräger Haltung, die Augen und die ebenfalls rot geschminkten Lippen nachdenklich zusammengekniffen. Immer wieder mal ein »Aaah«, ein »Hmmm«. Auch der Begleiter der Blonden war nach getaner Arbeit in eine der ausliegenden massiven Speisekarten vertieft. Sie saßen am Rande des weitläufigen Biergartens und schienen die einzigen Gäste zu sein. Einige gänzlich in Weiß gekleidete Figuren wirkten wie Tagesgeister, trugen Köfferchen, Kameras und wirkten in ihrer eigenartigen Tätigkeit, wie sie hin- und herliefen, geduldig stehen blieben, ein- und ausgingen, professionell. Die Blonde begutachtete ausführlich die schwere Speisekarte.

SPEISEKARTE GÜLDENER ADLER:

ZUM »WARMWERDEN«

Flädlesuppe: Bio-Rinderkraftbrühe vom auf dem Hof geschlachteten Black Angus Bio-Rind mit Bio-Kräuterflädle

Güldener Adler Forellensüpple: Forellen aus eigener, nachhaltiger Zucht mit Bio-Wurzelgemüsen 

Bunter Bio-Blattsalatteller mit hausgemachtem vegetarischem Nudelsalat [vegetarisch]

Hirse-Kräuter-Brennsüpple mit Fladenbrot nach Omas Rezept [vegetarisch]

Überraschung von der Gänseleber

ZUM SCHLEMMEN

BIO-LANDSCHWEIN:

Cordon bleu mit Bio-Schinken und Bergkäse, dazu Schwarzwurzelgemüse und hell frittierten Bio-Pommes

Omas Schnitzel mit leckeren Bio-Pommes

Omas hausgemachte Herrgottsb’scheißerle mit Schmelzzwiebelchen und vegetarischer »Bratensoße«

Rahmgeschnetzeltes oder Rahmschnitzel (mit Quinoa-Panade) vom Filetstück mit Bio-Kartoffelgratin und saisonalem Bio-Gemüse

BLACK ANGUS BIO-RIND

Rumpsteak auf Wurzelgemüse mit Bio-Kartoffel-Gratin

Rindergulasch mit Dinkelspätzle und Bio-Überraschungsgemüse

FISCH:

Warm geräuchertes Forellen-Filet mit Sahne-Lauchgemüse, dazu Dinkelnudeln

Forelle vom Holzkohlegrill mit Sahne-Meerrettichsoße und Bio-Bratkartoffeln

HERZHAFTES VESPER, MIT DINKEL- UND HIRSEBROTFLADEN

Vegetarischer Wurstsalat 

Omas Schweizer Wurstsalat

ZUM KRÖNENDEN ABSCHLUSS

Omas Apfelkuchen mit Sahne

Dinkel-Rührkuchen mit Vanillesoße

Hausgemachtes Eis: Vanille, Schoko, Erdbeere, Petersilie, Rote Bete

Panna Cotta auf süß-herbem Rote Bete-Spiegel

Die blonde Kommissarin legte die Speisekarte beiseite, nickte ihrem Kollegen kurz zu und tippte mit einem kratzenden Geräusch auf die Lederimitathülle der Karte.

»Hast du was gefunden, Nedlich? Die bieten einiges an Kulinarik auf dem Land hier.«

Ihr schmächtiges Gegenüber blickte von der Karte angespannt zum Gasthof hinüber und antwortete stirnrunzelnd:

»Das war kein schöner Anblick!«

»Gekocht ist sowieso schon, hat der Junior gesagt.«

»Wenn ich ehrlich sein soll, ist mir der Appetit ein bisschen vergangen.«

»Der bunte Bio-Blattsalatteller mit hausgemachtem vegetarischem Nudelsalat lacht mich an.«

»Der Seniorchef, der alte Herr Dreher, sah fürchterlich aus!«

»Ob man da auch eine kleine Portion davon haben kann? Müsste doch machbar sein. Was denkst du, Nedlich?«

»Das muss ein fürchterlicher Tod gewesen sein.«

»Und danach, wenn’s noch reinpasst, Omas Apfelkuchen, geht bestimmt auch ohne Sahne.«

»Ich bin mir sicher, dass die Obduktion Tod durch Ersticken ergibt.«

»Oder sogar den Dinkel-Rührkuchen mit Vanillesoße. Ich liebe Vanillesoße.«

»Oder Tod durch Herzversagen.«

Endlich schien die Blonde die Kommunikation des Schmächtigen aufzunehmen. Entsetzt starrte die Kommissarin zu ihrem jüngeren Kollegen und fragte mit ungläubigem Unterton:

»Nedlich, hast du schon mal Petersilieneis gegessen? Das steht hier auf der Karte!«

Der junge Kommissar mit dem alten Gesicht blickte erstaunt zu seiner Vorgesetzten Petra Krieger:

»Äh, wie bitte, nein, warum sollte ich?«

»Dann nehm ich vorweg den Bio-Salat mit den Veggie-Nudeln und danach den Apfelkuchen, das reicht. Was nimmst du, Nedlich? Willst du vielleicht mal das Petersilieneis probieren? Das würde mich schon interessieren, wie das schmeckt.«

»Äh, wie gesagt, mir ist der Appetit ein bisschen vergangen. Der Seniorchef sah, wie soll ich sagen, äh, schrecklich aus. Und die blutige Kopfhaut, die da wie ein Gummilappen am Sessel hing …«

Der schmächtige Kommissar schüttelte sich und nahm einen kräftigen Schluck Spezi. Die attraktive Kommissarin grinste und bemerkte mit ironischem Unterton:

»Nedlich, du bist ein Sensibelchen. Aber ich verstehe dich. Der Anblick war nicht alltäglich, der Trichter im Mund, die stinkende Pampe überall, der festgeklebte Körper … Im Todeskampf muss er so viel Kraft im Hals- und Schulterbereich entwickelt haben, dass es ihm über dem Nacken die Kopfhaut abgezogen hat. So etwas habe ich auch noch nie gesehen! Der Kopf war vermutlich nur an einer kleinen Stelle punktuell fixiert. Dann ist es vermutlich im Ersticken zu spastischen Krämpfen gekommen, und dann hat er sich selbst skalpiert.«

Kommissar Nedlich nahm hastig einen weiteren Schluck vom bräunlich perlenden Erfrischungsgetränk. Die Kommissarin trommelte mit ihren roten Fingernägeln ungeduldig auf den grün lackierten Holzlattentisch:

»Wo bleibt denn die Bedienung? Außer uns gibt es keine, äh, Gäste.«

Voller Empathie drehte der Kommissar seinen blassen Kopf zur Gaststätte hin:

»Da ist natürlich jetzt der ganze Betrieb durcheinander, das musst du verstehen, Petra. Die haben gerade ein Schild aufgehängt: ›Wegen Trauerfall geschlossen‹. Der Juniorchef und seine Frau müssen das erst mal verkraften. Auch die Angestellten, der Alte war wohl recht beliebt. Das war unisono rauszuhören. Den Senior heute Morgen so aufzufinden, war schon ein fürchterlicher Schock für die. Überlege mal, wie das für dich wäre, den Vater oder Schwiegervater morgens festgeklebt, skalpiert und zu Tode gemästet aufzufinden. Wie eine Mastgans!«

Die Kommissarin hob beschwichtigend eine Hand in Richtung ihres Kollegen:

»Langsam, langsam, Nedlich, die Untersuchung durch die Gerichtsmedizin wird klären, wie Bruno Dreher verstorben ist. Eins ist sicher, er ist weder eines natürlichen Todes gestorben noch war es Suizid! Und jetzt essen wir zuerst mal eine Kleinigkeit. Du probierst das Petersilieneis, das ist eine dienstliche Anweisung. Ein Eis geht immer! Prost!«

Sie hob ihr helles Walder-Gebräu auffordernd zum Spezidrink des bleichen Kollegen.

»Zum Wohl, du fährst, Nedlich! Ich habe mich immer noch nicht an das Elektrofahrzeug gewöhnt.«

Der schmale Kommissar hob abwehrend eine Hand:

»Ich, äh, habe …«

Die Blonde herrschte ihn an:

»Auch das ist eine dienstliche Anweisung! Du fährst die E-Gurke!«

Retro: Rosi hat ein Telefon und Smoke on the water

Die 80er-Jahre

Mit dem Capri R Zweiliter V6 mit knirschenden Pneus zügig vor den Kellereingang des Tanzlokals gefahren. Die restlichen Parkplätze im hinteren, unbeleuchteten Bereich der Gaststätte sind überwiegend mit Enten und mit Käfern und im sicheren, beleuchteten Bereich mit zwei Mantas, auf dem Doppel-Parkplatz mit dem Schild »Privat« einem Jaguar und einer Cobra belegt – ein Rendezvous der automobilen Tierwelt. Ein Grund mehr, den roten Ford mit dem verchromten Hufeisen im Kühlergrill direkt im gekiesten, hellen Eingangsbereich mit stehenden Rädern und wohldosiertem Zwischengas sportlich dicht neben den herumlungernden Althippies und den modernen Poppern zu parken. Noch ein Blick in den Rückspiegel, den Kamm umständlich aus der Gesäßtasche gepfriemelt, kurz durch die langen Haare gefahren. Die engen Mustang-Jeans lassen es kaum zu, aus dem niederen Gefährt mit den 90 Pferden und der charakteristisch langen Schnauze lässig auszusteigen.

Das Wirtshausschild, das an einer barock gewundenen, schmiedeeisernen Aufhängung über der Kellertür leicht im Abendwind schaukelt, präsentiert stolz einen goldenen Adler, der, in ein eisernes Oval gezwängt, Brust und gespreizte Flügel präsentiert. Die Krallen, in den unteren Bereich des Ovals verkrampft, halten dem satten Bass, der aus dem Eingang wummert, stand und verhindern den Absturz in den gut beleuchteten Eingangsbereich des zur samstäglichen Diskothek missbrauchten Speisewirtschaftskellers. Ein handgemaltes Schild mit der Aufschrift »Disko« überdeckt das Adjektiv »Güldener«. Somit wird allsamstäglich aus dem Güldenen Adler im rückwärtigen Bereich das Tanzlokal Disko Adler.

Aus selbigem wummern die tiefen Bässe von Daddy Cool durch die geöffnete Tür, Rauchschwaden drängen an die frische Luft.

Schon zehn Jahre alt und immer noch heizt der coole Daddy die Landbevölkerung an. Du drängst dich durch Gruppen kichernder, kajaläugiger Mädchen und schweigender, zigarettendrehender Jungs. Die meisten tragen hautenge, bunte Jeans, die Schultern sind gepolstert, die Frisuren verwegen toupiert. Einige wenige sind berockte Relikte mit gebatikten Hemden aus der Post-Hippie-Ära. Den Bekannten si­gnalisierst du mit einem V aus Zeige- und Mittelfinger, zur gleichen Gemeinschaft zu gehören. Respektvolles Nicken, Getuschel, eine schmale Gasse bildet sich. Die Bässe werden zwingender, die Stimme des Sängers bekommt bei jedem Schritt zum Keller-Tempel hin mehr Kontur. Und immer noch ist der Daddy cool. Du musst die Tür nicht aufstoßen, Licht blitzt dir unverhofft entgegen, eine junge Frau mit hautengen, metallisch schimmernden Glitzerhosen taumelt dir auf Plateauschuhen entgegen, sie streift dich mit ihren Schulterpolstern. Strobo­skopstrahlen blenden dich, die Bässe sind eine körperliche Attacke, im Bassrhythmus wippt ihre blonde hochtoupierte Frisur. Die Atemluft wird zäh. Zigarettenrauch, ein Konglomerat aus Camel, Marlboro, Peter Stuyvesant, HB, Gauloises, aber auch Marihuanaduft, künstlicher Nebel aus der Trockeneismaschine und Schweiß vereinen sich zu einer einzigartigen Duftgemengelage und bringen dich wie eine Nase Koks sofort in Fahrt. Die Spider Murphy Gang tut das ihrige dazu. Turnt dich an mit dem Hotel L’Amour und der scharfen Rosi. Die Spider Gang löst damit Boney M. ab, die Telefonnummer der Dame gibt’s gratis dazu. Das Gegröle noch lange vor Mitternacht gibt dir schon jetzt den Rest.

Du machst dich schmal, zwängst dich im diagonalen Krebsgang durch die grölenden Tanzenden zur Bar hin, schmiegst dich an Schultern, eroberst dir schlängelnd einen Platz inmitten von Gerüchen, Tönen und schwitzenden Körpern.

»Einen Johnny!«

Der Barkeeper nickt grüßend und verstehend zugleich. Er trägt als Typus Althippie ein geblümtes Hemd, das fast bis zum Nabel offen steht, die behaarte Brust ziert silbernes Billiggeschmeide in Form eines Peacezeichens, das Haupthaar ist zu einem Afro-Look frisiert und wird mit einem bunten Stirnband zusammengehalten. Tänzelnd greift er in die verführerisch glitzernde, spiegelnde Welt der Alkoholika und zieht die mit bernsteinfarbenem, schlierendem Inhalt schwappende Flasche neben der Apfelkorn-Flasche hervor, den Johnny Walker. Immer noch tänzelnd, schenkt er einen Doppelten ein. Als du zum lederbefransten Brustbeutel greifst, schüttelt der Barkeeper grinsend den Kopf, reibt Daumen und Zeigefinger gegeneinander, fährt mit dem Zeigefinger neben die Nase, macht eine bohrende Bewegung, zeigt fünf Finger, deutet auf seine Armbanduhr und zeigt nach oben, zur Decke. Du nickst, du hast verstanden. Gott sei Dank, das Geschäftliche, raus aus dem lärmenden, stinkenden Höllen-Tempel im Keller, hoch zum flüsternden, essensduftenden Fresshimmel.

Nur kurz meldet sich dein Gewissen, du ignorierst es, nur vom Kellnern kann man keinen Capri fahren, auch keinen gebrauchten.

Von unten wummern die Bässe, rauchiger Gestank auch im oberen Bereich der Gaststätte. Du erkennst selbst hier oben an den schleppenden, zähen Klängen Meister Zappa, er erzählt dem Diskovolk etwas von Bobby Brown. Perlen vor die Säue!

Du wartest neben dem Zigarettenautomaten auf den Afro-Look. Die Speisegäste, die durch den Haupteingang an dir vorbeistreifen, tragen männlicherseits Polyester­anzüge, weiße Hemden und breite Krawatten, die Damen weite, voluminöse Blazer mit überdimensionierten Schulterpolstern, das Beinkleid besteht meist aus einer Bundfaltenhose aus Baumwolle oder Jeansstoff. Ab und an zwängt sich ein kecker Minirock vorbei. Ungeduldig wippst du mit dem rechten Fuß zu dem zähen Bass aus dem Keller, dann kommt der Afro-Look mit dem Stirnband. Kurzes Abklatschen, ein kurzer, prüfender Blick in den Gang und hin zur geschlossenen Tür der Wirtsstube, hinter der Gelächter und Wortfetzen regieren. Schnell in die Tür mit den zwei Nullen. Es riecht nach altem Urin und Klosteinen. Hinter der Blende zu den Kabinen ist es um diese Uhrzeit sicher. Der Tausch, nur ein kurzer Augenblick, das kleine Päckchen mit dem weißen Pulver und den harzigen Klumpen gegen die Scheine.

»Schaff’s gut an der Bar!«

»Du auch, viele Fress-Gäste heute, der Parkplatz vorne ist jetzt schon voll mit Daimlern.«

»Dann stimmt wenigstens das Trinkgeld, wenn die Bonzen mit ihren Puppen wieder vollgefressen und dicht sind.«

»Bei mir im Keller sind die genauso dicht, nur das Trinkgeld fällt spärlicher aus!«

Du schickst dem Afro ein Peacezeichen, machst eine Kiffergeste und im Hinausgehen flüsterst du ihm zu:

»Und wenn die Bullen wieder auftauchen: Smoke on the water und volle Lautstärke, die ersten Riffs. Das höre ich bis hier oben! Da da daaa, da daaa dada … Das hört man bestimmt noch in 20 Jahren.«

»Okay, bis jetzt ist ja alles gut gegangen. Aber das letzte Mal war es ganz schön knapp. Sonst habe ich immer einen Tipp von meinem Diskobullen bekommen, wenn eine Razzia ansteht. Der meldet sich aber seit Wochen nicht mehr.«

Die Wege trennen sich, der Afro-Look taucht in den Keller ab, du bleibst auf der Fress-Ebene. Kurz den Kafka machen, die Verwandlung in der Vorratskammer. Dort hat jeder noch ein »Privatfach«. Neben den Konserven, den Beuteln und den Päckchen. Die Blue Jeans gegen die graue Bundfaltenhose, das indische Stickhemd gegen ein weißes Hemd, die Jeansjacke gegen das Servierjäckchen getauscht. Die langen, fettglänzenden losen Haare mit einem Gummiband zusammengefasst und unter dem Kragen versteckt. Und schon stehst du als fescher und beliebter Kellner, mit Geldbeutel und Schreibblöckchen versehen, im rauchverhangenen Gastraum.

Bier, Bier und nochmals Bier, für die Weiber ab und zu mal ein Cola Asbach oder einen Eckes. Nach dem Reinstopfen bei den Herren in den schlecht sitzenden Anzügen gerne mal einen Willi oder Apfelkorn. Die Älteren deuteten auf die riesige Asbach-Flasche, die am Tresen hing und kopfüber im Dosiermodus gute Laune versprach: »Wenn einem also Gutes widerfährt, das ist schon einen Asbach Uralt wert. Im Asbach wohnt der Geist des Weines.«

Schnitzel, Schnitzel, Schnitzel, vielleicht mal einen Toast Hawaii oder ein halbes Hähnchen mit Kartoffelsalat. Wer es wirklich wissen will und vor seiner Puppe den großen Macker macht, bestellt auch mal ein Cordon bleu. Aber da haben die meisten Schwierigkeiten mit der korrekten Aussprache. Und all das Treiben nur mit Bodennebel, einerseits vom Rauch der Villiger Kiel Krummen und der fetten Stumpen, andererseits vom Restetrinken. Wegen der Reste hast du es zu spät gehört: Da da daaa, da daaa dada … Die Stelle mit Frank Zappa und seinen Mothers, die damals am besten Ort logierten, und die Jungs mit der Signalpistole, die den Smoke on the water verursachten, reißen dich in die Realität zurück.

Das ist nach den Riffs das Intro. Du willst noch aus dem Klofenster die Fliege machen, aber wie es halt so läuft. Echt Scheiße, dass der Stoff noch in deiner Hosentasche steckt. Die ganze Nummer mit Beine breit und so, Leibesvisitation mit allem Pipapo. Mit auf das Revier. Eine Nacht in der Ausnüchterungszelle. Alles peinlich, und der Job ist weg. Es wird eine Verhandlung geben.

Der Juniorchef, der Bruno, gerade mal gute zehn Jahre älter als du, lässt dich am nächsten Tag, am Sonntag, antanzen. Kündigung! Er zwingt dich nach ausreichender verbaler Demütigung, aus dem Abfalleimer zu fressen, wenn du den Restlohn haben willst. Er redet irgendetwas von gutem Ruf, Enttäuschung, und warnt dich, der Polizei zu viel zu erzählen. Du frisst aus dem Müll. Aufgeweichte Pommes, säuerliche, welke Salatblätter, zähe Fleischreste. Du brauchst die ausstehende Knete – und einen neuen Job.

Spinne im Netz

Donnerstag, 23. Mai, nachmittags

»Du kannst so nicht weitermachen. Du hast doch gemerkt, wie riskant die Sache mit dem Alten war. Da lief nicht alles wie geplant. Wir haben großes Glück gehabt, dass niemand etwas mitbekommen hat. So viele Menschen waren im Biergarten. Lass es doch mit dem einen einfach gut sein, er hat seine Strafe bekommen. Bei allem, was vorgefallen ist, das waren doch ganz andere Zeiten, das kannst du doch mit heute nicht vergleichen. Geh doch einfach bei denen essen und bezahle nicht, das ist doch Strafe genug bei den heutigen Preisen. Sei doch vernünftig oder vergib denen. So würde man ja nicht einmal ein Tier bestrafen. Und das, was dir Albträume macht, ist doch schon ewig her! Die erinnern sich doch gar nicht mehr an dich«, klingt die Stimme des Anderen ruhig, dennoch mahnend.

Die Antwort kommt prompt, scharf und kehlig:

»Menschen sind schlimmer als Tiere. Und was habe ich dem Alten denn schon angetan? Ich habe ihn nur ein bisschen gefüttert. So, wie er mich damals verköstigt hat! Mit den Resten, immer nur Reste, Abfall, heute kommt so etwas in den Müll! Und einmal musste ich sogar die Abfälle fressen! Die Strafe muss auch bei den anderen beiden hart ausfallen.«

Die sanfte Stimme widerspricht:

»Du musst wissen, dass das Selbstjustiz ist, du tust etwas Verbotenes, etwas, was dich ins Gefängnis bringen wird. Etwas, das dich ebenfalls schuldig macht. Außerdem war es schon damals besser, die Reste zu verwerten, als sie wegzuwerfen.«

Die Antwort kommt laut und aggressiv:

»Ich bin kein lebender Mülleimer, ich bin kein Resteverwerter, ich habe Respekt verdient. Außerdem hat er mich rausgeschmissen, nur wegen der Sache, wegen dem bisschen Stoff! Lächerlich! Das hat früher jeder gemacht! Und Selbstjustiz, da lache ich ja, die haben mit mir doch auch gemacht, was sie wollten. Ich war für sie doch nur das Knechtle! Und das wird man ja sehen, wenn man es geschickt genug anstellt, dann bekommt niemand heraus, wer es getan hat. Und niemand muss dafür ins Gefängnis.«

Die mahnende Stimme kontert:

»Ich kann es verstehen und die Gefühle bestens nachvollziehen, gerade ich. Aber jemanden so grausam zu bestrafen. Willst du nicht Gnade walten lassen? Ganz ohne Schuld ist niemand. Den alten Dreher vom Güldenen Adler, den Bruno, den hast du ganz schön zugerichtet. Ich weiß nicht, ob er das …«

»Halt’s Maul, du Memme. Rede nicht weiter. Die haben mich alle wie ein Viech behandelt! Die beiden Herren wie ein Viech, das man verachtet, und die vornehme Dame wie ein Viech, das man mit Liebe erdrückt. Ich ziehe das jetzt durch. Und ich habe dort angefangen, wo die Schinderei begonnen hat!«

Nur für wenige Augenblicke herrscht in der hitzesurrenden Riedlandschaft Schweigen, das von schlurfenden Schritten auf Kies begleitet wird.

»Meinst du, die anderen beiden erinnern sich überhaupt noch an dich? Die sind doch bestimmt schon dement oder so. Lass uns doch vernünftig sein und abbrechen.«

Rau kommt es zurück:

»Wir haben sie doch lange genug observiert, dann brechen wir die Strafaktion doch nicht ab! Jeder von denen hat seine Strafe verdient! Man kann nicht alles verzeihen. Und ich möchte nicht jedes Mal, wenn ich mich im Spiegel sehe, mein Gesicht anspucken. Ich will meine Selbstachtung wiederfinden. Je älter man wird, um so mehr will man Gerechtigkeit. Und dem alten Bruno vom Güldenen haben wir eine Lektion erteilt. Und den anderen beiden soll es nicht besser ergehen!«

»Du warst auch nicht immer im Recht, daran möchte ich dich erinnern. Diese ärgerliche Sache da, mit den Drogen hast du deinen Rausschmiss provoziert. Auch die Unregelmäßigkeiten beim Abrechnen, du weißt, was ich meine. Und ich bin mir nicht sicher, ob der Alte deine Fütterung überlebt hat. Musstest du mit aller Brutalität vorgehen?«

Zornig schreit es ins Ried hinein:

»Ich habe mir nur geholt, was mir zustand! Und ich bin mir nicht sicher, ob die das mit der Kasse überhaupt bemerkt haben. Damals! Heute ist es nicht mehr so einfach, etwas zu holen. Und rechne doch mal aus, was die an mir verdient haben. Wer war immer beliebt bei der Kundschaft?«

»Ja, bei den Frauen, da warst du beliebt. Vor allem, wenn du sie zu einem Sekt überredet hast. Ein kleines Sektchen, Madame? Mit Ihrem Figürchen können Sie sich alles erlauben. Sie sind reihenweise auf deine plumpe Anmache he­­reingefallen. Mit denen hast du es ganz besonders verstanden.«

Lange herrscht Stille, der Dialog schwingt mit all seinen Fragezeichen im frischen Pfingstgrün der Riedvegetation nach, das in diesem Jahr viel zu früh in den Sommer drängt. Die Schritte federn leicht auf dem mittlerweile grasbewachsenen, schwammigen Untergrund und machen das Gehen angenehm weich. Ein Schwarzmilan kommentiert mit eigenartigem Singsang die Situation und stößt aus dem Blau des Pfingsthimmels plötzlich hinab ins Ried, taucht hinter Birken im jungen Grün kurz wieder auf und verschwindet mit weit gespreizten Flügeln hinter Gesträuch. Auch er hat sein Opfer gefunden.

»Siehst du, die Natur ist geradeso gnadenlos.«

Beschwichtigend folgt die Frage:

»Und wie soll man die Bestrafung bei den Nächsten jetzt umsetzen? Deine Idee mit dem Kreuz und dem Schlachtkeller, ob das wohl funktioniert? Du hast beim alten Dreher gemerkt, wie schwierig es ist, wenn nicht alles reibungslos zusammenspielt. Ich würde mir das Ganze sowieso noch einmal überlegen. Man könnte sie milder bestrafen.«

Hart und stakkatohaft kommt die Antwort:

»Sie haben beide keine Milde verdient. Deshalb gilt es jetzt, den Plan für den Nächsten genau einzuhalten. Warum haben wir tagelang alles erkundet? Bestimmt nicht, um jetzt aufzugeben! Wir haben seine Gewohnheiten gut studiert, ihn unbemerkt beobachtet. Und so viel hat sich über die Jahre hinweg gar nicht verändert. Die Tagesabläufe und die festen Rituale, fast wie damals. Da verändert sich doch nicht viel, hier am Ende der Welt! Bei dem ersten im Güldenen Adler hat es doch gut geklappt. Da haben zwar die Jungen den Betrieb übernommen, aber die Alten sind immer noch im Haus. Es wäre schwieriger gewesen, ihn in irgendeinem Heim ausfindig zu machen. Hier auf dem Land gehen die doch nicht ins Heim. Und der alte Bruno hat die nächsten Tage bestimmt keinen Appetit! Und der Grieche, der mich so gedemütigt hat! Mit den Schlachtabfällen – wenn ich daran denke! Das Mädchen hat mich nie wieder angeschaut!«

Fast schon freundlich, mit naiv mahnendem Unterton folgt die Nachfrage des Anderen auf die gestammelten Worte aus deinem Mund:

»Und du hast keinerlei Skrupel? Du willst dich tatsächlich auch so grausam an den beiden rächen, nur weil der eine, dieser Grieche, dich die Drecksarbeit beim Schlachten machen ließ und dir die Sache mit diesem Mädchen versaut hat? Die andere, die stolze, schöne Madame, die dich mit ihrer Fürsorge schier erdrückt hat, die willst du ebenfalls so gnadenlos bestrafen? Nur weil sie dich in einer unbeheizten Kammer schlafen ließ? Oder liegt es daran, dass sie dich immer wieder hat abblitzen lassen? Übrigens ist Schlachten immer blutig, und vieles ist ekelhaft, und einer muss die Schlachtabfälle entsorgen. Das liegt in der Natur der Dinge. Und dass es dem Chef nicht passt, wenn du während deiner Arbeitszeit ein Schäferstündchen einlegst, ist verständlich. Und bei denen im Ried, da konntest du umsonst wohnen, und die Wirtin hat dir gesagt, dass die Kammer einst dem Knecht gehörte und weder fließend Wasser noch eine Heizung hat und keinerlei Komfort bietet. Kost und Logis waren frei. Die hat dich doch gemocht! Und übrigens möchte ich nicht mitschuldig sein, wenn bei den Bestrafungen etwas schiefgeht.«

Voller Zorn wird die Antwort in die Natur geschleudert: