Tom Clancy's The Division: Rekrutiert - Thomas Parrott - E-Book

Tom Clancy's The Division: Rekrutiert E-Book

Thomas Parrott

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Beschreibung

Ein spannungsgeladener Roman zu dem Ubisoft-Game Tom Clancy's The Division. In diesem brandneuen postapokalyptischen Thriller ist eine neu rekrutierte Agentin die beste Hoffnung der Strategic Homeland Division, um zu verhindern, dass ein ruchloses Komplott die Behörde zerreißt. Maira Kanhai hat die Nase voll: Seit die Green-Poison-Epidemie DC heimgesucht hat, ist ihr Cybersecurity-Abschluss wertlos, sie kann nicht wieder in die US-Marine eintreten und ihre frühen Bemühungen, Maryland zu sichern, führten zu einem teuren Fehler: dem Tod ihres Bruders. Jeden Tag tauchen neue Fraktionen auf, die versuchen, ihre Stadt niederzubrennen – bis die Division auftaucht und ihr neue Hoffnung gibt. Als eine Granate einen ihrer Agenten tötet, hat Maira plötzlich die Chance, als unerfahrene neue Rekrutin der Division wirklich etwas zu bewirken … wenn sie die Tests besteht und die Feinde besiegt, die die Division ein für alle Mal ausschalten will.

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REKRUTIERT

THOMAS PARROTT

Ins Deutsche übertragen von

Helga Parmiter

Die deutsche Ausgabe von TOM CLANCY’S THE DIVISION®: REKRUTIERT wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler, Übersetzung: Helga Parmiter; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Jana Karsch; Korrektorat: Peter Schild; Satz: Rowan Rüster; Layout: Sina Keller; Cover-Illustration: René Aigner,

Printausgabe gedruckt von GGP Media. Printed in Germany.

Titel der Originalausgabe:

TOM CLANCY’S THE DIVISION®: RECRUITED

First published by Aconyte Books in 2022

Aconyte Books is an imprint of Asmodee Entertainment Ltd

Copyright © 2022 Ubisoft Entertainment. All Rights Reserved.

Tom Clancy’s The Division, The Division logo, Ubisoft and the Ubisoft logo are registered or unregistered trademarks of Ubisoft Entertainment in the U.S. and/or other countries.

German translation copyright © 2022 by Cross Cult.

Print ISBN 978-3-96658-668-9 (April 2022)

E-Book ISBN 978-3-96658-669-6 (April 2022)

WWW.CROSS-CULT.DE

Für die Familie Smith, ohne deren Unterstützungdas Schreiben dieses Buchs unmöglich gewesen wäre.

INHALT

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 1

»Ich glaube allmählich, dass das eine schlechte Idee war«, sagte Maira Kanhai.

Sie und ihr Bruder Kazi saßen in ihrem Auto. Die Nachmittagssonne glänzte auf dem silbernen Lack, der an einigen Stellen verrostet war. Die Luxuskarre war nagelneu gewesen, als sie sie bei ihrer Ankunft an ihrem ersten Dienstort in einer Art Kaufrausch erworben hatte. Damals hatte es sich wie etwas Besonderes angefühlt, sich beim Militär zu verpflichten. Das Ganze war wie eine Brücke in ihre Zukunft gewesen. Große Pläne, große Hoffnungen.

Jetzt wusste sie nicht mehr, was sie sonst tun sollte.

»Es hat auf jeden Fall etwas Unheimliches«, sagte Kazi.

Der Parkplatz war so gut wie leer. Da es Mittagszeit war, hätte es hier eigentlich vor Leuten wimmeln sollen, die zum Mittagessen kamen. Stattdessen standen nur zwei weitere Fahrzeuge auf dem asphaltierten Parkplatz. Die unberührte Schneeschicht auf dem einen verriet, dass es sich schon seit Tagen hier befand. Das andere war schräg geparkt, quer über drei Plätze hinweg. Es sah so aus, als sei der Fahrer mit hoher Geschwindigkeit schlitternd zum Stehen gekommen.

Das mehrstöckige Gebäude vor ihnen wirkte kein bisschen beruhigender. Durch die kalte Wintersonne über dem Gebäude war nur schwer zu erkennen, ob drinnen die Lichter eingeschaltet waren. Aus diesem Blickwinkel erschienen die Fenster wie undurchsichtiges schwarzes Glas. Maira hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Die Haut in ihrem Nacken kribbelte. Unglücklicherweise, ob gruselig oder nicht, war dies die Rekrutierungsstation für ihr Gebiet. Was sonst sollte sie unter diesen Umständen tun? Zum Strand laufen und ein vorbeifahrendes Schiff anhalten?

»Das ist doch bescheuert«, sagte sie, um ihrem Frust Luft zu machen.

»Gehen wir nach Hause?«, fragte Kazi.

»Nein«, sagte Maira mit fester Stimme. »Ich gehe rein. Wir haben ein Achtel einer Tankfüllung verbraucht, um herzukommen.«

»Ich komme mit«, verkündete ihr Bruder sofort.

Er griff nach seinem Sicherheitsgurt und sie hielt ihn am Handgelenk fest.

»Nein, du bleibst hier«, sagte Maira.

»Ich bin kein Kind mehr, Mai. Ich habe die Nachrichten gesehen.« Er wedelte mit seinem Handy. »Auf der Welt wird alles immer verrückter.«

Das stimmte. Kazi war zehn Jahre jünger als sie, doch er war immerhin schon sechzehn. Nicht viel jünger als Maira gewesen war, als sie sich verpflichtet hatte. Sie lächelte ihn an, aber das schien ihn nur noch mehr zu ärgern. Also zerzauste sie sein dunkles Haar, nur um noch eins draufzusetzen. Er verzog das Gesicht, konnte sich aber ein Lachen nicht verkneifen.

»Ich weiß, dass du kein Kind mehr bist. Wenn du dich in zwei Jahren verpflichten willst, wie ich es getan habe, fahre ich dich persönlich zum Rekrutierungsbüro. Aber das hier muss ich alleine machen. Es gibt nichts, wovor man sich fürchten müsste.«

Kazi legte die Stirn in Falten und warf ihr einen skeptischen Blick zu. »Wenn daran nichts Gefährliches ist, warum kann ich dann nicht mitkommen?«

»Wenn keine Gefahr besteht, gibt es dafür eben auch keinen Grund.«

Kazi kaufte ihr das nicht ab. Sie konnte es an seinem Gesicht ablesen. Maira schürzte die Lippen und seufzte, denn sie wusste, dass ihr Argument ohnehin eher Sprachakrobatik war.

»Hör zu, wenn etwas Schlimmes passiert, wäre es besser, wenn jemand hier draußen wäre, der das Auto zum Laufen bringt, damit wir direkt abhauen können, oder?«

Er dachte einige Augenblicke darüber nach. »Okay.« Kazis Miene hellte sich sichtlich auf. »Dann werde ich wohl auf dem Fahrersitz Platz nehmen müssen, oder? Nur für alle Fälle?«

Maira warf ihm einen ausdruckslosen Blick zu. Ihr Bruder grinste nur.

»Na schön.« Sie seufzte erneut. »Aber wenn du den Sitz verstellst, bringe ich dich um. Verstanden?«

»Verstanden, Petty Officer«, antwortete er und verstellte dabei die Stimme, um ihr eine tiefe, kehlige Note zu verleihen.

»Trottel«, sagte sie.

Maira öffnete die Autotür, stieg aus und suchte das Gebäude erneut mit Blicken ab. Nichts rührte sich. Die Temperatur war knapp über dem Gefrierpunkt. Die spärlichen Sonnenstrahlen taten wenig, um die Kälte zu lindern. Dunkle Wolken zeichneten sich am Horizont ab und versprachen Neuschnee an diesem Abend. Kazi rutschte hinter ihr auf den frei gewordenen Sitz.

Maira beugte sich hinunter und sah ihn an. »Du öffnest die Türen für niemanden außer mir, ja?«

Irgendetwas an ihrem Tonfall ließ das Lachen aus seinen Augen verschwinden.

Kazi nickte. »Ja, natürlich.«

Maira drückte schnell seine Schulter und machte sich auf den Weg zum Gebäude. Sie öffnete die Eingangstür. Dahinter erwartete sie Stille. Die Beleuchtung war ausgeschaltet, aber durch die Fenster drang genug Sonnenlicht, damit sie sich zurechtfinden konnte. Die Luft hing schwer und reglos im Raum. Es war unangenehm kalt. Die Heizung musste kaputt oder ausgeschaltet sein. Schon wenn man in der Lobby stand, fühlte sich das Gebäude eher wie eine Gruft statt wie ein Arbeitsplatz an.

Sie sah prüfend auf den Zettel in ihrer Tasche: Zimmer 450. Die Offiziersrekrutierungsstelle. Die Entscheidung, wieder zur Navy zu gehen, fühlte sich immer mehr wie eine idiotische Idee an, aber ein Teil von ihr bestand darauf, das Ganze durchzuziehen. Obwohl sie gewartet hatte, hatten die Bilder von Chaos und Krankheit aus den Nachrichten sie eine ganze Weile verfolgt, bis ihr klar geworden war, dass sie etwas unternehmen musste. Wenn das Land zu zerfallen drohte, musste sie tun, was sie konnte, oder? Sie hatte einen Eid geschworen, und der hatte kein Verfallsdatum.

Sie versuchte es zuerst mit dem Aufzug, aber der Knopf leuchtete nicht einmal auf, als sie ihn drückte. Maira machte sich auf die Suche nach der Treppe. Selbst wenn kein Personalverantwortlicher im Büro war, dachte sie, hätte er sicher einen Zettel hinterlassen, an wen sie sich wenden konnte. Sie ging die ruhigen Gänge entlang, vorbei an leeren Büros. Einige waren verschlossen, als würden die Angestellten nach einem langen Wochenende sicher bald zurückkommen. Andere standen einfach offen.

Maira warf einen Blick in eines davon, die Neugierde war zu groß. Im Büro herrschte ein einziges Durcheinander aus Papieren, als hätte jemand alles durchwühlt und sämtliche Schubladen ausgeleert, die er finden konnte. Vielleicht auf der Suche nach etwas Wertvollem? Unmöglich, das zu wissen. Rote Schlieren und Fingerabdrücke befanden sich auf ein paar Seiten, die in ihrer Nähe lagen. Sie konnte die Farbe im Zwielicht gerade eben ausmachen. Tinte, sagte sie sich fest. Zweifellos von einem ausgelaufenen Füller.

Das fensterlose Treppenhaus, das sie schließlich fand, war stockdunkel. Maira zog ihr Handy aus der Tasche und schaltete die Taschenlampe ein. Sie wollte nach dem Geländer greifen, zögerte aber. Es wurde viel darüber geredet, dass sich das Virus über kontaminierte Oberflächen verbreiten könnte. Sie wischte eine verschwitzte Handfläche an ihrer Jacke ab und konzentrierte sich stattdessen auf ihren vorsichtigen Aufstieg.

Als sie im vierten Stock ankam, schlug ihr ein beunruhigender Geruch entgegen. Übelkeiterregend, kupfern, mit einem ekelhaften süßlichen Hauch. Sie versuchte, den Geruch einzuordnen, während sie die Taschenlampe wieder ausschaltete. Etwas aus ihrer Zeit beim Militär? Nein. Älter als das. Sie machte sich auf den Weg durch den Flur in Richtung Zimmer 450.

Maira wünschte sich, sie hätte eine Waffe. Auf den ersten Blick war das ein absurder Gedanke. Wozu hätte sie eine gebraucht? Sie konnte nicht auf ein Virus schießen. Wollte sie eine arme Bürodrohne erschießen, die zur falschen Zeit am falschen Ort war? Nein, das wollte sie natürlich nicht.

Die Nachrichten waren jedoch von Gewalt geprägt. Die anhaltenden Unruhen und Plünderungen in Manhattan hatten sich bis in ihr Revier in der Nähe von Washington, D.C. ausgebreitet. Dies waren unsichere Zeiten und verängstigte Leute taten schreckliche Dinge. Die Welt war schon vorher ein Pulverfass gewesen. Dieses Virus war wie weiterer Druck auf bereits gesprungenes Glas.

Maira war an der Tür zu Zimmer 450 angekommen. Mit zitternder Hand griff sie nach der Klinke. Ihre Intuition flehte sie an zurückzuweichen, schrie, dass hier etwas nicht stimme, dass hinter dieser Tür nichts Gutes zu finden sei. Sie flehte sie an, zurück zum Auto zu gehen und diese ganze Sache zu vergessen.

Sie sträubte sich gegen diesen Impuls. Ich bin keine Drückebergerin, dachte sie kämpferisch. Eine Flut von hartnäckigem Mut verdrängte ihre Ängste. Maira drückte mit dem Ellbogen die Klinke nach unten und die Tür schwang auf.

Der Gestank, doppelt so stechend, traf sie wie ein Ziegelstein ins Gesicht. Maira taumelte rückwärts, hustete und würgte. Sie presste sich eine Hand auf den Mund und versuchte verzweifelt, den üblen Geruch zu verdrängen. Es half nicht viel. Der abartige Geschmack lag ihr auf der Zunge wie ein Ölfleck auf dem Meer.

Die verdrängte Erinnerung, die sie zuvor gepiesackt hatte, drängte sich in den Vordergrund. Es war ein Moment aus ihrer Kindheit. Ihre Mutter hatte sie ins Krankenhaus gebracht, um ihren Vater zu besuchen. Sie hatten ihn schon viele Male besucht, während seines Kampfes gegen den Krebs. Aber dieses Mal war es anders. Dies war das letzte Mal. Sie hatte es in dem Moment gewusst, als sie das Zimmer betraten. Dieser Geruch hatte in der Luft gelegen. Der gleiche Geruch.

Tod.

Allerdings war es hier noch schlimmer. An diesem Ort hatte sich etwas in seiner ganzen grausamen Endgültigkeit abgespielt. Der Raum lag halb im Schatten. Es gab drei Schreibtische, aber nur einer von ihnen war besetzt und befand sich im dunkelsten Teil des Büros. Die Gestalt auf dem Stuhl war nach hinten gesackt, als würde sie ein Nickerchen machen.

Maira bewegte sich auf unsicheren Beinen vorwärts. Fliegen schwirrten im Raum umher, als sie sich näherte. Der Gestank wurde immer schlimmer, je näher sie kam. Auf halber Strecke blieb sie taumelnd stehen. Krampfende Bauchmuskeln sorgten dafür, dass sie sich zusammenkrümmte. Sie hielt sich vergeblich eine Hand vor den Mund. Das Erbrochene spritzte zwischen ihren Fingern hindurch und verteilte die Reste ihres Essens auf dem Teppichboden.

Sie betrachtete angewidert ihre nasse Hand und wischte sie verzweifelt an ihrer Hose ab. Sie würde nicht näher herangehen, das war ihr klar. Mit der anderen Hand hob sie wieder das Handy und schaltete die Taschenlampe ein. Sie richtete den Strahl auf die schattenhafte Gestalt am Schreibtisch.

Es war ein Bild, das sie nie wieder loswerden würde. Maira wusste das in dem Moment, als sie es in sich aufnahm. Es war die Verzweiflung eines Menschen, die in jedem Detail deutlich wurde. Eine verrottende Leiche in einer einstmals schönen Uniform. Der Körper war allerdings schon vor seinem Tod verunstaltet worden. Altes Blut um die Augen, die Nase und den Mund kündete von einer möglichen Virusinfektion.

Maden krabbelten über die kalte Haut und labten sich am toten Fleisch. Das Namensschild auf der Uniform war von der Fäulnis völlig unkenntlich gemacht worden. Wer auch immer diese Person gewesen war, sie hatte nicht darauf gewartet, dass das Grüne Gift sie holte. Eine Beretta M9 lag auf dem Schreibtisch neben einer geschwollenen Hand. Ein sauberes Loch zierte eine Schläfe. Auf der anderen Seite war ein viel größerer Krater zu sehen.

Langsam ließ Maira das Handy sinken. Sie würde sich heute nicht wieder für den Dienst melden. Vielleicht bei einer anderen Rekrutierungsstation …

Ein Schrei ertönte von draußen, hoch und schwankend vor Angst. Es folgten weitere Stimmen und schroffes Gebrüll.

»Kazi«, flüsterte Maira.

Angst und Abscheu verflüchtigten sich innerhalb einer Sekunde. Sie stürzte vorwärts, schnappte sich, ohne nachzudenken, die Pistole und rannte zur Tür.

Maira schoss in die Höhe. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war – oder welches Jahr es war. Der Traum klammerte sich an sie und wollte sie nicht loslassen. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust und ihre Hände gruben sich so fest in die Matratze, dass es wehtat. Die Realität setzte sich nur langsam wieder durch.

Ungefähr ein Jahr. Es war mehr als ein Jahr vergangen seit jenem Tag im Rekrutierungsbüro. »Kazi«, sagte sie in die stille Luft.

Maira rieb sich mit einer Hand über das Gesicht, ihre Haut fühlte sich glitschig an. Sie war durchgeschwitzt und die Laken klebten an ihrer Haut. Daran war nicht nur der Albtraum schuld. Die Luft war heiß und stickig. In der Wohnung war alles dunkel, bis auf die Stellen, an denen fahle Strahlen durch die schweren Vorhänge fielen. Der Strom war wieder ausgefallen. Das war bereits das zwölfte Mal in dieser Woche.

Sie schlug die Laken weg und quälte sich aus dem Bett. Sie schob die Vorhänge zur Seite, die den Blick auf die von der Morgendämmerung erleuchteten Straßen freigaben. Das Licht ließ sie zusammenzucken und brachte sie dazu, ihre Augen mit der Hand abzuschirmen, aber der Schmerz verging schnell. Es war schätzungsweise 07:00 Uhr. Als sie sich erholt hatte, öffnete sie das Fenster. Es war nicht gerade kühl da draußen … bestenfalls um die zwanzig Grad. Trotzdem war es besser als die erstickende Hitze in ihrem Zimmer.

Kein Strom bedeutete keine Kaffeemaschine. Maira seufzte und holte Instantkaffee aus einem der Schränke. Wasserkanister standen in der Wohnung verstreut. Sie nahm einen in die Hand und betrachtete ihn mit Argusaugen. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass es sich tatsächlich um Wasser handelte, füllte sie eine Thermoskanne und mischte das Granulat hinein. Es löste sich in der lauwarmen Flüssigkeit nicht richtig auf, aber die Alternative war kein Kaffee. Und das war undenkbar.

Sie nahm einen Schluck der braunen Plörre, die unangenehm zwischen ihren Zähnen knirschte, zog eine Grimasse und machte sich daran, sich anzuziehen. Der erste Schritt bestand darin, an den einzelnen Kleidungsstücken zu schnuppern, um diejenigen zu finden, die am wenigsten schmutzig waren. Mode war in diesen Tagen nicht besonders wichtig. Robuste Kleidung, die nicht durch getrockneten Schweiß steif geworden war, war zum neuen Standard geworden.

Maira nahm ihre Armbanduhr vom Nachttisch, die neben dem stehen gebliebenen Wecker lag. Die meisten Menschen hatten aufgehört, Uhren zu tragen, bevor die Dollar-Grippe die Stadt heimgesucht hatte. In den Tagen danach hatten sie ein echtes Comeback erlebt. Mit der Art von Uhr, die man trug, gab man eine dezentes Statement ab: Die Optimisten, die glaubten, dass die Welt spätestens in ein paar Jahren wieder auf den Beinen sein würde, trugen elektronische Uhren. Eine Uhrenbatterie würde immerhin für diesen Zeitraum halten.

Mairas Uhr musste aufgezogen werden; sie war robust und verlässlich. Mit ein wenig Wartung würde sie den Rest ihres Lebens halten. Im Moment zeigte sie 7:38 Uhr an. Sie seufzte. Die Versammlung sollte in zweiundzwanzig Minuten beginnen. Sie musste sich beeilen.

Das letzte Teil, das ihr tägliches Ensemble vervollständigte, war die M9. Sie zögerte, als sie die Waffe in ihrem Holster in der Hand hielt. Oberflächlich betrachtet war nichts Merkwürdiges daran, sie zu tragen. Nur wenige Menschen liefen heutzutage unbewaffnet durch die Gegend. Aber diese hier war dieselbe, die sie in dem Albtraum, der aus ihren Erinnerungen entstanden war, mitgenommen hatte; ein Abschiedsgeschenk von einem Toten. Seitdem hatte sie sie behalten, auch wenn sich mit der Zeit Gelegenheiten ergeben hatten, eine andere Waffe zu wählen. Sie hatte ein paarmal versucht, den Leuten ihre Entscheidung zu erklären, doch andere hatten das stets als morbide empfunden. Sie verstanden es nicht. Die Pistole war ein Andenken an den Tag, an dem das Ende der Welt für sie zu etwas Persönlichem geworden war.

Maira seufzte und schnallte das Holster an ihren Gürtel. Jetzt war nicht die Zeit, solchen Gedanken nachzuhängen. Sie brauchte einen klaren Kopf für die Versammlung. Es war bestenfalls unwahrscheinlich, dass es eine angenehme Diskussion werden würde.

Sie trat auf den Flur hinaus und schloss die Wohnungstür hinter sich, ohne sie abzuschließen. Die meisten Leute in diesem Komplex machten sich nicht mehr die Mühe. Die Gefahren der Welt nach dem Grünen Gift kümmerten sich nicht um Türschlösser. Es gab keine Notdienste, wo ein Schloss dazu dienen könnte, Zeit zu schinden, bis sie eintrafen. Wenn du dich nicht selbst schützen konntest, waren deine Nachbarn deine einzige Hoffnung.

Für Maira wohnten besagte Nachbarn in den anderen Wohnungen des Gebäudes. Sie konnte das Rascheln hinter einigen der Türen hören; Menschen, die sich auf den Tag vorbereiteten. In anderen Wohnungen war es still, die Bewohner waren schon weg oder schliefen noch. Es gab nur wenige leere Wohnungen in dem Gebäude, doch es stand inmitten von Trostlosigkeit.

Sie nannten diese Gemeinschaft Athena, ein Dorf in den verfallenen Überresten einer Stadt. Dieses Gebäude hatte einst aus Luxus-Eigentumswohnungen bestanden, in denen wohlhabende Leuten lebten. Das Grüne Gift machte jedoch keinen Unterschied zwischen Arm und Reich. Es hatte Leichen und leere Städte hinterlassen. Nachdem sich der Staub gelegt hatte, hatte sich eine Gruppe von Überlebenden hier versammelt, entschlossen, das Beste daraus zu machen.

Dass sie sich zusammengetan hatten, war kein Zufall. Sie gaben sich gegenseitig Sicherheit, so wie es ihre Vorfahren getan hatten, wenn sie sich nachts um das Feuer versammelt hatten. Hier gab es keine Wölfe zu fürchten, zumindest keine buchstäblichen. Nicht jeder hatte die Pandemie mit intaktem Verstand überstanden. Nach der viralen Apokalypse waren andere Menschen das Gefährlichste, was es auf der Welt noch gab.

Der Aufzug war wegen des Stromausfalls mal wieder vollkommen nutzlos. Maira nahm stattdessen die Treppe. Das Geräusch von Schritten kündigte an, dass jemand zur selben Zeit heraufkam. Sie warf einen Blick über das Geländer und lächelte, als sie Elena sah. Die Blondine schlurfte die Stufen mit dem Gang völliger Erschöpfung herauf und winkte schwach, als sie Maira entdeckte.

»Wie war die Nachtwache?«, erkundigte sich Maira.

»Glücklicherweise ereignislos«, antwortete Elena. »Ich musste mich in der letzten Stunde ein Dutzend Mal kneifen, um wach zu bleiben.« Sie konnte ein gewaltiges Gähnen nicht unterdrücken, ihr Kiefer knackte hörbar.

»Sei vorsichtig, wenn du das auf dem Dach machst. Am Ende verschluckst du noch eine Fledermaus.« Maira klopfte ihr auf die Schulter, als sie aneinander vorbeigingen. »Hast du vor, zur Versammlung zu kommen, bevor du dich schlafen legst?«

»Ach, verdammt«, murmelte Elena. »Die ist heute Morgen, oder? Worum geht’s denn diesmal?«

»Die Versorgungslage«, sagte Maira. »Das ist wichtig.«

Elenas Lächeln verschwand. »Gut. Nach dir, Boss.«

Die Athena-Gemeinschaft hielt ihre Versammlungen in einem Konferenzsaal im Erdgeschoss ab. Es war der größte Raum im Gebäude, trotzdem gab es nicht viel Platz für die Versammelten. Fast vierzig Familien bevölkerten das Gebäude und mindestens eine Person aus jeder Familie drängte sich im Raum. Ein paar Eltern hatten sogar ihre Kinder dabei. Ein Vater stand mit einem Baby auf dem Arm an der Rückwand. James und seine Tochter Christine. Ihre Mutter, Tara, hatte die Geburt nicht überlebt. Das war ein finsterer Tag für die Gemeinde gewesen.

Maira arbeitete sich durch die Menge nach vorne. Die Leute machten ihr Platz, als sie sie kommen sahen. Die meisten Blicke waren freundlich, doch ein paar wirkten auch verärgert. Als nominelle Leiterin des Sicherheitsdienstes der Gemeinde war sie gezwungen gewesen, einige Entscheidungen zu treffen, die den Leuten sauer aufstießen. Manche wollten nicht, dass man ihnen sagte, was sie zu tun hatten, selbst wenn die Welt sich anfühlte, als ginge sie unter. Das und …

Es waren Fehler gemacht worden. Schmerzhafte Fehler, die von allen einen Preis gefordert hatten. Maira vermied den Blickkontakt mit Kelly, einer Frau mittleren Alters in schmutziger Arbeitskleidung. Sie starrte Maira auf dem ganzen Weg durch den Raum kalt an.

Jonah wartete am vorderen Ende des Saals vor der Menschenmenge auf sie. Er war ein vornehm wirkender schwarzer Mann Anfang sechzig, mit kurz geschnittenem Haar und grau meliertem Bart. Die Gemeinde hatte keinen eigentlichen Anführer – offiziell wurde alles auf Versammlungen wie dieser entschieden. Aber wenn Jonah sprach, hörten die Leute zu.

Er streckte den Arm aus, als sie sich näherte, und sie begrüßten sich mit festem Händedruck.

»Petty Officer«, sagte er mit stoischer Förmlichkeit.

»Schon seit Jahren nicht mehr, Jonah«, erwiderte Maira.

Jedes Mal, wenn sie sich trafen, hatten sie den gleichen Austausch. Jonah war der Meinung, dass es für die Gemeinschaft von Vorteil war, wenn man sich an ihren militärischen Hintergrund erinnerte. Dadurch würden sich die Bewohner sicherer fühlen, behauptete er. Maira hatte, gelinde gesagt, ihre Zweifel. Das Militär war schließlich nicht in der Lage gewesen, irgendjemanden zu schützen. Heutzutage mussten die Bürger selbst für sich sorgen und Milizen bilden, um ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten.

Jonah schenkte ihr ein kleines Lächeln und sie antwortete mit einem viel breiteren. Ungeachtet aller Meinungsverschiedenheiten mochte sie den Mann. Er war freundlich und gewissenhaft – seltene Eigenschaften in einer Welt, die mit jedem Tag härter wurde.

»Sind Sie bereit dafür?«, fragte er mit leiser Stimme.

Mairas Lächeln erstarb. »Wahrscheinlich nicht. Keiner mag schlechte Nachrichten.«

»Keine Situation hat sich je verbessert, indem man sie ignoriert hat«, meinte Jonah. Maira schaute auf ihre Uhr. 7:59 Uhr. Sie nahm einen tiefen Atemzug. »Ja. Zeit, in den sauren Apfel zu beißen.«

Jonah klopfte ihr beruhigend auf die Schulter und ging einige Schritte beiseite, um sich unter die Menge zu mischen.

Maira drehte sich zu den Versammelten um und fixierte sie mit festem Blick. Sie hob die Stimme, um sich über das allgemeine Geschnatter Gehör zu verschaffen. »Guten Morgen, alle zusammen.«

Eine Reihe von Antworten kam zurück. Die Leute unterbrachen ihre persönlichen Gespräche und drehten sich zu ihr um, um sie anzusehen. Maira wurde schnell zum Fokus von mehr als hundert Augenpaaren. Sie zauderte einen Moment lang. Öffentlich zu sprechen war noch nie ihre große Stärke gewesen. Sie beruhigte ihre Nerven, indem sie sich auf das Notwendige konzentrierte. In diesem Raum gab es viele besorgte Gesichter, und dafür gab es einen guten Grund.

Maira beschloss, nicht um das Thema herumzureden. »Wie einige von Ihnen bereits wissen und andere vielleicht schon gehört haben, haben wir ein Versorgungsproblem.«

»Geht uns das Essen aus?«, mischte sich ein Mann besorgt ein.

Die Menge bewegte sich unruhig.

»Meine Güte, lass sie ausreden«, sagte ein anderer.

Maira hob eine Hand und das Gemurmel verstummte wieder. »Wir sind nicht in unmittelbarer Gefahr. Wir haben genug Vorräte für einen weiteren Monat eingelagert. Zwei, wenn wir sorgfältig rationieren.«

»Warum gehen sie uns jetzt aus? Was ist mit den Sammlern?«, fragte Tiffany, eine braunhaarige Frau, die recht weit vorne stand.

»Tja, das ist das Problem«, sagte Maira. »Wir haben die Umgebung so gut wie leer gefegt.«

»Das ist unmöglich«, rief jemand aus dem hinteren Teil des Raums. »Wir sind nicht viele und all diese Läden …«

Maira schüttelte den Kopf und unterbrach ihn. »Es ist schon Monate her, dass die Gesellschaft zusammengebrochen ist. Alles, was verderblich ist, ist schlecht geworden. Die gefrorenen Sachen sind aufgetaut und verrottet, weil es immer wieder Stromausfälle gab. Im Moment sind wir auf das angewiesen, was haltbar ist. Dosen, Trockenwaren und dergleichen, und davon gibt es nicht gerade riesige Lagerbestände.«

»Was ist mit dem Gewächshaus?«

Maira seufzte und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Mitglieder der Gemeinschaft hatten sehr hart daran gearbeitet, den größten Teil des Dachs in einen Garten umzuwandeln, um etwas anzupflanzen. Es war ein Herzensprojekt, das mit den besten Absichten durchgeführt wurde, und sie hasste es, diese Hoffnung mit der Realität zunichte zu machen.

»Es hilft ein bisschen. Es könnte uns etwas zusätzliche Zeit verschaffen. Leider ist das nicht genug«, sagte sie.

»Vielleicht sollten wir einige der umliegenden Gebäude übernehmen und auch deren Dächer umbauen …«

»Nein.« Das Wort kam unverblümt heraus, schärfer, als sie beabsichtigt hatte. Maira runzelte die Stirn und senkte kurz den Blick, um nicht mit ansehen zu müssen, wie die Hoffnung aus ihren Gesichtern wich. »Wir bräuchten mehrere Hektar Ackerland, um diese Gemeinschaft zu ernähren. Jeder Versuch, unsere landwirtschaftlichen Bemühungen auf die umliegenden Gebiete auszudehnen, hat bisher nur weitere Angriffe auf uns nach sich gezogen. In diesem Gebäude leben einhundertachtzig Leute. Die Selbstversorgung funktioniert nicht und uns läuft die Zeit davon.«

Diesmal herrschte eine Stille im Raum, die so eisig war, dass es schmerzte. Die Mienen waren grimmig. Ein Mann, der in Mairas Nähe stand, bewegte langsam den Kiefer, als ob er versuchte, diese Information buchstäblich herunterzuschlucken.

»Was schlagen Sie also vor, Petty Officer?«, fragte Jonah.

Maira warf ihm einen Blick zu, der sowohl Verärgerung als auch Dankbarkeit ausdrückte. »Es gibt Dinge, die wir tun können, um die Situation kurzfristig zu erleichtern. Das Vordringlichste ist, den Umkreis unserer Sammeltouren auszuweiten.«

Leises Gemurmel erfüllte den Raum. Einige Leute sahen besorgt aus, aber die meisten verstanden die Konsequenzen ihres Vorschlags nicht. Maira biss sich auf die Unterlippe, unfähig zu entscheiden, ob das gut oder schlecht war.

»Könnten wir uns das anhand einer Karte genauer ansehen?«, fragte Jonah ruhig.

Diesmal war sie noch gereizter, als sie ihn ansah, aber sie unterdrückte das Gefühl. Er hat recht, dachte sie. Sie mussten es verstehen. Wenn sie damit einverstanden sein sollten, war Ehrlichkeit der Schlüssel.

»Natürlich«, sagte sie.

Sie zog eine Übersichtskarte an der gegenüberliegenden Wand herunter. Sie hatten sie vor ein paar Monaten in einem Regierungsbüro entdeckt. Darauf war die Umgebung mit nützlichen Details abgebildet. Maira tippte mit einem Finger auf die Karte.

»Hier befinden wir uns.« Sie zeichnete mit dem Finger einen großen Kreis um diesen Punkt. »Bis jetzt haben wir uns darauf geeinigt, dass wir unsere Beutezüge auf dieses Areal einschränken.«

Die Anwesenden nickten. Die meisten von ihnen verstanden die allgemeinen Details, auch wenn sie im Alltag nicht viel darauf achteten. Es waren schließlich nur kleine Gruppen, die sich auf den Weg machten, um Vorräte zu beschaffen. Die Fähigsten, die am besten ausgebildet waren. Diejenigen mit den größten Chancen, heil wieder nach Hause zu kommen.

»Ich schlage vor, dass wir diesen Ring erweitern. Damit würden wir das Gebiet, in dem wir sammeln, beinahe vervierfachen, und wenn unsere Schätzungen richtig sind, gewinnen wir dadurch wesentlich mehr Zeit.«

Wieder ging ein Raunen durch die Menge. Niemand schien sich an der Idee zu stören. Maira unterdrückte einen Seufzer. Das würde nicht lange so bleiben. Alles, was es brauchte …

»Moment mal«, sagte einer der Männer ganz vorne. Keith. Er war Architekt gewesen, wenn Maira sich richtig erinnerte. Es lag nahe, dass er ein besseres räumliches Vorstellungsvermögen besaß als die meisten. »Würden Sie diesen Kreis auf der Karte einzeichnen?«

Maira räusperte sich. »Selbstverständlich.« Sie tat dies, wobei sie ihr Bestes gab, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie sich innerlich dagegen sträubte.

In der Menge herrschte nun Schweigen. Nun konnten sie es alle sehen, Schwarz auf Weiß. Selbst die Langsamsten kamen zur gleichen Schlussfolgerung …

»Sie sprechen von einer Ausweitung der Beutezüge auf Washington«, stellte Keith fest.

»In alle Richtungen«, korrigierte Maira hastig. »Aber ja, der Ring würde auch Teile der eigentlichen Stadt mit einschließen.«

Die Augen der Versammelten waren weit aufgerissen. Angst lag spürbar in der Luft.

»Washington ist ein Kriegsgebiet. Dort wimmelt es von Banditen und Verrückten«, sagte Tiffany. »Man kann die Kämpfe jede Nacht hören.«

»In letzter Zeit ist es ruhiger geworden«, sagte Keith schwach.

»Und? Sind sie alle tot? So viel Glück haben wir sicher nicht«, spottete Tiffany.

»Wann haben wir das letzte Mal Leute nach Washington geschickt?« Kellys Stimme schallte wie eine Fanfare durch den Raum. »Oh, stimmt ja. Euer kleiner Ausflug zum Waffenlager, richtig? Wir alle wissen noch, was dabei herausgekommen ist.«

Maira zuckte zusammen. Sie senkte ihren Blick auf staubige Stiefel und zitternde Hände. Sie hatte keine Antwort parat und hätte es auch nicht übers Herz gebracht, eine zu geben. Kellys Ehemann und ihr Sohn waren beide bei dem Versuch, das Waffenlager in Washington zu erreichen, ums Leben gekommen. Das waren nicht die einzigen Verluste gewesen.

Kazi.

Maira kniff ihre Augen zu.

Nach Kellys Worten herrschte einen Moment lang absolute Stille. Dann brachen überall im Raum gleichzeitig Unterhaltungen aus. An einem halben Dutzend Stellen kam es zu Streitereien.

»Rudel von Mördern …«

»… Leute, die versuchen, die verdammte Krankheit zu verbreiten …«

»… glücklich schätzen, wenn wir nicht besiegt und versklavt werden! Ich will nicht …«

»Es reicht!«

Jonahs Stimme durchbrach das Gezeter. Selbst jetzt brüllte er nicht, aber sein scharfes Bellen erstickte den anschwellenden Unfrieden. Er drehte seinen Kopf wieder zu Maira um. Sie sah den Kummer in seinem Blick. Ihm war klar, wie viel sie an diesem Tag in dem Waffenlager verloren hatte. Das machte sich jedoch nicht in seiner Stimme bemerkbar. Als er fortfuhr, war sein Tonfall sorgfältig beherrscht, um gleichmäßig und beruhigend zu wirken.

»Das ist eine beängstigende Aussicht, Petty Officer. Aber die Vorstellung, ohne Nahrung dazustehen, ist es auch. Sie stellen das Ganze als eine Option dar. Wenn wir unsere Nahrungsbeschaffung nicht auf das Herz der Stadt ausweiten, wie sehen unsere Alternativen aus?«

Maira straffte die Schultern und ließ ihren Blick noch einmal über die Menge schweifen. Dabei folgte sie Jonahs Beispiel und gab sich Mühe, ihre Stimme möglichst beruhigend wirken zu lassen. »Die Ausweitung wird sich nicht nur auf Washington selbst erstrecken. Wir werden auch damit beginnen, andere abgelegene Gebiete zu durchkämmen.« Sie hielt inne. »Aber realistisch betrachtet können wir nicht hierbleiben, wenn wir keine neuen Versorgungsquellen erschließen. Wir müssten Athena aufgeben. Dann wäre nur noch die Frage, wo wir versuchen, unser neues Zuhause einzurichten.«

»Es gibt Banditen«, meldete sich jemand Neues zu Wort. James, im hinteren Teil des Raumes, hielt sein Kind im Arm. »Und der Winter wird bald über uns hereinbrechen. Wir haben Kranke, Ältere …«, er wiegte seine Tochter im Arm hin und her, »… Kinder. Wie groß sind die Chancen, dass wir die Umsiedelung und die Suche nach einem neuen Zuhause alle überleben?«

Maira zögerte. »Ich bin keine Wahrsagerin. Ich kann nur spekulieren …«

»Bitte, tun Sie das«, sagte Jonah entschlossen.

Maira nickte. »Wenn wir versuchen, uns möglichst schnell zu bewegen, um den Banditen zu entgehen, würden wir unsere schwächsten Leute zurücklassen. Wenn wir uns an die Geschwindigkeit unserer Langsamsten anpassen, wären wir leichte Beute. Es würde mich nicht wundern, wenn wir auf dem Weg ein Zehntel oder mehr unserer Leute verlieren, so oder so.«

James schloss die Augen. »Danke.«

»Hat jemand eine bessere Idee?«, fragte Jonah. »Einen Vorschlag für einen anderen Weg, um diese Gemeinschaft zu erhalten?«

»Irgendwann muss uns doch jemand helfen, oder?«, fragte Tiffany mit flehentlichem Unterton. »Die Regierung oder … irgendwer …«

Daraufhin herrschte nur Schweigen. Selbst die Hoffnungsvollsten unter ihnen hatten im Laufe der Monate die Vorstellung aufgegeben, dass die Kavallerie zur Rettung kommen würde. Gerüchte über Soldaten, die für die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Stadt kämpften, hatte es in den vergangenen Monaten zuhauf gegeben – und ebenso viele Gerüchte, dass diese Ordnung in grausame Unterdrückung umschlug. Es gab niemanden mehr, der die Wächter überwachte.

»Dann stimmen wir darüber ab«, sagte Jonah. »Hebt eine Hand, wenn ihr dafür seid, den Radius unserer Beutezüge zu verdoppeln.« Er hob seine eigene.

Das Abstimmungsergebnis war überwältigend. Ein Wald von erhobenen Händen füllte den Raum, über einem Meer von Gesichtern, die noch immer von Angst und Sorge gezeichnet waren. Nach der Entscheidung begannen die Menschen, sich zu zerstreuen und sich um die Aufgaben zu kümmern, die die Gemeinschaft am Laufen hielten. Jonah kam zu Maira herüber. Sie lehnte mit dem Rücken an der Wand und wischte sich mit einer Hand übers Gesicht.

»Glückwunsch«, sagte er. »Sie haben sie überzeugt.«

»Wenn ich gewonnen habe, warum habe ich dann das Gefühl, verloren zu haben?«, fragte Maira.

»Weil Sie die Verantwortung für Dinge übernehmen, die Sie nicht kontrollieren können«, entgegnete er ironisch.

Maira schnaubte daraufhin, leugnete es aber nicht. »Sie und ich kennen die Wahrheit, Jonah. Selbst das ist nur eine Übergangslösung. Vom Durchstöbern der Läden und Vorratslager werden wir nicht ewig leben können. Wenn sich nicht etwas ändert – etwas Entscheidendes –, dann werden viele Leute sterben.« Sie lächelte verbittert. »Noch mehr Leute.«

»Wir können nur das tun, was wir tun können, Maira.« Jonah schenkte ihr ein trauriges Lächeln. »Kommen Sie. Ich helfe Ihnen bei der Planung der neuen Routen, auf die Sie die Sammler schicken können.«

Maira hielt inne und sah erneut auf die Karte. Sie hing immer noch ausgerollt an der Wand und zeigte den winzigen Punkt von Athena und die Ringe darum herum. Ihr Kiefer verkrampfte sich, als sie den größeren Ring studierte, der bis ins Herz von Washington reichte. Auf alten Karten aus dem Zeitalter der Segelschifffahrt waren Orte mit unbekannten Gefahren mit »Hier sind Drachen« gekennzeichnet worden. Sie widerstand dem Drang, ein solches Ungeheuer dort hinzukritzeln. Stattdessen rollte sie die Karte wieder auf.

»Nach Ihnen«, sagte sie und folgte Jonah aus dem Konferenzraum.

KAPITEL 2

»Hast du schon mal daran gedacht, zum Abendessen auszugehen?«, fragte Andrew mit einem Bissen Schokoriegel im Mund, den er von einer erfolgreichen Expedition in der vorigen Woche mitgebracht hatte.

Es war ein Abend im Spätseptember in Maryland. Vor einer Woche hatte die Athena-Gemeinschaft beschlossen, ihre Nahrungssuche auszuweiten – mit gutem Erfolg. Frische Vorräte waren eingetroffen. Mit etwas Glück sollte die Gruppe jetzt den Winter überstehen können.

Es war noch früh genug im Jahr, dass sie während der Wache keine Jacke brauchte, aber der erste kühle Hauch des Winters lag bereits in der Luft. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis das kalte Wetter Einzug hielt. Sie stützte ihre M700 gegen die Sandsackwand und richtete sich auf. Ihr Rücken knackte an mehreren Stellen, weil sie zu lange in einer Position verharrt hatte. Sie seufzte und ließ die Schultern kreisen, was eine weitere Reihe von Knackgeräuschen auslöste.

»Wenn das deine unbeholfene Art ist, mich um ein Date zu bitten, Andy, dann will ich ehrlich sein: kein Interesse.«

Andrew schnaubte. »Klugscheißerin. Nein, ich meine das Konzept an sich.« Er aß den Riegel auf, zerknüllte das Papier und steckte es in seine Tasche.

Dann deutete er mit seiner M4 die Straße hinunter. Die Nacht brach schnell herein und die zunehmende Dunkelheit machte es schwer, aus drei Stockwerken Höhe Details zu erkennen. Maira starrte blinzelnd in die angedeutete Richtung und konnte dort unten gerade noch die Überreste eines Restaurants erkennen. Das Schild war schon vor Monaten heruntergefallen. Sie war sich sicher, dass sie dort einmal gegessen hatte, bevor alles zusammengebrochen war. Es war ein mexikanisches Restaurant gewesen, nicht wahr? Jetzt könnte es genauso gut aus einem anderen Leben stammen.

Sie schob den Gedanken beiseite. »Was ist damit?«

»Es war einfach so was Normales, denke ich. Früher, weißt du? Man ging irgendwo hin, setzte sich hin und sagte, man möchte Curry …«

»Tacos«, korrigierte sie.

»Tacos, klar. Was immer du wolltest, im Prinzip. Eine halbe Stunde später, bumm. Da ist es, für dich gekocht.«

Maira stellte einen Stiefel auf die Mauer aus Sandsäcken, die das Dach umgab, auf dem sie sich befanden. »Führt das irgendwo hin?«

Andrew hielt inne, schürzte nachdenklich die Lippen. »Nein.«

Seine Antwort überraschte sie. Maira lachte. »Wenigstens bist du ehrlich.«

Ihr Wachpartner grinste und zuckte mit den Schultern. »Ich versuche nur, mir die Zeit zu vertreiben.«

Sie ließ den Blick über das Heim ihrer Gemeinde schweifen. »Nein, ich weiß, was du meinst. So viele Dinge, die früher einfach normal waren. Alltäglich. Und jetzt sind sie weg, wahrscheinlich für immer.«

»Nicht für immer«, sagte er leise. »Ich weiß nicht, ob ich ertragen kann, das zu glauben.«

Sie musterte ihn. Sein Gesicht lag im Dunkeln, seine Züge waren nur schwer auszumachen, aber er strahlte Traurigkeit aus. Andrew hatte sich auf einer Geschäftsreise durch die USA befunden, als das Grüne Gift ausgebrochen war. Die Flughäfen waren geschlossen worden, bevor er nach Hause gelangen konnte. Seitdem saß er hier fest, auf der anderen Seite des Ozeans, fern von allen, die er kannte und liebte.

»Irgendwann kommst du wieder nach Hause«, sagte Maira. Sie versuchte, der Aussage etwas Nachdruck zu verleihen, als ob sie daran glaubte.

Er brachte ein Lächeln zustande. »Ich hoffe es.«

Sie streckte die Hand aus und drückte ihm kameradschaftlich die Schulter. »Wir können nicht einmal sicher sein, ob …«

Das Kreischen ihres Handfunkgeräts unterbrach sie. Maira riss es besorgt von ihrem Gürtel, während es ein unterbrochenes Knistern von sich gab. Andrew begegnete ihrem Blick mit besorgtem Stirnrunzeln. Es waren keine Check-ins geplant.

»Bitte wiederholen. Sie waren nicht klar zu verstehen. Over.« Wieder folgte statisches Rauschen, aber dieses Mal mischten sich abgehackte Worte darunter. »Beutezug … feindlich … Outcasts …«

Eine rasche Abfolge von Knallgeräuschen ließ Maira aufhorchen. Diesmal war es nicht ihre Wirbelsäule. Eine Sekunde lang klang es nach nichts weiter als einer Reihe von Feuerwerkskörpern, die gezündet wurden; ein Echo der Erinnerung die jährlichen Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag am vierten Juli. Mairas Zeit in der Navy – und vor allem die Ereignisse des letzten Jahres – hatten sie jedoch eines Besseren belehrt. Es waren Schüsse.

Im Handumdrehen war sie an der Wand, Andrew nur eine Haaresbreite hinter ihr.

»Woher kommt das?«, schnauzte sie.

Andrew streckte einen Finger an ihrem Gesicht vorbei in Richtung Süden aus. Jetzt konnte sie das Mündungsfeuer erkennen, das am Abend aus dieser Entfernung nur als Funken erschien. Es beleuchtete eine wahre Horde dunkler Gestalten, die aus Richtung Washington heranschwärmten. Eine viel kleinere Anzahl von Menschen floh vor ihnen und erwiderte das Feuer mit vereinzelten Salven nach hinten. Das Donnern der Schüsse war das Anzeichen für einen tobenden Kampf.

Maira betätigte das Walkie-Talkie. »Südposten! Sie werden angegriffen!«

»Hier ist Südposten!« Maira erkannte die Stimme. Elena. Sie klang erschrocken. »Wir sehen sie! Zahlreiche Feinde, die Sammelteam 3 verfolgen. Sie sind schwer bewaffnet.«

Maira ließ sich auf ein Knie fallen, stützte sich an den Sandsäcken ab und spähte durch das Zielfernrohr ihres Gewehrs. Sie entdeckte einen ihrer Leute, der entsetzt davonrannte. Eine Kugel traf die Person in den Rücken und sie stürzte zu Boden wie eine Marionette, deren Fäden zerschnitten wurden. Maira schluckte schwer und wich unwillkürlich zurück. Die Feinde …

Sie verstand sofort, warum der Südposten nicht einmal versucht hatte, eine Zahl zu nennen. Die Feinde strömten wie eine wahre Flutwelle heran. Die meisten von ihnen machten sich nicht einmal die Mühe, in Deckung zu gehen, während sie Hals über Kopf durch die Straßen preschten. Es handelte sich um eine bunt zusammengewürfelte Truppe, die ein wildes Sammelsurium an erbeuteten Waffen und einige wenige Sturmgewehre und Schrotflinten mit sich führte. Alle trugen Masken, das einzige Zeichen von Einheitlichkeit. Ihre Kleidung war zerlumpt, ihre Rüstung bestand aus groben Metallplatten.

Panik stieg in Mairas Brust auf, aber sie drückte sie wütend nieder. Konzentrier dich auf das Hier und Jetzt, sagte sie sich. Jeder Augenblick zählt!

»Andrew, die Auslöser!«, blaffte sie.

Der andere Wachmann starrte reglos in die Ferne, Schock und Entsetzen standen ihm ins Gesicht geschrieben. Doch ihre Stimme schien ihn abrupt in die Realität zurückzuholen. Er blinzelte, nickte ihr zittrig zu und eilte zu einem nahe gelegenen Werkzeugkasten. Als er ihn öffnete, kam eine Sammlung von Handys zum Vorschein, jedes mit einer Nummer und einer Farbe gekennzeichnet.

Maira richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihr Zielfernrohr. Sie suchte das Schlachtfeld ab, bis ihr ein Aufblitzen ins Auge fiel. Es war ein Reflektor, den sie in der Vergangenheit an einem anderen Gebäude angebracht hatten. Er diente als Entfernungsmarkierung. Es gab fünf davon, alle in einer Gruppe. Die Eindringlinge strömten an dem ersten vorbei, ohne ihn zu bemerken. Sammelteam 3 befand sich immer noch vor ihnen. Sie konnte nur hoffen, dass sie außer Reichweite waren.

»Hundertfünfzig Meter blau!«, rief sie Andrew zu.

»Hundertfünfzig blau«, antwortete er. Der schlaksige Mann zog ein Telefon aus der Sammlung und tippte darauf.

Der markierte Punkt verschwand in einem Schwall aus Flammen und Rauch. Jenseits des Explosionsradius riss etwas Unsichtbares ihre Angreifer mit sich. Eine Welle von ihnen fiel wie Grashalme, die von einer Sense erfasst wurden. Improvisierte Sprengsätze, allgemein bekannt unter dem Akronym IED. Sie waren der Fluch der amerikanischen Streitkräfte in Übersee gewesen. Maira hatte sich ein Beispiel daran genommen und selbst gebastelte Rohrbomben an offensichtlichen Stellen platziert, wo Angreifer Zugang finden konnten, sodass die versteckten Ladungen jederzeit bereit waren, durch ein entsprechendes Signal ausgelöst zu werden.

Die Detonationen sorgten dafür, dass pures Chaos unter den anrückenden Feinden ausbrach. Viele wichen vor dem unerwarteten Angriff zurück und rannten in unterschiedliche Richtungen, während die Schreie der Verwundeten und Sterbenden durch die Häuserschluchten hallten. Zu Mairas Entsetzen hielt die Verwirrung jedoch nicht lange an. Die vorderen Einheiten jenseits des Angriffs wurden kaum langsamer. Es war, als würde ihnen der Tod ihrer Kameraden nichts ausmachen. Im Licht der Explosion erhaschte Maira ein neues Detail: Die Masken, die ihre Feinde trugen, waren alle in verschiedenen Gelbtönen gefärbt.

Ihr rutschte das Herz in die Hose.

»Outcasts«, sagte sie leise.

Die schlimmsten Befürchtungen der Gemeinschaft hatten sich bewahrheitet. Die Outcasts waren eine der grausamsten Gruppierungen, die aus dem Chaos des Grünen Gifts hervorgegangen waren. Gerüchten zufolge waren sie von denjenigen gegründet worden, die in der Frühphase des Ausbruchs unter Quarantäne gestellt und dem Tod überlassen worden waren. Jetzt wollten sie sich rächen und verbreiteten die Krankheit des Grünen Gifts überall, wo sie hinkamen. Sie waren Fanatiker und Massenmörder, angetrieben von nichts als kranker Wut auf eine Welt, die sie missbraucht hatte.

Maira hob ihr Walkie-Talkie und betätigte es. »Achtung: Die feindlichen Kräfte wurden als Outcasts identifiziert. Ungewisse Anzahl, geschätzt etwa Kompaniestärke. Over.«

»Outcasts?« Andrew starrte sie an. Seine Stimme zitterte. »Ist das dein verdammter Ernst? Virusverteiler?«

Maira beantwortete die Frage nicht. Stattdessen sagte sie nur: »Sechzig blau bereit machen.«

»Maira, wir müssen evakuieren, wir müssen …«

Sie registrierte die Angst in seinen Augen, die sie an jenen Tag im Waffenlager erinnerte. Sie ballte ihre Fäuste so fest, dass ihre Nägel in die Haut ihrer Handflächen schnitten.

»Wenn wir unsere Position aufgeben, sind alle tot. Jemand anderes wird die Evakuierung organisieren. Unsere Aufgabe ist es, ihnen Zeit zu verschaffen.« Die Worte klangen abgehackt, aber Mairas Stimme blieb ruhig. »Also. Sechzig blau bereit machen.«

»Jawohl«, sagte Andrew. Er straffte die Schultern und zog ein Telefon aus dem Werkzeugkasten. »Sechzig blau ist bereit.«

Maira wandte sich wieder dem herannahenden Ansturm zu. Sie fand die nächste Gruppe von Reflektoren. Zwei von ihnen. Es war eine Frage von Sekunden, bis der Feind diesen Punkt erreichte.

»Sechzig blau!«, rief sie.

Eine weitere Detonation, ein weiterer Treffer gegen die Reihen ihrer Angreifer. Immerhin hatten sie es geschafft, die Zahl der Outcasts zu verringern.

Das Sammlerteam hatte den Südposten inzwischen erreicht. Früher war er ein Café gewesen. Jetzt war es in einen Wachposten im Erdgeschoss umgewandelt worden, der so gut wie möglich befestigt war. Die Sammler eilten ins Innere, während die Wachen für Feuerschutz sorgten. Geschützfeuer regnete von den Befestigungspunkten des Gebäudes auf die eindringenden Outcasts hinunter.

Das Vorrücken der Feinde verlangsamte sich, als sie schließlich gezwungen waren, in Deckung zu gehen. Sie lieferten sich einen Schusswechsel mit dem Südposten, wobei die Betonstellungen, die die Gemeinschaft errichtet hatte, für den Moment ausreichend Schutz boten. Doch Maira fürchtete, dass dies nicht von Dauer sein würde. Die zahlenmäßige Überlegenheit des Feindes war immer noch überwältigend. Selbst mit den zurückgekehrten Sammlern, die zur Verteidigung des Ortes hinzukamen, konnten sich nicht mehr als zehn Leute auf dem Posten befinden.

Sie hob ihr Funkgerät. »Nord-, Ost- und Westposten.«

Ein Chor von Antworten kam zurück. Alle klangen verängstigt, das war ihnen deutlich anzuhören. Aber im Moment war die Angst unter Kontrolle. Maira musste hoffen, dass das so blieb, und wappnete sich für ihren nächsten Befehl.

»Sie müssen den Südposten unterstützen«, sagte sie.

»Nordposten hier. Bleiben dann nicht die anderen Zugänge ungedeckt?«

Maira warf erneut einen Blick über die Mauer. Die Outcasts schwärmten zu den Seiten des Südpostens aus. Es war einfach nicht genug Feuerkraft vorhanden, um die Angreifer in Schach zu halten. Auf die eine oder andere Weise würden einige von ihnen Athena bald ungehindert stürmen können.

»Wir müssen uns um das aktuelle Problem kümmern, Nordposten. Setzen Sie sich auf der Stelle in Bewegung.«

»Maira!«, rief Andrew eindringlich.

Sie senkte das Walkie-Talkie und folgte seinem Blick zum tobenden Kampf. Die Outcasts hatten den Südposten von drei Seiten umzingelt und feuerten aus allen Rohren. Befestigt oder nicht, Maira konnte sich die Hölle darin kaum vorstellen. Das Gegenfeuer ihrer Freunde war deutlich reduziert, da sie sich entweder ducken mussten oder verwundet waren.

»Südposten, warten Sie, Hilfe ist …«

Eine massige Gestalt löste sich von der angreifenden Truppe. Der Hüne sprintete auf den Wachposten der Gemeinschaft zu. Er zuckte und taumelte unter einem halben Dutzend Treffern, aber die Verletzungen konnten seinen rasenden Ansturm nicht bremsen. Eine Kugel durchschlug seinen Kiefer und ließ eine blutige Fontäne aufspritzen. Aber auch das war nicht genug. Tot oder lebendig, sein Schwung trug den einzelnen Angreifer den Rest des Wegs ins Innere.

Das Gebäude explodierte. Der gesamte Posten ging in Rauch und Flammen auf, die das Viertel kurzzeitig rot und gelb färbten. Unter den Outcasts brach Jubel aus, sie hielten ihre Gewehre in die Höhe und stießen triumphierende Schlachtrufe aus. In diesem Moment, beleuchtet von dem brennenden Gebäude, hätten sie genauso gut Dämonen aus der Hölle sein können.

Maira starrte. Ihr Mund klappte lautlos auf und zu. Schließlich gelang es ihr, ins Funkgerät zu krächzen. »Den Südposten gibt es nicht mehr. Der Weg nach Athena ist weit offen. Wir brauchen jetzt jeden, der eine Waffe hat. Und zwar sofort.«

Die Outcasts versammelten sich erneut für ihren letzten Vorstoß auf das Gemeindezentrum. Maira beobachtete, wie sich einer auf ein zertrümmertes Stück Beton stellte und die anderen durch ein Megafon anfeuerte. Sie legte das Walkie-Talkie mit ruhiger Hand beiseite, visierte das Ziel an und drückte den Abzug. Der Outcast zuckte und kippte nach hinten, wobei er sich um einen direkten Treffer in seiner Körpermitte krümmte. Grimmige Freude erfüllte sie.

Andrew kniete neben ihr und zielte mit seiner eigenen Waffe. Aber er schoss zu schnell. Tränen strömten über sein Gesicht. Sie hörte seine hektischen Atemzüge. Seine Panik würde dafür sorgen, dass er weit weniger treffsicher war als üblich. Aber das machte nichts. Er versuchte es zumindest. Am Ende würden sie beide den Ausgang dieses Kampfs ohnehin nicht ändern können.

Sie suchte die Menge nach ihrem nächsten Ziel ab. Da – jemand, der die gleiche seltsam sperrige Kleidung trug wie derjenige, der den Südposten ausgeschaltet hatte. Ihr Schuss traf ihn direkt in die Brust. Der Sprengstoff, den er bei sich trug, war genauso gefährlich und instabil wie die Outcasts selbst. Der Mann flog mit einer Explosion in die Luft und riss eine Lücke in die Menge der Angreifer. Die Detonation war diesmal so nah, dass sie das Dach, auf dem sie sich befand, zum Beben brachte.

Aus den umliegenden Straßen drang sporadisches Gewehrfeuer, während die Milizen der anderen Außenposten sich beeilten, sich dem Kampf anzuschließen. Jeder von ihnen schoss auf einzelne Outcasts. Doch das neue Gewehrfeuer erregte auch die Aufmerksamkeit der großen Masse von Feinden. Ein vernichtendes Gegenfeuer prasselte auf alle herab, die noch zu kämpfen wagten. Diejenigen, die Glück hatten, fanden schnell Deckung und blieben dort, festgenagelt. Andere wurden auf offener Straße erwischt und an Ort und Stelle niedergemäht.

Ein brutaler Kerl, der ausgerechnet einen Vorschlaghammer trug, stürmte auf einen der eingekesselten Athena-Kämpfer zu. Maira feuerte einen schnellen Schuss ab, aber falls er getroffen hatte, so zeigte er keine Wirkung. Der Mann war mit Roheisen überzogen wie ein behelfsmäßiger menschlicher Panzer. Ihr nächster Schuss prallte funkensprühend von seinem Helm ab. Die Kugel ließ den Angreifer taumeln, aber mehr auch nicht. Sie konnte lediglich zusehen, wie der Hammer auf ihren Kameraden niederfuhr und Blut und Knochen über die Straße verteilte.

Ihre verzweifelten Versuche hatten die Aufmerksamkeit auf ihren hochgelegenen Posten gelenkt, so wirkungslos sie auch gewesen waren. Kugeln ließen Funken sprühen und prallten vom Dach um sie herum ab. Einige schlugen mit dumpfem Aufprall in den Sandsäcken ein. Maira wich fluchend zurück, als eine Kugel den oberen Rand der niedrigen Mauer direkt neben ihrem Gesicht durchschlug. Mörtelstücke spritzten ihr entgegen, die ein halbes Dutzend winziger, brennender Schnitte in ihrem Gesicht hinterließen, aus denen rasch Blut quoll.

Sie kam wieder hoch, um das Feuer zu erwidern, und starrte durch ihr Zielfernrohr auf jemanden, der Pfeil und Bogen trug. Der Bogenschütze zielte sorgfältig auf die Dachposition. Maira blinzelte, um sich zu vergewissern, was sie da vor sich sah. Die Pfeilspitze rauchte und war von einer kleinen schwarzen Wolke aus Giftgas umgeben. Sie sprang nach hinten, als der Bogenschütze die Sehne losließ, und schnappte sich Andrew, um ihn mit sich zu ziehen.

Der Pfeil flog im Bogen über den Schutzwall und traf den Putz des nahen Dachs. Er explodierte einen Herzschlag nach dem Aufprall. Die Wucht der Detonation hätte gereicht, um die beiden zu zerfetzen. So aber wurden sie lediglich zu Boden geschleudert. Maira prallte mit einem hörbaren Knirschen gegen einen Sandsackstapel. Stechender Schmerz durchfuhr ihre Brust und sie krümmte sich zusammen, den Arm um ihren Oberkörper geschlungen.

Ihr Walkie-Talkie war in der Nähe gelandet und wie durch ein Wunder unversehrt. Es knisterte, als jemand sprach, doch die Worte gingen in der allgemeinen Kakofonie unter.

Maira blinzelte wie betäubt auf das Gerät hinab. Athena war eine kleine Gemeinde. Sie kannte jeden dort. Die Stimme dieser Frau kam ihr jedoch überhaupt nicht bekannt vor. Mit tauben Fingern nahm sie das Walkie-Talkie in die Hand. Ihr erster Versuch zu sprechen, endete in einem rasselnden Husten.

Beim nächsten Mal schaffte sie es, heiser zu rufen: »Bitte wiederholen.«

»Lokale Miliz? Ich bin froh, dass einige von Ihnen noch am Leben sind. Nehmen Sie jetzt den Kopf runter.«

»Wie bitte?«, keuchte sie.

»Kopf runter! Sofort!«

Maira erschrak, legte aber das Kinn auf die Brust und schlang die Arme um den Kopf. Ein leises Summen ertönte in ihren Ohren, begleitet von dem Heulen von etwas, das sich schnell vorbeibewegte. Es musste sich auf der Höhe des Dachs befinden, drei Stockwerke über der Straße, und es raste an ihnen vorbei. Bevor sie aus Neugierde einen Blick riskieren konnte, vernahm sie ein unverwechselbares Klappern und ein schrilles Kreischen.