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In "Tom Jones" schildert Henry Fielding die abenteuerliche Odyssee seines Protagonisten, eines foundlings namens Tom, durch die gesellschaftlichen und moralischen Strukturen des 18. Jahrhunderts in England. Der Roman kombiniert Elemente der Komödie und Satire, wobei Fielding meisterhaft die menschlichen Schwächen und die Absurditäten seiner Zeit offenbart. Mit einer vielschichtigen Erzählweise, die an die Tradition des Bildungsromans anknüpft, führt er die Leser durch Toms Entwicklung vom naiven Waisen zu einem selbstbewussten und moralisch verantwortlichen Individuum. Die dynamische Handlung, gepaart mit einem scharfen Blick für Charaktere und deren Motivationen, bietet ein facettenreiches Bild der Gesellschaft und ist sowohl unterhaltsam als auch nachdenklich stimmend. Henry Fielding, ein Pionier des englischen Romans und zeitgenössischer Kritiker seiner Gesellschaft, nutzte seine Erfahrungen als Schriftsteller, Anwalt und Klatschjournalist, um die Widersprüche seiner Epoche zu beleuchten. Geboren 1707, prägte er mit seinem scharfsinnigen Humor und seinem sozialen Engagement die Literatur seines Jahrhunderts. Sein eigenes Leben und die Wahrnehmungen über ungerechte gesellschaftliche Bedingungen, wie Armut und Korruption, fanden Ausdruck in den lebendigen Charakteren und der fesselnden Erzählung seines Werkes. "Tom Jones" ist ein zeitloses Werk, das nicht nur als unterhaltsame Lektüre dient, sondern auch tiefere Fragen zu Identität, Moral und gesellschaftlicher Ordnung aufwirft. Leser, die sich für die Entwicklung des englischen Romans interessieren oder schlichtweg einen packenden, satirischen Blick auf die menschliche Natur genießen möchten, finden in diesem Buch eine unvergleichliche Quelle der Erkenntnis und Freude. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine prägnante Einführung verortet die zeitlose Anziehungskraft und Themen des Werkes. - Die Synopsis skizziert die Haupthandlung und hebt wichtige Entwicklungen hervor, ohne entscheidende Wendungen zu verraten. - Ein ausführlicher historischer Kontext versetzt Sie in die Ereignisse und Einflüsse der Epoche, die das Schreiben geprägt haben. - Eine Autorenbiografie beleuchtet wichtige Stationen im Leben des Autors und vermittelt die persönlichen Einsichten hinter dem Text. - Eine gründliche Analyse seziert Symbole, Motive und Charakterentwicklungen, um tiefere Bedeutungen offenzulegen. - Reflexionsfragen laden Sie dazu ein, sich persönlich mit den Botschaften des Werkes auseinanderzusetzen und sie mit dem modernen Leben in Verbindung zu bringen. - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor. - Interaktive Fußnoten erklären ungewöhnliche Referenzen, historische Anspielungen und veraltete Ausdrücke für eine mühelose, besser informierte Lektüre.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Ein Findelkind sucht seinen Platz in einer Welt aus Tugendreden, Versuchungen und Zufällen. Diese Ausgangslage treibt Henry Fieldings Tom Jones an und entfaltet einen weiten Blick auf das 18. Jahrhundert, in dem Charakterstärke und gesellschaftliche Erwartung einander prüfen. Das Buch verbindet Komik mit moralischer Fragwürdigkeit, Herzenswärme mit satirischer Schärfe. Statt abstrakter Lehrsätze zeigt es Menschen in Aktion, deren Schwächen und Großzügigkeiten sich im Strom des Alltags bewähren müssen. So entsteht ein Roman, der ebenso unterhält wie nachdenklich macht und der Fragen nach Herkunft, Glück und Verantwortung mit erzählerischer Energie verknüpft.
Tom Jones erschien 1749 in London in sechs Bänden unter dem englischen Titel The History of Tom Jones, a Foundling. Verfasst wurde er von Henry Fielding, 1707 in Somerset geboren und 1754 in London gestorben, einem Dramatiker, Satiriker und späteren Londoner Magistraten. Das Werk gehört zu den maßgeblichen frühen englischen Romanen und ist in achtzehn Bücher gegliedert. Es entstand in einer Zeit, in der sich die Gattung Roman schnell entwickelte und ein neues bürgerliches Lesepublikum gewann. Fielding nutzt diese neue Form, um eine weite soziale Landschaft auszuleuchten und dabei ein Kunstwerk von großzügiger Architektur zu schaffen.
Als Klassiker gilt Tom Jones wegen seiner formalen Kühnheit, seiner stilistischen Klarheit und seiner menschenfreundlichen Ironie. Fielding konzipierte das Buch als komisches Epos in Prosa: weitläufig, episodisch, kunstvoll gebaut. Berühmt sind die einleitenden Kapitel zu jedem Buch, in denen der Erzähler die eigenen Mittel reflektiert und den Lesenden mit Witz an die Hand nimmt. Diese erzählerische Selbstaufmerksamkeit wirkt bis heute: Die Stimme ist präsent, aber nie belehrend; sie lädt zur Prüfung, nicht zur Gefolgschaft. So verbindet das Werk unterhaltsame Handlung mit poetologischer Reflexion und setzt Maßstäbe für Erzählsouveränität im Roman.
In seiner Ausgangssituation erzählt Tom Jones von einem Findelkind, das auf dem Land von einem wohlhabenden, wohlwollenden Gutsbesitzer großgezogen wird. Der Junge ist temperamentvoll, offen und geneigt zu schnellen Eingebungen; seine Warmherzigkeit bringt Freunde, seine Unbedachtsamkeit Ärger. Die Liebe zu einer jungen Frau aus der Nachbarschaft, klug und selbstbestimmt, zeigt früh, wie scharf soziale Regeln, Standesvorstellungen und Familieninteressen das private Glück umgrenzen. Aus dieser Konstellation entwickelt Fielding ein Geflecht aus Begegnungen und Konflikten, das den Helden nicht zerstört, sondern bildet und prüft, ohne die spätere Handlung vorwegzunehmen.
Das Buch entfaltet eine vielstimmige Erkundung von Tugend und Klugheit, Redlichkeit und Schein. Es fragt, ob Herkunft über Charakter bestimmt, ob Wohltätigkeit Pflicht oder Gnade ist, wie Gerechtigkeit entsteht und wo sie versagt. Ebenso zentral sind die Themen Zufall und Fügung, die in Tom Jones als Kräfte auftreten, denen der Mensch nicht ausgeliefert bleibt, solange er die Arbeit an sich selbst ernst nimmt. Fielding zeigt, wie Empathie mit moralischer Urteilskraft koexistieren kann, und wie Heuchelei, Dünkel und Berechnung in höflichen Formen erscheinen. Gerade diese ethische Komplexität verleiht dem Roman seine anhaltende Lebendigkeit.
Besonders einflussreich ist Fieldings Erzählhaltung. Ein allwissender, unverkennbar persönliche Töne anschlagender Erzähler kommentiert, ordnet, parodiert und öffnet den Blick auf Dramaturgie und Gattungsfragen. Das schafft Nähe, ohne Bevormundung, und strukturiert den weiten Stoff. Die Szenen wirken oft theatralisch gesetzt, mit präziser Komik, pointierten Nebenfiguren und einer klaren räumlichen Orientierung. Gleichzeitig fordert die Stimme die Lesenden auf, aktiv zu vergleichen und zu urteilen. Diese Balance zwischen Führung und Freiheit ist eine der großen Leistungen des Romans und wurde vielfach nachgeahmt, selten mit ähnlicher Leichtigkeit erreicht.
Tom Jones ist ein Gesellschaftspanorama des georgianischen England: Felder und Höfe, Landhäuser und Wirtshäuser, Wege und Gerichte, Kirchen und Salons. In diesem Gefüge prallen ländlicher Brauch und städtische Ambition aufeinander, und das Recht wird als gelebte Praxis erfahrbar, nicht als abstrakte Norm. Fielding kannte als Jurist die Schwächen von Institutionen und zeigt, wie Formalitäten menschliche Wahrnehmung trüben oder erhellen. Gleichzeitig beleuchtet er Muster von Geschlechterrollen, Erziehung und Ehre, ohne seine Figuren zu bloßen Typen zu machen. So verbindet das Buch die Beobachtung sozialer Mechanik mit dem Respekt vor individueller Erfahrung.
Gattungsgeschichtlich steht Tom Jones im Austausch mit der Schelmen- und Abenteuertradition, aber auch in produktivem Gegensatz zu den zeitgenössischen empfindsamen, oft brieflich erzählten Romanen. Wo andere auf innere Beklemmung und Tugendproben im privaten Kämmerlein setzen, öffnet Fielding die Türen und lässt seine Figuren die Welt in all ihrer Reibung erfahren. Diese Weite des Blicks, die Kunst der Verknüpfung zahlreicher Handlungsfäden und die souveräne Erzählerfigur prägten die weitere Entwicklung des realistischen Romans. Spätere Autorinnen und Autoren haben aus dieser Mischung von Komik, Ethik und Konstruktion gelernt und ihre Möglichkeiten weitergeführt.
Die Wirkung des Buches zeigte sich früh in breiter Leserschaft, ebenso in Debatten über Moral, Anstand und die Grenzen des Komischen. Manche sahen darin die belebende Kraft einer neuen Erzählkunst, andere eine riskante Nähe zu Unordnung und Leichtsinn. Die anhaltende Präsenz des Stoffes belegen auch Adaptionen, darunter der vielfach ausgezeichnete Film Tom Jones von 1963 unter der Regie von Tony Richardson. Solche Neuinterpretationen zeigen nicht nur Popularität, sondern die Formbarkeit eines Stoffes, der aus seiner Zeit spricht und dennoch andere Zeiten erreicht. Die literarische Reputation blieb dabei dauerhaft hoch.
Wer Tom Jones liest, erlebt einen Roman von großzügiger Spannweite, in dem Tempo und Ruhe, Farce und Ernst einander die Waage halten. Die Figuren sind kenntlich in Stimme, Geste und Motiv; die Dialoge treiben Handlung und Charakterarbeit zugleich. Fielding baut Konflikte aus der Logik der Menschen, nicht aus Willkür, und gewinnt daraus Szenen, die gleichermaßen plausibel und überraschend sind. Die Komik verletzt nicht, sie entlarvt. Die Moral beklemmt nicht, sie öffnet. Diese Mischung sorgt dafür, dass die Lektüre Vergnügen bereitet und zugleich eine Schule der Aufmerksamkeit ist.
Heute liest man Tom Jones nicht, um eine vergangene Welt museal zu betrachten, sondern um Muster zu erkennen, die fortbestehen: das Spiel von Ruf und Urteil, die Kraft sozialer Zuschreibungen, die Leichtigkeit, mit der Misstrauen gedeiht, und die Mühe, Vertrauen zu verdienen. Der Roman erinnert daran, dass Gerechtigkeit mehr als korrekte Verfahren braucht, und dass Großmut die stärkste Gegenkraft zur Ressentimentökonomie bildet. Er zeigt, wie Liebe und Loyalität sich behaupten können, ohne blind zu werden, und wie Selbstkenntnis vor moralischen Kurzschlüssen schützt. Darin liegt seine zeitgenössische Relevanz.
Tom Jones ist ein Klassiker, weil er die Fülle des Lebens mit einer klaren, heiteren und prüfenden Intelligenz umarmt. Er verbindet architektonische Strenge mit erzählerischer Freiheit, soziale Genauigkeit mit poetischer Großzügigkeit. Sein Reichtum an Tönen und Formen macht ihn zu einem Buch, das man genießen und studieren kann. Wer es heute aufschlägt, findet keinen musealen Text, sondern einen hellwachen Begleiter, der uns zur Nüchternheit des Blicks und zur Wärme des Herzens ermutigt. In dieser doppelten Tugend liegt seine Dauer: Er zeigt, wie Charakter und Zufall einander prüfen – und wie Menschlichkeit bestehen kann.
Henry Fieldings Roman The History of Tom Jones, a Foundling, 1749 erschienen, gilt als eine der prägenden Komödien der englischen Aufklärung. In satirischem Ton verfolgt er den Lebensweg eines Findelkindes von der ländlichen Idylle bis in die Londoner Gesellschaft und verbindet Liebesgeschichte, Sittenbild und moralische Reflexion. Der Erzähler kommentiert mit ironischer Distanz, führt durch Episoden voller Zufall und Verstellung und stellt die Frage, worin wahre Tugend besteht. Die Handlung setzt in Somerset ein und entfaltet sich in klarer zeitlicher Abfolge, während charakterliche Entscheidungen, soziale Schranken und Missverständnisse den Verlauf immer wieder prägen und zu unerwarteten Wendungen führen.
Zu Beginn findet der wohlhabende Gutsbesitzer Squire Allworthy ein Neugeborenes in seinem Haus und beschließt, den Findling großzuziehen. Tom, so genannt, wächst neben Allworthys Neffen Blifil auf, dessen äußerliche Korrektheit von Ehrgeiz und Selbstgerechtigkeit begleitet ist. Erzieher wie der religiös strenge Thwackum und der rationalistische Square prägen das Umfeld, ohne Tom tatsächlich zu bessern. Tom zeigt Großmut, Impulsivität und eine Neigung zu Fehltritten, die ihm den Ruf des Taugenichts eintragen. Schon früh entsteht der Kontrast zwischen gelebter Menschlichkeit und formalistischer Tugendpose, der die Beziehungen im Haus bestimmt und die spätere Entwicklung des Konflikts vorbereitet.
Im Nachbarhaus wächst Sophia Western auf, Tochter eines leidenschaftlichen Landjunkers mit robusten Ansichten. Sie ist klug, warmherzig und sozial höher gestellt als Tom. Zwischen beiden entsteht eine Zuneigung, die jedoch Konventionen, Standesunterschieden und der Kontrolle durch ihre Familie ausgesetzt ist. Squire Western plant eine vorteilhafte Verbindung, in der Blifil als wünschenswerter Bewerber erscheint. Während Tom um Selbstbeherrschung und wirtschaftliche Perspektiven ringt, wird Sophia zunehmend zur Projektionsfläche widerstreitender Interessen. Die Anbahnung der Liebesgeschichte ist von Komik, Missverständnissen und latenter Gefahr bestimmt, weil die soziale Ordnung scheinbar klare Grenzen zieht, die persönlichen Neigungen kaum Raum lassen.
Ein Wendepunkt tritt ein, als Toms gutgemeinte, aber unkluge Handlungen skandalisiert werden und Intrigen gegen ihn greifen. Blifil nutzt Gelegenheiten, Toms Fehlverhalten moralisch auszuschlachten und sich selbst als tugendhaft darzustellen. Allworthy, durch Berichte und Zufälle beeinflusst, entzieht Tom das vertraute Umfeld und schickt ihn fort. Diese Verbannung markiert den Übergang von der ländlichen Welt zur offenen Straße. Zugleich gerät Sophia unter Druck, eine für sie arrangierte Verbindung einzugehen. Die beiden Hauptfiguren werden getrennt und auf parallele Wege geschickt, auf denen Prüfung, Reifung und die Frage nach echter Würde wichtiger werden als Herkunft oder Ansehen.
Tom begibt sich auf eine Reise quer durch Gasthäuser, Kasernenhöfe und Landstraßen, begleitet vom redseligen Partridge, der ihn ebenso berät wie verwickelt. Begegnungen mit Soldaten, Geistlichen, Schauspielern und zwielichtigen Gestalten stellen Toms Charakter auf die Probe. Er hilft Armen, gerät in Schlägereien, verkennt Gefahren und wird von Zufällen begünstigt oder bestraft. Die Episoden haben komischen Zug, offenbaren aber auch soziale Brüche und die Fragilität der Ehre in einer Welt, in der Ruf und Realität selten übereinstimmen. Tom lernt, dass Absicht und Wirkung auseinanderfallen können, und dass Standpunkte stets im Licht veränderlicher Perspektiven bewertet werden.
In einer Folge von Gasthausaufenthalten kulminieren Verwicklungen um Eifersucht, Sitte und Anschein. Eine Begegnung mit der attraktiven Mrs. Waters zieht Toms Impulsivität in ein Netz aus Gerüchten, während Zufallszeugen voreilige Schlüsse ziehen. Parallel ist Sophia mit ihrer Zofe unterwegs, flieht vor familiärem Zwang und hinterlässt Spuren, die Missverständnisse nähren. Verlorene und gefundene Briefe, Geschenke und Zeichen der Zuneigung wandern von Hand zu Hand und verändern Einschätzungen. Fielding steigert das Spiel von Wissen und Nichtwissen: Figuren handeln auf Basis bruchstückhafter Informationen, und das Publikum erkennt, wie rasch moralische Urteile kippen, wenn neue Kontexte sichtbar werden.
Schließlich erreicht Tom London, wo die Versuchungen der großen Stadt neue Prüfungen bereithalten. Er gerät in den Einflusskreis wohlhabender Gönnerinnen und intrigenerfahrener Herren, erlebt Schutz und Ausbeutung zugleich. Im Mittelpunkt steht eine mächtige Dame der Gesellschaft, deren Patronage Verbindlichkeiten schafft und Toms Loyalitäten auf die Probe stellt. Duelle werden angedroht, Rechtsfragen bedrohen seine Freiheit, und das Theaterspiel der Salons spiegelt die Masken der höfischen Welt. Partridge liefert Komik und Kommentierung, doch die Risiken werden ernster. Hier verdichtet sich die Kritik an Scheinheiligkeit und Opportunismus, während Tom zwischen Dankbarkeit, Begehren und moralischer Selbstbehauptung abwägt.
Im letzten Drittel treten verborgene Zusammenhänge zutage. Alte Geschichten, verschlossene Briefe und späte Geständnisse fügen verstreute Hinweise zusammen und stellen Herkunft, Schuld und Verdienst in ein neues Licht. Mehrere Figuren werden entlarvt oder rehabilitiert; Autoritätspersonen revidieren Urteile; Verwechslungen lösen sich auf. Die Enthüllungen betreffen sowohl Toms Identität als auch die Motive seiner Widersacher. Zugleich wird der Gegensatz zwischen kalter Regelmoral und tätiger Menschlichkeit noch einmal geschärft. Ohne die endgültigen Entscheidungen vorwegzunehmen, lässt sich sagen, dass die Klärung der Fakten zugleich eine Prüfung des Mitgefühls ist und soziale Grenzen neu vermessen werden.
Tom Jones zeigt, dass Tugend weniger in makelloser Fassade liegt als im beständigen Bemühen um Gerechtigkeit, Großmut und Selbsterkenntnis. Durch Humor, erzählerische Selbstreflexion und die Verknüpfung des Privaten mit gesellschaftlichen Institutionen prägt der Roman die Entwicklung der englischen Erzählkunst. Er entlarvt die Mechanik von Gerücht und Reputation, kritisiert starre Klassenschranken und plädiert für Fehlertoleranz, ohne menschliche Schwächen zu verklären. Am Ende bleibt die Lehre, dass Charakter sich in Handlung bewährt und dass Erkenntnis oft aus Irrtum erwächst. So gewinnt die Geschichte eines Findlings bleibende Bedeutung über ihre Zeit und ihren Schauplatz hinaus.
In der Mitte des 18. Jahrhunderts, unter der Herrschaft Georgs II., erschien 1749 in London Henry Fieldings Roman The History of Tom Jones, a Foundling. England war eine georgianische Monarchie mit starkem Parlament, von einer Whig-Oligarchie dominiert; die anglikanische Kirche prägte das öffentliche Leben, das Common Law und die Pfarreien strukturierten Ordnung und Fürsorge. Auf dem Land herrschte die Grundbesitzerelite über Pacht, Jagd und Armenverwaltung; in den Städten wuchs der Handel rasant. Der Roman bewegt sich zwischen Landgut, Landstraße und Metropole und spiegelt eine Gesellschaft, die zwischen ererbten Privilegien und der Dynamik einer mobileren, kommerzielleren Welt oszilliert.
Henry Fielding, 1707 in Somerset geboren, begann als erfolgreicher Dramatiker. Seine bissigen politischen Satiren gegen Robert Walpole trugen 1737 zum Licensing Act bei, der das Theater einer rigiden Vorzensur unterwarf. Daraufhin wandte sich Fielding entschiedener der Prosa und der Rechtsgelehrsamkeit zu; 1740 wurde er als Anwalt zugelassen. 1748 ernannte man ihn zum Friedensrichter in Westminster, später auch in Middlesex. Diese Ämter gaben ihm unmittelbare Einblicke in Armut, Kriminalität und Alltagsjustiz – Erfahrungen, die die soziale Textur von Tom Jones prägen. Zwischen literarischem Experiment und juristischer Praxis entwickelte er ein scharfes Gespür für institutionelle Mechanismen und individuelle Motive.
Der Roman erschien 1749 bei dem Londoner Buchhändler Andrew Millar in sechs Bänden – ein übliches Vertriebsformat der Zeit. Der Buchmarkt profitierte von sinkenden Papierkosten, besserer Distribution über Post- und Fuhrnetze sowie der Ausbreitung von Leihbibliotheken und Lesegesellschaften. Kaffeehäuser und Clubs förderten eine diskursive Öffentlichkeit, in der neue Romane breit rezensiert und diskutiert wurden. Die wachsende Leserschaft der städtischen Mittelschichten verlangte nach umfangreichen Erzählungen mit moralischem Anspruch und realistischer Stofflichkeit. Tom Jones traf diese Erwartung, verband aber kommerzielle Attraktivität mit experimenteller Erzählkunst und reflektierten Vorreden, die das Verhältnis von Wahrheit, Erfindung und Sittenlehre ausdrücklich zum Thema machten.
Fielding schrieb im Umfeld der augustäischen Literaturkultur, die antike Formen neu belebte. Schon zuvor hatte er mit Shamela (1741) und Joseph Andrews (1742) auf Samuel Richardsons Pamela reagiert und Fragen nach Tugend, Erzählperspektive und gesellschaftlicher Macht gestellt. Tom Jones setzt diese Auseinandersetzung fort, doch mit breiterer Anlage: Das Werk ist in 18 Bücher gegliedert, die jeweils mit essayistischen Einleitungen beginnen. Fielding bezeichnete sein Verfahren als „komisches Epos in Prosa“ und orientierte sich an epischer Weite, klassischer Poetik und ironischer Allwissenheit. Damit positioniert sich der Roman zugleich in der Debatte über den neuen Roman als moralisch-ästhetische Gattung.
Die dargestellte Gesellschaft ist von Erbrecht, Vormundschaft und lokaler Amtsträgerschaft strukturiert. Primogenitur und Entail banden Landbesitz an männliche Erbfolgen; Heirat war zugleich emotionale und ökonomische Entscheidung. Über Pfarreien regelten Aufseher des Armenwesens Versorgung, Zuweisung von Herkunftsgemeinden und Untersuchungen bei unehelichen Geburten. Solche Verfahren betrafen die Lebensläufe der unteren Schichten existenziell und konnten auch Ansehen und Erbansprüche in der Gentry beeinflussen. Tom Jones rückt diese Schnittstellen sichtbar ins Zentrum: Fragen von Herkunft, Legitimität und sozialer Reputation treiben Handlungsoptionen an, während lokale Justices of the Peace als Schaltstellen zwischen Privathaushalt und öffentlicher Ordnung auftreten.
Seit den 1730er Jahren führte die wachsende Zahl ausgesetzter Kinder zu intensiven Debatten. Der Philanthrop Thomas Coram erwirkte 1739 eine königliche Charta für das Foundling Hospital, das 1741 eröffnet wurde; Künstler wie William Hogarth und Georg Friedrich Händel unterstützten die Einrichtung. Zugleich versuchten Pfarreien, Kosten zu begrenzen, etwa durch rigide „settlement“-Regeln und die Abschiebung schwangerer Frauen. Die Figur des Findlings im Roman knüpft erkennbar an diese zeitgenössische Problemgeschichte an. Fielding verknüpft individuelle Empathie mit institutioneller Kritik und zeigt, wie Wohltätigkeit, Ruf und juristische Formeln miteinander verschränkt sind – nicht sentimental, sondern mit Blick auf reale Verwaltungspraktiken.
Religiös dominierte die Church of England, doch die religiöse Landschaft war vielfältig. Seit den 1730er Jahren verbreiteten John Wesley und George Whitefield methodistische Predigt und Erweckungsbewegungen, die Begeisterung förderten, aber auch Verdacht des „Schwärmertums“ weckten. Dissenters genossen begrenzte Duldung, blieben jedoch von Ämtern ausgeschlossen. Fieldings Roman spiegelt diese Gemengelage weniger durch Dogmatik als durch Satire: Geistliche und Laien werden an den Maßstäben praktischer Tugend gemessen, nicht an bloßen Bekenntnissen. In Anlehnung an Moralphilosophen wie Shaftesbury oder Hutcheson betont die Erzählstimme „good nature“ und Gemeinsinn – und geißelt religiöse Heuchelei, die soziale Härte legitimiert.
Die 1740er Jahre waren von Sorgen über Kriminalität und Alkohol geprägt. Die Gin Acts von 1736 und 1751 zielten auf den exzessiven Branntweinkonsum, ihre Durchsetzung blieb jedoch schwierig. Fielding, 1748 zum Friedensrichter geworden, verfasste 1751 seine Enquiry into the Causes of the Late Increase of Robbers und initiierte mit seinem Halbbruder John um 1749 in Bow Street eine frühe professionelle Ermittlergruppe, später als Bow Street Runners bekannt. Tom Jones zeigt entsprechend Gasthäuser, Landstraßen, Raufereien, Verhaftungen und Anhörungen mit realistischer Genauigkeit. Das Recht erscheint als lokales, oft improvisiertes Gefüge, dessen Gerechtigkeit von Charakter und Integrität der Amtsträger abhängt.
Mobilität prägte die Epoche. Turnpike Trusts verbesserten seit dem frühen 18. Jahrhundert systematisch Straßen; Poststationen und Postpferde ermöglichten zügigere Reisen. Stagecoaches verbanden die westenglischen Grafschaften mit London in mehreren Tagesetappen; Gasthöfe boten Verpflegung, Stallungen und Neuigkeiten. Der Roman nutzt dieses Verkehrsnetz erzählerisch: Zufallsbegegnungen, verpasste Kutschen, Duelle der Ehre und Gerüchte zirkulieren entlang der großen Straßen. Auch die wachsende Popularität von Kurorten wie Bath gehört zu diesem Lebensstil, in dem Reisen zum sozialen Ereignis wird. So wird die Landstraße zum Medium, das Stände mischt, Nachrichten verteilt und moralische Prüfungen in wechselnden Umgebungen inszeniert.
London erlebte Mitte des Jahrhunderts starkes Wachstum und war politisches, rechtliches und kulturelles Zentrum. In Bezirken wie Covent Garden konzentrierten sich Theater, Vergnügungslokale, Märkte und Druckereien; Kaffeehäuser verbanden Politik, Handel und Literatur. Zugleich trafen Wohlstand und Elend auf engem Raum zusammen: Gelegenheitsarbeit, Prostitution und Schuldengefängnisse gehörten zum Stadtbild. Fielding amtierte in Bow Street, unweit der genannten Schauplätze, und kannte die Milieus aus der täglichen Rechtspraxis. Tom Jones spiegelt diese Welt mit ihrer Mischung aus Eleganz, Betrug, Wohltätigkeit und öffentlicher Debatte. Die Stadt erscheint als Brennglas der georgianischen Gesellschaft, in dem moralische Posituren rasch auf ihre Alltagstauglichkeit geprüft werden.
Das Landleben wird von der „squirearchy“ geprägt – der Schicht der Landjunker, die Jagd, Pachtverträge, Patronage und lokale Politik kontrollieren. Enclosure-Prozesse und landwirtschaftliche Verbesserungen veränderten Besitzverhältnisse, während traditionelle Bräuche und Nachbarschaftspflichten fortwirkten. In Tom Jones begegnet man derb-geselligen Geselligkeit, Fuchsjagden, Trinkkultur und ständischer Ehre ebenso wie häuslicher Frömmigkeit und paternalistischer Fürsorge. Fielding zeichnet dabei kein Idyll, sondern ein Geflecht aus Abhängigkeiten, in dem Autorität, Laune und Geld die Grenzen des „guten Charakters“ sichtbar machen. Die Darstellung des Landadels nimmt zugleich politische Haltungen aufs Korn, die mit dem Selbstbild des County-Gentleman einhergingen.
Internationale Konflikte wirkten bis in den Alltag. Der Österreichische Erbfolgekrieg (1740–1748) belastete Finanzen und Handel und endete kurz vor Erscheinen des Romans. Zuvor hatte der Jakobitenaufstand von 1745 das Königreich erschüttert; Loyalitätsbekundungen, Milizen und harsche Repressionen prägten die öffentliche Sphäre. Fielding bezog als Whig Stellung, unter anderem in seinen periodischen Schriften The True Patriot (1745–1746) und The Jacobite’s Journal (1747–1748). Im Roman selbst sind Soldaten, Wirtshausgespräche und nationale Zugehörigkeit Teil der Kulisse. Ohne zur politischen Allegorie zu werden, registriert die Erzählung, wie Krieg und Rebellion die Rhetorik von Patriotismus, Ordnung und „guter Regierung“ schärfen.
Ehe und Erbrecht bildeten Dreh- und Angelpunkte sozialer Strategie. Nach dem Prinzip der Coverture gingen Vermögensrechte verheirateter Frauen weitgehend auf den Ehemann über; Heiraten dienten Familieninteressen, Mitgift und Standespassung. Clandestine Marriages – heimliche Trauungen – sorgten für Skandale und Rechtsunsicherheit, besonders bei Minderjährigen. Die intensive Debatte mündete 1753 im Marriage Act (Hardwicke’s Act), der öffentliche Bekanntgaben und elterliche Zustimmung für Minderjährige vorschrieb. Tom Jones entstand unmittelbar vor dieser Reform und zeigt die Konflikte, die sie motivierten: Zwangsnahe Werbung, Berechnung, wachsender Widerstand gegen kaufmännische Liebeslogik und die Suche nach rechtlich abgesicherten, zugleich „verdienten“ Verbindungen.
Die Kultur der Höflichkeit formte Verhalten und Urteil. Seit den Essays von Addison und Steele hatte sich ein Ideal der „politeness“ etabliert: Selbstbeherrschung, Konversation, Geschmack und Rücksicht. Zugleich gewann die empfindsame Moral an Bedeutung, die Mitleid und Mitgefühl aufwertete. Fielding beobachtet diese Moden mit Skepsis und Zustimmung zugleich. In Tom Jones wird „good nature“ – eine tätige, nicht gespreizte Güte – gegen Affektiertheit und moralische Schaustellung gesetzt. Der Roman erprobt, ob urbane Höflichkeit und ländliche Einfalt ein tragfähiges Ethos ergeben, und prüft, wie kluge Urteilskraft über bloße Rührung hinaus zu verantwortlichem Handeln führt.
Nach dem Licensing Act von 1737 verloren Dramatiker Freiräume; Satire verlagerte sich in Romane und Zeitschriften. Fielding nutzt die allwissende, dialogische Erzählerstimme, um zugleich zu unterhalten und zu argumentieren, ohne konkrete Zeitpolitiker direkt zu attackieren. Die einleitenden Kapitel reflektieren Poetik, Publikumserwartungen und Lektürepraxis – ein metapoetischer Kommentar zur „Öffentlichkeit“, die in Kaffeehäusern und Rezensionen über Sitte und Geschmack verhandelt. Tom Jones steht damit exemplarisch für eine Literatur, die ihre eigene Wirkungsmacht im entstehenden Markt der Meinungen bedenkt und Kritik an Heuchelei, Modetorheiten und institutioneller Schieflage in die Form des Erzählens einarbeitet.
Hinter der dargestellten Lebensform steht die Ausweitung von Handel und Empire. Tee, Zucker und Tabak, meist aus kolonialen Wirtschaftskreisläufen, gehören zum selbstverständlichen Konsum der Mittelschicht und des Landadels. Importwaren wie Porzellan, bedruckte Baumwolle oder exotische Gewürze markieren Status und Geschmack. Auch wenn Tom Jones das Imperium nicht thematisiert, erscheint es in Alltagsdetails als stiller Mitakteur, der Wohlstand, Mode und Gewohnheiten ermöglicht. Damit verweist der Roman indirekt auf eine Gesellschaft, deren moralische Urteile im heimischen Raum gefällt werden, deren materielle Basis jedoch weit über England hinausreicht und von globalen Verflechtungen abhängig ist.
Vor diesem Hintergrund lässt sich Tom Jones als Kommentar zur eigenen Zeit lesen. Der Roman bejaht Rechtsstaatlichkeit, tätige Wohltätigkeit und die Möglichkeit, Tugend unabhängig von Geburt zu erkennen, und kritisiert zugleich Heuchelei, Standesarroganz, eigennützige Heiratspolitik und institutionelle Trägheit. Indem er Land und Stadt, Krieg und Handel, Kirche und Wirtshaus in ein komisches Epos fügt, bietet er ein Panorama georgianischer Lebenswirklichkeit. Seine anspielungsreiche Erzählhaltung macht gesellschaftliche Mechanismen durchsichtig, ohne die Figuren zu Thesenfiguren zu degradieren. So wird das Buch zu einer der prägnanten Prosa-Stimmen, die die Übergänge der 1740er Jahre literarisch beglaubigen und prüfend begleiten.
Henry Fielding (1707–1754) war ein englischer Romancier, Dramatiker und Jurist der georgianischen Epoche, dessen Werk die Entwicklung des realistischen, satirischen Romans entscheidend prägte. Bekannt ist er vor allem für Joseph Andrews, Tom Jones und Amelia, die eine neue, selbstbewusste Erzählperspektive mit komischer Epik verbanden. Zugleich schrieb er politisch pointierte Bühnenstücke und profilierte sich später als Magistrat in London. Seine Doppelrolle als Schriftsteller und Rechtsexperte verlieh seinen Texten eine ungewöhnliche Verbindung aus Humor, gesellschaftlicher Beobachtung und moralischer Argumentation. Fielding zählt zu den maßgeblichen Wegbereitern des englischen Romans und zu den schärfsten Satirikern seiner Zeit.
Er erhielt seine Ausbildung am Eton College, wo eine solide klassische Schulung seinen Geschmack für antike Dichtung, Rhetorik und Satire prägte. In den späten 1720er-Jahren studierte er an der Universität Leiden, brach das Studium jedoch aus finanziellen Gründen ab und kehrte nach London zurück. Seine frühen literarischen Versuche zeugen von intensiver Lektüre klassischer Autoren sowie von Cervantes, dessen Erzählkunst und komische Wanderschaftsstruktur er produktiv aufnahm. Ebenso wirkten die zeitgenössische Periodenprosa und das Theater der Augustaner als Anregung. Aus dieser Mischung erwuchs sein charakteristischer Ton: gelehrt, spielerisch, moralisch ernst und dennoch unerschrocken satirisch.
In den 1730er-Jahren etablierte sich Fielding als produktiver Dramatiker. Stücke wie The Author’s Farce, Tom Thumb beziehungsweise The Tragedy of Tragedies, Pasquin und The Historical Register for the Year 1736 verbanden Farce, Parodie und politisch hellsichtige Satire. Ihre pointierten Angriffe auf Korruption und Vetternwirtschaft provozierten Gegenreaktionen. 1737 setzte die Regierung die Licensing Act durch, die das Londoner Theater strenger zensierte und Fieldings Bühnenlaufbahn faktisch beendete. Die Zäsur markierte einen Wendepunkt: Er verlegte sich stärker auf Prosa und bereitete eine juristische Karriere vor, ohne seine Aufmerksamkeit für Öffentlichkeit, Presse und das Funktionieren politischer Institutionen zu verlieren.
Nach dem Rückzug von der Bühne studierte Fielding Rechtswissenschaft und wurde in den frühen 1740er-Jahren als Anwalt zugelassen. Parallel veröffentlichte er politische und literarische Beiträge in Zeitschriften wie The Champion und führte die Debatte über Öffentlichkeit, Moral und Recht fort. Diese Doppelperspektive – juristische Praxis und publizistische Intervention – stärkte sein Gespür für soziale Wirklichkeit, institutionelle Fehlsteuerungen und die Sprache der Macht. Sie bereitete zugleich die erzählerische Form vor, in der er Erzählerautorität, dokumentarischen Ton und komische Brechungen kombinierte. Aus der Auseinandersetzung mit der Tagespolitik erwuchsen zentrale Themen seines Prosawerks: Gerechtigkeit, Scheinmoral, Betrug, Mitgefühl.
Sein erzählerischer Durchbruch begann mit der satirischen Schrift Shamela und dem Roman Joseph Andrews, die als ironische Reaktionen auf zeitgenössische Tugend- und Briefromane gelesen wurden. Joseph Andrews entfaltet die Wanderschaft von Diener und Geistlichem, verbindet Komik mit moralischer Prüfung und führt einen souveränen Erzähler ein, der Kommentar, Struktur und Ironie steuert. Kurz darauf erschien Jonathan Wild, eine bittere Satire auf Verbrecher- und Machtglorifizierung. Diese Werke machten Fielding zu einem der wichtigsten Prosaautoren seiner Generation und etablierten das, was er selbst ein „komisches Epos in Prosa“ nannte: weiträumig, episodisch, gesellschaftlich beobachtend.
Sein Hauptwerk The History of Tom Jones, a Foundling überzeugte durch erzählerische Architektur, Figurenfülle und Witz; es wurde rasch zu einem Meilenstein des englischen Romans. Amelia vertiefte die Verbindung von privatem Schicksal und institutioneller Kritik. Parallel wirkte Fielding ab den späten 1740er-Jahren als Friedensrichter in Westminster und Middlesex, engagierte sich gegen Kriminalität und Missstände und half bei der Organisation der Bow Street Runners, einer frühen Ermittlertruppe. Sein Traktat An Enquiry into the Causes of the Late Increase of Robbers formulierte Reformvorschläge; als Publizist setzte er Debatten im Covent-Garden Journal fort und verknüpfte Recht, Moral und Öffentlichkeit.
In seinen letzten Jahren belasteten Krankheit und Arbeit die Kräfte. 1754 trat er die Reise nach Lissabon an, um ein milderes Klima zu suchen; dort starb er noch im selben Jahr. Postum erschien das Journal of a Voyage to Lisbon, das Beobachtungsgabe und Selbstironie in einem schmalen Prosabericht vereint. Fieldings Vermächtnis liegt in der souveränen Erzählhaltung, dem Zusammenspiel von Komik und Ernst sowie der sozialen Reichweite seiner Romane. Er bleibt ein zentraler Bezugspunkt für Erzählkunst, die moralische Fragen mit erzählerischer Lust verbindet, und wird in Lehre und Forschung fortdauernd intensiv gelesen.
Die Einleitung zu dem Werke, oder der Speisezettel zu dem Mahle.
Ein Schriftsteller darf sich nicht für einen Mann halten, der seinen Freunden oder den Armen ein Gastmahl giebt; er muß sich vielmehr dem Inhaber eines Speisehauses gleich stellen, in welchem Jedermann willkommen ist, der Geld mitbringt. Im erstern Falle setzt bekanntlich der Gastgeber Speisen nach seinem Gefallen vor, und wenn dieselben dem Gaumen der Gesellschaft auch nicht zusagen, ja wenn sie ihm sogar zuwider sind, so darf man sie doch nicht tadeln; im Gegentheil, die gute Lebensart nöthigt die Gäste, Alles, was ihnen vorgesetzt wird, gut zu finden und zu rühmen. Anders bei dem Inhaber eines öffentlichen Speisehauses. Leute, die das bezahlen, was sie essen, wollen durchaus etwas haben, das ihrem Gaumen gefällt, wie verwöhnt er auch sein mag; ist nicht Alles nach ihrem Geschmacke, so maßen sie sich das Recht an, die Gerichte zu tadeln, zu schmähen und zu verwünschen, und sie lassen sich davon durch keine Rücksicht abhalten.
Um nun ihre Kunden durch eine solche Täuschung nicht zu beleidigen, pflegen die ehrlichen Speisewirthe einen Speisezettel vorzulegen, den Jedermann, wenn er in das Haus tritt, lesen kann, um, nachdem er erfahren, welche Gerichte er zu erwarten hat, entweder zu bleiben und das zu genießen, was ihm geboten wird, oder weiter zu gehen und in einem andern Speisehause etwas zu suchen, das seinem Geschmacke mehr zusagt.
Da wir es keineswegs verschmähen, guten Rath und Klugheit von irgend Jemandem zu borgen, der uns damit dienen kann, so sind wir auch geneigt, jene ehrlichen Speisewirthe nachzuahmen, und wir werden demnach nicht bloß einen allgemeinen Speisezettel für das ganze Mahl vorlegen, sondern auch bei jedem einzelnen Gerichte, das in dem vorliegenden Werke servirt werden wird, besondere Angaben vorausschicken.
Man hat hier weiter nichts zu erwarten, als menschliche Natur; ich fürchte aber nicht, daß einer meiner Leser, wie verwöhnt auch sein Gaumen sein möge, sich verwundert, oder gar unwillig wird, weil ich nur einen Artikel nenne. Die Schildkröte enthält, wie alle erfahrenen Gutschmecker wissen, außer dem köstlichen Fleische an ihrem Rücken- und Bauchschilde noch mancherlei verschiedene Dinge, die essenswerth sind; eben so findet sich, wie der Leser recht wohl weiß, in der menschlichen Natur, wenn sie hier auch unter einem allgemeinen Namen zusammengefaßt wird, eine so unabsehbare Mannichfaltigkeit, daß ein Koch eher mit allen verschiedenen Arten thierischer und vegetabilischer Nahrung in der Welt zu Ende kommt, als ein Schriftsteller im Stande ist, einen so umfassenden Gegenstand zu erschöpfen.
Feinere Leser machen vielleicht den Einwurf, dieses Gericht sei zu gewöhnlich und zu gemein, denn was Anderes finde man in allen den Romanen, Novellen, Schauspielen und Gedichten, welche den Markt überschwemmen? Der Gutschmecker müßte manche vortreffliche Speise verwerfen, wenn es ein hinreichender Grund wäre, sie für gewöhnlich und gemein zu erklären, daß es etwas an den armseligsten Oertern giebt, das denselben Namen führt. Die wahre Natur findet man in den Büchern eben so selten, als bei den Kaufleuten ächten Schinken von Bayonne und ächte Würste von Bologna.
Die Hauptsache kommt, um bei derselben Metapher zu bleiben, auf die Zurichtung durch den Schriftsteller an. Dasselbe Thier, welches die Ehre hatte, zum Theil an der Tafel eines Herzogs gespeiset zu werden, wird vielleicht an einem andern seiner Theile tief herabgewürdigt und in der gemeinsten Garküche der Stadt gleichsam an den Galgen gehenkt. Worin liegt also der Unterschied zwischen der Speise des Edelmannes und jener des Aufläders, wenn beide von einem und demselben Ochsen oder Kalbe essen, außer in den Zuthaten, in der Zurichtung, in dem Aufputze? Aus diesem Grunde reizt und weckt sie hier den schlaffsten Appetit, während sie dort den gierigsten Hunger stillt und zum Schweigen bringt.
Eben so liegt die Trefflichkeit der Geistesnahrung weniger in dem Gegenstande, als in der Geschicklichkeit des Schriftstellers, denselben gut zu behandeln und gleichsam zuzurichten. Mit welchem Vergnügen wird deshalb der Leser finden, daß wir uns in dem vorliegenden Werke fortwährend an einen der höchsten Grundsätze des besten Koches gehalten haben, den die jetzige oder vielleicht die Zeit Heliogabal's hervorgebracht hat! Dieser große Mann pflegt seinen hungrigen Gästen zuerst einfache Dinge vorzusetzen und allmälig, wie die Magen aller Wahrscheinlichkeit nach schwächer werden, bis zu der eigentlichen Quintessenz der Saucen und Gewürze emporzusteigen. Eben so werden wir dem Hunger unserer Leser die menschliche Natur zuerst einfach und natürlich vorstellen, wie sie sich auf dem Lande findet, und sie später mit allem pikanten französischen und italienischen Gewürz von Affectation und Laster, wie sie Höfe und Städte bieten, versehen.
Nachdem wir so viel vorausgeschickt haben, wollen wir diejenigen nicht länger von ihrem Mahle abhalten, denen unser Speisezettel behagt, vielmehr ihnen sogleich den ersten Gang unserer Geschichte vorsetzen.
Eine kurze Schilderung des Squire Allworthy und eine ausführlichere der Miß Brigitte Allworthy, seiner Schwester.
In jenem Theile des Westens dieses Königreichs, welcher gewöhnlich Somersetshire genannt wird, lebte vor Kurzem, und lebt vielleicht noch, ein Mann mit Namen Allworthy, den man den Günstling der Natur und des Glückes hätte nennen können, denn beide schienen mit einander gewetteifert zu haben, ihn mit ihren besten Gaben zu überschütten. Einige werden wohl der Meinung sein, die Natur habe bei diesem Wettkampfe den Sieg errungen, weil sie ihm viele Gaben verlieh, während das Glück nur eine einzige Gabe zu reichen vermochte; sie ging aber dabei so verschwenderisch zu Werke, daß Andere vielleicht glauben, diese einzige Gabe komme allen den verschiedenen Segnungen, die ihm die Natur verliehen, mehr als gleich. Von der letztern erhielt er nämlich eine angenehme Persönlichkeit, eine dauerhafte Gesundheit, einen guten Verstand und ein wohlwollendes Herz; durch das erstere dagegen gelangte er in den Besitz eines der größten Güter in der Grafschaft.
Dieser Mann hatte sich in seiner Jugend mit einem schönen und höchst achtbaren Mädchen verheirathet, dasselbe als seine Frau zärtlich geliebt und von ihr drei Kinder erhalten, die sämmtlich frühzeitig starben. Auch das Unglück hatte er gehabt, sein geliebtes Weib selbst etwa fünf Jahre vor der Zeit begraben zu müssen, in welcher unsere Geschichte beginnt. Diesen Verlust trug er, ob er wohl groß war, wie ein verständiger, fester Mann, ob er gleich bisweilen etwas seltsam darüber sprach, denn er äußerte nicht selten, er sehe sich noch immer für verheirathet an, als habe seine Frau nur eine kurze Zeit vor ihm eine Reise angetreten, die er gewißlich, früher oder später, ebenfalls werde machen müssen, und er zweifle nicht im mindesten, daß er sie an einem Orte wiederfinden werde, wo er nie wieder von ihr getrennt werden würde, – Ansichten, um deretwillen ein Theil seiner Nachbarn seinen Verstand, ein zweiter seine Religion und ein dritter seine Aufrichtigkeit bezweifelte.
Er lebte nun meist zurückgezogen auf dem Lande mit einer Schwester, die er zärtlich liebte. Diese Dame war etwas über die Dreißig hinaus, in welcher Zeit, nach der Meinung der Boshaften, ein unverheirathetes Frauenzimmer nicht mit Unrecht bereits »alte Jungfer« genannt werden kann. Sie gehörte zu den Frauen, die man mehr wegen ihrer guten Eigenschaften, als wegen ihrer Schönheit rühmt und die von ihrem eignen Geschlechte gewöhnlich gutmüthige Frauen genannt werden. Sie war wirklich so weit davon entfernt, den Mangel der Schönheit zu bejammern, daß sie diesen Vorzug (wenn es einer ist) stets mit einer gewissen verächtlichen Miene erwähnte, ja Gott oft dankte, daß sie nicht so hübsch sei, wie die oder die, welche vielleicht eben durch ihre Schönheit auf Abwege verlockt worden sei, die sie außerdem vermieden haben würde. Miß Brigitte Allworthy (so hieß die Dame) hielt mit vollem Rechte die körperlichen Reize an einem Weibe für nichts weiter, als Schlingen für sie selbst oder für Andere; trotz dem aber war sie in ihrem Wandel so vorsichtig und hielt so klug Wache, als hätte sie alle Schlingen zu fürchten, die jemals für ihr ganzes Geschlecht gelegt worden sind. Ich habe indeß die Bemerkung gemacht (wenn sie auch dem Leser unerklärlich zu sein scheinen mag), daß diese Klugheitswache, wie die disciplinirten Soldaten, am bereitwilligsten da aufzieht, wo am wenigsten Gefahr zu befürchten ist. Sie verläßt oft feig jene Posten, nach denen die Männer alle seufzen und schmachten und jedes Netz auswerfen, und begleitet meist unablässig jene höhere Klasse von Frauen, gegen welche die Männer eine scheuere Ehrfurcht hegen und die sie (wie ich vermuthe, weil sie am Gelingen des Versuches zweifeln) niemals anzugreifen wagen.
Ehe wir weiter fortfahren, lieber Leser, halte ich es für gerathen, Dich darauf aufmerksam zu machen, daß ich im ganzen Verlaufe dieser Geschichte so oft abzuschweifen gedenke, als ich eine Gelegenheit dazu sehe, was ich besser zu beurtheilen weiß, als irgend ein Kritiker.
Ein sonderbares Ereigniß, das dem Herrn Allworthy bei seiner Rückkehr nach Hause zustößt. Das anständige Benehmen der Jungfer Deborah Wilkins, nebst einigen passenden Bemerkungen über Bastarde.
Ich habe dem Leser in dem vorhergehenden Kapitel erzählt, daß Herr Allworthy ein großes Vermögen besaß, das er geerbt, daß er ferner ein gutes Herz, aber keine Familie hatte. Daraus werden nun Manche schließen, er habe als redlicher Mann gelebt, sei Niemandem etwas schuldig gewesen, habe nur das genommen, was ihm gehörte, ein gutes Haus gemacht, seine Nachbarn an seinem Tische herzlich willkommen geheißen, den Armen reichlich gegeben, d. h. denen, welche lieber betteln, als arbeiten, sei als unermeßlich reicher Mann gestorben und habe ein Hospital bauen lassen.
Es ist wahr, Manches davon that er; hätte er aber nicht mehr gethan, so würde ich es ihm überlassen haben, seine Verdienste selbst auf einem Steine über dem Eingange seines Hospitals der Welt zu verkündigen. Weit außerordentlichere Dinge sind der Gegenstand dieser Geschichte, ich würde sonst meine Zeit auf unverzeihliche Weise durch das Schreiben eines so dicken Buches verschwenden, und Sie, mein kluger Freund, könnten mit eben dem Nutzen und Vergnügen einige Seiten von dem lesen, was gewisse närrische Schriftsteller spaßhafter Weise »die Geschichte Englands« genannt haben.
Herr Allworthy hatte sich ein ganzes Vierteljahr lang eines besondern Geschäftes wegen, das ich weiter nicht kenne, in London aufgehalten; es muß aber wohl von Wichtigkeit gewesen sein, weil es ihn so lange von der Heimath fern hielt, die er seit vielen Jahren keinen Monat lang verlassen hatte. Spät am Abende kam er in sein Haus zurück und nach einem kurzen Abendessen in Gesellschaft seiner Schwester begab er sich sehr ermüdet in sein Zimmer. Nachdem er hier einige Minuten auf seinen Knien gelegen hatte, eine Gewohnheit, von welcher er aus keiner Veranlassung jemals abwich, wollte er eben in sein Bett steigen, als er bei dem Aufdecken desselben zu seiner großen Verwunderung ein Kind, das in grobe Linnen geschlagen war, darin in süßem und tiefem Schlafe liegen sah. Eine Zeit lang stand er bei diesem Anblick unbeweglich vor Staunen da, bald aber, da seine Gutmüthigkeit stets schnell die Oberhand gewann, fühlte er Mitleid mit dem kleinen armen Dinge vor ihm. Er zog die Klingel und befahl einer ältlichen Magd, sogleich aufzustehen und zu ihm zu kommen. Bis dahin betrachtete er so eifrig die Schönheit der Unschuld, die in jenen lebendigen Farben erschien, in welchen sich die Kindheit und der Schlafzimmer zeigt, daß es ihm nicht einfiel, er sei im Hemd, als die alte Magd hereintrat. Sie hatte indeß ihrem Herrn hinreichend Zeit zum Bekleiden gelassen, weil sie, aus Ehrfurcht vor ihm und im Gefühl der Schicklichkeit, viele Minuten mit der Anordnung ihres Haares vor dem Spiegel verbracht, trotz der Eile, mit welcher sie von dem Diener beschieden worden war, und obgleich ihr Herr, was sie nicht wissen konnte, vielleicht im Sterben lag.
Man wird sich nicht verwundern, daß eine Person, die an sich selbst so viel auf Schicklichkeit und Anstand hielt, sich schwer verletzt fühlte, wenn eine andere im geringsten davon abwich. Sie hatte also kaum die Thüre geöffnet und ihren Herrn mit einem Lichte in der Hand im Hemde an dem Bette stehen sehen, als sie höchst entsetzt zurückprallte; sie wäre vielleicht gar in Ohnmacht gefallen, hätte er sich nicht noch schnell besonnen, daß er unangekleidet war und ihrem Entsetzen ein Ende gemacht, indem er sie aufforderte, so lange vor der Thüre zu bleiben, bis er sich etwas angekleidet habe und die züchtigen Augen der Jungfer Deborah Wilkins nicht mehr beleidige, die, obgleich zwei und funfzig Jahre alt, betheuerte, sie habe niemals einen Mann ohne Rock gesehen. Spötter und Witzler mögen vielleicht über den ersten Schreck der guten Jungfer lachen, die ernstern Leser aber werden, wenn sie die nächtliche Zeit, das Herbescheiden aus dem Bette und die Stellung berücksichtigen, in welcher sie ihren Herrn fand, ihr Benehmen vollkommen billigen und rühmen, wenn nicht die Bewunderung ein wenig durch die Klugheit gemindert wird, welche man bei Mädchen in dem Alter der Jungfer Deborah voraussetzen muß.
Als Jungfer Deborah wieder in das Zimmer trat und von ihrem Herrn erfuhr, daß derselbe ein Kind in seinem Bette gefunden habe, erreichte ihre Bestürzung einen noch höhern Grad als vorher, und sie konnte sich nicht enthalten, mit Entsetzen im Tone der Stimme und in ihren Mienen auszurufen: »Ach, guter Herr, was soll da geschehen?« Herr Allworthy entgegnete, sie müsse diese Nacht das Kind warten und pflegen; am andern Morgen würde er für eine Amme sorgen. »Ja, Herr,« sagte sie, »und ich hoffe, Ew. Gnaden werden einen Befehl erlassen, den Nickel, seine Mutter, die in der Nähe wohnen muß, festzunehmen. Es sollte mich freuen, wenn sie in das Zuchthaus[1] gesteckt und tüchtig ausgepeitscht würde. Solche schlechte Mädchen können nie streng genug bestraft werden. Ich wette, es ist nicht ihr erstes Kind, weil sie so unverschämt war, dasselbe Ew. Gnaden zu bringen, als wenn . . .« – »Das Kind mir zu bringen, Deborah!« antwortete Allworthy, »die Absicht hatte sie wohl nicht. Wahrscheinlich glaubte sie auf diese Weise für ihr Kind zu sorgen und ich bin wirklich erfreut, daß sie nichts Schlimmeres gethan hat.«
»Ich wüßte nicht, was noch schlimmer wäre,« sagte Deborah, »als daß solche Nickel ihre Sünde vor ehrlicher Leute Thüre legen, und wenn auch Ew. Gnaden Ihre eigne Unschuld kennen, so ist doch die Welt böse und gar mancher redliche Mann hat für den Vater von Kindern gelten müssen, die er nicht erzeugte. Nehmen sich Ew. Gnaden des Kindes an, so werden die Leute noch bereitwilliger glauben, was sie wollen, und warum wollen denn auch Ew. Gnaden für das Kind sorgen, das ja das Kirchspiel erhalten muß? Meinetwegen noch, wenn es eines ehrlichen Mannes Kind wäre; solche in Unzucht erzeugte Geschöpfe aber rühre ich nicht gern an und kann sie nicht für meine Mitmenschen halten. Pfui! wie es stinkt! Es riecht gar nicht wie ein Christenkind. Wenn ich mich unterstehen darf, einen Rath zu geben, so wäre ich dafür, wir legten es in einen Korb und ließen es vor die Thüre des Kirchenvorstehers setzen. Es ist eine schöne Nacht, blos etwas regnerig und windig, und wenn man es gut einwickelte und in einen warmen Korb legte, so ist zwei gegen eins zu wetten, daß es leben würde, bis es früh gefunden wird. Sollte es aber auch sterben, so haben wir doch unsere Schuldigkeit gethan, da wir für sein Unterkommen sorgten, und es ist vielleicht besser für solche Geschöpfe, sie sterben unschuldig, als daß sie aufwachsen und ihren Müttern nachahmen, denn etwas Besseres kann man von ihnen nicht erwarten.«
Es waren einige Stellen in dieser Rede, welche vielleicht den Herrn Allworthy beleidigt hätten, wenn er aufmerksamer darauf gewesen wäre; aber er hatte eben einen Finger in das Händchen des Kindes gebracht, das durch leisen Druck ihn um Beistand zu bitten schien und sicherlich die Beredtsamkeit der Jungfer Deborah zu Schanden gemacht hätte, wäre sie auch noch größer gewesen, als sie wirklich war. Er befahl der Jungfer Deborah, das Kind ohne Umstände mit in ihr Bett zu nehmen und eine Magd zu rufen, die einen Brei und andere Dinge für das Kind bereit mache. Er befahl ferner, gleich früh am Morgen für reine Wäsche für dasselbe zu sorgen und es ihm zu bringen, sobald er auf sei.
Jungfer Wilkins hatte so viel Einsehen und so große Achtung vor ihrem Herrn, bei dem sie eine vortreffliche Stelle hatte, daß ihre Bedenken vor seinen bündigen Befehlen sogleich schwanden. Sie nahm das Kind auf den Arm, ohne Widerwillen vor der unehelichen Geburt desselben zu verrathen, meinte, es sei ein liebes kleines Ding und ging mit ihm in ihre Schlafkammer.
Allworthy dagegen versank in den süßen Schlummer, den ein Herz genießt, das etwas Gutes gethan hat und mit sich zufrieden ist, und der wohl süßer ist, als jener, welcher durch irgend einen andern Genuß herbeigeführt wird.
Der Hals des Lesers kommt durch eine Beschreibung in Gefahr; sein Entrinnen und die große Herablassung der Miß Brigitte Allworthy.
Der gothische Baustyl[2] kann nichts edleres hervorbringen, als das Haus des Herrn Allworthy. Es lag etwas Großartiges in demselben, das die Seele mit ehrfurchtsvollem Schauer erfüllte, und glich den Schönheiten der besten griechischen Bauwerke. Auch war es innen so bequem als außen ehrwürdig.
Es stand an der Südostseite eines Hügels, näher am Fuße als am Gipfel desselben und war vor dem Nordostwinde durch einen Hain alter Eichen geschützt, die fast eine halbe englische Meile weit am Hügel hinauf wuchsen, doch hoch genug, daß es eine reizende Aussicht auf das Thal unten gewährte.
In der Mitte des Haines führte ein schöner Gang sanft abschüssig nach dem Hause hinunter und oben am Ende sprudelte ein wasserreicher Quell aus einem von Fichten bewachsenen Felsen hervor und bildete einen etwa dreißig Fuß hohen Fall, der nicht auf regelmäßigen Stufen herabgeleitet wurde, sondern natürlich über zerbrochene, moosbewachsene Steine bis an den Fuß des Felsens stürzte; dann floß er in einem Kieselbette mit vielen kleinern Fällen fort, bis er in einen Teich am Fuße des Hügels, unfern dem Hause an der Südseite, gelangte, den man aus jedem Zimmer von der Vorderseite sah. Aus diesem kleinen See, der in der Mitte einer schönen, mit Buchen und Erlen geschmückten und von Schafen belebten Ebene lag, kam ein Fluß heraus, der sich mehrere (engl.) Meilen weit durch eine unendliche Menge von Wiesen und Waldungen schlängelte, bis er in das Meer sich ergoß. Ein Arm desselben und eine Insel darüber hinaus begrenzten die Aussicht.
Rechts von diesem Thale öffnete sich ein kleineres, das mit mehrern Dörfern geschmückt war und in einem epheuumrankten Thurme einer alten verfallenen Abtei, so wie einem Theile der Frontseite derselben endigte.
Links zeigte sich ein sehr schöner Park mit Thal und Hügel, Durchsichten und Wasser, der äußerst geschmackvoll angelegt war, aber mehr noch der Natur als der Kunst verdankte. Jenseits erhob sich das Land allmälig in eine Kette rauher wildschöner Berge, deren Gipfel über die Wolken ragten.
Es war eben die Mitte des Mai und der Morgen wunderschön, als Herr Allworthy auf die Terrasse trat, wo das beginnende Tageslicht jene reizende Aussicht, die wir eben beschrieben haben, seinem Auge mit jeder Minute mehr und mehr enthüllte. Und jetzt ging die Sonne, nachdem sie Ströme von Licht entsendet, die an dem blauen Firmamente vor ihr emporstiegen als Boten ihrer Herrlichkeit, in der ganzen Strahlenpracht ihrer Majestät auf. Nur ein Wesen in dieser niedern Schöpfung konnte herrlicher sein als sie und dies war Herr Allworthy, ein Mann mit dem wohlwollendsten Herzen, der sich eben mit dem Gedanken beschäftigte, in welcher Weise er sich seinem Schöpfer angenehmer mache, indem er den Geschöpfen desselben des meiste Gute erzeige. Leser sieh Dich vor. Ich habe Dich unvorsichtig auf eine Höhe geführt, gleich dem Gipfel des Hügels Allworthy's, und ich weiß nun nicht, wie ich Dich wieder herunterbringe, ohne daß Du den Hals brichst. Wir wollen versuchen, neben einander hinabzugleiten, denn die Klingel der Miß Brigitte ertönt und Herr Allworthy wird zum Frühstück gerufen, bei dem ich zugegen sein muß und zu welchem Du mich begleiten magst, wenn es Dir gefällig ist.
Nachdem die gewöhnlichen Complimente zwischen Herrn Allworthy und Brigitten vorüber waren und sie den Thee eingeschenkt hatte, rief er die Jungfer Wilkins und sagte seiner Schwester, er habe ein Geschenk für sie. Sie dankte ihm dafür, denn sie meinte wohl, es sei ein Kleid oder irgend ein Schmuck. Er machte ihr öfters solche Geschenke und sie verwendete, ihm zu Gefallen, ziemlich viel Zeit auf ihren Putz. Ich sage, »ihm zu Gefallen«, weil sie selbst sich immer sehr verächtlich über den Putz und die Frauenzimmer äußerte, welche sich viel damit beschäftigten.
Wie sehr wurde ihre Erwartung getäuscht, wenn sie wirklich einen Schmuck zu erhalten hoffte, als die Jungfer Wilkins in Folge des Befehls, den sie von ihrem Herrn erhalten hatte, das kleine Kind brachte! Bei großen Ueberraschungen pflegt der Mensch zu schweigen; so schwieg auch Brigitte, bis ihr Bruder das Wort nahm und ihr den ganzen Hergang erzählte, den wir nicht wiederholen wollen, da er dem Leser bereits bekannt ist.
Miß Brigitte hatte immer so große Stücke auf das gehalten, was die Frauen Tugend zu nennen belieben und dieselbe stets so streng geübt, daß man, namentlich Jungfer Wilkins, erwartete, sie würde sich bei dieser Gelegenheit sehr bitter aussprechen und dafür stimmen, das Kind, als sei dasselbe ein schädliches Geschöpf, aus dem Hause fortzuschaffen; indeß sie faßte die gute Seite der Sache auf, äußerte Theilnahme und Mitleid mit dem hilflosen kleinen Wesen und rühmte ihres Bruders Gutmüthigkeit in dem, was er gethan.
Der Leser kann sich dies Benehmen vielleicht aus ihrem Gehorsam gegen den Herrn Allworthy erklären, wenn wir hinzugesetzt haben, daß der gute Mann seine Erzählung mit dem Ausspruch beschloß, er sei entschlossen, sich des Kindes anzunehmen und dasselbe zu erziehen, als sei es sein eigenes. Wir müssen die Wahrheit gestehen und sagen, daß sie immer bereitwillig war, ihrem Bruder gefällig zu sein und ihm selten, wenn jemals, entgegentrat. Sie machte zwar bisweilen einige Bemerkungen und Einwendungen, z. B. die Männer wären nun einmal eigensinnig und wollten immer ihren eigenen Weg gehen, oder sie wünsche, sie sei unabhängig, aber sie äußerte dies immer ganz leise und brachte es dabei höchstens bis zum Murmeln.
Was sie indeß dem Kinde nicht entgelten ließ, mußte die arme unbekannte Mutter desselben im reichlichen Maße leiden, denn sie nannte dieselbe einen unverschämten Nickel, ein schlechtes Mensch, eine gemeine Hure und mit ähnlichen Namen, welche die Zunge der Tugend stets gegen die schleudert, welche dem Geschlechte Schande gemacht haben.
Zuletzt wurde eine Berathung gehalten, wie man es anfange, um die Mutter ausfindig zu machen. Zuerst ging man die Dienerinnen im Hause durch, welche sämmtlich von der Jungfer Wilkins freigesprochen wurden und zwar etwas selbstgefällig, denn sie hatte dieselben ins Haus gebracht und es dürfte schwer sein, eine zweite ähnliche Sammlung von Vogelscheuchen zusammenzubringen. Darauf sah man sich unter den Mädchen in dem Kirchspiele um; die nähere Untersuchung dieses Punktes wurde indeß der Jungfer Wilkins überlassen, die versprach, am Nachmittage Bericht abzustatten.
Nachdem die Sache so geordnet war, begab sich Herr Allworthy in sein Studirzimmer, wie gewöhnlich, und überließ das Kind seiner Schwester, welche die Pflege desselben auf seinen Wunsch über sich genommen hatte.
Enthält einige gewöhnliche Dinge und eine sehr ungewöhnliche Bemerkung über dieselben.
Als der Herr sich entfernt hatte, blieb Jungfer Deborah stehen und schien etwas von Miß Brigitte zu erwarten, denn die kluge Haushälterin verließ sich nicht auf das, was im Beisein des Herrn geschehen war, da sie sich gar oft überzeugt hatte, daß die Ansichten der Dame in der Abwesenheit ihres Bruders himmelweit von denen verschieden waren, welche sie in dessen Gegenwart geäußert hatte. Miß Brigitte ließ sie nicht lange in dieser ungewissen Lage, denn nachdem sie das Kind, das schlafend in Deborah's Schooße lag, eine Zeit lang ernst betrachtet hatte, gab sie demselben einen herzlichen Kuß und erklärte zu gleicher Zeit, daß ihr das hübsche unschuldige Kind ungemein gefalle. Jungfer Deborah hatte dies kaum bemerkt, so fing auch sie an, das Kind zu drücken und zu küssen, in so großem Entzücken, wie eine fünfundvierzigjährige Braut über ihren jungen und kräftigen Bräutigam, und rief dabei in kreischendem Tone aus: »Das kleine liebe Wesen! Das kleine, hübsche liebe Kind! Das Knäbchen ist so hübsch, als ich irgend eines gesehen habe.«
Diese Ausrufungen hörten nicht auf, bis sie von dem Fräulein unterbrochen wurden, die den von ihrem Bruder erhaltenen Auftrag auszuführen anfing, und Befehle gab und Anstalten traf, das Kind mit allem Nöthigen zu versehen, und ein sehr hübsches Zimmer im Hause zur Kinderstube anwies. Sie hätte nicht anders handeln können, wäre das Kind ihr eigenes gewesen; damit aber der tugendhafte Leser sie nicht verdamme, weil sie zu viel Rücksicht auf ein in Sünden geborenes Kind nahm, müssen wir hinzufügen, daß sie die Anordnungen mit den Worten beschloß: »da es ihrem Bruder einmal in den Sinn gekommen sei, das kleine Kind anzunehmen, so müsse dasselbe auch mit großer Zärtlichkeit behandelt werden; sie für ihren Theil halte dies zwar für eine Unterstützung und Ermuthigung des Lasters, kenne aber auch den Eigensinn der Männer zu gut, als daß es ihr einfallen könnte, sich deren lächerlichen Launen widersetzen zu wollen.«
Mit solchen oder ähnlichen Reflexionen pflegte sie, wie bereits angedeutet, das jedesmalige Nachgeben gegen ihren Bruder zu begleiten, und es konnte gewiß das Verdienstliche dieses Nachgebens durch nichts mehr erhöhet werden, als durch die Erklärung, daß sie recht wohl wisse, wie thöricht und unverständig die Menschen wären, in die sie sich fügte. Schweigender Gehorsam legt dem Willen keinen Zwang an und kann folglich leicht und ohne viele Mühe geleistet werden; wenn aber eine Frau, ein Kind, ein Verwandter oder ein Freund mit Widerstreben und unwillig, mit Worten des Mißbehagens und der Unzufriedenheit thut, was wir wünschen, so muß die offenbare Schwierigkeit, die sie zu überwinden haben, den Werth des Gehorsams um vieles steigern.
Da dies eine der tiefsinnigen Bemerkungen ist, die wenige Leser selbst zu machen fähig sein dürften, so hielt ich es für schicklich, ihnen beizustehen; dies ist indeß eine Begünstigung, die sie im Verlaufe meines Werkes nur selten erwarten dürfen. Ich werde selten oder nie ihnen einen solchen Gefallen erzeigen, außer in Fällen, wie der vorliegende, wo die Entdeckung nur durch die Inspiration gemacht werden kann, mit der wir Schriftsteller begabt sind.
Jungfer Deborah wird mit einem Gleichnisse in das Kirchspiel begleitet. Eine kurze Schilderung von Jenny Jones, so wie von den Schwierigkeiten und Entmuthigungen, welche jungen Mädchen im Verlaufe ihrer Bildung begegnen können.
Jungfer Deborah schickte sich an, nachdem sie nach dem Willen ihres Herrn für das Kind gesorgt hatte, die Häuser zu besuchen, die der Vermuthung nach eine Mutter enthalten konnten.
Wenn der Geier, der schreckliche Vogel! von dem gefiederten Geschlechte hoch oben in den Lüften schwebend erblickt wird, so macht die verliebte Taube und jeder unschuldige kleine Vogel weit und breit im Umkreise herum Lärm und sie fliegen zitternd nach ihrem Verstecke. Er aber schießt stolz, seiner Würde sich bewußt, durch die Luft und sinnt nach, wie er Böses thue.
So liefen, als die Annäherung der Jungfer Deborah durch die Straße hinab verkündigt wurde, alle Bewohner zitternd in ihre Häuser und jede Frau fürchtete, der Besuch könne sie betreffen. Sie aber schritt stolz und stattlich einher und trug hoch den Kopf, der mit dem Wahne von ihrer Vortrefflichkeit erfüllt war und mit Plänen, wie sie ihre beabsichtigte Entdeckung bewirke.
Der scharfsinnige Leser darf nach diesem Gleichnisse nicht etwa meinen, die armen Leute hätten die Absicht geahnt, mit welcher Jungfer Deborah zu ihnen kam; da aber die große Schönheit dieses Vergleichs möglicher Weise hundert Jahre verborgen bleiben könnte, bis ein Erklärer einmal das Werk zur Hand nimmt, so halte ich es für zweckmäßig, hier dem Leser zu Hilfe zu kommen.
Ich will nämlich sagen, daß, wie es in der Natur des Geiers liegt, kleine Vögel zu verzehren, die Natur solcher Personen, wie der Jungfer Deborah, gleichsam darauf hingewiesen ist, kleine Leute zu kränken und zu tyrannisiren; indem sie auf diese Weise sich für die außerordentliche Unterthänigkeit gegen ihre Vorgesetzten zu entschädigen pflegen. Nichts kann vernünftiger sein, als daß Sclaven und Schmeichler dasselbe von allen unter ihnen verlangen, was sie selbst den über ihnen Stehenden leisten müssen.
So oft Jungfer Deborah sich in ungewöhnlicher Weise dem Willen der Miß Brigitte fügen mußte und ihr Gemüth dadurch ein wenig verstimmt worden war, pflegte sie unter jene Leute zu gehen, um die Harmonie in ihren Gefühlen dadurch wieder herzustellen, daß sie jede übele Laune ausließ. Deshalb war sie keineswegs ein gern gesehener Gast und vielmehr von allen gefürchtet und gehaßt.
Als sie bei dieser Gelegenheit in dem Orte ankam, begab sie sich sogleich in das Haus einer ältlichen Frau, der sie im Allgemeinen günstiger war als den übrigen, weil sie ihr glücklicher Weise in den Reizen der Person, so wie im Alter glich. Dieser Frau erzählte sie, was geschehen war, theilte ihr auch die Absicht mit, welche sie schon am Vormittage herführe. Beide begannen darauf mehrere junge Mädchen durchzunehmen, welche da wohnten, und ihr stärkster Verdacht fiel endlich auf eine gewisse Jenny Jones, der, und darin stimmten beide überein, am Wahrscheinlichsten das Geschehene zugetraut werden konnte.
Diese Jenny Jones war kein eben hübsches Mädchen, weder von Gesicht noch von Gestalt; die Natur hatte aber den Mangel an Schönheit einigermaßen durch das ersetzt, was meist höher geschätzt wird von den Frauen, deren Urtheil mit den Jahren zu vollkommener Reife gekommen ist, denn sie hatte ihr einen ungewöhnlichen Theil Verstand gegeben. Diese Gabe der Natur hatte Jenny durch Studium noch bedeutend verbessert. Sie war mehrere Jahre bei einem Schulmeister in Dienst gewesen, der die schnelle Fassungskraft des Mädchens und deren außerordentliches Verlangen nach Bildung bemerkte (denn sobald sie Zeit hatte, las sie in den Büchern der Schüler) und gutmüthig oder thöricht genug war (wie es der Leser zu nennen beliebt), ihr Unterricht zu geben und sie so weit zu bringen, daß sie das Lateinische vollkommen verstehen lernte und vielleicht im Ganzen eben so gelehrt war, als es die meisten jungen Herrn von Stande sind. Dieser Vorzug verband sich indeß, wie es mit den meisten andern ungewöhnlichen der Fall ist, mit einigen kleinen Unannehmlichkeiten; denn da es nicht zu verwundern ist, wenn ein junges so gebildetes Mädchen keinen großen Geschmack an dem Umgange derer findet, die dem Stande nach ihres Gleichen sind, der Bildung und den Kenntnissen nach aber so weit unter ihr stehen, so darf man auch nicht erstaunen, daß diese Ueberlegenheit Jenny's, so wie das Benehmen, welches die sichere Folge davon zu sein pflegt, bei den übrigen Neid und Uebelwollen gegen sie erregte, die vielleicht in den Herzen ihrer Nachbarn im Stillen gebrannt hatten, seit Jenny aus ihrem Dienste zurückgekommen war.
Ihr Neid zeigte sich indeß nicht öffentlich, bis die arme Jenny zur Verwunderung Aller und zum Aerger aller jungen Mädchen des Ortes eines Sonntags öffentlich in einem neuen seidenen Kleide, einem Spitzenhäubchen u. s. w. erschien.
Das Feuer, das vorher in der Asche geschlummert hatte, loderte jetzt mit einem Male auf. Jenny hatte durch ihre Gelehrsamkeit ihren Stolz gesteigert, den keiner ihrer Nachbarn freundlich mit der Ehrenbezeugung nährte, die sie zu verlangen schien, und jetzt erhielt sie statt Achtung und Verehrung wegen ihres Putzes nichts als Haß und Schmähung. Die ganze Gemeinde erklärte, sie könne zu diesen Dingen unmöglich auf rechtliche Weise gekommen sein und die Aeltern, statt ihren Töchtern dasselbe zu wünschen, priesen sich glücklich, daß ihre Kinder dergleichen nicht hätten.
Daher kam es vielleicht auch, daß die gute Frau der Jungfer Wilkins zuerst den Namen dieses armen Mädchens nannte; ein anderer Umstand aber bestärkte Deborah in ihrem Verdachte: Jenny war in der letzten Zeit häufig in dem Hause des Herrn Allworthy gewesen. Sie hatte Miß Brigitte in deren gefährlicher Krankheit gewartet und viele Nächte bei derselben gewacht; überdies war sie drei Tage vor der Rückkehr des Herrn Allworthy von der Jungfer Wilkins selbst da gesehen worden, obgleich die kluge Person anfänglich keinen Verdacht deshalb auf sie gehabt hatte, da sie, wie sie sich selbst ausdrückte, Jenny immer für ein sehr ordentliches Mädchen gehalten (ob sie gleich wenig von ihr wußte) und ihr Verdacht mehr auf jene leichtfertigen Dinger gefallen war, die die Nase hoch trugen, weil sie sich für hübsch hielten.
