Toskanische Schatten - Antonello Rossi - E-Book

Toskanische Schatten E-Book

Antonello Rossi

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein römischer Eliteagent auf Verbrecherjagd in der toskanischen Provinz – Vorhang auf für Sonderermittler Francesco Scotti und seinen ersten Fall!

Montecatini, ein malerisches Dorf inmitten der toskanischen Hügellandschaft. Ein halbes Leben war Francesco Scotti nicht mehr hier, ermittelt er doch schon lange als Eliteagent in Neapel gegen die Mafia. Solange nicht klar ist, ob er bei einer Razzia aufgeflogen ist, muss er in seiner Heimat untertauchen und sich als kleiner Provinzermittler ausgeben.
Scotti fügt sich nur widerwillig in sein Schicksal. Aber gut, er wird es sich hier gemütlich machen. Dolce Vita und guter Wein wann immer möglich. Doch dann wird die Leiche des 80-jährigen Orlando Palmieri gefunden. Was zunächst wie ein Unfall aussieht, entpuppt sich als perfides Mordkomplott, das dem versierten Kriminalisten alles abverlangt ...

Spannung all'italiana vor der Kulisse der wunderschönen Toskana!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 450

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Buch

Montecatini, ein malerisches Dorf inmitten der toskanischen Hügellandschaft. Ein halbes Leben war Francesco Scotti nicht mehr hier, ermittelt er doch schon lange als Eliteagent in Neapel gegen die Mafia. Solange nicht klar ist, ob er bei einer Razzia aufgeflogen ist, muss er in seiner Heimat untertauchen und sich als kleiner Provinzermittler ausgeben. Scotti fügt sich nur widerwillig in sein Schicksal. Aber gut, er wird es sich hier gemütlich machen. Dolce Vita und guter Wein wann immer möglich. Doch dann wird die Leiche des 80-jährigen Orlando Palmieri gefunden. Was zunächst wie ein Unfall aussieht, entpuppt sich als perfides Mordkomplott, das dem versierten Kriminalisten alles abverlangt …

Autor

Antonello Rossi ist ein Pseudonym. Wenn er nicht in der Toskana weilt, lebt und arbeitet der Autor in Deutschland. »Toskanische Schatten« ist der erste Roman einer geplanten Reihe um Commissario Francesco Scotti. Die Verrücktheit und Herzlichkeit der Italiener, für die ein Caffè mehr Kultur als Heißgetränk ist, lässt Rossi ebenso in seinen Roman einfließen wie die Liebe zu Landschaft und »Dolce Vita«.

Antonello Rossi

Toskanische

Schatten

Ein Fall für Kommissar Scotti

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

»Dieses Buch orientiert sich zwar an einem tatsächlich existierenden Ort, nämlich Montecatini Val di Cecina, ist aber ein Werk der Fantasie, ein Roman. Die in diesem Roman geschilderten Handlungen sind deshalb keinesfalls als Schilderungen tatsächlicher Ereignisse zu verstehen. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig und in keiner Weise beabsichtigt.«

Originalausgabe 2024 by Blanvalet

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2024 by Antonello Rossi

Umschlaggestaltung und -motiv: Johannes Wiebel | punchdesign;

unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com

(Erin Cadigan; robertonencini; ART-poster; Birol Dincer)

KW · Herstellung: sam

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-31359-3V002

www.blanvalet.de

Prolog

Er sah den Altarraum nur verschwommen. Schon den ganzen Morgen war ihm übel, ein bisschen frische Luft würde sicher nicht schaden. Mit schwerem Atem zog er sich an der Kirchenbank hoch und blickte dabei auf seine knöchernen Hände. Hände, die von einem achtzigjährigen Leben erzählten. Einem erfüllten Leben. Hier und da ein paar Farbreste an den Fingern, bis tief in die Nacht hatte er gearbeitet. Gemalt.

Er trat ins Freie und ging zwischen den Häusern bis zum Rand des Felsens, auf den der Ort gebaut worden war. Die frische Luft tat gut. Von hier aus überblickte man das gesamte Tal. Wie oft hatte er hier gestanden. Mit Teresa. Seiner geliebten Teresa. »Bleib doch im Bett, wenn dir nicht gut ist«, hatte sie noch am Morgen gesagt, »Don Bartolomeo wird den Gottesdienst auch ohne dich feiern.«

Aber sein schlechtes Gewissen trieb ihn.

Er sah hinab auf den Wald, der tief unter ihm lag, lehnte sich an die hüfthohe Mauer aus Ziegel und schloss für einen Moment die Augen. Als er sie das nächste Mal öffnete, flog er durch die Luft. Nein, das war kein Traum. Er stürzte von dem vierhundert Meter hoch gelegenen Ort in die Tiefe. Wie war das möglich? Hatte er das Gleichgewicht verloren? War er ausgerutscht? In einem Moment der Verzweiflung gesprungen? Oder hatte man ihn gar gestoßen? Er wusste es nicht. Er wusste nur, das waren seine letzten Sekunden. Der Wind kämmte sein schütteres Haar. Durch den freien Fall fiel das Atmen schwer, er wollte so gerne noch einen letzten Atemzug nehmen, von dieser lauen Frühlingsluft, die er so sehr liebte. In rasender Geschwindigkeit kamen die Baumwipfel näher. Mit letzter Kraft streckte er die Arme aus und hielt die Hände, als könnten sie ihn vor dem Aufprall schützen. Wieder sah er die Farbreste an den Fingern. Er dachte: Ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen.

Dann verlor er das Bewusstsein.

Kapitel 1

Es war einer dieser wunderbaren toskanischen Frühlingstage im Mai. Die Sonne tauchte die Weite der Landschaft in dieses magische Licht, das schon Leonardo da Vinci und Michelangelo zu ihren besten Werken inspiriert hatte. Die Luft war klar an diesem Montagvormittag, die vorhergesagte Schwüle ausgeblieben, das Blau des Himmels schärfte die Konturen der sanften Hügelketten.

Der alte Fiat von Francesco Scotti quälte sich die steile Serpentine hoch nach Montecatini. Der Eliteagent der Polizia di Stato in Rom drückte das Gaspedal durch. Hinter der ersten Haarnadelkurve wurde es so steil, dass der Motor aufheulte. Auf der Hälfte der Strecke fuhr er in eine Ausbuchtung, stieg aus und lehnte sich an eine Pinie. Es duftete nach Salbei und Rosmarin, doch der Schmerz in der Hüfte nahm ihm die Luft zum Atmen. Für einen Moment schloss er die Augen, als sein Telefon klingelte. Er blickte auf das Display und sah, dass Marta anrief, die beste Freundin seiner verstorbenen Mutter. Er drückte auf Annehmen.

»Ciao, Marta!«

»Ciao, Francesco, bist du schon in Montecatini?«

»Ich mache gerade eine Pause«, Francesco Scotti holte tief Luft, durch den Schmerz in der Hüfte fiel ihm das Sprechen schwer, »in fünf Minuten bin ich da.«

»Du klingst so gehetzt, ist alles in Ordnung?«

»Ja, alles in Ordnung … Ich habe nur auf dem Parkplatz ein paar Kniebeugen gemacht, ich war etwas müde von der langen Fahrt.«

»Und sie haben dich tatsächlich strafversetzt? Ausgerechnet zu uns?«

»Ja, strafversetzt. In die Polizeistation Volterra.«

»Das ist wunderbar! Also nicht, dass du strafversetzt wurdest, sondern dass wir dich dadurch nach all der Zeit endlich mal wiedersehen.«

Scotti schnürte es die Kehle zu bei dem Gedanken, dass Marta in den ganzen Jahren vergeblich auf ein Lebenszeichen von ihm gewartet hatte. Als er sie letzte Woche anrief und um eine Unterkunft bat, erkannte sie seine Stimme kaum wieder. Zwanzig Jahre hatte er sich nicht bei ihr gemeldet. Zwanzig Jahre war er nicht mehr hier gewesen, in seinem Heimatdorf. Wie sollte er auch? Als sein Schulfreund Pedro ihn damals zur Polizia di Stato nach Rom holte, konnte er nicht ahnen, dass er bei der DIA, der Direzione Investigativa Antimafia, landen würde. Höchste Geheimhaltungsstufe.

»Hör zu, Francesco, bei uns ist heute niemand zu Hause. Valerio hat einen Arzttermin und ich bin noch bei meinem Patenkind in Arezzo. Den Schlüssel habe ich bei Angelo in der Bar hinterlegt. Morgen Abend bin ich zurück.«

»Gut, dann weiß ich Bescheid. Ich komme in den nächsten Tagen mal vorbei.«

»Francesco, mein lieber Francesco. Du glaubst gar nicht, wie wir uns freuen, dich wiederzusehen.«

»Ich freu mich auch auf euch. Weißt du, in den letzten Jahren …«

»Ist schon gut, mein Junge«, fiel Marta ihm ins Wort, »du wirst deine Gründe gehabt haben.«

Sie beteuerten noch ein paarmal, wie sehr sie sich aufeinander freuten, verabschiedeten sich und legten auf.

Strafversetzt. Scotti schüttelte den Kopf. Niemand durfte erfahren, dass seine Strafversetzung nur vorgeschoben war, nicht einmal Marta.

Natürlich nahm sie ihn bei sich auf. Das zweite Mal in seinem Leben. Das erste Mal war vor fast dreißig Jahren nach dem Tod seiner Mutter gewesen. Nur brauchte er diesmal nicht auf dem Sofa in der engen Wohnung zu schlafen. Marta brachte ihn in ihrem Ferienhaus in Ligia unter, ein paar Hundert Meter unterhalb des malerischen Bergdorfs, zu dem er jetzt unterwegs war. Bis zur Hochsaison konnte er dort wohnen.

Abermals holte Francesco Scotti tief Luft und spürte durch seinen Anzug hindurch die Rinde der Pinie an seinem Rücken. Er blickte in die Ebene, sah die geschmeidigen Hügel, deren Rundungen ihn an die neapolitanischen Frauen denken ließen, hier und da ein Landhaus, zu dem sich ein mit Zypressen gesäumter Weg schlängelte. Ein Blick wie auf die Leinwand eines dieser Hobbymaler, die auf den Straßen von Florenz oder Siena ihre Bilder feilboten. Pittoreske Postkartenidylle. Für ihn zu kitschig, zu ruhig. Wie sollte er es hier nur aushalten? Aber das würde niemand verstehen. So, wie niemand verstand, dass er sich in Rom zwei Schlangen als Haustiere in einem Terrarium hielt, um die sich vorerst Pedro kümmerte.

Der Schmerz in der Seite verstärkte sich, ein immer schneller werdendes Pulsieren, sein Herz raste.

Hätte er Marta die Wahrheit sagen sollen? Es gehörte zu seinem Job, nicht über die Vergangenheit zu reden. Er konnte ihr nicht einfach erzählen, dass er in den letzten zwei Jahrzehnten für eine Eliteeinheit des Innenministeriums in den Kreisen der Camorra in Neapel verdeckt ermittelt hatte. Im Grunde gab es den Polizisten Francesco Scotti in den letzten zwanzig Jahren nicht mehr: anderer Name, anderes Aussehen, andere Identität. Als vor drei Monaten bei einem lang geplanten Einsatz alles schiefgegangen war, was schiefgehen konnte, hatte er seine alte Identität angenommen. Nun musste er erst einmal von der Bildfläche verschwinden. Selbst Rom war da noch zu nah dran.

Das Telefon riss Francesco Scotti aus seinen Gedanken. Marcello Firmini, sein Chef aus dem Innenministerium, meldete sich.

»Wo bist du, Francesco? Hast du dich schon bei Tenente Ugobaldo in Volterra vorgestellt?«

»Ich hole zuerst den Schlüssel für meine Wohnung. Mit Ugobaldo treffe ich mich nach dem Mittagessen.«

»Du darfst keinem ein Sterbenswörtchen sagen. Du bist nie bei der DIA gewesen, hast du gehört? Ich kann mich doch auf dich verlassen?«

Natürlich konnte Firmini das. Wie hätte er sonst die ganzen Jahre als verdeckter Ermittler arbeiten können?

»Ugobaldo weiß nur, dass du bei einer Spezialeinheit warst, die dem Innenministerium unterstellt ist. Der Tenente denkt, du warst im Innendienst. Schreibtischtäter.« Firmini lachte sein heiseres Lachen. »Das Beste ist, du erholst dich von dem Anschlag und kommst mal richtig runter. Ein bisschen Polizeiarbeit auf dem Land. Das lenkt ab. Viel ist eh nicht zu tun bei euch da oben. Und noch etwas: Ich hab dem Tenente gesagt, dass wir dich wegen interner Querelen strafversetzt und zum Commissario degradiert haben.«

»Interne Querelen? Was soll das denn hei…«

»Offiziell ist der Tenente jetzt dein Vorgesetzter«, unterbrach ihn Firmini, »also mach mir keine Schande. Ich muss aufhören, ein Anruf auf der anderen Leitung.«

»Und wann holst du mich zurück nach Rom?«

»Ciao, ich melde mich.«

Firmini hatte aufgelegt.

Scotti lief zu seinem Wagen und stieg ein. Auch der alte Fiat war eine Idee Firminis. Sein Chef in Rom war der Meinung, mit der Karre würde er auf dem Land nicht auffallen. Hatte er bei dem Auto noch nachgegeben, sah das bei den Schuhen von Salvatore Ferragamo und den Anzügen von Caruso anders aus. Ein bisschen Luxus musste sein. Er ließ den Motor an und griff unwillkürlich in die Brusttasche seines Anzugs, wo jahrelang zuverlässig ein Päckchen Zigarillos gesteckt hatte. Mit einem Fluch auf den Lippen öffnete er das Handschuhfach und kramte nach einem Nikotinkaugummi, fand aber keins. Merda!

Kapitel 2

Francesco Scotti parkte an der Piazza della Repubblica im Zentrum des Ortes. Hier trafen sich die Menschen von Montecatini in der Bar di Carlotta e Angelo am Morgen auf einen Caffèund am Nachmittag auf einen Grappa. Er erinnerte sich, wie er als kleiner Junge in kurzen Hosen unter den Platanen auf einer Bank saß und auf seine Mutter wartete, die mit dem Bus aus der Stadt von der Arbeit kam. Manchmal kletterte er auf den Bänken herum oder sah den Alten beim Boccia-Spiel zu. Damals war ein Teil der Piazza noch nicht gepflastert, die Kugeln blieben gut liegen auf dem sandigen Boden. Meist spielten der Fleischer Nicoli, der Friseur Martino und der alte Octavio, der immer eine Schirmmütze trug und eine filterlose Esportazione im Mundwinkel hatte. Sie waren damals schon Rentner. Seit Martino seinen Friseursalon dichtgemacht hatte, fuhren die Menschen zum Stutzen ihres Haupthaars nach Ponteginori, für Nicolis macelleria gab es keinen Ersatz in der Nähe. Eine kleine Auswahl an Fleisch und Wurstwaren fand man im alimentari, wollte man mehr, musste man nach Volterra.

Eine Weile beobachtete Francesco Scotti aus seinem Fiat heraus das gemächliche Treiben auf der Piazza. Ihm fiel ein, wie er sich als kleiner Junge ein Fahrrad wünschte und seine Mutter ihm die Geschichte vom Sternenstaub erzählte. Sie sagte: »Wünsche sind in Sternenstaub gemalte Hoffnungen, der Wind weht sie davon, und wenn du Glück hast, fängt ein Engel sie ein und erfüllt sie dir eines Tages.« Ein paar Tage später saßen sie genau an der Stelle, wo die Alten ihre Kugeln warfen, auf einer Bank und aßen ein Eis. An diesem Tag war von den Spielern nichts zu sehen. »Stell dir vor, das wäre kein Sand, sondern Sternenstaub«, sagte sie. Und wie von Zauberhand begann der Sand zu funkeln, was natürlich an der Sonne lag, die die winzigen Kristalle zwischen den Körnchen zum Glitzern brachte. Seine Mutter hockte sich hin und malte mit dem Finger etwas in den Sand, das aussah wie ein Fahrrad. Für sich selbst malte sie ein Herz. Und tatsächlich, zu seinem achten Geburtstag bekam er ein Fahrrad geschenkt. Seine Mutter hatte nicht so viel Glück, kein Engel fing ihren Wunsch ein, sein Vater ließ sich nie wieder blicken.

Als Jugendlicher schlich er sich nachts noch einmal an die Stelle auf der Piazza. Er wünschte sich eine Vespa. Am liebsten eine rote. Am Abend hatte er sich heimlich Mut angetrunken, denn es war ihm peinlich, als Vierzehnjähriger in den Sand Bilder zu malen. Die Vespa bekam er nie. Das mochte entweder daran gelegen haben, dass sein junger Magen den Schnaps nicht vertrug und er mitten in der Nacht an eine der Platanen kotzte oder dass er keine Vespa malen konnte und stattdessen den Namen Sofia in den Sand schrieb. Vielleicht lag es auch daran, dass keine zwei Jahre später seine Mutter starb und sie nicht genügend Zeit gehabt hatte, das Geld zu sparen.

Heute saßen die drei Alten an einem der Tische vor der Bar und spielten Briscola. Scotti kam es vor, als sei die Zeit stehen geblieben. Er erinnerte sich daran, wie er einmal den alten Octavio fragte, ob der Zigarettenstummel an seinem Mundwinkel angewachsen sei. Da nahm er ihn aus dem Mund, spuckte aus und rief: »Dir werd ich eins geben. Von wegen angewachsen.« Dabei sah man seine Zahnlücken. Er rauchte nur die Filterlosen aus Italien. Filterzigaretten seien Ami-Dreck, das sei doch allgemein bekannt. »In so einer Ami-Zigarette ist mehr Filter als Tabak«, pflegte er zu sagen. »Von den Dingern kriegst du krumme gelbe Finger. Sieh dir meine Finger an, kerzengerade und sauber.« Dabei schob er seine Esportazione in den Mundwinkel zurück und streckte beide Hände nach vorn. Der alte Octavio war überzeugt, dass die Amis etwas in den Tabak mischten, was die Menschen stupido machte. Als Italiener rauchte er italienische Zigaretten, basta. Er liebte sein Montecatini, und nach dem dritten Grappa schwor Octavio, dass er es noch nie verlassen habe. Auch nicht, um zum Zahnarzt zu gehen. Dabei zeigte er stolz seine noch vorhandenen Zähne. Es gab nicht wenige, die ihm seine Geschichte glaubten.

Inzwischen schrieb man das Jahr 2018, und Octavio musste an die hundert Jahre alt sein, was keine Seltenheit in Montecatini war. Man sagte diesem Ort eine gewisse Magie nach, die Menschen starben hier selten vor ihrem fünfundneunzigsten Geburtstag. Einige meinten, das läge an der Ruhe, andere schrieben diesen Umstand der gesunden Luft zu, wieder andere der nahe gelegenen Kupfermine. Der alte Octavio seinen filterlosen Zigaretten. Ein Dutzend Legenden rankten sich um Menschen, die bis zu einhundertzwanzig Jahre alt geworden sein sollten. Es gab ein paar Deutsche und Norweger, die jedes Jahr als Urlauber hergekommen waren und im fortgeschrittenen Alter dablieben, weil sie sich erhofften, die Magie des Ortes würde sie zu Methusalems machen.

Ansonsten verirrten sich kaum Touristen in das Bergdorf, zu schlecht und zu steil waren die beiden Zufahrtsstraßen. Die meisten blieben auf der Strada Regionale 439 und wollten schnell nach Cecina ans Meer oder vom Meer kommend nach Florenz und Pisa. Die wenigen, die es doch schafften, einen Abstecher zu machen, aßen bei Mama Gina im Sotto la Torre eine Pizza oder gönnten sich bei Antonia im Il Platano ein Menü und besichtigten anschließend die Kupfermine.

Ganz konnte sich der Ort dem Wandel der Zeit jedoch nicht entziehen. Ein Mobiltelefon besaß auch in Montecatini fast jeder, selbst der alte Octavio fand es chic, nicht jedes Mal nach Hause rennen zu müssen, wenn seine Tochter anrufen wollte. Auch das Internet zog mehr und mehr in die Haushalte ein zu Pasta und Limoncello. Musste vor Jahren noch das einzige Hotel mangels Besuchern schließen, spülten Airbnb und Ferienportale seit geraumer Zeit den einen oder anderen Urlauber ins Dorf, der eine Bleibe in den privaten Pensionen und Ferienwohnungen fand. Seit Claudio Sartori seine Drogerie in die Hände seiner Tochter Nicoletta übergeben hatte, lagen in den Auslagen vor dem Laden Seifen aus Ziegenmilch, handgefertigte Schälchen aus Alabaster und nach Lavendel duftende Lotionen.

Francesco Scotti verlagerte sein Gewicht auf dem engen Sitz des Fiats, um die schmerzende Hüfte zu entlasten. Im nächsten Moment knallte der alte Octavio auf der Piazza seine Karten auf den Tisch, stand auf, richtete seine Schirmmütze und humpelte in den kleinen Tabakladen neben der Bar. Gleich darauf kam er mit einer Schachtel Esportazione in der Hand zurück.

Scotti blickte auf seine Armbanduhr. Kurz vor halb zwölf. Es war noch genügend Zeit, mit Tenente Ugobaldo war er um vierzehn Uhr verabredet und bis Volterra brauchte er keine zwanzig Minuten. Er klappte die Sonnenblende nach unten und schaute in den Spiegel. An die blauen Augen musste er sich erst wieder gewöhnen. Für seine vierundvierzig Jahre hatte er ein paar Falten zu viel, aber der Kurzhaarschnitt stand ihm.

Wenige Minuten später betrat er die Bar von Carlotta und Angelo. Ein paar Gäste saßen aufgeregt gestikulierend an den Tischen, andere diskutierten lautstark im Stehen, sodass man sein eigenes Wort kaum verstand. Als sie ihn wahrnahmen, war es augenblicklich still. Von Carlotta war nichts zu sehen, Angelo stand hinter dem Tresen und polierte ein Glas.

»Der Herr wünschen?«, begrüßte er ihn.

Scotti schaute ihn an und lachte in sich hinein. Der Kerl hatte sich überhaupt nicht verändert. Als würde er ihm auf dem Schulhof gegenüberstehen, nur dreißig Jahre älter und mit Schnauzbart. Und sein Bauch, den er schon damals stolz vor sich hertrug, hatte etwas an Umfang gewonnen. Scotti spürte, wie Angelo ihn verlegen musterte. Die Gäste waren immer noch still oder murmelten etwas hinter vorgehaltener Hand.

»Was kann ich für Sie tun?«, wiederholte der Wirt mit distanzierter Stimme.

»Das ist nicht dein Ernst, Angelo.« Scotti breitete die Arme aus, als wollte er sagen: »Da bin ich!«

Angelo starrte ihn einen Augenblick an, dann entspannten sich seine Gesichtszüge.

»Francesco!«, rief er, schmiss sein Geschirrtuch in die Ecke und kam um den Tresen herum. Dann umarmten sich die beiden, wie sich zwei alte Schulfreunde, die sich eine Ewigkeit nicht gesehen haben, eben umarmten.

Augenblicklich wurde es wieder laut in der kleinen Bar, die Gäste diskutierten weiter, als wäre nichts gewesen. Angelo lockerte die Umarmung, hielt Scotti auf Armeslänge an den Schultern und schaute ihn von oben bis unten an.

»In diesem Aufzug hätte ich dich beinahe nicht erkannt.«

»Du hast mich nicht erkannt.«

»Laufen die in Rom alle mit solchen Klamotten rum?« Er pfiff anerkennend durch die Lippen. »Carlotta, Francesco ist da!«, rief er nach hinten. Dann wandte er sich wieder Scotti zu und senkte die Stimme: »Ich dachte, du wärest einer von der Steuer. Die kriechen doch jetzt überall herum, kommen bis ins letzte Loch und schnüffeln, ob sie uns noch was aus der Tasche ziehen können, um die Staatskasse aufzubessern.«

»Pass auf, was du sagst, ich arbeite immer noch bei der Polizei.«

Für einen Moment wurde es wieder leiser in der Bar, aber einen Augenblick später ging es erneut hoch her.

»Hab schon gehört«, sagte Angelo und trat wieder hinter den Tresen, »sie haben dich aus Rom verbannt. Marta hat es mir erzählt.«

»Francesco, mein Liebling«, schallte es hinter der Siebträgermaschine hervor und gleich darauf sah sich Scotti einer Flut von Küssen ausgesetzt. »Gut siehst du aus.« Carlotta betrachtete ihn und rief ihrem Mann zu, ohne den Blick von Scotti abzuwenden: »So sieht ein Mann von Welt aus, Angelo. Du könntest dir auch mal eine neue Hose kaufen. Hast du unserem Freund schon etwas angeboten?«

Angelo stellte ein Tablett mit drei Grappa auf den Tresen und sie stießen im Stehen an.

»Salute, Francesco! Auf unser Wiedersehen!«

Ehe Scotti sich versah, hielt er den zweiten Grappa in der Hand.

»Ein Zweiter geht noch, dann ist Schluss. Ich muss nach dem Mittagessen nach Volterra, mich bei meinem neuen Chef vorstellen. Da sollte ich einigermaßen nüchtern aufkreuzen.«

Nach dem vierten Grappa verabschiedete sich Carlotta, sie müsse nach hinten, Panini schmieren. Sie verschwand in der Küche, steckte aber den Kopf noch einmal aus der Tür, um Scotti zuzurufen: »Du kommst doch jetzt öfter vorbei? Und kauf dir was anderes zum Anziehen, in dem Fummel kannst du dich auf dem Land nirgendwo blicken lassen.«

»Ich sagte doch, du siehst aus wie einer von der Steuerfahndung. Oder von der Camorra. Ich überlege noch, was mir lieber wäre.« Angelo lachte.

Scotti zog es bei der Erwähnung der neapolitanischen Mafia die Eingeweide zusammen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er wieder die Gasse in Neapel vor sich. Er sah das Mündungsfeuer, er sah, wie seine Kollegen vor ihm tot zusammenbrachen. Tommaso. Simone. Auf einmal eine ohrenbetäubende Explosion, ein stechender Schmerz in der Hüfte, dann war es dunkel. Und dann kam dieses weiße Licht. Als er aufwachte, lag er in einem versteckten Spezialkrankenhaus der Regierung.

»Geht’s dir nicht gut?«, riss Angelo ihn aus seinen Gedanken.

»Doch, doch, ich bin nur etwas müde von der Fahrt.«

»Gib’s zu, du verträgst meinen Grappa nicht mehr.«

»Gut möglich!« Scotti versuchte zu lachen. Die lauten Diskussionen der Gäste dröhnten in seinem Kopf. Waren das die Nerven? Oder doch der Grappa? Vielleicht hätte er vorher etwas essen sollen. Er bestellte bei Angelo ein Panino mit Prosciutto und Pecorino und ließ es sich bei zwei Caffè und einer Karaffe Wasser schmecken. Der Prosciutto zerging auf der Zunge und der Pecorino war ein Gedicht.

»Ich dachte, in Montecatini ist es ruhig und beschaulich, aber in deiner Bar geht es zu wie in Rom auf der Piazza Navona«, sagte er mit vollem Mund.

»Das ist erst seit gestern so.« Angelo, der inzwischen wieder Gläser polierte, nickte in Richtung des Zeitungsständers.

Auf der Titelseite der Toscana Oggi prangte in großen Buchstaben die Schlagzeile: »Leiche am Fuße Sassas gefunden« Und darunter, etwas kleiner: »80-jähriger Maler aus Bolgheri ermordet?«

Nicht mein Revier, dachte Scotti, Bolgheri war über dreißig Kilometer entfernt und gehörte zu Cecina, er war nach Volterra abbestellt.

»Die ganze Gegend steht unter Schock. Den alten Palmieri kannte hier jeder. Ist erst vor zwei Jahren mit seiner Frau nach Bolgheri in die Nähe seines Sohnes gezogen. Deine Mutter hätte ihn sicher gekannt.«

Scotti erinnerte sich nicht an einen Maler mit dem Namen Palmieri. Das war alles so lange her. Und dann der Grappa. Er wollte zahlen, doch die Rechnung ging selbstverständlich aufs Haus. Beinahe hätte er vergessen, warum er überhaupt hier war.

»Mit den allerbesten Grüßen von Marta«, Angelo schob ihm den Wohnungsschlüssel des Ferienhauses über den Tresen. »Du sollst dich bald mal bei ihr blicken lassen. Sie ist heute noch in Arezzo bei ihrem Patenkind. Morgen Abend ist sie wieder da.«

»Ja, ich weiß«, murmelte Scotti, dass man ihn kaum verstand, nahm den Schlüssel und verabschiedete sich.

Kapitel 3

Francesco stand vor dem Spiegel, der in die Mitteltür des antiken Kleiderschrankes eingelassen war. Die Ferienwohnung war geräumig, ein Duschbad, ein Wohnzimmer mit kleiner Küchenzeile und Kamin, ein Schlafzimmer; draußen eine Terrasse und eine Wiese, die bis zu einem nahe gelegenen Wäldchen reichte. Den Fiat hatte er stehen lassen und war die paar Hundert Meter zu Fuß gegangen. Er wollte sich nur etwas frisch machen und später bei Mama Gina etwas essen gehen. Bis zum Treffen mit Ugobaldo war es noch über eine Stunde. Das Panino hatte Appetit gemacht und der Duft von gedünstetem Knoblauch, der aus der Pizzeria herübergezogen war, als er die Piazza della Repubblica überquert hatte, tat sein Übriges.

Scotti trat einen Schritt zurück und blickte auf seinen Anzug und die Schuhe. Ihm gefiel sein Outfit. Wenn Angelo ihn so schon nicht wiedererkannt hat, dann hätte er ihn mal vor einem Vierteljahr sehen sollen.

Zweimal im Monat war er all die Jahre über nach Cannes zum Friseur geflogen, um sich das Haar dunkler färben und Locken eindrehen zu lassen. Selbstverständlich auf Staatskosten. Der Amtsarzt der DIA verpasste ihm ein Paar dieser farbigen Kontaktlinsen und seine blauen Augen strahlten kastanienbraun. Dazu noch eine Hornbrille von Epos Milano mit Fensterglas, fertig war der Vollblut-Italiener. Zu seiner falschen Identität gehörte, dass er in der Nähe von Neapel geboren war. Zwar hatte seine Mutter ihn im Krankenhaus von Volterra zur Welt gebracht, aber seine stechend blauen Augen und die blonden Haare, die je nach Lichteinfall rötlich schimmerten, hätten seine Kontakte bei der Camorra misstrauisch werden lassen können. Beides war auf seine schottischen Wurzeln zurückzuführen. Sein Großvater stammte aus Aberdeen und hatte eine Italienerin geheiratet.

Sein Haar klebte verschwitzt am Kopf, und sein Magen knurrte, als er die Polizeistation in Volterra betrat und sich zu Tenente Ugobaldo durchfragte. Er war tatsächlich in voller Montur auf dem Bett eingeschlafen und erst kurz nach zwei Uhr aufgewacht. Schlecht gelaunt stand er vor zwei uniformierten Vice Brigadieri, die ihm den Weg zum Büro des Chefs wiesen und ihn mitleidig ansahen. Im Vorzimmer empfing ihn eine attraktive Signora, die sich ihm mit samtiger Stimme als Camilla Donati vorstellte und fragte, ob sie ihm etwas bringen könne.

»Ein Wasser vielleicht?«

Er nahm dankend an.

Camilla Donati mochte Mitte dreißig sein, ihr dunkles Haar fiel glatt bis auf die Schultern, über der rechten Oberlippe zierte sie ein winziger Leberfleck, der aussah, als hätte dort jemand mit schwarzer Tinte einen Punkt gemalt. Sie reichte ihm ein Glas frisches Wasser und sah Scotti mit einem Blick an, der seine Laune schlagartig verbesserte. Die Augen noch auf Signora Donati geheftet, betrat er das Büro seines Chefs.

Tenente Ugobaldo, ein untersetzter Herr mittleren Alters mit Halbglatze und Mundgeruch, wartete bereits seit fünfundzwanzig Minuten.

»Buongiorno, Tenente.«

»Nennen Sie das vierzehn Uhr?«, erwiderte Ugobaldo den Gruß und blickte dabei demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Ich erwarte Pünktlichkeit von meinen Mitarbeitern.«

Pünktlichkeit? Wie war der denn drauf? Es war doch noch nicht einmal halb drei.

»Wir sind hier nicht in Rom, hier gelten meine Spielregeln. Glauben Sie nicht, dass ich Ihnen solche Mätzchen durchgehen lasse.«

So ein Arschloch. Was glaubte er, wen er vor sich hatte? Scottis Pulsschlag blieb normal. Solchen Pfeifen war er in seiner Karriere schon oft genug begegnet. Wichtigtuer, die, wenn es darauf ankam, kläglich versagten.

»So. Und jetzt stelle ich Ihnen Ihre zukünftigen Mitarbeiter vor.« Er griff zum Telefon und sprach in den Hörer: »Ajello und Pepe, es ist so weit. Der Commissario aus Rom ist eingetroffen.«

Erst jetzt bat er Scotti, sich zu setzen. Dieser wählte nicht den Stuhl direkt vor dem Schreibtisch, sondern pflanzte sich auf einen Sessel in der Nähe der Tür, der zu einer Sitzgruppe gehörte. Je größer der Abstand zu diesem Clown, umso besser. Auf dem Beistelltisch, der vom Sperrmüll hätte sein können, standen ein Aschenbecher und eine Vase mit Plastikblumen. Einen Augenblick überlegte Scotti, ob er wieder aufstehen sollte. Er hatte seinen Caruso an und der Sessel erschien ihm schmieriger als eine Klobrille in einer Autobahnraststätte.

Es klopfte. Ugobaldo bat herein und das Büro betraten die beiden Vice Brigadieri aus dem Vestibül.

»Vice Brigadiere Ajello, Vice Brigadiere Pepe, darf ich vorstellen: Commissario Scotti, ehemals Innenministerium in Rom.« Ugobaldos Stimme triefte vor Spott bei den letzten Worten.

Scotti erhob sich und die Vice Brigadieri knallten die Hacken zusammen und salutierten. Ugobaldo stand ebenfalls auf und kam um seinen Schreibtisch herum. Die beiden Vice Brigadieri mit den Handflächen beschwichtigend, sagte er: »Nun übertreiben Sie mal nicht mit Ihrer Salutiererei. Wir sind hier nicht bei der Schweizer Garde und ein Commissario ist kein Papst.«

Die beiden grinsten, nahmen ihre Mützen ab und lockerten die Haltung.

»Ich habe dem Commissario bereits gesagt, dass ich keine Mätzchen dulde. Keine Extras, keine Alleingänge wie in Rom.«

Bei jeder Atempause, die der Tenente einlegte, hielten die Vice Brigadieri ihre Mütze vor die Brust und neigten das Haupt wie eine Klosterschwester vor dem Allerheiligsten.

»Wenn er sich auf unseren Arbeitsstil einlässt, wird er schnell mitbekommen, mit welchen Methoden wir arbeiten und was hier abläuft.«

Was hier ablief, war glasklar. Der Tenente hatte die beiden nur kommen lassen, weil ihm die Bühne sonst zu klein war. Das Ganze wirkte wie ein einstudiertes Schauspiel. Ein schlecht einstudiertes Schauspiel. Von einer miserablen Laienspieltruppe.

»Und nun zu Ihrer Uniform.« Der Tenente betrachtete Scotti von oben bis unten. »Ich denke, Sie sollten Uniform tragen. Mit Ihren römischen Designer-Klamotten verunstalten Sie nur unsere liebliche toskanische Landschaft. Wenn Sie gewissenhaft Ihre Arbeit …«

»Jetzt hören Sie mir mal gut zu«, unterbrach Scotti den Tenente, »Sie müssen mir nicht erzählen, wie ich meine Arbeit zu erledigen habe. Ich habe über zwanzig Jahre Ermittlungserfahrung bei einer Spezialeinheit und bin nicht irgend so ein unerfahrener Provinzcarabiniere wie …«

»Wie wer?« Ugobaldo schnappte nach Luft und trat einen Schritt auf Scotti zu. »Wollen Sie damit sagen, ich sei ein Provinzcarabiniere?«

Perbacco, hatte dieser Mann Mundgeruch! Scotti wich unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Ich will gar nichts sagen. Aber ich habe meine eigenen Methoden und lasse mich nicht herumkommandieren wie ein bescheuerter Schuljunge.«

Und die Uniform konnte er sich sonst wohin stecken. Seit wann trug ein Kommissar Uniform?

Die beiden Vice Brigadieri schauten ungläubig in die Runde. Diese Wendung war in ihrem Schmierentheater nicht vorgesehen.

»Ich erkläre unser Meeting für beendet. Signora Donati zeigt Ihnen jetzt Ihr Büro«, sagte Ugobaldo. Und zu den Vice Brigadieri: »Sie können jetzt abtreten!«

Diese setzten die Mütze auf, salutierten und verschwanden.

Der Raum erinnerte Scotti eher an eine Baustelle als an ein Büro. Das Mobiliar war mit Planen verhängt, den Fußboden säumte eine feine Staubschicht, auf der die zierlichen Abdrücke von Signora Donatis roten Stilettos neben denen von Scottis Ferragamos zu sehen waren. In den Ecken etwas abgebröckelter Putz, auf dem Fenstersims eine Schlagbohrmaschine.

Sie durchschritten weiter den Raum, Signora Donati legte beiläufig die Hand auf Scottis Schulter, zog sie aber sofort wieder zurück.

»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.« Sie öffnete das Fenster, ihr Ehering blitzte im Sonnenlicht. »Im unteren Stockwerk haben Handwerker Asbest gefunden und jetzt werden aus jedem Zimmer Proben von Putz und Fußboden genommen. In ein bis zwei Tagen sieht es wieder richtig gemütlich aus.«

»Signora Donati, ich wollte…«

»Nennen Sie mich bitte Camilla, die Signora macht mich so alt.« Sie sagte das wieder mit dieser Stimme, die Scotti ins Ohr drang und sich irgendwo zwischen Bauch und Knie festsetzte.

»Ich bin Francesco.« Er reichte ihr die Hand und fühlte gleich darauf ihren sanften Händedruck. »In Rom stößt man darauf traditionell am Abend mit einem Glas Wein an.«

»Wir sind hier in der Toskana, Francesco.« Sie zeigte auf ihren Ehering und lachte. »Und am Abend trinke ich ein Glas Wein mit meinem Mann und bringe meine beiden Kinder ins Bett.«

Was tat er da? War er verrückt?

»Ich weiß, ich weiß«, er räusperte sich, »dein Ehering ist ja nicht zu übersehen. Was ich eigentlich fragen wollte …«

»Ob Ugobaldo immer so ein Stinkstiefel ist, oder wie du es ausdrücken würdest, so ein Arschloch?«

Scotti war überrascht von ihrer direkten Art, genau der Typ Frau, der ihn beeindruckte. Sie schlug vor, dass er es sich für den Rest des Tages zu Hause gemütlich machen solle. Im Moment gebe es ohnehin nichts zu tun und so ginge er Ugobaldo aus dem Weg. Sobald er sein Büro beziehen könne, werde sie sich bei ihm melden.

Scotti war keine zehn Meter von der Polizeistation entfernt, da zückte er sein Mobiltelefon und rief Firmini an. Besetzt. Er lief die Vicolo delle Prigioni hinunter und bog geistesabwesend links in die Via Giacomo Matteotti ab. In Uniform soll ich rumlaufen, der spinnt wohl, dachte Scotti. Und was wusste diese Flachpfeife von Meetings? Und diese beiden Grüß-Auguste erst. Nicht zu fassen. Sein Puls begann nun doch, Samba zu tanzen. In Rom hätte er genau gewusst, was in solchen Momenten, wo ihm fast die Hutschnur platzte, zu tun wäre. Er hätte sich mit Luna in Trastevere verabredet, um mit ihr in einer Taverna so lange Pinot Grigio zu trinken, bis sein Adrenalinspiegel wieder auf den Normalpegel gesunken wäre. In Neapel bevorzugte er Dina und ein Risotto bei Don Alfonso. Die schöne Neapolitanerin und der Gaumenschmaus sorgten jedes Mal für ausreichend Dopamin in seinem Körper. Aber hier? Was sollte er tun? Etwas zerschlagen? Das war nicht seine Art. Er versuchte erneut, Firmini zu erreichen, doch abermals war besetzt. Als er sein Telefon in die Tasche steckte, stand er vor einer Gelateria an der Ecke zur Via Antonio Gramsci. Sie konnten ihn doch alle mal kreuzweise. Er atmete tief durch und genehmigte sich eine Kugel cioccolato und eine pistacchio. Dieser cremig-kühle Schokoladengeschmack und die nussigen Pistazien. Herrlich. An diesen beiden Sorten entschied sich, ob eine Gelateria etwas taugte oder nicht. Er befand das Eis für gut, aber an Carlos in Rom kam es nicht heran.

Das Telefon klingelte und im Display erschien eine Nummer mit der Vorwahl von Neapel. Das konnte gar nicht sein, das Telefon war neu, die Nummer hatte er erst ein paar Tage, keiner seiner neapolitanischen Freunde kannte sie. Also ließ er es klingeln.

Auf der Rückfahrt nach Montecatini rief Firmini an. Scotti klemmte das Lenkrad zwischen die Knie, hielt in der einen Hand den Rest seiner Eiswaffel, mit der anderen fingerte er nach seinem Handy. Vor einer Kurve zog der Fiat nach links, er wollte mit den Knien gegenlenken und rutschte ab. In dem Moment kam eine Ape um die Kurve, Scotti ließ in letzter Sekunde das Handy auf den Beifahrersitz fallen und riss das Lenkrad herum. Der Fahrer der Ape bremste scharf, hupte zweimal und fuhr weiter. Die Strecke war wohl doch zu kurvenreich, als dass man hätte freihändig fahren können. Das Telefon klingelte immer noch. Scotti warf die leere Eiswaffel aus dem Fenster, nahm das Gespräch an und stellte auf Lautsprecher.

»Dieser Ugobaldo ist ein Kotzbrocken«, kam er gleich zur Sache, noch ehe Firmini etwas sagen konnte. »Was hast du dem erzählt?«

»Nur die Wahrheit. Dass du ein sturer Hund bist und einen Dickschädel hast. Und dass sie auf dich aufpassen sollen.«

»Wie konntest du mir nur einen Tenente von der Carabinieri als Vorgesetzten verpassen, Marcello? Ausgerechnet einen Tenente. Der hat den gleichen Rang wie ein Commissario von der Polizia di Stato, weißt du das? Natürlich weißt du das. Und von dem soll ich mir was sagen lassen? Das kann nicht dein Ernst sein, Marcello.« Scotti redete sich in Rage. »Das Büro ist eine Baustelle und die beiden Vice Brigadieri sind Marionetten vom Tenente. Kannst du mir mal verraten, wie ich hier arbeiten soll?«

»Du sollst dich ja auch in erster Linie erholen, genieß die Ruhe …«

»Erholen?«, unterbrach ihn Scotti. »Wie soll ich mich bei diesen Pappnasen erholen? Da rege ich mich nur auf und kriege einen Herzkasper.« Er überlegte, ob er Firmini von dem Anruf aus Neapel erzählen sollte, ließ es aber sein. Da hatte sich mit Sicherheit nur jemand verwählt.

»Nun halt mal den Ball flach«, versuchte Firmini ihn zu beruhigen, »das ruckelt sich alles zurecht. Signora Donati ist doch ganz nett. Aber Finger weg, die Frau ist verheiratet. Du solltest sie nicht so plump anbaggern und gleich zum Abendessen einladen.«

»Ich hab sie nicht zum Abendessen eingeladen … Sag mal, hörst du mich ab?«

»Nein, Francesco. Ich kenne dich. Über zwanzig Jahre kenne ich dich jetzt schon. Was Ugobaldo betrifft, … ich … mal, ob … was … tun kann.«

Scotti fuhr zwischen zwei Hügeln hindurch, hier war der Empfang schlecht.

»Marcello«, rief er, »hörst du mich?«

»…la… mor… fo…ieren …ann …icht …«

»Marcello! Hallo! Hörst du …?«

Die Verbindung war abgebrochen.

Kapitel 4

Am Ende der Strada Provinciale, die sich von Volterra herüberschlängelte, stieß Scotti auf die SR 439. Einen Augenblick überlegte er, ob er links abbiegen sollte. Nach ein paar Kilometern würde er auf die SR 68 stoßen, die nach Cecina ans Meer führte. Dort könnte er das abendliche Leben auf der Strandpromenade genießen und anschließend in einem schicken Ristorante zu Abend essen. Doch er bog rechts ab und dann gleich wieder links auf die SP 32 und fuhr das zweite Mal an diesem Tag die Serpentine hoch nach Montecatini. Den ersten Abend wollte er in seinem Dorf verbringen. Außerdem war er zu müde für eine Autofahrt nach Cecina.

Nicoli, Martino und der alte Octavio saßen inzwischen an einem Tisch unter den Platanen bei einem Glas Rotwein. Martino mischte die Karten und teilte aus. Scotti trat heran und fragte, ob er sich für eine Partie Briscola zu ihnen gesellen dürfe.

»Mit Touristen spielen wir nicht«, ätzte der alte Octavio.

»Setz deine Brille auf, Octavio.« Nicoli, der Fleischer, bot Scotti einen Stuhl an. »Das ist Francesco, Agnesas Sohn.«

»Martas Pflegekind«, ergänzte Martino.

»Ich brauche keine Brille. Was ich sehen will, sehe ich. Und der Kerl sieht wie ein Tourist aus, also ist er auch einer.« Er musterte Scotti, der sich inzwischen hingesetzt hatte, wie einen Aussätzigen. Nach ein paar Zigarettenzügen rief er, als hätte er eine Erscheinung: »Heilige Maria, jetzt sehe ich es auch! Ist doch kein Wunder, dass ich dich in diesem Aufzug nicht erkannt habe. Noch heute Mittag dachte ich, was für ein Lackaffe hat sich jetzt schon wieder in unser schönes Dorf verirrt. Ich denke, du lebst in Rom und hast Rückenschmerzen vom Geld schaufeln? Kannst du dir keine anständigen Klamotten leisten? Wenn deine Mutter – Gott hab sie selig, die arme Agnesa – sehen würde, wie du rumläufst.«

»Haben sie dich von Rom hierhergeschickt, um den Tod des armen Palmieri aufzuklären?«, fragte Martino, der die Karten wieder eingesammelt und für ein Vierer-Spiel neu ausgeteilt hatte.

»Damit hab ich nichts zu tun, ich arbeite im Kommissariat in Volterra.« Scotti bestellte sich einen roten Hauswein und nahm die Karten auf.

»Er soll ja gesprungen sein.« Nicoli spielte die erste Karte aus.

Martino widersprach ihm vehement und es entspann sich zwischen den beiden ein Streit, den der alte Octavio damit beendete, dass er dazwischenging und behauptete, jeder, der freiwillig von Montecatini wegziehe, habe nichts Besseres als den Tod verdient. Was spiele es da noch für eine Rolle, ob auf natürlichem Weg oder durch Mord oder Selbstmord.

»So, und jetzt spielen wir Karten.« Octavio machte den ersten Stich.

Martino und Scotti, die zusammenspielten, gewannen. Octavio fluchte und schimpfte auf Nicoli, er solle sich besser konzentrieren.

In dem Moment kam Nicoletta von der Drogerie herüber und steckte Martino ein Päckchen zu.

Er bedankte sich bei ihr und sagte: »Nicoletta, schau mal, wer da ist. Unser verlorener Sohn ist zurück.«

Sie wusste bereits von der Ankunft Scottis. In einem kleinen Dorf wie Montecatini machten Neuigkeiten schneller die Runde, als sich Octavio eine neue Esportazione anzünden konnte. Scotti betrachtete Nicoletta, die in der achten Klasse in der Schule neben ihm gesessen hatte. Genau wie Angelo hatte sie sich in all den Jahren kaum verändert. Er wollte sie auf ein Glas Rotwein einladen, doch Nicoletta musste zurück in die Drogerie. Sie verabredeten sich am Abend im Il Platano bei Antonia.

»Manchmal kommt sie zu uns an den Tisch«, sagte der alte Octavio und nahm dabei mit großer Geste seine Zigarette aus dem Mund. Die Seltenheit dieses Schauspiels hatte nicht nur zur Folge, dass man ihn besser verstehen konnte; sämtliche Zuhörer warteten gespannt, was Octavio Wichtiges zu verkünden hatte, das es wert war, den Glimmstängel aus dem Mund zu nehmen.

»Wir sollen alle denken«, fuhr er fort, »dass sie Martino heimlich Kondome zusteckt. Doch der einstige Teufel in seiner Hose ist nur noch ein gefallener Engel. In Wahrheit lässt er sich eine dieser neumodischen Seifen bringen. Er schämt sich dafür, weil kein Mensch aus dem Dorf diesen Mist kauft. Die sind für Touristen gedacht, aber Martino glaubt, wenn er sich damit wäscht, erweckt die Heilige Jungfrau seinen kleinen Helden zu neuem Leben.«

Damit war seine Predigt beendet und die Esportazione landete wieder im Mundwinkel.

Als die Läden an der Piazza nach und nach schlossen, verabschiedete sich Scotti und zog auf die Terrasse des Il Platano um. In Rom begann jetzt das Nachtleben. Der Lärmpegel auf den Plätzen stieg gleichermaßen wie der Alkoholpegel der Menschen, hupende Autos und frisierte Vespas knatterten an den Tischen vorbei. Hier kleidete sich das Dorf ebenfalls in sein Nachtgewand, die Laternen schalteten sich an und tauchten den Ort in ein gelb-braunes Licht. Die Tische vor der Bar und der Pizzeria füllten sich mit Gästen, ebenso im Il Platano. Aber es wurde im Gegensatz zur ewigen Stadt immer stiller. Einzig ein paar Zikaden waren noch zu vernehmen und hier und da verhaltenes Gelächter an den Tischen.

Nicoletta ließ nicht lange auf sich warten. Sie bestellten Pappardelle mit Rehfleisch für Nicoletta und Wildschwein-Ragout mit Polenta und Oliven für Scotti. Dazu einen Montescudaio Rosso aus den nahe gelegenen Weingütern der Fattoria Sarbaiano, die sich vom Tyrrhenischen Meer bis nach Volterra erstreckten. Nicoletta verriet Scotti, dass sie in der siebten Klasse in ihn verliebt gewesen sei. Jeden Tag seien sie zusammen mit dem Schulbus gefahren, immer habe sie versucht, einen Platz neben ihm zu ergattern, aber er hatte damals nur Augen für Sofia, die Tochter seiner Pflegemutter Marta.

Scotti konnte Nicoletta nicht widersprechen und bemerkte erst jetzt, wie attraktiv seine einstige Mitschülerin war. Er erinnerte sich nicht daran, dass das damals auch schon der Fall gewesen war. Einige Frauen waren wie Wein, sie wurden im Laufe der Jahre interessanter und begehrenswerter, das hatte er schon in Neapel und Rom beobachtet.

Antonia brachte das Dessert, Limonen-Sorbet für Nicoletta und Tiramisu für Scotti. In den Ristoranti der touristischen Hochburgen von Mailand bis Sizilien servierten einem die Kellner das Tiramisu als Quader, dessen Biskuit nach aufgeweichter Pappe schmeckte und das wie ein Ziegelstein im Magen lag. Bei Antonia türmte sich eine fluffige Masse in einer Glasschale. Scotti schob sich einen vollen Löffel in den Mund und schloss die Augen. Der Mascarpone war göttlich. Ein leichter Amarettogeschmack, vermischt mit einem Hauch von Schokolade. Perfekt. Das Telefon klingelte und zeigte die Nummer von Tenente Ugobaldo. Was wollte der? Um diese Uhrzeit? Scotti drückte auf Ablehnen.

Nicoletta fragte ihn nach der Arbeit und ob er mit der Aufklärung des Todes von Orlando Palmieri beauftragt sei. Scotti verneinte und nötigte ihr das Versprechen ab, nur noch über private Dinge zu plaudern. Nach dem Caffè bot er an, sie ein Stück zu begleiten, was sie dankend annahm.

Nicoletta Sartori wohnte in der Via del Moro 17, im Ortskern, der oberhalb der Piazza della Repubblica lag und in dem sich auch die Kirche San Biagio und das Heimatmuseum befanden. Er war umgeben von einer meterdicken Burgmauer und hätte gut die Kulisse für einen mittelalterlichen Film abgeben können. Mit dem Auto erreichte man ihn nur über die Via XX Settembre, eine gepflasterte Gasse, die zwischen Mama Ginas Pizzeria und Nicolettas Drogerie ihren Anfang nahm und steil nach oben führte. Auf halber Höhe zwängte man sich durch einen steinernen Torbogen, die Porta Castellane, an dem sich breitere Fahrzeuge regelmäßig Schrammen holten. Die Familie Belforti hatte das Castello im zehnten Jahrhundert zum Schutz vor ihren Widersachern errichtet, ebenso den Torre, den man schon von Weitem erkennen konnte. Nur im Nordosten überdeckte eine noch höher gelegene Hügelkette die Sicht auf den Turm. Kam man aus allen anderen Richtungen, sah man kilometerweit seine Nase aus dem Berg hervorragen. Der heutige Besitzer vermietete ihn an zahlungskräftige Feriengäste. Die Häuser im Ortskern klebten an den winzigen Gassen, die wie ein Labyrinth angeordnet zu sein schienen und in denen nicht einmal zwei ausgewachsene Brauereipferde nebeneinander Platz gehabt hätten.

Schnaufend stiegen sie im Licht der Gaslaternen die steile Gasse empor und Scotti spürte wieder den stechenden Schmerz in der Hüfte. Zum Glück zeigte bei seiner Begleiterin der Wein Wirkung, sodass er ohne Mühe mithalten konnte. So wie der Alkohol die Beine schwer werden ließ, löste er gleichermaßen die Zunge. Als sie auf dem Gipfel des Ortskerns ankamen und wieder Luft bekamen, erzählte sie ihm, wie ihr Liebesleben seit der Schulzeit ausgesehen hatte. Aus der Ehe mit ihrem geschiedenen Mann war Gabriel hervorgegangen, der vor einem halben Jahr ausgezogen war und in Mailand studierte. Nach der Scheidung gab es unzählige Liebschaften, die sie jedes Mal nur mit Mühe vor Gabriel hatte verbergen können. Inzwischen hatte sie einen Freund, der in Florenz wohnte und jedes zweite Wochenende zu ihr kam.

Auch Scotti plauderte aus dem Nähkästchen. Der Wein von Signor Sabaiano schien es in sich zu haben. Er wunderte sich, welche Worte den Weg über seine Lippen fanden. Beim Abschied vor der Haustür mussten sie resümieren, dass ihr beider Liebesleben nicht gerade von Erfolg gekrönt war.

Auf dem Weg in seine Unterkunft beschloss Scotti, dass er, sollte er als Mittvierziger noch Vater werden, seinem Kind einschärfen wolle, nicht nur in der Schule gut aufzupassen, sondern auch im Bus, der zur Schule fuhr.

Gegen Mitternacht lag Scotti auf dem Bett und betastete mit dem Zeigefinger die Wunden an seiner Hüfte. Dort, wo eine Kugel ihn gestreift hatte, war das Gewebe vernarbt. Auch die anderen beiden Stellen waren verheilt. Die Ärzte hatten zwei Splitter von der Explosion, die sich in die Haut gebohrt hatten, herausoperiert. Glück gehabt. Ein paar Zentimeter weiter rechts und er säße jetzt im Rollstuhl. Bestenfalls. Ein paar Zentimeter entschieden darüber, ob du abends auf dem Bett oder in einer Kühlbox der Pathologie lagst. Tommaso und Simone hatten nicht so viel Glück gehabt. Beide traf eine Salve aus einer halbautomatischen Schnellfeuerwaffe, keine fünf Meter vor ihm. Dabei sollte er ihnen im Ernstfall Feuerschutz geben. Aber alles ging viel zu schnell. Da kannst du noch so viel trainieren, noch so viel Erfahrung haben, den Ernstfall kannst du nicht proben. Sie gerieten in einen Hinterhalt, und bevor sie zuschlagen konnten, wurde das Feuer auf sie eröffnet. Es musste einen Verräter gegeben haben, einer aus ihren Reihen, einer, der sie ans Messer geliefert hatte.

Scotti stand auf, ging ins Bad und nahm die Tabletten, die ihm helfen sollten einzuschlafen. Ein Blick in den Spiegel über dem Waschbecken: Er hatte sich verändert, nicht nur äußerlich. In den Augen lag eine Gleichgültigkeit, die er von sich nicht kannte. Wo war der ehrgeizige Polizist, der er einst gewesen war? Die Narben am Körper waren zu verkraften. Kleine Schönheitsfehler. Aber wen interessierte das noch? Die Frauen leckten sich schon lange nicht mehr lasziv über die Lippen, wenn sich in einem Restaurant ihre Blicke trafen. Denen, die ihn nur unter seiner falschen Identität kannten, konnte er die Wundmale ohnehin nicht präsentieren, die neapolitanischen Eroberungen der letzten zwanzig Jahre waren für ihn tabu. Sein Ehrgeiz beschränkte sich darauf, diesen verdammten Verräter zu finden, der viele seiner Kollegen, darunter zwei seiner besten Freunde, auf dem Gewissen hatte. Aber Firmini hatte ihn aufs Abstellgleis gestellt.

Kapitel 5

Am nächsten Morgen weckte ihn das Telefon. Verschlafen nahm er das Gespräch an. Am anderen Ende meldete sich Tenente Ugobaldo.

»Commissario? Ich hoffe, Sie haben sich noch nicht auf den Weg nach Volterra gemacht.«

»Ich wollte gerade losfahren.« Scotti gab sich Mühe, keine Geräusche mit der Bettdecke zu machen.

»Sie können Ihr Büro nicht beziehen. Unsere Handwerker haben Asbest gefunden. Ich wollte es Ihnen schon gestern Abend mitteilen, aber Sie gehen ja nicht an Ihr Telefon.«

Asbest gefunden. Da lachen ja die Hühner. Der Tenente wollte ihn loswerden, das war alles.

Bevor Scotti fragen konnte, wo er jetzt arbeiten solle, fuhr der Tenente fort: »Zufällig wurde vor einigen Jahren in Montecatini das Dachgeschoss des Rathauses ausgebaut. Ein knappes Jahr diente es als Wachstation für die Carabinieri. Aber eine Wachstation unter dem Dach verboten die Statuten. Seitdem steht es leer. Sie müssen nur mal durchfegen, dann sieht es aus wie neu. Außerdem können Sie zu Fuß zur Arbeit gehen, was wollen Sie mehr.«

Durchfegen? Vielleicht schwang er jetzt noch den Besen, der Tenente hatte sie doch nicht mehr alle.

»Mit der Bürgermeisterin, Signora Pagano, ist alles abgesprochen. Sie ist heute außer Haus. In einer Viertelstunde erwartet Sie Davide Rizzi, einer der Carabinieri von Montecatini, am Eingang des Rathauses. Er zeigt Ihnen die Räumlichkeiten und übergibt Ihnen die Schlüssel. Falls Sie noch Fragen haben, wenden Sie sich an Signora Donati.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, legte der Tenente auf.

Idiot.

In einer Viertelstunde, hatte der Tenente gesagt. Das war Punkt neun. Zum Duschen blieb keine Zeit. Scotti schwang sich aus dem Bett, putzte die Zähne und zog sich an. Keine fünf Minuten später war er auf dem Weg zur Piazza und bestellte in der Bar bei Angelo einen Caffè. Dazu zwei Ricciarelli. Schon als Kind hatte er dieses süße, weiche Mandelgebäck geliebt. Er biss hinein und schloss genussvoll die Augen. Dann trank er in einem Zug den Caffè und bestellte sich einen zweiten.

In der Toscana Oggi schaffte es der Leichenfund von Sassa erneut auf die Titelseite. Ein ganzer Artikel über die Arbeit der Ermittler, sogar mit einem Foto des Waldstückes, in dem man den armen Palmieri gefunden hatte. In Rom oder Neapel wären es ein paar Zeilen auf einer der hinteren Seiten gewesen. Wenn überhaupt. Aber hier in der Provinz war es das Thema des Tages. Scotti überflog den Artikel. Die übliche Pressemitteilung, vage Vermutungen, keine Details. Bisher war noch nicht einmal klar, ob es ein Kapitalverbrechen oder ein Unfall war. Ihm konnte das egal sein.

Ein Blick auf die Uhr, es war fünf nach neun. Er zahlte, nahm sich das zweite Ricciarello und aß es unterwegs auf dem Weg zum Rathaus, das etwas abseits auf der Viale Roma lag, keine fünf Minuten Fußweg von der Piazza della Repubblica. Vor der Tür wartete ein uniformierter Carabiniere.

»Sie müssen Rizzi sein.« Scotti reichte ihm die Hand.

Rizzi jedoch schlug die Hacken zusammen und salutierte: »Sì, Signor Commissario!«

Wer weiß, was Ugobaldo von seinen Leuten erwartete, Scotti jedenfalls war diese Salutiererei unangenehm.

»Jetzt lassen Sie mal gut sein, Rizzi, es reicht, wenn wir uns wie normale Menschen begrüßen.«

Rizzi schien erleichtert und führte Scotti in das Dachgeschoss.

»Ein knappes Jahr befand sich unsere Wachstation hier oben.« Er stieg die Steintreppe hinauf, nahm zwei Stufen mit einem Mal. »Aber die Statuten erlaubten es nicht. Also zogen wir ein paar hundert Meter weiter in das Erdgeschoss eines modernisierten Gebäudekomplexes. Mariani wollte auch mitkommen, um Sie kennenzulernen, aber er hat heute frei und ist bei seinen Schwiegereltern in Siena.«

Scotti war noch auf dem letzten Absatz, als Rizzi schon oben vor der Tür stand. Irgendwie musste er wieder zu Kondition kommen. Und dann dieses verdammte Stechen in der Hüfte. Was sollte der junge Carabiniere von ihm denken?

Aber Rizzi bemerkte nicht, dass er nicht Schritt halten konnte mit ihm, oder wollte es nicht bemerken. Er wartete, bis Scotti oben angekommen war, schloss die Tür auf und tastete nach dem Lichtschalter des fensterlosen Vorraums.

»Seit wir raus sind, war ich nicht mehr hier oben.« Er betätigte nochmals den Kippschalter, aber es blieb dunkel. »Die Glühbirne scheint kaputt zu sein.«

Mit der Taschenlampe seines Smartphones leuchtete er ins Dunkel und bat den Kommissar, ihm zu folgen. Er öffnete die Zwischentür, betrat den dahinterliegenden Raum, riss die Augen auf und schluckte schwer. Einen Augenblick später wusste Scotti, warum.

Da hatte der Tenente ihm ordentlich eins ausgewischt.

»Scusi, Commissario, ich konnte nicht ahnen …«

»Schon gut, schon gut, Sie können ja nichts dafür.«

Die Luft war stickig. Der Raum geräumig und sicher auch hell, wenn man das Gerümpel vor den Fenstern weggeräumt bekam. Dann hätte man auch mal durchlüften können. So waren beide Fenster mit alten Kartons und Sperrmüll zugestellt, die es einem unmöglich machten, eines der Fenster zu öffnen. Überall Spinnweben, alte Regale und eine zentimeterdicke Staubschicht. An der hinteren Wand eine Teeküche, die mit einer Plane abgedeckt war. Ein paar Tische und Stühle standen übereinandergestapelt. Auf dem Fußboden lag vereinzelt Kot von Mitbewohnern, vermutlich Mäuse oder Marder, so genau kannte Scotti sich nicht aus. Mit nur mal durchfegen war es jedenfalls nicht getan. Scotti wagte sich ein paar Schritte weiter und stolperte über eine Rolle Dachpappe. So eine Scheiße! Er fand einen alten Lappen, polierte damit seine sündhaft teuren Schuhe und entdeckte eine Schramme auf dem Leder.

»Wenn ich das gewusst hätte, Commissario …«, Rizzi suchte nach Worten, »ich würde … also … das Problem ist, ich kann die Bude für Sie nicht einmal auf Vordermann bringen, weil ich heute alleine bin und wieder zur Wachstation muss. Aber morgen ist Mariani zurück, da kann einer von uns …«

»Ich kläre das mit dem Tenente in Volterra, machen Sie sich keine Sorgen. Danke für das Angebot, vielleicht komme ich später darauf zurück.« Scotti bemerkte, wie Rizzi, als er den Tenente erwähnte, leicht die Nase rümpfte. »Bevor Sie gehen, können Sie mir noch helfen, ein Fenster freizuräumen, die noble Suite kann etwas Frischluft vertragen.«

Nachdem sie sich den Weg zu den Fenstern gebahnt hatten, dauerte es geschlagene zehn Minuten, bis Rizzi die Fensterriegel bedienen konnte. Sie klemmten dermaßen, dass der Carabiniere mutmaßte, er selbst habe sie zuletzt benutzt, als er beim Auszug der Wachstation noch einmal durchgelüftet habe. Jedenfalls konnten sie jetzt frische Luft hereinlassen. Sie entfernten die Plane von der Teeküche, der Wasserkocher funktionierte noch. Hinter einer ausrangierten Kommode entdeckten sie einen gemütlichen alten Polstersessel. Sie trugen ihn in die Nähe des Fensters, stellten einen Tisch davor und befreiten die beiden Möbelstücke von der Staubschicht, die sie bedeckte.

Als Rizzi sich verabschiedet hatte, ließ sich Scotti in den Sessel fallen und legte die Füße auf den Tisch. Vielleicht hatte Firmini recht. Vielleicht sollte er es ruhig angehen lassen. Ein bisschen Erholung konnte nicht schaden nach all den Jahren bei der DIA. Guten Wein und fantastisches Essen gab es nicht nur in Rom. Im Gegenteil, wenn er an das Wildschwein vom gestrigen Abend dachte, war das in Rom lieblos zusammengerührter Touristenfraß. Hier stand Mama Antonia noch selbst am Kochtopf. Schade nur, dass Nicoletta schon vergeben war, doch am Strand von Cecina würde sich bestimmt die eine oder andere bella donna finden, die ihm für ein paar Stunden Gesellschaft leistete. Der gestrige Abend hatte zumindest in dieser Hinsicht seine Lebensgeister geweckt.

Sein Telefon klingelte. Er blickte auf das Display, sah die Nummer Firminis und nahm an.

»Hattest du eine angenehme erste Nacht in deiner Heimat?« Sein Chef in Rom hörte sich an, als