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Man schreibt das Jahr 1983. Im heutigen Nationalpark Saar-Hunsrück kehrt allmählich der Frühling ein. Doch dann beschert ein mysteriöser Leichenfund an einem außergewöhnlichen Ort den Beamten der Kripo Trier einiges Kopfzerbrechen. Die Tote heißt Katharina Messer und lebte in Wuppertal. Was hat die Tote in den Hochwald verschlagen? Wonach hat sie gesucht, nachts, am Fleschfelsen, mitten im Wald bei Mandern? Naturdenkmäler sind magische Orte, finden die ermittelnden Beamten. Und daher ist es nicht verwunderlich, dass eine erste Spur in ein nahegelegenes Esoterikzentrum führt. Dort beschreibt man das Opfer als introvertiert und zuckt mit einem Ausdruck des Bedauerns mit den Schultern. Zur gleichen Zeit interessiert sich eine weitere Person für diese Einrichtung. Kriminalhauptkommissar a. D. Heiner Riemenschneider tut dies zunächst seiner schwangeren Tochter zuliebe. Außerdem spukt ein alter Entführungsfall in seinem Kopf. Auf der Suche nach Entspannung taucht der ehemalige Staatsdiener für ein Wochenende in die Welt der Esoterikfreunde ein. Ehe er sich versieht, ist er mittendrin. Parallel zu den offiziellen Ermittlungen, arbeitet er verdeckt und auf seine ganz eigene Art und Weise.
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Seitenzahl: 336
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Helga Schittek
Tot am Fleschfelsen
Hunsrückkrimi
Ich glauben, dass wir, solange wir leben, niemals aufhören werden, zu begehren.
Es gibt bestimmte Dinge, wo wir fühlen, dass sie gut und schön sind und wir ihnen nachjagen müssen.
(George Eliot)
Zum Buch:
Was verschlägt eine junge Frau aus Wuppertal in die Abgeschiedenheit des Hochwaldes? Und weshalb stirbt sie mitten in der Nacht am Fuße des Fleschfelsen? Die Spur führt in ein Esoterikzentrum bei Mandern. Doch dort hält sich die Betroffenheit in Grenzen.
Da wittert Kriminalhauptkommissar a. D. Heiner Riemenschneider, durch dessen Kopf seit Tagen ein fast vergessener Fall geistert, seine. Chance. Kurz entschlossen fährt der ehemalige Mordermittler zu dem Haus in Mandern, wo er sich zu einem Wochenendseminar anmeldet.
Helga Schittek, Jahrgang 1957, die in Schmelz-Limbach an der Saar geboren wurde, arbeitete viele Jahre in einem sozialen Beruf und lebt heute mit ihrem Mann im Kreis Ahrweiler.
In „Tot am Fleschfelsen“ löst KHK a. D. Riemenschneider seinen 4. Fall.
Die ersten drei Romane sind derzeit als Sammelband unter dem Titel „H. R. greift ein“ (BoD, Norderstedt) erhältlich.
Zum Buch:
Kapitel eins Sonntagnacht
Kapitel zwei Montag
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs Dienstag
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun Mittwoch
Kapitelzehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn Donnerstag
Kapitel sechzehn
Kapitel siebzehn Freitag
Kapitel achtzehn
Kapitel neunzehn
Kapitel zwanzig
Kapitel einundzwanzig
Kapitel zweiundzwanzig
Kapitel dreiundzwanzig
Kapitel vierundzwanzig Samstag
Kapitel fünfundzwanzig
Kapitel sechsundzwanzig
Kapitel siebenundzwanzig
Kapitel achtundzwanzig
Kapitel neunundzwanzig
Kapitel dreißig
Kapitel einunddreißig
Kapitel zweiunddreißig
Kapitel dreiunddreißig Sonntag
Kapitel vierunddreißig
Kapitel fünfunddreißig
Kapitel sechsunddreißig
Kapitel siebenunddreißig
Kapitel achtunddreißig
Impressum
„Schau dir das an!“, rief sie und legte ihren Kopf in den Nacken. Ihre Mundwinkel zogen sich auseinander.
„Dieser Mond!“, lachte sie. „Ist er nicht rund und schön?“
Sie lachte abermals, führte die Flasche in ihrer linken Hand zum Mund und nippte daran. Dass der Sekt längst nicht mehr prickelte und sehr süß schmeckte, störte sie nicht.
„Wald, Wald, Wald!“
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, breitete ihre Arme aus und drehte sich im Kreis.
„Katharina!“, vernahm sie eine männliche Stimme in ihrem Rücken; warm und durchdringend. Doch diesmal verfehlte sie die gewohnte Wirkung.
Fast so, als hätte sie ihn nicht gehört, schüttelte die Angeredete den Kopf und entfernte mit der freien Hand eine Spange, die ihr blondes Haar zusammengehalten hatte, das nun in breiten Strähnen über ihre Schulterblätter fiel. Sie atmete vernehmbar ein und aus, ehe sie die Flasche erneut ansetzte. Der nächste Schluck fiel etwas größer aus. Aber dann ließ sie den Arm sinken.
„Weißt du“, hauchte die Frau und drehte sich um. „Am Tag meiner Anreise war …“
Katharina legte ihre rechte Hand erst auf ihr Herz; dann berührte sie ihre Stirn. „In meiner Brust war nur Enge. Mein Herz hat geschlagen und das Blut durch meine Adern gepumpt. Es hat brav seine Arbeit verrichtet, Tag für Tag und Nacht für Nacht. Aber sonst war da nichts, nichts! Und mein Kopf war angereichert mit Gedankenmüll und Fremdorientiertheit. Aber nun spüre ich …“
Sie hob die Sektflasche abermals, ließ sie jedoch sofort wieder sinken.
„Aber nun spüre ich die Energie. Sie ist in meine Hände gekrochen, in meine Arme, meine Beine. Überall ist Wärme. Und mein Kopf ist frei. Die Gedanken sind klarer. Das Denken ist ein anderes. Die Nebel lichten sich. Ich sehe die Dinge neu. Und …“
Er straffte die Schultern. Mochte er noch so sehr dagegen ankämpfen: Er merkte, wie sein Adrenalinspiegel anstieg und er allmählich nervös wurde. Außerdem war der Wind unangenehm frisch.
Wenn ihn sein Zeitgefühl, oder das, was davon übriggeblieben war, nicht trog, dann waren sie bereits seit weit mehr als einer Stunde unterwegs. Doch das stand in keinem Verhältnis zu der Wegstrecke, die sie tatsächlich zurückgelegt hatten.
Für gewöhnlich war Katharina ein eher in sich gekehrter Mensch. Sie war wissbegierig, liebte es aber auch sich anzulehnen. Dies gefiel ihm an ihr.
Jeder von ihnen lebte sein eigenes Leben. Eigentlich hätte er nicht hier sein sollen. Nicht mit ihr und schon gar nicht an diesem Ort.
Katharina kicherte leise, starrte einen Moment lang auf ihre Schuhspitzen. Schließlich verteilte sie den restlichen Sekt auf dem Waldboden und warf die Flasche ins Gebüsch.
„Weißt du, was ich als absolutes Geschenk einer höheren Macht an uns Menschen empfinde?“
Sie zog den Schulterriemen ihrer Handtasche hoch und tänzelte in ihren Sportschuhen rückwärts, stoppte jedoch abrupt, da sie zu straucheln drohte.
„Du wirst es mir bestimmt gleich sagen“, entgegnete er.
„Dass der Mensch einen freien Willen hat.“
„Das ist alles relativ.“
„Aber er kann sich für oder gegen etwas entscheiden. Und es gibt da ein paar Dinge, die ich ändern will. Die in der Firma …“ Ihre Stimme wurde schrill.
Er zuckte innerlich zusammen.
Bereits, als sie in seinen Wagen eingestiegen war, war sie ihm aufgekratzter als sonst vorgekommen. Aber im nächsten Moment hatte er sich gescholten und an seinem Urteilsvermögen gezweifelt. Doch nun war dieses Gefühl schon wieder da.
„Ich dachte, du fühlst dich dort wohl?“
Sie nickte hastig. „Aber die Menschen, die dort arbeiten, sind einfältig. Ich bin klüger und werde meinen Weg gehen. Da können die noch so oft versuchen, meine Autorität zu untergraben.“
„Verstehe!“, murmelte er und knöpfte seine Lederjacke zu, während Katharina die Schultern hob und sich neben ihn gesellte.
„Wenn der Mond im siebten Hause steht …“, trällerte sie unvermittelt und kickte mit dem rechten Fuß einen Tannenzapfen quer über den Weg.
Er beugte sich zur Seite und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das sie nicht verstand.
„Wir sollten schweigen, damit die Natur zu uns sprechen kann“, raunte er.
Nur wenige Meter von ihnen entfernt schlug sich ein Reh ins Dickicht.
Und dann tauchte er plötzlich vor ihren Augen auf, zwanzig Meter hoch und aus weißem Quarzit.
Kopfschüttelnd registrierte der Mann, wie Katharina ihre Tasche abwarf.
„Er ist schön!“, schnurrte sie wie ein Kätzchen und streichelte die kalte Felswand. „Glaubst du, er hat auf mich gewartet?“
Sie trat einen Schritt zurück.
Der Mann räusperte sich.
„Ich denke, er hat es“, fuhr Katharina fort, da sie keine Antwort erhielt und huschte zu einem der seitlichen Quader hinüber. „Da möchte ich rauf.“
„Und nun?“, jammerte er wenig später, als er sich zu ihr gesellte. Er musterte ihre Schuhe, deren Sohlen kaum noch über Profil verfügten.
„Nun werde ich auf diesen Felsen hinaufsteigen und ihm einen Namen geben.“
„Das solltest du bleiben lassen.“
„Man kann alles erreichen. – Auch du wirst mich nicht daran hindern.“
Er versuchte sie am Arm zu packen. Doch sie schlug nach ihm, drehte sich weg, und machte einen kleinen Schritt zur Seite. Ihr Redefluss schwoll an und wollte kein Ende nehmen. Und was er sich anhören musste, gefiel ihm ganz und gar nicht.
Es gab nur eine Lösung, wenn er Schlimmeres verhindern wollte. Er musste sie stoppen. Alles ging furchtbar schnell. Urplötzlich begann sie mit den Armen herumzufuhrwerken. Auch ihre Füße wollten ihr nicht mehr gehorchen.
„Ich schätze mal, so langsam wird es ernst“, grinste Heiner Riemenschneider.
Der Kriminalhauptkommissar a. D. lehnte sich gegen die Tür zum Schlafzimmer und strich mit der linken Hand über seinen Pullover.
In den letzten Wochen hatte er wohl an die fünf Kilo abgenommen; blieben noch hundert übrig. Trotz einer Körpergröße von eins neunzig, ließ sich ein leichter Rückgang des Bauchumfangs erkennen. Einzig und allein seine Bandscheibe schien hiervon noch nichts mitbekommen zu haben.
„Wenn du auf die hier anspielst, vermutest du richtig“, nickte sein Gegenüber und betrachtete die Tapetenrollen, die er gegen seinen Körper presste. „Erst wird tapeziert.“
„Und dann wird alles seinen Weg gehen“, prognostizierte der Hausherr, „auch wenn es mich offen gestanden freut, dass du an unserer Wohngemeinschaft Gefallen gefunden hast.“
Doch statt zu antworten, ließ sein Schwiegersohn Stefan Mogosky die rechte Augenbraue um einige Millimeter in die Höhe wandern.
Die beiden Männer hatten sich vor etwas mehr als zwei Jahren kennengelernt, genauer gesagt, achtzehn Monate nachdem Riemenschneider aus gesundheitlichen Gründen aus dem Polizeidienst ausgeschieden war.
Seit Januar 81 versah der aus Mannheim stammende Stefan seinen Dienst bei der Trierer Kripo. Julius Erler, sein Vorgänger im Amt, war bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Damals, am Tag ihrer ersten Begegnung, war Stefan im Dienst gewesen. Mitarbeiter eines Abschleppunternehmens hatten auf einem Waldparkplatz einen wild entsorgten Wagen abholen sollen und im Kofferraum eine Frauenleiche gefunden. Die Tote hieß Karin Riemenschneider und war seine seit zehn Jahren vermisste Ehefrau.
Vergangenen Spätsommer hatte Riemenschneider seine langjährige Lebensgefährtin Doris Meyer geheiratet.
Er atmete tief durch, gab sich Mühe, den Gedanken aus seinem Kopf zu verscheuchen. Doch dann kehrte er zurück.
Lange hatte er zusammen mit den ehemaligen Kollegen nach Karins Mörder gesucht. Dieser Fall hatte ihm mehr zu schaffen gemacht als andere. Ihm und seiner Tochter Beate. Irgendwann waren sich Stefan und Beate nähergekommen. Nachdem sie mehr als ein Jahr eine Wochenend- oder Freizeitbeziehung geführt hatten, war Stefan vor vier Monaten endgültig bei ihr eingezogen, und acht Wochen später hatten sie geheiratet. Zwar hatte das junge Paar dies nicht von vorneherein beabsichtigt. Doch hin und wieder verliefen die Dinge schon mal anders als geplant.
Riemenschneider spitzte die Lippen und schüttelte seine schlohweiße Mähne, die fünf Zentimeter unterhalb der Schulterblätter endete, in den Nacken.
Auch er liebte die WG in seinem Hause. Was die Benutzung des Badezimmers betraf, so hatte man sich arrangiert: Und da beide Frauen berufstätig waren, wechselten sie sich beim Kochen ab. Das wollten alle auch in naher Zukunft beibehalten. Viel würde sich vielleicht sowieso nicht ändern, da musste er Stefan recht geben.
Ein Hupkonzert vor dem Haus hinderte den ehemaligen Staatsdiener, endgültig in Gedanken zu versinken.
Stefan machte einen Schritt nach vorn, als das Telefon im Wohnzimmer klingelte.
„Riemenschneider und Mogosky“, hörte der junge Ermittler seinen Schwiegervater in den Hörer trällern. „Ist hier!“
„Wird wohl nix mit Beate überraschen“, brummte Stefan und schielte auf die Tapetenrollen, die er vor der untersten Treppenstufe abgestellt hatte.
„Übrigens Beate … Keine Ahnung, ob ich es schaffe, sie abzuholen.“
„Hat sie keine andere Mitfahrgelegenheit?“
Doch zu Riemenschneiders Enttäuschung, schüttelte Stefan den Kopf und verschwand.
Im selben Moment, als sein Schwiegersohn den Wagen startete, packte Riemenschneider die Tapete und stieg zwei Stufen auf einmal nehmend hinauf in die erste Etage.
Dieses Stockwerk stand größtenteils leer. Vor siebzehn Jahren hatte er das Haus samt der dazugehörigen Wiese erworben. Damals hatte seine Mutter einen Schlaganfall erlitten, sein Vater das Elternhaus und seine Schreinerei veräußert und er selbst mit dem Gedanken gespielt, die alten Leute, unter deren Dach er und seine Familie bis zu diesem Zeitpunkt gelebt hatten, im Gegenzug bei sich aufzunehmen. Doch diese hatten seiner in Schillingen lebenden Halbschwester Hanni den Vorzug gegeben.
Hanni, Taufname Hannelore, war mit dem Elektromeister Gregor Dillschneider verheiratet und Mutter von vier erwachsenen Söhnen. Sie stammte aus der ersten Ehe ihrer Mutter, die zwei Jahre, nachdem ihr erster Mann vom Blitz erschlagen worden war, dessen jüngeren Bruder geheiratet hatte.
Riemenschneider blies die Wangen auf, als die Eingangstür zur oberen Etage hinter ihm ins Schloss fiel. Hier war es insgesamt nicht so geräumig wie im Erdgeschoss. Die erste Tür auf der rechten Seite führte ins Bad. Das Zimmer gegenüber diente als Abstellraum, in dem in erster Linie Christbaumschmuck und Spielzeug aus Beates Kindertagen lagerte.
Der Exkripomann öffnete die Tür neben dem Bad. Mit mehr als einer nackten Glühbirne an der Decke war der Raum nicht ausgestattet. Der ehemals beige Teppichboden war einem strapazierfähigen braunen PVC-Boden gewichen.
Riemenschneider verharrte einen Augenblick auf der Stelle. Da keine dringliche Arbeit nach ihm schrie, schnappte er sich den zusammengeklappten Tapeziertisch, der neben der Tür gegen die Wand gelehnt war, und machte sich ans Werk.
***
Stefan schielte zu seinem Kollegen Wilfried Nickel hinüber, der den Gurt auf der Beifahrerseite löste. „Ganz so unwegsam waren die letzten Kilometer nun auch nicht.“
Er pfiff durch die Zähne. „Alle Achtung!“
„Falls du diesen Felsen meinst, stimme ich dir zu“, grinste Wilfried. „Aber leider sind wir nicht zu unserem Vergnügen hier.“
Stefan hatte sein Fahrzeug am linken Wegrand direkt hinter dem Wagen der Spurensicherung abgestellt. Das Waldstück erinnerte aufgrund der vielen Fahrzeuge an einen Parkplatz in der Innenstadt vor einem der christlichen Feiertage.
Die Ermittler nickten zu ihren uniformierten Kollegen hinüber, ehe sie sich zu ihrem Vorgesetzten gesellten.
Kriminalhauptkommissar Peter Jakobi hatte die Lippen zusammengekniffen und zuckte mit den Mundwinkeln. Die beiden vorwitzigen Wirbel an seinem Hinterkopf schienen sich an diesem Morgen stärker als gewöhnlich von den glatten kastanienbraunen Haaren abzuheben.
„Schöner Mist!“, zischelte Jakobi.
„Ging leider nicht schneller“, entgegnete Stefan.
Jakobi schüttelte den Kopf.
„Euch meine ich nicht.“
„Sondern?“
„Ich nehme an, er meint unser Opfer“, räusperte sich Wilfried und hob das Kinn.
Der gertenschlanke Ermittler, aus dessen Schädeldecke Mutter Natur lediglich einen schwarzen Flaum hatte sprießen lassen, war ein paar Zentimeter kleiner als der Rest der Truppe.
„Das steht noch nicht fest … Es kann genauso gut sein, dass es sich hierbei um einen Unfall handelt“, meinte sein Vorgesetzter, kramte aus seiner Jackentasche ein Stofftaschentuch hervor und schnäuzte sich. „Toni Hilgerts Leute haben den Felsen abgesucht.“
„Wie weit seid ihr?“, rief Wilfried in Hilgerts Richtung.
Der schwergewichtige Beamte der Spurensicherung drehte seinen Kopf erst in Wilfrieds Richtung und wandte sich dann seinem jungen Kollegen zu, der kopfschüttelnd zwischen den Bäumen hervorkam.
„Heißt das …?“, wollte Hilgert wissen.
„Genau das.“
Hilgert zuckte mit den Schultern und winkelte den rechten Arm an.
„Nicht gerade die Welt“, murmelte er und massierte mit seinen behandschuhten Fingern sein Doppelkinn.
Wilfrieds braune Augen wurden kugelrund. Er hasste es, auf die Folter gespannt zu werden. Doch diesmal sollte er nicht allzu lange schmoren.
Der Beamte der Spurensicherung atmete geräuschvoll ein, ehe er den Mund verzog und verständnisvoll nickte.
„Die hier haben wir rechts von der Toten gefunden“, begann Hilgert und streckte den Ermittlern eine geöffnete Handtasche aus schwarzem Leder entgegen. „Offenbar wurde sie vor der missglückten Kletterpartie auf dem Boden abgestellt. Dem Personalausweis zufolge handelt es sich bei der Toten um Katharina Messer aus Wuppertal, 36 Jahre alt.“
Seine kräftigen Finger öffneten die Geldbörse und falteten sie auseinander. „Hier hätten wir zunächst einmal dreihundert Mark in kleinen und großen Scheinen und außerdem eine Euroscheckkarte.“
„Nicht schlecht!“, grinste Wilfried und zeigte mit dem rechten Zeigefinger auf einen hellroten Taschenschirm. „Aber, wie ich die Frauen kenne, kann das noch nicht alles gewesen sein.“
„Wo du recht hast, hast du recht“, gähnte der Spurenmann hinter vorgehaltener Hand, ehe er die in Augenschein genommenen Gegenstände an seinen Kollegen weiterreichte.
Ihnen folgten eine Schachtel Kopfschmerztabletten, ein halbes Dutzend Tampons, ein Lippenpflegestift und eine angebrochene Rolle Pfefferminz. In einem Seitenfach befanden sich ein weißer Kugelschreiber und ein schwarzer Taschenkalender.
„Die drei letzten Blätter hat jemand herausgerissen.“
„Und das mit Hauruck“, meinte Jakobi und streckte die Hand aus. „Wir werden mal sehen, ob das Teil uns weiterbringt.“
„Irgendwelche Spuren auf dem Felsen?“, mischte sich Stefan ein und fischte einen Kaugummi aus seiner Jackentasche, den er vom Stanniol befreite und zwischen den Zähnen verschwinden ließ.
Bernhard Trumpf, im Kollegenkreis nur Bernie genannt, schüttelte den Kopf und drückte die Knie durch. Er war ein hochgeschossener Mann mit braunen Schnittlauchhaaren, rundem Gesicht und platter Nase.
„Es ist frustrierend. Aber, wie das Leben so spielt: Die einzig verwertbaren Abdrücke stammen, dem Profil nach zu urteilen, von ihrem linken Schuh. Und was den anbelangt, können wir froh sein, dass sie irgendwo reingetreten ist. Und dann lag da noch der Rest eines Zigarillos. Ihr könnt euch es gleich aus der Nähe betrachten.“ Er verstummte für den Bruchteil einer Sekunde und hielt ihnen schließlich einen Beutel mit einem winzigen Etwas unter die Nase.
Jakobi nickte und zückte Notizblock und Stift und bewegte gleichzeitig sein linkes Bein vor und wieder zurück. Er hatte in der vergangenen Nacht schlecht geschlafen. Zudem machte sich die Arthrose in seinem linken Knie wieder einmal bemerkbar.
„Ich denke, wir sollten die Kollegen nicht länger warten lassen“, schlug er vor, drehte sich um die eigene Achse, und schielte zu einer kleinen Personengruppe, die sich vor der Kühlerhaube eines Geländewagens versammelt hatte.
***
„Sie haben die Tote gefunden?“, nahm Wilfried das Gespräch auf, während der Fahrer des Streifenwagens den Motor startete.
„So habe ich mir den ersten Arbeitstag nach dem Urlaub nicht vorgestellt“, brummelte der korpulente Mann, nachdem er ein zweites Mal innerhalb einer halben Stunde Auskunft über seine Person erteilt hatte.
„Sie sind Herr Erwin Müller, wohnhaft in Mandern und arbeiten als Forstgehilfe.“ Jakobi heftete seinen Kugelschreiber an den Notizblock. „Aber Sie stammen nicht von hier, stimmt’s?“
Müller kniff die Augenlider zusammen. Für eine Sekunde schien sein Gesicht aus nichts anderem als zwei prallen Tränensäcken und einem schwarzen Vollbart zu bestehen.
„Meine Frau ist Lehrerin und voriges Jahr im August an eine Schule in Saarburg versetzt worden. Ich komme eigentlich aus der Autobranche. Da sich auf die Schnelle kein neuer Job im Büro finden ließ, mache ich halt das hier. Die Arbeit ist nicht mal so schlecht, und vielleicht lässt sich was darauf aufbauen.“
Die Art und Weise, wie er Büro und August aussprach, ließen Jakobi keine Ruhe.
„Kölner Raum?“
Müller schüttelte den Kopf. „Dümpelfeld! Aber sagen wir lieber Adenau. Nein, Nürburgring – den kennen Sie doch?“
„Ja“, erwiderte der Ermittler und rieb die Lippen aufeinander.
Wilfried, der den Reißverschluss seiner Jacke öffnete, schielte erwartungsvoll zu Gerichtsmediziner Franz Decker hinüber.
„Langsam, langsam, und alles der Reihe nach“, krächzte der und räusperte sich hinter vorgehaltener Hand.
„Mein Auftrag für heute Morgen lautet, die Beschaffenheit der Wege in Augenschein nehmen“, kam Müller Wilfrieds Frage zuvor. „Als ich den Jeep hier abstellte, hatte ich ein sonderbares Gefühl. Ja, und dann habe ich sie gefunden.“
Der Mann legte die Hand in die Magengrube. Vorbei war es mit der scheinbaren Gelassenheit.
„Entschuldigung“, murmelte er, während seine Gesichtszüge sich zum wiederholten Male anspannten.
„Was genau hatten Sie getan?“, ergriff Stefan das Wort.
„Ich bin hingelaufen, um erste Hilfe zu leisten. Als sie keine Antwort gab, habe ich mich runter gebeugt.“
„Hatten Sie die Tote zu irgendeinem Zeitpunkt angefasst?“
Müller verzog den Mund und nickte schließlich. „Ich hatte sie am Hals berührt, wollte den Puls tasten. Aber dann habe ich registriert, dass sie wohl schon eine Weile tot war.“
Jakobi klopfte mit seinem Kugelschreiber gegen das Papier.
„Danach bin ich sofort losgefahren …“
„Vielen Dank, Herr Müller! Das wär’s von unserer Seite fürs Erste“, erklärte der Hauptkommissar und schielte zuerst zu den Kollegen und im Anschluss zu seinem Freund von der Gerichtsmedizin hinüber.
***
Franz Decker hob den Kopf und entfernte ein Insekt vom Ärmel seines Mantels, ehe er sich langsam von den Knien erhob. Aufgerichtet maß der untersetzte Mediziner knapp eins fünfundsiebzig. Das dunkelblonde Haar, das seinen rundlichen Kopf bedeckte, zeigte die ersten lichten Stellen.
„Sie sieht ein bisschen aus wie ein Rauschegoldengel mit ihren blonden Haaren und den Korkenzieherlöckchen“, konnte sich Wilfried nicht verkneifen und ließ den Blick über den leblosen Körper wandern. „Aber Spaß beiseite. Die Frau sieht schlimm aus.“
Die Tote lag mit leicht von sich gestreckten Armen und Beinen halb auf der Seite. Ihre Augen waren braun.
„Kontaktlinsen, Augenbrauen gezupft und nachgezogen“, sagte er mehr zu sich als zu den umstehenden Kollegen.
„Ich nehme mal an, die Kletteraktion war wohl eher spontan“, fügte Jakobi hinzu.
„Das sehe ich auch so“, pflichtete ihm Wilfried bei. „Jeansrock, altrosa Batikbluse und darüber eine braune Strickjacke. Was die weißen Schühchen anbelangt: In den Dingern kannst du prima Badminton spielen, mehr aber auch nicht.“
Für einen Moment herrschte Schweigen, bevor Jakobi erneut seinen Notizblock aufklappte.
„Über den genauen Todeszeitpunkt kann ich leider nur spekulieren“, erklärte Franz Decker. „In der vergangenen Nacht und auch heute Morgen war es kühl. Ich tendiere jedoch zu der Annahme, dass sie nach Mitternacht ums Leben gekommen ist.“
Er platzierte die Hände auf seinen Oberschenkeln. „Hat jemand sie bewegt?“
„Der Mann, der sie gefunden hat, sagt nein. Er gibt an, ihr an die Halsschlagader gefasst zu haben, weil er den Puls ertasten wollte“, gab Stefan zur Auskunft.
„Wenn sie zur Seite hingestürzt ist, hat sie vor ihrem Tod um sich geschlagen. Ob dies nun geschah, weil sie ins Straucheln geraten war, wissen die Götter. Auf jeden Fall hat sie eine Menge Blut verloren. Das lässt sich unschwer erkennen. Auch, wenn davon nur noch eine geronnene, halb eingetrocknete Masse übriggeblieben ist. Und wenn wir sie gleich auf den Rücken drehen, werden wir die ganze Bescherung sehen.“
Franz Decker arbeitete in der Regel als Pathologe. Doch ein Sondervertrag, den sein ehemaliger Chef mit den benachbarten Instituten für Rechtsmedizin abgeschlossen hatte, sorgte dafür, dass er und die Kollegen, sofern es die Situation erforderlich machte, im Kreis Trier-Saarburg als Forensiker tätig waren.
Jakobi atmete einige Male vernehmlich ein und aus, und Decker nickte. Sie kannten einander seit ihrem zehnten Lebensjahr, und genauso lange waren die beiden Männer befreundet. Zusammen mit ihrem Schulfreund Riemenschneider bildeten sie ein unzertrennliches Trio.
„Lass uns die Sache hinter uns bringen“, brummte er und bewegte den Unterschenkel hin und her.
Der Anblick, der sich ihnen wenig später bot, übertraf ihre Befürchtungen.
„Vermutlich war sie betrunken“, meinte Franz. „Aber das werden die Untersuchungen ergeben. Die Kleidung hat auf jeden Fall ihren Teil Wein oder etwas in der Art abbekommen.“
Er zuckte mit den Augenbrauen, fegte eine Schuppe vom oberen rechten Brillenrand und schob die Sehhilfe um einige Millimeter nach oben.
„Oh!“, rief Stefan. „Dumm, dass die Spusi den nicht entdeckt hat.“
„Wie?“, meinte Franz verdutzt.
„Für gewöhnlich haben Toni und seine Leute …“, wollte Jakobi erwidern. Doch bevor der den Satz zu Ende bringen konnte, hockte Stefan neben der Leiche und pflückte etwas Unscheinbares aus der Blutlache.
„Ein schwarzer Mantelknopf“, nickte Jakobi in Wilfrieds Richtung und dann zu seinem Schulfreund Decker hinüber. „Wer sagt uns, dass der nicht seit Monaten an dieser Stelle gelegen hat?“
„Niemand!“, erwiderte Stefan und verstaute seinen Fund. „Deshalb nehme ich das Ding ja mit.“
Wilfried trat einen Schritt zur Seite, verlagerte sein Körpergewicht auf den linken Fuß und wiegte den Kopf, ehe er in die Innentasche fasste und eine Zigarettenschachtel nebst Feuerzeug hervorkramte.
Der drahtige Kriminaloberkommissar war der einzige Raucher im Team.
„Weshalb muss es ausgerechnet dieses schreckliche Kraut sein?“, konnte sich Stefan nicht verkneifen.
Doch der Kollege gleichen Dienstgrades verzog die Mundwinkel, schielte auf den filterlosen Glimmstängel und inhalierte tief. Er rauchte seit seiner Jugend, und daran würde sich nichts Grundlegendes ändern. Aber immerhin: In den letzten zwölf Monaten war es ihm gelungen, seinen täglichen Konsum zu reduzieren.
„Hm“, murmelte er.
„Noch eine Überraschung ertrage ich nicht!“, jammerte Jakobi.
Wilfried zuckte mit den Schultern und zwickte sich in die Nase, ehe er die Kippe zu Boden schnippte und zertrat.
„Habt ihr euch die Fingernägel näher angeschaut?“, fragte er schließlich in die Runde.
Jakobi räusperte sich.
Stefan trat einen Schritt näher an die Leiche heran.
„Tut mir leid, ich kann dir nicht ganz folgen.“ Er schwieg einige Sekunden und kraulte in seinen Haaren. Dabei zerstörte er nicht nur seinen akkurat gezogenen Mittelscheitel, sondern verwandelte die gesamte Frisur, abgesehen von den Haaren am Hinterkopf, die tief im Nacken endeten, in ein struppiges Etwas.
„Ich würde sagen, die Maniküre ist etwas zu kurz gekommen“, meinte er schließlich.
„Das dachte ich zunächst auch“, erklärte Wilfried. „Dafür habe ich ein lebendes Beispiel in meiner Familie. Unsere Marion ist in dieser Hinsicht kein Fan von Maniküre. Die nimmt ihre Nagelschere, und los geht‘s. Wie das Ganze hinterher aussieht, scheint ihr völlig schnurz zu sein. Dabei wird sie in drei Monaten achtzehn.“
„In dieser Hinsicht ist jeder Mensch anders“, meinte Franz, von dessen fünf erwachsenen Kindern, drei weiblichen Geschlechts waren. „Aber ich ahne, worauf du hinauswillst, Wil. Die beiden Daumennägel könnten genauso gut abgekaut sein.“
Wilfried antwortete mit Schweigen. Für einen Augenblick verharrte er auf der Stelle und starrte zu einer Gruppe von Bäumen hinüber. Schließlich verzog er die Mundwinkel, trat einen Schritt zurück und zuckte mit den Schulterblättern.
***
„Wo sind die Zeiten hin, in denen man von seinen Untergebenen verwöhnt wurde?“, seufzte Jakobi und setzte die Kaffeemaschine in Gang.
Der Ausflug ins Grüne, wie die Kollegen, die sich als Erste zum Fundort der Leiche aufgemacht hatten, diesen Einsatz genannt hatten, war weitaus zeitintensiver gewesen als vorausgesehen. Zu guter Letzt hatten sie sich bei Betreten des Präsidiums an einem Team von Ersthelfern, das sich um einen Bewusstlosen geschart hatte, vorbeischlängeln müssen.
Irgendwo knallte eine Tür ins Schloss.
Wilfried fuhr auf seinem Stuhl herum und schielte hinaus. Nachdem sich der Verursacher dieser Ruhestörung nicht ausfindig machen ließ, verschränkte er die Hände im Nacken.
„Das war ironisch gemeint, nehme ich an“, krächzte er und versetzte der unteren Schreibtischschublade einen Tritt.
Sein Vorgesetzter schob die Augenbrauen zusammen und kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück.
Jakobis und Stefans Schreibtisch reihten sich mit der Längsseite an den von Wilfried und einen vierten Tisch an. An ihm hatte Riemenschneider gearbeitet. Seit dessen Ausscheiden aus dem Team war dieser Teil des „Familientisches“, wie dieses Ensemble mit einem leichten Augenzwinkern genannt wurde, verwaist und wurde hin und wieder von eventuell vorbeischauenden Kollegen in Beschlag genommen.
„Wo fangen wir an?“, wollte Stefan wissen, setzte sich kerzengerade und spreizte die Finger auf der Tischplatte.
„Ganz arbeitswütig der Kollege. Liegt wohl an der Schwangerschaft, wobei …“, griente Wilfried und beendete seinen Anflug von Flapsigkeit mitten im Satz.
„Abgesehen von den drei fehlenden Seiten, ist dieses Ding hier absolut jungfräulich“, fuhr er fort. „Da steht rein gar nichts drin. Nicht einmal ein Strich!“
„Langsam, Wilfried“, beschied Jakobi, der zu einem Kopfnicken angesetzt hatte, dann aber einem inneren Drang gehorchend, den Taschenkalender ein weiteres Mal aufklappte, und hob die Hand.
„Seht ihr das hier?“, meinte er und tippte mit dem Zeigefinger auf die Innenseite des Deckels.
Stefan nickte: „Da haben sich zwei Ziffern durchgedrückt.“
„Oder, wenn man das Ganze etwas großzügiger betrachtet, sind es sogar drei. Bei der ersten Ziffer würde ich für eine Vier plädieren“, überlegte Wilfried und griff nach Stift und Zettel, die er kurz darauf an Jakobi weiterreichte.
Stefan rutschte vom Stuhl und kehrte mit drei vollen Kaffeebechern an seinen Platz zurück.
Die Türklinke bewegte sich nach unten.
„Ist noch zu früh!“, begrüßte Peter Jakobi Kriminalrat Ignaz Hermann, als dieser den ersten Fuß über die Schwelle setzte.
„Das habe ich mir bereits gedacht.“
Hermann schielte Jakobi über die Schulter. Nachdem er sich ein erstes Bild von dessen Aufzeichnungen gemacht hatte, ließ er sich auf dem freien Stuhl nieder.
Der leicht übergewichtige Beamte war im Laufe seiner Dienstzeit in verschiedenen Städten und in verschiedenen Bundesländern tätig gewesen. Nicht zuletzt seiner pubertierenden Söhne wegen, hatte er Anfang des letzten Jahres den Wechsel von Berlin nach Trier vollzogen.
„Morgen früh wird ihr Foto in der Zeitung erscheinen“, brummelte Jakobi und drehte die Tasse zwischen seinen Händen so, dass die braune Flüssigkeit in ihrem Inneren hin und her schwappte.
„Nun ja, sie stammt aus Wuppertal.“ Er nahm einen kräftigen Schluck. „Das heißt, wir werden ohne die Hilfe der dortigen Kollegen nicht umhinkönnen.“
„Und was wissen wir sonst noch?“, tönte der Kriminalrat in unverkennbarem Bass und schielte in Wilfrieds Richtung, der seine Unterarme auf dem Tisch ausstreckte.
Der Angesprochene hob die Brauen.
„Auch ohne den Bericht der Gerichtsmedizin abzuwarten, können wir mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Frau zum Zeitpunkt ihres Ablebens betrunken war.“
Hermann räusperte sich und kratzte sich an der äußeren rechten Ecke seines Schnurrbartes.
„Keine harten Sachen“, fuhr Wilfried fort. „Wein, Sekt oder zumindest etwas in der Richtung. Letzte Nacht war ausgesprochen kühl. Aber die Kleidung war alles andere als witterungsgemäß. Ein Teil der Fingernägel schien abgekaut.“
Der drahtige Oberkommissar langte in seine Brusttasche, stellte ein Feuerzeug vor sich hin und klemmte sich eine seiner filterlosen Zigaretten zwischen die Lippen.
„Egal, was sich auch immer vergangene Nacht im Wald abgespielt hat,“ Er inhalierte tief. „Eines dürfte klar sein.“
Riemenschneider blinzelte auf die Uhr an seinem linken Handgelenk. Die Stunden waren schneller verflogen als erwartet. Er schaute sich im Zimmer um und fand, dass er mit seiner Arbeit recht zufrieden sein konnte: drei Wände in Hellgelb und eine Wand mit Disney-Figuren. Der Geschmack von Tochter und Schwiegersohn war nicht einmal so übel.
Nun aber nicht trödeln, ermahnte er sich nach einem weiteren Blick auf die Armbanduhr und eilte ins Erdgeschoss.
Die Arbeitsklamotten stopfte er in die Wäschetonne. Für eine ausgiebige Dusche reichte die Zeit nicht mehr. Beate würde es überleben, wenn er ausnahmsweise mal nur zum Deo griff.
Erste Dämmerung machte sich breit, als er zehn Minuten später die Haustür hinter sich ins Schloss zog.
„Rechts … nein weiter nach links!“, drang es an sein Ohr, als er das Garagentor öffnete, daraufhin ein „Nächstes Mal frage ich Heiner.“
Der Exkripomann schüttelte den Kopf und startete den Motor. Als er mit seinem roten Benz am Nachbarhaus vorbeifuhr, entdeckte er Pauline und Balduin Kiefer bei der Gestaltung ihres Vorgartens. Untermalt mit dem üblichen Gekeife, verrichtete das Ehepaar diese mit einer solchen Aufmerksamkeit, dass die Welt ringsum nicht mehr zu existieren schien. Leider bemerkten beide nicht, wie sehr sie mit diesem Schauspiel zur Erheiterung der Nachbarschaft beitrugen.
Obwohl er über eine Strecke von mehreren Kilometern hinter einem Holztransporter her hatte fahren müssen, stellte er nach einer Fahrtzeit von knapp fünfzig Minuten seinen Wagen auf dem Krankenhausparkplatz ab.
Er löste den Sicherheitsgurt, tastete nach der Mittelkonsole, in der er seit Jahr und Tag stets einen Beutel mit Eukalyptusbonbons aufbewahrte und schob sich eines in den Mund.
Auf der Straße war der Feierabendverkehr in vollem Gange. Zudem hatte der Regen, der sich zu Anfang der Fahrt tröpfchenweise angekündigt hatte, an Stärke zugenommen.
Der Frühpensionär schlug den Kragen seiner Jacke nach oben. Auf den ersten Metern kam ihm ein junges Ehepaar mit drei Kindern entgegen. Das jüngste, ein kleines quengelndes Mädchen, trug der Vater auf seinem Arm, während die Mutter die beiden sich anrempelnden Brüder in jugoslawischer Sprache ermahnte. Nachdem er einem älteren Herrn mit Gehhilfe ins Freie geholfen hatte, schielte er erneut auf die Uhr.
Krankenhausluft schlug ihm entgegen. Er registrierte zwei leere Sitzwagen. Nicht weit davon entfernt hatten sich vier Frauen vor einer Sitzecke nebeneinander aufgereiht, offensichtlich im Disput mit einem hageren Mann im roten Bademantel, der keine Anstalten machte, seinen Platz zu verlassen.
Riemenschneider schüttelte die schulterlangen Haare in den Nacken und schaute sich nach allen Seiten um. Nach einem Blick auf die Anzeige über der Fahrstuhltür, verschwand er im Treppenhaus.
„Von einer so gutaussehenden Sozialarbeiterin möchte ich mal in Kur geschickt werden“, begrüßte er seine Tochter.
„Wozu brauchst denn du eine Kur?“, lachte Beate und spitzte die Lippen.
„Ach Heiner, wärst du wohl so lieb? … Ich bräuchte zwei von diesen großen Umschlägen und zwei von den langen mit Fenster“, erklärte sie und tippte mit dem rechten Zeigefinger in die jeweilige Richtung. „Die nehme ich gleich mit. Dann wäre das auch erledigt.“
Im Alter von zehn Jahren hatte sie ihm unterbreitet, es könne unmöglich angehen, dass alle Väter Papa hießen und beschlossen, ihn fortan beim Vornamen zu nennen. Und nun würde sich dieser Vorname bald um eine kleine Ergänzung erweitern.
„Morgen ist auch noch ein Tag“, holte ihn Beate in die Gegenwart zurück.
„Wir haben heute viel gearbeitet.“ Sie schlüpfte in eine blaue Strickjacke und schielte auf ihren Babybauch.
„Geht es dir gut?“
„Der Zwerg ist recht lebhaft. Aber das ist ja nichts Neues. Ist etwas mit Stefan?“
„Gegen Mittag hat Peter angerufen.“ Er betrachtete seine Tochter, der er nicht nur die Gesichtszüge und die stahlblauen Augen vererbt hatte. Auch in ihrem Wesen waren beide nahezu identisch. Dies war oft störend und heilsam zugleich. Hinzu kamen wellige, feuerrote Haare, die Beate meist zu einem Zopf geflochten hatte, der fast bis zur Taille reichte. Diese Haarfarbe verdankten sie wohl einem rothaarigen Paar in der Ahnenreihe. Seine eigenen waren seit vielen Jahren weiß.
„Tja! Das ist das Los aller Polizistenfrauen“, meinte Beate und folgte ihrem Vater hinaus auf den Flur, der, wie an allen Werktagen, auch um diese Uhrzeit nicht verwaist war.
„Nun mach schon!“, schimpfte wenige Meter von ihnen entfernt eine Krankenschwester und trommelte mit den Fäusten gegen die Türen eines Bettenaufzugs.
Beate grinste und öffnete einem inneren Impuls folgend ihre Lippen, vermied es aber, sich zu einer Bemerkung hinreißen zu lassen.
Sekunden später hatte das Warten der ungeduldigen Pflegekraft ein Ende.
„Wenn Sie möchten, können sie gern mitfahren“, rief sie zu ihnen herüber.
Eine Frau mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf gesellte sich zu ihnen. Ihr Teint wirkte fast durchsichtig und ihr dunkelblondes Haar, das im Nacken mit einer Spange zusammengehalten wurde, matt. Aufgequollene Lider! Ein paar Falten taten ein Übriges.
Riemenschneider vermutete, sie war wesentlich jünger als sie aussah.
„Frau Mogosky, ich habe das Formular ausgefüllt“, wandte sie sich an Beate und zupfte an ihrer Jacke. „Entschuldigung, ich bin zurzeit etwas vergesslich. Wann war noch mal der Termin?“
„Morgen um halb zehn, Frau Schilling“, erwiderte Beate.
Die Frau bedankte sich und wandte sich zum Gehen. Dabei blieb ihr Blick für einen Moment an Riemenschneider hängen.
Fünf Jahre war es her. An jenem Julimorgen 1978 hatte Petrus etwas zu viel des Guten getan. Die Sonne knallte vom Himmel, und jeder, der konnte, hielt nach einem schattigen Plätzchen Ausschau.
Um zehn war der Anruf im Präsidium eingegangen.
„Dann wollen wir mal!“, meinte Wilfried, der nach Jakobi und Riemenschneider ausgestiegen war und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, ehe er den Wagen abschloss.
Heiner Riemenschneider verdrehte die Augen. Die Adresse, zu der sie gerufen worden waren, entpuppte sich als ein sanierungsbedürftiges Gebäude. Um den Imbiss im Erdgeschoss, aus dem der Duft von ranzigem Frittierfett drang, schien es nicht viel besser bestellt. Hier hätte sich das Gesundheitsamt nach Herzenslust austoben können.
Die Haustür war angelehnt und jammerte beim Öffnen in allen Tonlagen. Nachdem sie sich an einem Stapel Getränkekästen vorbei gezwängt und ein Herrenfahrrad ohne Klingel quer über den Flur geschoben hatten, stand ihrem Aufstieg in die oberen Etagen nichts mehr im Weg.
Die Stufen waren ausgetreten. Vor den Wohnungstüren im ersten Stock standen Schuhe in unterschiedlichen Größen. Zwischen der zweiten und dritten Etage kam ihnen ein älterer Herr mit einem Rauhaardackel entgegen. Wenig später erreichten sie ihr Ziel. Die einzige Wohnung im Dachgeschoss befand sich hinter einer Sperrholzwand mit Schiebetür.
Riemenschneider kramte einen Haargummi aus der Hosentasche und verwandelte seine Mähne in einen Pferdeschwanz, während sein Freund Jakobi den Daumen auf den Klingelknopf legte.
Er schellte ein zweites Mal und versuchte es schließlich mit Klopfen.
„Herr Schilling!“.
„Wenn der uns verarschen will, kann er sich schon mal warm anziehen“, zischelte Wilfried und schielte zu Riemenschneider hinüber.
Sein Vorgesetzter zuckte mit der rechten Schulter.
Jakobi ballte erneut seine Hand zur Faust. Doch dann vernahmen sie Schritte.
„Sie müssen entschuldigen, aber es ging nicht schneller“, keuchte ein hagerer Mann mittleren Alters und schloss den Gürtel seiner Hose. Sein linkes Ohrläppchen war angewachsen. Über der rechten Braue prangte eine winkelförmige Narbe. Eine zweite begann direkt neben dem rechten Nasenflügel und endete auf der Oberlippe.
Riemenschneider schätzte ihn auf Anfang vierzig. Er trug ein hellgelbes Hemd und eine graue Stoffhose und war ungefähr so groß wie er selbst. Seine Haare waren dunkelbraun und glatt nach hinten gekämmt. Erst als er sich umdrehte, entdeckte der Beamte den Pferdeschwanz, der bis tief in den Rücken reichte.
„Kommen Sie bitte mit ins Wohnzimmer. … Blandine! Blandine, bist du im Schlafzimmer?“
„Meine Frau ist erst heute aus der Kur gekommen“, erklärte er und öffnete die Tür am Ende des Flures.
Der Raum, in den er die Ermittler führte, verfügte über eine Grundfläche von gut und gerne dreißig Quadratmeter. Jedoch schränkten zwei Dachschrägen die Einrichtungsmöglichkeit stark ein. In seiner rechten Hälfte befanden sich eine dunkelgrüne Couchgarnitur, zu der ein kleiner Glastisch gehörte und ein Vitrinenschrank. Eine zweite Vitrine stand links von der Tür, in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem Esstisch mit sechs Stühlen und unter dem Fenster ein Klavier und zwei Hocker.
„Bitte nehmen Sie doch Platz“, meinte Schilling und ordnete eine beachtliche Anzahl von Zeitungen zu einem Stapel, den er auf dem Esstisch absetzte.
Riemenschneider hatte es sich auf der Couch bequem gemacht. Entgegen seiner Befürchtung waren die Temperaturen im Raum erträglich. Er zuckte mit den Mundwinkeln und warf einen Blick in die Runde.
Schilling, der sich neben ihn gesellte, beugte den Oberkörper vor.
„Tut mir leid!“, schniefte Blandine Schilling, schnäuzte sich und versuchte, der Tränen Herr zu werden, die ohne Unterlass aus ihren hellblauen Augen kullerten. Die Frau maß knapp eins siebzig. Ihre dunkelblonden, glatten Haare endeten einige Zentimeter über den Schulterblättern. Gekleidet war sie mit einer weinroten Bluse und einer hellbeigen Stoffhose.
„Wäre ich bloß nicht in diese Kur gegangen. Mein Mann weiß, wie lange ich mich dagegen gesträubt habe. Vor zwei Stunden hat er mich von der Bahn abgeholt. Und nun – oh Gott, mein armer Schatz! Sie ist erst elf.“
„Blandine, nur nicht den Mut verlieren“, raunte ihr Mann und streichelte ihren Oberarm.
Wieder so ein Paar, dass der Kinder wegen oder genauer gesagt, des Kindes wegen zusammengeblieben ist, dachte Riemenschneider. Selbstverständlich gab es Menschen, die ihre Gefühle nicht zeigen konnten. Sobald Vertreter seines Berufsstandes auftauchten, gingen die Leute in Habachtstellung. Damit konnten er und die Kollegen leben. Natürlich war es nicht ausgeschlossen, dass er sich täuschte. Aber, wenn dies ausgerechnet hier und jetzt der Fall sein sollte, würde es ihn sehr wundern. Ihre Augen waren nicht allein vom Weinen aufgequollen. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Sein Blick wanderte zu Wilfried hinüber. Wie auf ein geheimes Zeichen hin, strich dieser sich mit dem Zeigefinger über den Flaum auf seiner Schädeldecke.
„Herr Schilling“, räusperte er sich und zog die Beine an sich heran. „Am besten erzählen Sie uns einmal frei von der Leber weg. Was genau ist passiert?“
„Okay!“ Der Befragte hielt mit dem Tätscheln inne und krallte seine Finger in die Polster. „Gestern Morgen beim Frühstück meinte unsere Tochter Monika, dass ich nicht mit dem Essen auf sie warten bräuchte, da die Klasse im Anschluss an den Sportunterricht in der Stadt in eine Eisdiele einkehren wolle.“
„Sekunde bitte“, unterbrach Riemenschneider und platzierte seine Unterarme auf den Oberschenkeln. „Ich möchte kurz auf die Sache mit dem Mittagessen zurückkommen. Sie erteilen Klavierunterricht, nicht wahr?“
Er hob seine Fersen und stellte sie zurück auf den Boden. „Arbeiten Sie überwiegend zuhause?“
Schilling schüttelte den Kopf. „Das läuft nebenher. Außerdem arbeite ich stundenweise als Musiklehrer. Aber in erster Linie bin ich Mitglied des Symphonie-Orchesters.“
Er schwieg einen Augenblick und blinzelte zwischen den Ermittlern hin und her.
Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass du etwas eitel bist. Aber lassen wir das, dachte Riemenschneider und nickte.
„Fahren Sie bitte fort!“
„Ab wann wurden Sie unruhig?“, nahm Wilfried die Befragung wieder auf.
„Gegen halb zwei“, erwiderte Schilling und rutschte ein Stück nach vorn. „Zunächst unternahm ich ein paar Versuche, die Lehrerin telefonisch zu erreichen. Doch dort war ständig besetzt. Danach habe ich zwei von Monikas Freundinnen angerufen. Bei einem dritten Mädchen habe ich persönlich vorbeigeschaut. Die Familie hat kein Telefon. Alle berichteten mir, dass sich unsere Tochter bereits nach einer halben Stunde auf den Nachhauseweg gemacht habe.“
Vor dem Haus preschten zwei Rettungsfahrzeuge in Richtung Stadtmitte, und in einem der darunterliegenden Stockwerke betätigte jemand die Toilettenspülung.
Jakobi versah seinen letzten Eintrag mit einem Fragezeichen und öffnete einen weiteren Kragenknopf.
„Was haben Sie als Nächstes getan?“, brummte er und sah zu, wie die Frau des Hauses ihr aufgeweichtes Taschentuch in der Hosentasche verschwinden ließ.
„Ich schnappte mir das Telefonbuch. Es dauerte nicht lange, bis ich die Liste mit den Krankenhäusern gefunden hatte. Doch in dem Moment, als ich den Hörer abhob, klingelte es an der Tür. Der Mann, dem der Imbiss im Erdgeschoss gehört, meinte, irgendwer habe sich wieder einmal vertan und streckte mir …“
Er erhob sich, stopfte mit dem rechten Handrücken sein Oberhemd von hinten in die Hose, eilte zum Esstisch und kehrte Sekunden später mit einem kleinen Kuvert an seinen Platz zurück.
„Bitte, lesen Sie selbst“, bat er Riemenschneider.
„Mit der Post ist er jedenfalls nicht gekommen“, stellte der Kriminalhauptkommissar fest, nachdem er einen Papierbogen in der Größe A4 aus dem Umschlag geschüttelt und glattgestrichen hatte. „Lesen wir doch mal, was hier steht.
Du hast lange genug mit uns den Molly gemacht. Nun ist Schluss. Deine Tochter ist ein unschuldiges kleines Ding. Wenn du sie wiederhaben willst, musst du zahlen. Das Gymnasium nahe am Bahnhof ist dir ein Begriff. Nicht weit vom Haupteingang gibt es einen Abfalleimer. Genau dort hinein wirst du am Freitag um halb zehn einen Briefumschlag mit 20.000 DM legen und danach ganz schnell das Weite suchen. Merke: Keine Polizei!“
Eine Sekunde lang sprach niemand ein Wort.
„Herrje! Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache“, meldete sich Blandine Schilling zu Wort.
Ihr Mann drehte den Kopf zur Seite und warf ihr einen verständnislosen Blick zu.
„Ich meine ja nur“, fuhr sie fort. „Hier steht, keine Polizei. Wir dürfen keinen Fehler machen. Ich würde es mir nie verzeihen.“