Tot und kalt - Rita Schiavi - E-Book

Tot und kalt E-Book

Rita Schiavi

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Beschreibung

Enzo, ein Bauarbeiter, der einem Skandal auf der Spur ist und die Gewerkschaft in Lausanne darüber informieren wollte, ist plötzlich verschwunden. Gewerkschaftssekretärin Fanny Mendes will herausfinden, was geschehen ist, und bringt sich selber in Gefahr, als sie in die Ermittlungen eingreift. Ihr zur Seite stehen Kommissar Thierry Süssli und die Bauingenieurstudentin Cornelia, die, nach dem Zusammenbruch ihres Vaters, die Geschicke der Firma Bazzi lenkt. Schon bald stellt sich heraus, dass in all die ominösen Machenschaften, die die drei aufdecken, die Mafia verwickelt ist. Die Autorin Rita Schiavi, die fast ihr ganzes Berufsleben lang als Gewerkschaftssekretärin gearbeitet hat, siedelt ihren Fall in einer Realität an, die sie sehr genau kennt. Natürlich sind alle handelnden Personen und Gegebenheiten erfunden, sie könnten sich aber durchaus so zugetragen haben.

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Tot und kalt

Fanny Mendes’ erster Fall

Rita Schiavi

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Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet - www.herzsprung-verlag.de

© 2022 – Herzsprung-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2021.

Lektorat: CAT creativ - www.cat-creativ.at

Coverbild gestaltet von © Marina Bonnot-Schiavi

ISBN: 978-3-98627-016-2 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-98627-017-9 - E-Book

*

Inhalt

Prolog

Fanny Mendes

Cornelia Bazzi

Philipp

Das Kennenlernen

Die Gewerkschaftsversammlung

Sonntagsbrunch

Auf der Baustelle

Pasquale

Maddalena in Not

Nervenzusammenbruch

Burn-out

Amendola

Süditalien

Enzos Familie

Claudio

Mimmo

Cornelia

Kommissar Thierry Süssli

Cornelia und Maddalena

Ein grausiger Fund

Ein Schock

Befragung

Eine Mauer des Schweigens

Wende

Mord

Zu Hause

Schrecklicher Verdacht

Regnerischer Samstag

Festnahme

Ferienende

Eine grosse Hilfe

Ungereimtheiten

Fortschritte

Zurück

Ein Anruf

Luca

Genf

Hilfe erbeten

Kollegen

Verhaftung

Die Trauerfamilie

Der verschwundene Chef

Onkel Aldo

Bern

Eine Warnung

Der Neffe

Unbefriedigende Lösung

Die Autorin

Buchtipp

*

Für Hans

*

Prolog

Punkt zwölf Uhr dreissig hielt – wie jeden Tag – das Auto von Bruno Bazzi vor der Garage seines Wohnhauses in Lausanne. Seine Frau Rosa konnte sicher sein, dass er sich kurz nach halb eins zum Mittagessen an den Tisch setzen würde. Trotzdem wartete sie jeweils auf das Geräusch des parkenden Autos, bevor sie die Pasta in das kochende Wasser eintauchte, denn Bruno Bazzi liebte die Pasta al dente. Seit ein paar Jahren assen die Bazzis meistens nur noch zu zweit zu Mittag. Die beiden grösseren Töchter waren schon ausgezogen und die kleinste blieb über Mittag meistens in der Schule. Für Bruno Bazzi und seine Frau war das gemeinsame Mittagessen ein wichtiger Moment, bei dem sie in Ruhe über alles Anstehende sprechen konnten. Und für Rosa Bazzi war das Kochen für die Familie, auch wenn es oft nur noch für ihren Mann war, die wichtigste Tätigkeit des Tages, denn sie war, seit sie als junge Frau in die Schweiz gekommen war, nie berufstätig gewesen. Ausserdem kochte sie gerne und war auch eine gute Köchin. Ihr Mann wusste es zu schätzen, dass er täglich zwei warme und gute Mahlzeiten bekam.

Bruno war ein guter Esser. Das sah man ihm auch an. In den letzten Jahren hatte er ein Bäuchlein bekommen. Da Bruno aber für einen Süditaliener eher gross gewachsen war, standen ihm die paar zusätzlichen Kilos nicht schlecht. Seine Frauen pflegten zu sagen, er sehe nun weniger sportlich, dafür aber stattlicher und durchaus vertrauenserweckend aus. Beim Mittagessen erzählte Bruno Bazzi meistens, was er im Geschäft erlebt hatte, wen er von den gemeinsamen Bekannten gesehen oder am Telefon gesprochen hatte.

Frau Bazzi dagegen erzählte meistens von der Familie, von den Töchtern, die sich regelmässig bei ihr telefonisch meldeten. Und von ein paar Freundinnen, die sie regelmässig traf. In den letzten Monaten war die älteste Tochter Barbara das Hauptgesprächsthema, denn sie erwartete ein Kind. Es war das erste Enkelkind der Bazzis und Rosa freute sich sehr, bald eine neue Aufgabe in der Familie zu bekommen. Manchmal, aber nur selten, sprach Bruno Bazzi auch von Problemen in der Firma, die sich in letzter Zeit häuften. Er belastete seine Frau zwar nur ungern damit. Dennoch war es wichtig, dass sie über wichtige Dinge informiert war.

Bruno Bazzis Baugeschäft hatte die letzten zwanzig Jahre floriert und gute Gewinne abgeworfen. Aber in den letzten paar Jahren war es für ihn schwieriger geworden, die Konkurrenz aggressiver. Immer häufiger musste er den Preis senken, um überhaupt noch Aufträge zu bekommen. Besonders wenn er grössere Projekte oder gar Projekte für die öffentliche Hand realisieren wollte, denn bei Ausschreibungen bekam in der Regel der billigste Anbieter den Zuschlag. Schon vor ein paar Monaten hatte Bruno Bazzi ein Mehrfamilienhaus, das ihm gehörte, auf seine Frau überschreiben lassen.

„Der Notar hat mir heute mitgeteilt, dass die Eigentumsübertragung nun unter Dach und Fach ist“, berichtete Bruno heute beim Mittagessen seiner Frau. „Damit bist du abgesichert, wenn mir oder der Firma etwas geschehen sollte.“

Rosa Bazzi verstand immer noch nicht, warum dies nötig gewesen war. Sie war beunruhigt und wollte, dass ihr Mann ihr nochmals versicherte, dass die Firma nicht vor dem Konkurs stand.

„Nein, Rosa, es geht uns nicht wirklich schlecht. Aber es geht auch nicht mehr so gut wie früher. Und es ist wichtig, dass man rechtzeitig vorsorgt. Einfach für den Fall, dass etwas passiert.“

Dann hatte Bruno seiner Frau noch etwas mitzuteilen: „Mein Bruder Aldo hat mich heute angerufen. Er möchte, dass wir den Neffen seiner Frau, Pasquale, für ein paar Monate bei uns aufnehmen. Ich werde ihn in der Firma beschäftigen, auch wenn ich nicht recht weiss, was ich da mit ihm anfangen soll. Aber Aldo hat mir gesagt, dass der Junge unbedingt wegmüsse von zu Hause. Er hat seinen Studienabschluss nicht geschafft und scheint in ein Loch gefallen zu sein. Du weisst ja, dass sein jüngerer Bruder, der jetzt auch beim Vater im Geschäft eingestiegen ist, der Tüchtigere ist. Dass Pasquale jetzt auch noch durch die Abschlussprüfungen gerasselt ist, hat die Spannungen zu Hause erhöht.“

Rosa war nicht sehr erfreut über diese Mitteilung. Sie mochte die beiden Neffen von Aldos Frau überhaupt nicht und sie wusste, dass auch ihre Töchter den beiden nicht über den Weg trauten. Besonders Pasquale war immer sehr unangenehm aufdringlich gewesen zu den jungen Bazzi-Mädchen. Er wollte sie immer ausführen, wenn sie in den Sommerferien im Heimatdorf des Vaters waren, und er machte sich mit den hübschen Mädchen aus der Schweiz bei seinen Freunden wichtig. Ausgerechnet jetzt, wo auch ihre Tochter Cornelia für die Zeit der Semesterferien wieder bei ihnen wohnen würde, hatte Rosa Bazzi gar keine Lust, auch noch Pasquale im Haus zu haben.

„Er kann ja im Studio unten wohnen, da hat er seinen eigenen Eingang. Und zum Essen muss er ja nicht immer hier sein. Die Mädchen können dafür sorgen, dass er ein paar junge Leute kennenlernt. Ich werde ihn auch zu einem Französischkurs anmelden, dann lernt er wenigstens etwas, ist beschäftigt und lernt vielleicht auch ein paar Leute kennen, mit denen er sich treffen kann“, meinte Bruno Bazzi.

Rosa wusste, dass Bruno seinem Bruder diese Bitte nicht abschlagen konnte und willigte schliesslich ein. „Gut, für den Anfang soll er hier wohnen. Aber es wäre besser, wenn du ihm dann ein Zimmer oder eine kleine Wohnung suchst. Es gibt ja möblierte Appartements, die man für ein paar Monate mieten kann. Es kann dem Jungen auch nicht schaden, wenn er etwas selbstständiger wird“, meinte Rosa.

Damit war auch Bruno einverstanden und er versprach, gleich einen Angestellten damit zu beauftragen, ein Appartement für Pasquale zu suchen.

*

Fanny Mendes

„So heiss ist es im Juni noch nie gewesen“, dachte Fanny, als sie am Morgen ins Büro kam. Sie war besonders früh aufgestanden und wollte heute dafür etwas eher nach Hause gehen, denn im Büro gab es keine Klimaanlage und an diesen heissen Tagen war es am Nachmittag fast nicht mehr möglich, zu arbeiten. „Wenn das so weitergeht mit der Hitze, werden wir wohl beantragen müssen, dass ein Klimagerät angeschafft wird“, ging es ihr durch den Kopf. Eigentlich wollte Fanny das nicht, denn sie wusste, dass Kühlgeräte Stromfresser waren. Auch auf den Baustellen beklagten sich die Kollegen, dass sie es im Sommer fast nicht mehr aushielten. Fanny hatte sie über Mittag auf einer Baustelle besucht und ihnen geraten, wenigstens sehr viel zu trinken, und sie hatte versprochen, mit der Firmenleitung zu sprechen, dass sie mehr Wasser zur Verfügung stellen sollte.

Nachdem sich Fanny kurz im See abgekühlt hatte, sass sie nun wieder in ihrem Büro bei der Gewerkschaft Bau und war mit der Vorbereitung eines Gerichtsfalles beschäftigt.

Fannys Vater Joao Mendes war vor vielen Jahren aus Portugal in die Schweiz gekommen. Er hatte als Bauarbeiter hart gearbeitet und war auch in der Gewerkschaft als Vertrauensmann aktiv geworden. Er war sozusagen das Verbindungsglied zwischen seinen Kollegen auf der Baustelle und dem Gewerkschaftssekretär, der sie regelmässig auf der Baustelle besuchte, den er aber auch an Versammlungen traf oder anrief, wenn ein Kollege ein Problem hatte. Später war Fannys Vater selbst Gewerkschaftssekretär geworden. Er war einer der ersten Portugiesen gewesen, die in der Schweiz Arbeit gesucht hatten. Mittlerweile kamen die meisten Bauarbeiter auf den Lausanner Baustellen aus Portugal. Die Gewerkschaft war deshalb dazu übergegangen, Portugiesen als Gewerkschaftssekretäre anzustellen, welche das Vertrauen ihrer Landsleute genossen und auch deren Sprache sprachen. Fannys Vater war bei den Gewerkschaftsmitgliedern sehr beliebt gewesen. Alle kannten ihn und er half allen, die ein Problem hatten, so gut es ging. Auch in seiner Freizeit war er für seine Kollegen unterwegs und den Sonntagnachmittag verbrachte er meistens im portugiesischen Klublokal, wo ihn auch seine Tochter Fanny häufig hinbegleiten durfte. Ihm war es sehr wichtig, dass seine drei Kinder – Fanny hatte noch eine jüngere Schwester und einen älteren Bruder – eine gute Ausbildung bekommen konnten. Er selbst hatte nur wenige Jahre die Schulbank gedrückt. Und er war sehr stolz auf seine Tochter Fanny, die Juristin geworden war. Und noch viel stolzer war er, dass Fanny ihr Studium nicht dazu verwenden wollte, um möglichst viel Geld zu verdienen, sondern in Vater Joaos Fussstapfen trat. Schon während des Studiums hatte Fanny begonnen, ehrenamtlich bei der Gewerkschaft auszuhelfen. Und gleich nach dem Abschluss war sie für den gewerkschaftlichen Rechtsdienst angestellt worden.

Aber Fanny war keine Schreibtischtäterin. Ihr war es wichtig, nicht nur im Rechtsdienst zu arbeiten, sondern auch als Gewerkschaftssekretärin die Kolleginnen und Kollegen auf die Baustellen zu begleiten. Sie hatte einen sehr guten Draht zu den Arbeitern. Obwohl Fanny blond war und recht gut aussah, musste sie sich auf den Baustellen nie blöde oder gar sexistische Sprüche anhören. Ganz im Gegenteil. Die Arbeiter respektierten sie sehr. Sie wussten, dass Fanny sich engagiert für die Arbeiter einsetzte und waren froh, sich mit ihr in ihrer Muttersprache unterhalten und beraten lassen zu können. Neben Portugiesisch sprach Fanny auch Italienisch und Spanisch und konnte sich so mit den meisten Bauarbeitern in deren Muttersprache unterhalten. Für die Gewerkschaft war sie deshalb eine höchst wertvolle Mitarbeiterin. Darüber hinaus war sie aber auch sehr engagiert und eine Gerechtigkeitsfanatikerin. Wenn Fanny irgendwo ein Unrecht witterte, dann gab es für sie keinen Feierabend. Dann blieb sie dran und unternahm alles, um das Unrecht aus der Welt zu schaffen. Sie hatte bei ihren Gesprächen auf den Baustellen schon manchen Fall von Lohndumping aufgespürt und den Arbeitern zu deren Recht und zu den geschuldeten Nachzahlungen der Löhne verholfen. Deshalb, aber auch, weil viele der Bauarbeiter sich noch gut an Fannys Vater erinnerten, der mittlerweile seinen wohlverdienten Ruhestand in Portugal genoss, war Fanny auf den Baustellen bekannt und beliebt.

Während Fanny gerade mit einem Anwalt telefonierte, kam ein Kollege herein und bat sie, nachher ins Sitzungszimmer zu kommen. Ein italienischer Arbeiter wolle mit ihr sprechen.

Im Sitzungszimmer erwartete sie ein etwa dreissigjähriger Mann, der sich als Enzo vorstellte. Er arbeite auf der Bazzi-Baustelle und habe Fanny gestern Morgen auf der Baustelle gesehen, als sie die Einladung zu einer Versammlung vorbeigebracht und mit einigen Arbeitern gesprochen habe.

Fanny erinnerte sich sehr gut an Enzo, von dem sie zwar erst jetzt erfuhr, dass er Enzo hiess und mit dem sie vorher auch nicht gesprochen hatte. Aber es war ihr aufgefallen, dass er zur Gruppe der entsandten Plattenleger der Firma Ceretti gehörte, die sich alle weigerten, mit den Mitarbeitenden der Gewerkschaft zu sprechen. Sie schauten alle starr auf ihre Pausenverpflegung, wenn die Leute der Gewerkschaft in den Pausenraum kamen. Enzo war Fanny aufgefallen, weil er wenigstens aufgeschaut und die Einladung entgegengenommen hatte.

Enzo machte auf Fanny nicht den Eindruck eines typischen Bauarbeiters. Er war gross gewachsen, hatte helle Augen und drückte sich sehr differenziert aus.

„Ich dürfte eigentlich gar nicht hier sein. Unser Vorarbeiter Stefano hat uns gesagt, dass wir mit niemandem sprechen dürfen, schon gar nicht mit der Gewerkschaft. Er ist der Meinung, dass die Gewerkschaften in der Schweiz etwas gegen uns Arbeiter aus Italien haben. Ich glaube aber nicht, dass ihr Nationalisten seid, wie Stefano sagt. Und dass wir nicht über unsere Löhne sprechen sollen, hat wohl den Grund, dass etwas mit unseren Löhnen nicht stimmt.“

Enzo hatte sich im Internet erkundigt. Er wusste, dass es in der Schweiz Gesamtarbeitsverträge mit Mindestlöhnen, also Verträge, die zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgebern ausgehandelt und für die ganze Branche gültig waren, gab und er wusste, dass sein Lohn wahrscheinlich zu tief war. Deshalb war er jetzt hier.

„In Süditalien ist die wirtschaftliche Situation sehr schwierig. Viele junge Leute haben zwar eine gute Ausbildung, aber es gibt kaum Arbeit. Von einem Freund habe ich von der Möglichkeit gehört, ein paar Monate in der Schweiz zu arbeiten. Dieser Freund hat mich mit einem Mann bekannt gemacht, der mir diese Stelle bei der Firma Ceretti angeboten hat. Ich musste einen Vertrag unterschreiben, habe aber vom Vertrag keine Kopie bekommen. Schon das hat mich skeptisch gemacht. Ausserdem musste ich in Italien ein Bankkonto eröffnen und einen Dauerauftrag einrichten. Die Hälfte meines Lohnes muss ich jeweils an die Firma Ceretti zurückbezahlen. Das sei für Kost, Logis und für alle Versicherungen, die in der Schweiz obligatorisch seien, hat mir der Mann gesagt. Auf meinem Konto bleiben 2100 Euro, was für italienische Verhältnisse immer noch ein guter Lohn ist. Deshalb habe ich unterschrieben.“

Enzo fand aber, dass für ein Bett in einem Vierbettzimmer, eine kalte Mahlzeit auf der Baustelle und einen Teller Pasta am Abend in der Unterkunft mehr als 2000 Euro wohl zu viel sei. Ausserdem müssten sie ständig Überstunden leisten, die nicht bezahlt würden. Er habe versucht, bei seinen Kollegen herauszufinden, wie sie entlohnt würden, aber die hätten sich alle geweigert, mit ihm zu sprechen. Deshalb sei er nun zur Gewerkschaft gekommen. Enzo streckte Fanny ein Blatt über den Tisch. Es war ein Kontoauszug vom letzten Monat von Enzos Bankkonto in Italien.

„Enzo“, sagte Fanny, „du hast das Richtige getan. Wir vermuten schon lange, dass gewisse Firmen sich nicht korrekt verhalten. Wir konnten viele Fälle von Lohndumping aufdecken, weil uns die Arbeiter über ihre Arbeits- und Lohnbedingungen informierten. Jetzt sind viele Firmen, vor allem ausländische Firmen, die ihre Leute in die Schweiz schicken und hier arbeiten lassen, dazu übergegangen, den Arbeitern zu verbieten, mit der Gewerkschaft zu sprechen.“

Fanny sagte Enzo auch, dass sein Kontoauszug für das weitere Vorgehen ein wichtiger Anhaltspunkt, aber leider noch nicht genügend beweiskräftig sei. „Ich könnte eine Kontrolle der Firma Ceretti anordnen“, fuhr sie fort. „Aber leider würde ich wahrscheinlich in den Unterlagen keine Unregelmässigkeiten finden. Wenn die Firma bei allen Arbeitern so vorgeht, dass sie zwar den korrekten Lohn ausbezahlt, die Arbeiter dann aber die Hälfte wieder zurückzahlen, so sehe ich das in den Unterlagen nicht.“ Es sei deshalb wichtig, noch mehr Arbeiter dazu zu bringen, über diese Praxis auszusagen. „Es wäre ganz wichtig, wenn du ein paar von deinen Kollegen überzeugen könntest, am Freitagabend zu der Gewerkschaftsversammlung zu kommen. Dann kann ich versuchen, mit ihnen zu sprechen und herauszufinden, ob sie die gleichen Bedingungen haben wie du.“

Enzo erzählte Fanny noch von den absolut unzumutbaren Zuständen ihrer Unterbringung: „Wir sind in einem alten, baufälligen Haus untergebracht. Die Firma Ceretti hat dort drei Wohnungen gemietet. Die meisten von uns schlafen in Vierbettzimmern. Im Erdgeschoss wohnt der Vorarbeiter mit seiner Frau, die am Abend für uns kocht. Es gibt immer nur Pasta, ab und zu einen Salat und ein wenig Obst. Wenn wir Fleisch verlangen, sagt sie uns, das sei in der Schweiz zu teuer. Dafür müssten wir extra bezahlen. Ich bin jetzt seit sechs Wochen hier, aber lange halte ich das nicht mehr aus. Ich habe schon begonnen, mich umzuhören. Vielleicht finde ich eine Stelle bei einer anderen Firma.“

Fanny bat Enzo, noch ein bisschen bei der Firma Ceretti auszuhalten. Über ihn hätten sie vielleicht endlich die Möglichkeit, die unsauberen Praktiken dieser Firma aufzudecken. Fanny verabredete sich mit Enzo am Freitag nach der Versammlung. Je nach Ausgang der Versammlung wollten sie dann miteinander besprechen, wie sie weiter vorgehen würden.

*

Cornelia Bazzi

Der Mai war schon sehr heiss gewesen und im Juni hatte sich das warme Wetter fortgesetzt. Das hatte es Cornelia nicht eben leicht gemacht, den ganzen Tag zu Hause oder in der Bibliothek zu sitzen und für ihre Prüfungen zu lernen. Aber es musste sein, wenn Cornelia die Semesterprüfungen dieses Mal alle bestehen wollte. Und das wollte sie, denn sie wollte auf keinen Fall ein Studienjahr verlieren. Cornelia Bazzi hatte gewusst, dass es nicht einfach sein würde, an der ETH in Zürich zu studieren. Das Studium dort galt allgemein als anspruchsvoll. Ausserdem war sie in Lausanne aufgewachsen und musste deshalb auch in einer fremden Sprache studieren. Aber sie hatte es so gewollt. Das Studieren in Zürich war auch eine Chance gewesen, von daheim auszuziehen. Nicht, dass es zu Hause in Lausanne unerträglich gewesen wäre, das nicht. Im Gegenteil. Sie kam aus einem wohlbehüteten Elternhaus. Aber das war nicht nur angenehm. Ihre Mutter war eine richtige italienische Mama, die ihre drei Töchter liebte und verwöhnte, aber auch ziemlich stark kontrollierte. Natürlich hatten die drei Bazzi-Töchter mehr Freiheiten, als es ihre Mutter, die in Süditalien aufgewachsen war, gehabt hatte. Ihr Vater Bruno Bazzi war in Lausanne aufgewachsen. Er war ein Secondo, hatte aber durchaus noch Sinn für italienische Traditionen und sah es auch nicht sehr gerne, wenn seine Töchter abends ausgingen und spät nach Hause kamen.

Cornelias ältere Schwester Barbara hatte das Familiennest kurz nach Beendigung ihrer beruflichen Ausbildung als Pharmaassistentin verlassen, indem sie geheiratet hatte. Diesen Weg wollte Cornelia nicht gehen. Deshalb war sie zum Studium nach Zürich gezogen. Hier hatte sie bald eine Clique von italienischen und Tessiner Studentinnen und Studenten kennengelernt, mit denen sie sich auf Italienisch unterhalten konnte. Darunter war auch ein Tessiner, der an der Universität Ökonomie studierte und der ihr Freund geworden war. Im letzten Jahr hatte sie viel, zu viel Zeit mit ihrem Freund und der Clique verbracht und zu wenig Zeit in ihr Studium investiert. Das hatte sich gerächt, denn im Winter hatte sie zwei von sechs Semesterprüfungen nicht bestanden. Diese wollte sie jetzt nachholen und auch die neuen Semesterprüfungen wollte sie unbedingt bestehen. Sie hatte deshalb nicht mehr so oft ausgehen wollen, was ihr Freund gar nicht verstand. Sie hatten sich gestritten und schliesslich hatte sich Cornelia Anfang des Jahres von ihm getrennt. Nun hatte sie viel mehr Zeit für ihr Studium und nichts mehr, was sie ablenkte.

Heute Morgen hatte Cornelia die letzte Prüfung abgelegt. Abends wollte sie nochmals mit der Clique ausgehen, ein wenig feiern, bevor sie dann morgen nach Lausanne fahren würde.

„Eigentlich freue ich mich ja, wieder einmal etwas länger zu Hause zu sein, mich von meiner Mutter verwöhnen zu lassen und meine Freundinnen aus der Mittelschulzeit zu treffen“, dachte Cornelia. Aber andererseits fragte sich Cornelia auch, ob es eine gute Idee gewesen war, ein dreimonatiges Praktikum in der Firma ihres Vaters zu machen. Wie würden die Angestellten das wohl aufnehmen? Sahen sie in ihr vielleicht das verwöhnte Töchterchen des Chefs? Würde sie auch etwas Sinnvolles tun können oder würde sie nur herumstehen, nur den erfahrenen Bauleuten über die Schulter schauen dürfen und diesen noch mehr Arbeit machen? Cornelia packte ihre Sachen mit gemischten Gefühlen.

Ihr Vater hatte sich sehr darüber gefreut, dass Cornelia Bauingenieurin werden wollte und hoffte natürlich, dass sie eines Tages den Betrieb von ihm übernehmen würde, so wie er den Betrieb von seinem Vater übernommen hatte. Und natürlich freute sich ihr Vater auch sehr darauf, dass Cornelia den ganzen Sommer über in der Firma arbeiten wollte.

Cornelias Grossvater war gleich nach dem Krieg aus Süditalien in die Schweiz gekommen. Zuerst als Saisonarbeiter. Er arbeitete bei verschiedenen Baufirmen und musste jedes Jahr im Winter drei Monate in Süditalien verbringen. In Palmi bei Reggio Calabria, wo er herkam, gründete er auch seine Familie, dort wurden die beiden Söhne Aldo und Bruno geboren. Und als Grossvater Bazzi nach zehn Jahren eine feste Stelle mit einer Jahresaufenthaltsbewilligung bekam, zog seine Frau mit den zwei Buben zu ihm nach Lausanne. Grossvater Bazzi hatte nur drei Jahre die Primarschule in Süditalien besucht, aber er war ein intelligenter, junger Mann und hatte in Lausanne den Sekundarschulabschluss nachgeholt. Weil seine Familie die ersten Jahre nicht bei ihm war, hatte er nach der Arbeit viel Zeit gehabt, um sich weiterzubilden. Bei der Bau-Gewerkschaft, wo er schon bald Mitglied geworden war, hatten sie den italienischen Arbeitern Kurse angeboten, die es Grossvater Bazzi ermöglichten, die Maurerlehre nachzuholen. Und weil er fleissig und clever war, hatte er später eine kleine Baufirma übernommen, war aber auch als Firmenchef stets Gewerkschafter geblieben, denn er wusste, was er der Gewerkschaft zu verdanken hatte. Seine beiden Söhne Aldo und Bruno hatten nach der Schule eine Lehre als Sanitärinstallateur und Bauzeichner machen können. Onkel Aldo war aber als junger Mann auf der Baustelle verunfallt und hatte sich davon nie ganz erholt. Er konnte seinen Beruf als Sanitärinstallateur nicht mehr ausüben, war lange arbeitslos und nach einigen Jahren wurde ihm eine Invalidenrente zugesprochen. Damals lief das Bauunternehmen des Grossvaters noch nicht so gut und die Familie konnte es sich nicht erlauben, den invaliden Sohn im Geschäft zu beschäftigen. Aldo wurde unzufrieden und depressiv. Sein Vater schickte ihn nach Palmi. Dort hatte Grossvater ein Haus gebaut, wo Aldo wohnen konnte. Er lernte eine Frau kennen, heiratete und blieb dort. Kinder hatte Aldo keine. Aber mittlerweile bewohnte er mit seiner Frau ein schönes neues Haus am Meer.

Im Haus, das Grossvater Bazzi gebaut hatte, verbrachte Cornelia als Kind jeweils mit der Familie ihre Sommerferien und dorthin war der Grossvater nach dem frühen Tod seiner Frau zurückgekehrt. Bruno hingegen war nach seiner Lehre in die Firma des Vaters eingetreten und hatte diese, zusammen mit Grossvater Bazzi, zu einem mittelgrossen Unternehmen ausgebaut, das der Familie einen gewissen Wohlstand gebracht hatte. Jetzt führte Bruno Bazzi schon seit zwanzig Jahren die Firma allein.

Ungetrübt war ihre Freude auf ihre jüngere Schwester Maddalena, die vor Kurzem ihre Maturaprüfung bestanden hatte. Maddalena wollte in Lausanne Psychologie studieren und sie hatte Cornelia anvertraut, dass sie zusammen mit zwei Freundinnen eine Wohnung suchen und zusammenziehen würden. Cornelia konnte Maddalena gut verstehen. Die beiden Schwestern waren sich ähnlich und standen einander nah. Aber gleichzeitig machte sich Cornelia Sorgen um ihre Mutter, die nun bald ganz allein mit ihrem Mann das grosse Haus in Lausanne bewohnen würde. Maddalena und Cornelia hatten sich schon überlegt, der Mutter einen Hund zu schenken. Zum Glück war Barbara nun endlich schwanger und würde Mama Bazzi bald zur Nonna machen und solange wollte Maddalena mit dem Ausziehen noch warten.

*

Philipp

Seit kurzer Zeit wohnte Fanny mit ihrem Freund Philipp zusammen. Den grossen, blonden Mann mit den dunklen Augen hatte Fanny im Studium kennengelernt. Mehr als sein Aussehen hatte Fanny an Philipp gefallen, dass er sozial- und umweltpolitisch engagiert war und schon während des Studiums Freiwilligenarbeit bei einer Umweltorganisation leistete. Nach dem Studium und der Dissertation hatte Philipp ein Praktikum bei Gericht gemacht. Nun hatte er eine Stelle bei einer Umweltorganisation angetreten. Da sie jetzt beide ganz gut verdienten, waren sie aus ihren günstigen Wohngemeinschaften ausgezogen und hatten zusammen eine kleine Wohnung gemietet. Fanny freute sich immer darauf, wenn sie am Abend keine Versammlungen hatte. Dann assen Philipp und sie zusammen. Oft kochte Philipp, weil er meistens früher zu Hause war. Philipp kochte ausserdem gut und gerne. Ganz besonders freute sich Fanny auf die Abende, die sie mit gemeinsamen Freunden verbrachten. Sie war ein geselliger Mensch, der bei gemeinsamen Nachtessen auch gerne angeregt diskutierte und Erfahrungen austauschte.

An ihrem Freund schätzte Fanny, dass er ähnliche Interesse hatte wie sie und vor allem auch die gleiche Weltanschauung. Fanny wusste, dass sie nie mit jemandem zusammen sein könnte, der sich nicht sozial engagieren oder den Klimawandel nicht ernst nehmen würde. Sie selbst war seit ihrer Jugend immer stark engagiert gewesen und hatte sich meistens auch privat in Kreisen von Leuten bewegt, die gleich dachten und handelten. Fanny besprach auch gerne ihre Fälle mit Philipp, denn dieser hatte einige Zeit beim Arbeitsgericht gearbeitet und kannte sich gut aus mit arbeitsrechtlichen Fragen. Dennoch hatte es in den letzten Monaten ein paarmal Momente gegeben, wo Fanny gespürt hatte, dass Philipp aus einem gutbürgerlichen Haus kam, während sie, Fanny, als Arbeiterkind aufgewachsen war. So hätte Philipp zum Beispiel gerne eine grössere Wohnung gemietet und Fanny musste einige Energie aufbringen, um ihn zu überzeugen, dass es aus einer ökologischen Perspektive nicht angebracht war, immer mehr Wohnraum zu beanspruchen.

Heute Abend wollten sie allerdings ihre Ferienpläne besprechen. Aber natürlich musste Fanny Philipp zuerst von Enzo erzählen. Sie zeigte ihm den Kontoauszug. Philipp stimmte mit ihr überein, dass eine Aussage noch nicht genügen würde, um die, wie Philipp meinte, mafiösen Praktiken der Ceretti auffliegen zu lassen. Er erinnerte sich an einen ähnlichen Fall, der vor dem Arbeitsgericht verhandelt worden war. Der Arbeiter, der ausgesagt hatte, dass er gar nicht den Lohn bekomme, der ihm nach dem Gesamtarbeitsvertrag zustand, hatte zwar eine Nachzahlung erhalten. Aber es konnte der Firma nicht nachgewiesen werden, dass sie auch den anderen Arbeitern zu wenig bezahlte. Die Lohnbücher waren in Ordnung gewesen. Die Firma konnte sogar nachweisen, dass sie die Löhne überwiesen hatte. Und es gab keinen anderen Arbeiter, der geklagt hatte. Ausserdem wurden Arbeiter, die klagten und Nachzahlungen erhielten, nachher einfach nicht mehr aufgeboten. Da die meisten, die von einer ausländischen Firma angestellt waren, befristete Verträge hatten und nur wenige Wochen oder Monate in der Schweiz arbeiteten, mussten die Firmen sie nicht einmal entlassen. Philipp war mit Fanny einig, dass sie eine ganze Reihe von Aussagen von Arbeitern bräuchten, um der Firma wirklich das Handwerk zu legen.

Nach diesem beruflichen Austausch kamen sie auf ihre Ferien zu sprechen. Philipp hatte sich um mögliche Urlaubsziele gekümmert.

„Ich habe im Internet Campingplätze in Südfrankreich gesucht und einige sehr schöne Plätze gefunden. In der Nähe dieser Plätze gibt es auch interessante Städtchen, die wir besuchen könnten. Und das Essen in Südfrankreich ist auch sehr gut. Meine Eltern würden uns das Auto und das Zelt überlassen. Sie wollen selbst erst Mitte August in die Ferien fahren“, sagte Philipp.

Fanny und Philipp dagegen hatten geplant, ab Mitte Juli für zwei Wochen wegzufahren. Fanny hatte allerdings einen Vorbehalt. „Je nachdem, wie sich die Situation mit der Firma Ceretti entwickelt, kann ich vielleicht Mitte Juli nicht los.“

Die beiden hatten selten Meinungsverschiedenheiten und Philipp hatte sehr viel Verständnis für Fannys Arbeit. Sie arbeitete sehr viel, mehr als er. Die vielen Sitzungen und Versammlungen, oft auch am Samstag und nicht selten auch am Sonntag, waren für Philipp kein Problem.

Mit dem Verschieben der Ferien war er aber gar nicht einverstanden. „Ich muss meine Ferien in der zweiten Julihälfte nehmen. Nachher gehen meine Arbeitskolleginnen weg und ich könnte dann erst Ende September wieder Ferien nehmen. Im Übrigen musst du dich auch darauf verlassen können, dass deine Kolleginnen und Kollegen einen Fall während deiner Abwesenheit übernehmen.“ Philipp wollte spätestens Ende Woche die Orte festlegen, wo sie hinfahren würden, und wollte dann die Campingplätze buchen.

*

Das Kennenlernen

Cornelia hatte nur gerade am Wochenende nach ihrer letzten Prüfung in Lausanne ausgespannt, sich von ihrer Mutter mit gutem Essen verwöhnen lassen und am Samstagabend mit Freundinnen aus ihrer Mittelschulzeit den Ferienanfang gefeiert. Für Cornelia hatten aber am Montag nicht die Ferien begonnen, sondern das Praktikum auf einer Bazzi-Baustelle. Es handelte sich um das grösste Projekt, mit welchem die Firma ihres Vaters gerade beschäftigt war. Ein mittelgrosses Bürogebäude mitten in der Stadt Lausanne. Der Bau befand sich in der Ausbauphase. Das hiess, dass gerade sehr viele Handwerker gleichzeitig auf der Baustelle beschäftigt waren. Der Bauführer, den Cornelia unterstützen sollte, hatte alle Hände voll zu tun mit der Koordinierung der Aufgaben und der Überprüfung der Arbeiten, welche die vielen Handwerkerfirmen ausführten.

Auf der Baustelle gab es verschiedene Container, in denen die Büros der Bauleitung, die Umkleideräume und die Aufenthaltsräume der Arbeiter untergebracht waren. Bauleiter war Alphonse, der älteste der drei Bauleiter der Firma Bazzi. Er war schon seit seiner Lehrzeit als Maurer bei der Firma Bazzi beschäftigt und ihr stets treu geblieben. Alphonse war Schweizer und sprach nur Französisch. Er war deshalb sehr froh, dass ihn Cornelia unterstützen würde, denn es gab eine grosse Gruppe von Plattenlegern, die als Entsandte aus Italien kamen. Weder die Arbeiter noch der Vorarbeiter dieser Gruppe sprachen oder verstanden Französisch. Die Kommunikation mit ihnen war deshalb für Alphonse sehr schwierig.

Alphonse hatte mit Bruno Bazzi eine grosse Auseinandersetzung gehabt, als dieser durchgesetzt hatte, dass der Auftrag an eine italienische Firma gehen sollte. Früher hatten sie immer mit Firmen zusammengearbeitet, die ihren Sitz in der Schweiz hatten. Sie waren vielleicht ein wenig teurer, aber die Arbeit war gut, man kannte sich und man konnte auch miteinander kommunizieren. Alphonse war überzeugt, dass Bazzi den Preis gedrückt hatte und er Vetternwirtschaft betreibe, denn die Plattenleger kamen aus Süditalien, aus der gleichen Gegend, aus welcher die Familie seines Chefs stammte. Alphonse liess auch bei Cornelia durchblicken, dass er die Entscheidung ihres Vaters missbilligte. Er sagte gleich zu Beginn zu ihr, dass er mit der Arbeit dieser Plattenleger überhaupt nicht zufrieden sei. Es sei deshalb nötig, dass sich Cornelia vor allem um diese Gruppe kümmere, deren Arbeitseinsätze im Gebäude koordiniere und mit den anderen Handwerkern abspreche.

Cornelia war froh, dass sie wirklich gebraucht wurde und nicht einfach neben Alphonse herlaufen musste. So konnte sie auch gleich beweisen, dass sie etwas vom Bauen verstand und nicht nur einen Ferienjob als Töchterchen des Chefs hatte. Sie freute sich auch darüber, mit den Arbeitern Kontakt aufzunehmen, auf der Baustelle im Einsatz zu sein und nicht nur im Büro arbeiten zu müssen.

Als Erstes wollte sie sich einen Überblick verschaffen über die vielen Handwerker, die auf der Baustelle unterwegs waren. Mit Alphonse machte sie einen Rundgang und dieser erklärte Cornelia, welche Arbeiten gerade ausgeführt wurden, welche als nächste geplant waren und welche neben- beziehungsweise hintereinander erledigt werden mussten. Neben Elektrikern, Sanitärinstallateuren und Fensterbauern waren vor allem die Plattenleger sehr zahlreich. Sie hatten begonnen, die Böden der Toilettenanlagen zu legen und, wie Cornelia gleich erkannte, waren die Arbeiten mit den Sanitärinstallateuren nicht gut koordiniert, sodass sich die Arbeiter ständig gegenseitig behinderten.

Der Vormittag verging im Nu. Nach dem Mittagessen sollte sich Cornelia um die Planung der Malerarbeiten kümmern. Diese würden erst später einsetzen. Trotzdem war aber schon ein Mann der Malerfirma auf der Baustelle. Er sollte die Arbeit der Maler, die erst etwa in einem Monat einsetzen würde, planen.

„Ich verstehe auch Amendola nicht“, sagte Alphonse zu Cornelia. „Wir arbeiten seit Jahren mit Malermeister Amendola zusammen. Er weiss genau, dass ich nur Französisch spreche und schickt mir einen Mann, der nur Italienisch und Englisch spricht.“ Alphonse war sehr aufgebracht, als er Cornelia bat, sich auch um die Koordination der Malerarbeiten zu kümmern und er verhehlte dabei nicht, dass er nichts von der Anstellung solcher Ausländer hielt, die nicht nur die Sprache nicht kannten, sondern auch keine Ahnung von den Gepflogenheiten hier in der Schweiz hatten.

Cornelia war etwas beunruhigt über das Verhalten von Alphonse. Sie kannte ihn nicht gut, hatte aber noch nie ein schlechtes Wort ihres Vaters über ihn gehört. Dass Alphonse nun so über ihren Vater und Gianni Amendola, der nicht nur ein Geschäftspartner, sondern auch ein Freund ihres Vaters war, herzog, machte auf Cornelia einen merkwürdigen Eindruck. Sollte Alphonse etwa auch fremdenfeindlich geworden sein wie viele Schweizer Bauarbeiter? Seit einigen Jahren kamen sehr viele Arbeiter aus dem europäischen Raum zum Arbeiten in die Schweiz. Die Schweizer Arbeiter, aber auch die Migranten, die im Baugewerbe sehr zahlreich waren und schon seit Jahren hier lebten, fühlten sich von den neu Ankommenden konkurrenziert. Sie nahm sich vor, ihren Vater bei der ersten Gelegenheit zu fragen, was mit Alphonse los war.

Vorerst war sie aber froh, eine echte Aufgabe zu bekommen. Cornelia beruhigte Alphonse und sagte, sie würde die Planung mit der Firma Amendola gerne übernehmen. Alphonse müsse ihr nur die Ablaufpläne geben, den Rest könne sie dann übernehmen. Alphonse hatte schon alles bereit gemacht, denn der Mann, der für die Firma Amendola die Planung machen sollte, hatte sich für den Nachmittag angemeldet.

Als Cornelia das Sitzungszimmer betrat, sass dort ein junger Mann, der etwa gleich alt war wie sie und unverschämt gut aussah.

„Hi, ich bin Luca“, stellte er sich auf Englisch vor.

„Du kannst mit mir Italienisch sprechen“, entgegnete Cornelia und stellte sich ebenfalls vor.

Luca war sehr gesprächig und erzählte Cornelia, dass er bei der Malerfirma Amendola einen Ferienjob habe. „Ich kenne Gianni Amendola. Er ist wie mein Vater ein Secondo und hier in Lausanne aufgewachsen. Mein Vater und Gianni kennen sich seit ihrer Jugend und unsere Familien sind auch befreundet.“

Luca war schon zum zweiten Mal während seiner Semesterferien in der Schweiz. Er studiere in Mailand Architektur und mit dem Lohn für die drei Monate Arbeit in der Schweiz könne er einen guten Teil seines Lebensunterhalts als Student bestreiten.

Die Koordinierung der Malerarbeiten war schnell gemacht. Cornelia hatte von Alphonse alle Unterlagen mit den genauen Ablaufplänen bekommen. Als Luca sie fragte, ob er sie am Freitagabend zu einem Bier einladen dürfe, war sie zuerst etwas erstaunt, nahm aber gern an. Sie schlug vor, dass sie sich in Ouchy unten am Hafen treffen könnten. Es gab dort eine Bar, wo man im Sommer draussen sitzen konnte und einen herrlichen Blick auf den See hatte.

„Ja, ich weiss ungefähr, wo das ist“, sagte Luca, „und ich freue mich sehr, mit dir auszugehen. Ich kenne in Lausanne nämlich noch niemanden und sitze bei diesem schönen Wetter abends meistens in meinem Zimmer. Allein auszugehen, macht mir keinen Spass.“

Auch Cornelia freute sich, ihre erste Arbeitswoche mit einem Feierabendbier zusammen mit diesem gut aussehenden Architekturstunden zu beenden. Sie verabredeten sich für Freitagabend neun Uhr.

*

Die Gewerkschaftsversammlung

Die Gewerkschaft hatte die Arbeiter verschiedener Baustellen für Freitagabend zu einem Barbecue am See eingeladen. Neben dem Essen und Trinken sollten die Arbeiter natürlich auch über ihre Rechte und geplante Neuerungen informiert werden. Es würde sowohl auf Italienisch als auch auf Portugiesisch informiert werden, stand auf der Einladung, welche Anfang der Woche auf den Baustellen verteilt worden waren. Dass in verschiedenen Sprachen informiert wurde, war eine alte Tradition und Selbstverständlichkeit gewesen, die seit einiger Zeit aber infrage gestellt wurde. Der neue zuständige Gewerkschaftssekretär, welcher seine Stelle vor einem Jahr angetreten hatte, hatte verkündet, dass sie das nicht mehr machen würden. Das sei zu teuer und zu aufwendig für die Gewerkschaft. Sie müssten sparen und die meisten Arbeiter seien ja schon lange in der Schweiz und hätten keine Mühe, Französisch zu verstehen.

Fanny war da anderer Meinung. Erstens gab es vermehrt Firmen aus dem Ausland, die Aufträge in der Schweiz ausführten mit Arbeitern, die kein Wort Französisch verstanden. Zweitens war es auch für Bauarbeiter, die schon lange hier lebten, nicht einfach, die Sprache so gut zu lernen, dass sie sich gut verständigen und genug verstehen konnten. Fanny wusste von ihrem Vater, der fast vierzig Jahre in der Schweiz verbracht hatte, wie es um seine Französischkenntnisse stand. Natürlich konnte er eine einfache Konversation auf Französisch führen, aber einen Vertrag oder ein Firmenreglement, Sicherheitsanweisungen oder gar das Reglement der Pensionskasse wirklich verstehen, war eine sehr hohe Anforderung, welche die wenigsten wirklich meisterten. Fanny setzte sich deshalb einfach über die Anweisungen ihres Vorgesetzten hinweg. Sie nahm in ihrer Freizeit an den Gewerkschaftsversammlungen teil und übersetzte auch die Einladungen in die ihr bekannten Sprachen. Ihr Vorgesetzter konnte ihr nicht verbieten, an den Versammlungen teilzunehmen, obwohl er immer betonte, dass dies nicht zu ihrem Pflichtenheft gehöre und sie dafür keine Arbeitszeit aufschreiben dürfe. Es wurden an diesem Abend etwa dreissig Leute erwartet und Fanny hoffte, dass auch ein paar der Ceretti-Plattenlegen teilnehmen würden. Enzo, der Arbeiter, der sie Anfang Woche aufgesucht hatte, hatte ihr versprochen, zu kommen. Er wollte auch versuchen, ein paar seiner Kollegen mitzunehmen. Aber der Vorarbeiter hatte schon verschiedene angesprochen und ihnen von der Teilnahme abgeraten. Fanny solle sich nicht allzu viele Hoffnungen machen.

Die meisten Arbeiter, die zum Barbecue erschienen, kannte Fanny. Es waren vor allem Mitglieder der Gewerkschaft. Nur ein paar wenige neue Gesichter waren dabei. Von den Ceretti-Arbeitern sah sie niemanden. Auch Enzo war, zu Fannys grosser Enttäuschung, nicht da. Ein Kollege von Fanny begrüsste die Anwesenden und informierte zuerst auf Französisch. Fanny übersetzte anschliessend ins Portugiesische und Italienische.

Der offizielle Teil dauerte nicht lange. Ein paar Arbeiter hatten noch Fragen, welche die Angestellten der Gewerkschaft beantworteten. Dann lud Fanny alle Anwesenden ein, sich am Buffet zu bedienen. Fanny näherte sich vor allem den Arbeitern an, die sie nicht kannte und wahrscheinlich das erste Mal an einem solchen Anlass teilnahmen. Ihr Blick fiel dabei auf einen sehr gut aussehenden jungen Mann, den sie noch nie gesehen hatte. Er war etwa dreissig Jahre alt, mittelgross mit dunklen Haaren und auffallend hellen Augen. Er war sportlich-elegant gekleidet und sah nicht aus wie ein typischer Bauarbeiter. Besonders seine Kleidung wies eher darauf hin, dass er entweder gut verdienen oder wohlhabende Eltern haben musste.

Fanny sprach ihn an und erfuhr von ihm, dass er Luca heisse, aus Italien war und beim Malergeschäft Amendola einen Ferienjob hatte. Luca erzählte Fanny auch gleich, dass er in Italien studiere und bei Amendola nicht als Maler arbeite, sondern im Büro und in der Planung der Arbeiten beschäftigt wurde. Als Fanny von ihm hörte, dass er mit der Bazzi-Baustelle zu tun habe, fragte sie ihn, ob er die Arbeiter von er Firma Ceretti kenne.

„Ein paar von ihnen habe ich schon gesehen“, sagte Luca. „Der dort hinten ist Stefano, der Vorarbeiter von Ceretti.“

„Offenbar ist nur der Vorarbeiter hier“, meinte Fanny. „Er will wahrscheinlich kontrollieren, dass keiner seiner Arbeiter zu der Versammlung kommt. Enzo, ein Arbeiter der Ceretti, der sich bei mir über die Arbeitsbedingungen erkundigt hat, hat mir gesagt, dass der Vorarbeiter den Arbeitern eingetrichtert habe, mit niemandem zu sprechen und auf keinen Fall an Gewerkschaftsversammlungen teilzunehmen. Ich glaube, dass bei der Firma Ceretti nicht alles mit rechten Dingen zu- und hergeht.“

Fanny wollte von Luca wissen, wie die Situation denn bei Amendola sei. Ob er mit seinem Praktikantenlohn zufrieden sei? Gegen die Firma Amendola gab es bei der Gewerkschaft keine Vorbehalte. Amendola sei ein guter Arbeitgeber, der sich bisher immer korrekt verhalten habe.

Das konnte Luca bestätigen. Er bekomme auch keinen Praktikantenlohn, sondern den Lohn eines gelernten Malers. Fanny notierte sich Lucas Telefonnummer und gab ihm ihrerseits ihre Nummer. Luca wollte sich nächste Woche auf der Baustelle bei den Ceretti-Arbeitern umhören und sich auch nach Enzo erkundigen.

Luca blieb nicht lange bei der Gewerkschaftsversammlung, denn er war noch mit Cornelia verabredet. Als er im Lokal in Ouchy ankam, wo sie sich verabredet hatten, war Cornelia schon dort. Sie sass mit ein paar Bekannten am Tisch. Es handelte sich um zwei Freundinnen aus ihrer Mittelschulzeit, die Cornelia hier angetroffen hatte. Eine von ihnen war mit ihrem Freund da. Sie sprachen alle mehr oder weniger gut Englisch, sodass man sich aus Rücksicht auf Luca verständigte, Englisch zu sprechen.

Es wurde ein netter Abend. Luca lernte ein paar Leute kennen, aber er hatte kaum Gelegenheit, sich allein mit Cornelia zu unterhalten. Er hätte sie gerne nach Hause begleitet, doch Cornelia gab ihm einen Korb. Sie wollte mit einer der Freundinnen, die ganz in ihrer Nähe wohnte, mitfahren. Etwas frustriert, denn er hatte sich den Abend anders vorgestellt, ging Luca allein nach Hause.

*

Sonntagsbrunch

Am Sonntagmorgen gab es wie immer bei Familie Bazzi einen Brunch. Der Brunch war übrigens eine Neuerung, welche die Töchter bei Bazzis eingeführt hatten. Typisch Italienisch war das nicht. Früher hatte es am Sonntag immer ein üppiges Mittagessen mit mehreren Gängen gegeben, das aufwendigste Essen der Woche, dessen Zubereitung mehrere Stunden in Anspruch nahm. Früher war es Mama Bazzi immer sehr wichtig gewesen, am Sonntag alle ihre Kochkünste zu zeigen. Die Liebe ging bei Mama Bazzi eindeutig durch den Magen. Das Kochen gehörte aber auch zu ihren Hauptbeschäftigungen und sie verwöhnte Familie und Freunde gerne mit Rezepten aus ihrer Heimat. Zu ganz bestimmten Anlässen, zum Beispiel zu Weihnachten, gab es bei Bazzis immer dasselbe Menü. Oft begann Rosa Bazzi schon drei Tage im Voraus mit den Vorbereitungen.

Früher hatte Rosa Bazzi manchmal den Wunsch geäussert, ein kleines Restaurant zu führen. Aber ihr Mann Bruno war dagegen gewesen, denn das hätte bedeutet, dass seine Frau sehr viel Zeit dafür hätte investieren müssen. Da Bruno mit seiner Baufirma recht gut verdiente, konnte er seiner Familie ein gutes Leben erlauben, ohne auf einen Zusatzverdienst seiner Frau angewiesen zu sein. Das war bei seinen Eltern noch anders gewesen. Brunos Mutter hatte viele Jahre lang bei einem italienischen Delikatessladen in Lausanne gearbeitet. Für Bruno war die Tatsache, dass seine Frau nicht arbeiten musste, der sichtbare Ausdruck seines sozialen Aufstiegs als Kind einer Arbeiterfamilie zu einem Unternehmer, der es zu einem gewissen Reichtum gebracht hatte. Noch bevor seine drei Mädchen in die Schule kamen, kaufte Bruno Bazzi ein Haus mit Garten, in dem sie heute noch wohnten. Haushalt und Garten und drei kleine Kinder hatten das Leben von Rosa Bazzi ausgefüllt. Doch nun waren die Töchter gross und zwei von ihnen wohnten nicht mehr zu Hause. Manchmal wäre Rosa Bazzi jetzt froh um eine Beschäftigung ausser Haus. Dass es am Sonntag kein üppiges Mittagessen, sondern nur noch einen Brunch gab, hatte sie akzeptiert und war mittlerweile sogar ganz froh darüber, denn sie musste weniger Zeit in der Küche verbringen und hatte dafür mehr Zeit mit ihren Töchtern, die sie jetzt nicht mehr täglich sah, zu plaudern.

Seit Cornelia in Zürich lebte, kam sie etwa einmal im Monat übers Wochenende nach Hause. Deshalb hatte es sich so eingebürgert, dass der Sonntagmorgen der Zeitpunkt war, wo sich alle Familienmitglieder, die es einrichten konnten, trafen. Meistens kam auch Barbara mit ihrem Mann.

Heute hatte Bruno Bazzi etwas mit seinen Frauen zu besprechen. Rosa war schon informiert, dass sein Bruder Aldo ihn gebeten hatte, Pasquale, den Neffen seiner Frau, für ein paar Monate bei sich aufzunehmen und ihm ein Praktikum in der Firma zu ermöglichen. Pasquale würde schon in einer Woche kommen.

„Er wird anfangs bei uns wohnen. Im unteren Stock gibt es ja ein Zimmer mit Bad und separatem Eingang, dann ist er ein wenig für sich. Aber Papa wird ihm dann ein Studio in der Stadt mieten“, sagte die Mutter zu ihren Töchtern.

„Und es wäre nett von euch, Cornelia und Maddalena, wenn ihr ihn ab und zu mitnehmt, wenn ihr eure Freunde trefft oder auch allein mit ihm etwas unternehmt“, ergänzte Vater Bazzi.

„Mal sehen, was aus ihm geworden ist“, sagte Maddalena schnippisch, „ob er nicht mehr so ein Ekel ist wie früher.“

Und Cornelia dachte: „Hoffentlich ist er nicht so, wie die anderen Mitglieder der Familie von Aldos Frau!“ Sie hatte keine grosse Hoffnung, dass sich Pasquale, den sie als Teenager nicht gerade in bester Erinnerung hatte, zu einem angenehmen jungen Mann entwickelt hatte. Sie sagte es aber nicht laut, denn sie wusste, dass ihre Eltern die Gastfreundschaft hochhielten und der Meinung waren, dass Familie verpflichte. Cornelia wusste, dass auch ihre Eltern Mühe hatten mit der Familie von Brunos Frau. Aber sagen durfte man nichts gegen sie, denn sie gehörten halt zur Familie.

Bruno Bazzi hatte zu seinem Bruder Aldo ein schwieriges Verhältnis. Er hatte ihm gegenüber Schuldgefühle, weil Aldo aus gesundheitlichen Gründen nicht hatte in die Firma des Vaters einsteigen können. Bruno dagegen hatte die Firma später übernommen und sie zu einem gut gehenden Geschäft entwickelt. Obwohl Aldo beim Tod des Vaters seinen Teil geerbt hatte, fühlte Bruno sich immer noch verpflichtet, den Bruder zu unterstützen.

Cornelia hatte sich die Sommerzeit zu Hause anders vorgestellt und war schon ein wenig enttäuscht, dass Pasquale die nächsten Monate in der Firma rumstehen würde. Sie nahm sich aber vor, unvoreingenommen zu sein. Vielleicht hatte er sich ja verändert. Sie hatte ihn schon ein paar Jahre lang nicht mehr gesehen. Und falls er mühsam sein sollte, würde ihn Cornelia sicher nicht mit ihren Freundinnen zusammenbringen.

„Barbara hat es gut“, dachte Cornelia. Sie wurde nicht in die Betreuung von Pasquale einbezogen. Schliesslich wohnte sie nicht mehr zu Hause, hatte ihren eigenen Haushalt und war hauptsächlich mit der Familie ihres Mannes und dessen Freundeskreis beschäftigt. Alle freuten sich sehr, dass Barbara bald ihr erstes Kind bekommen sollte. Barbara war die Schwangerschaft mittlerweile deutlich anzusehen. Ende Oktober war der Termin und Mama Bazzi kündigte an, dass sie dieses Jahr auf die Herbstferien im Oktober verzichten wollte, um bei der Geburt da zu sein.

„Aber Mama, du kannst bei der Geburt nicht helfen. Da spielt es doch keine Rolle, wenn du dann in Süditalien bist“, flachste Maddalena. Aber Mama Bazzi bestand darauf, dass sie in der Nähe ihrer Tochter sein wollte, und vor allem darauf, dass sie die Erste sein wollte, die das Kindlein sehen durfte!

Am Sonntagnachmittag hatte sich Cornelia nochmals mit Luca verabredet. Sie wollten einen Spaziergang am See machen. Cornelia freute sich, dass Luca sie angerufen hatte. Sie hatten sich am Bahnhof verabredet. Es war ein schöner, warmer Frühsommertag. Sie spazierten zum See hinunter und dann dem See entlang bis zum Campus der Hochschulen. In einem kleinen Lokal am See wollten sie einen Kaffee trinken.

„Wenn es schön bleibt, können wir hier auch mal baden gehen“, sagte Cornelia zu Luca.

Am anderen Ende des Gartenrestaurants setzte sich gerade ein junges Paar an einen Tisch. Die Frau schaute zu Cornelia und Luca herüber. Es war Fanny Mendes mit ihrem Freund Philipp. Fanny erkannte Luca und winkte ihm zu. Dann kam sie zu Luca und Cornelia an den Tisch und begrüsste sie: „Hallo, du bist doch der Mann, der bei Amendola arbeitet? Ich habe deinen Namen vergessen.“

„Hallo Fanny. Ja, und ich heisse Luca. Das ist übrigens Cornelia Bazzi.“ Luca stellte Cornelia Fanny als Gewerkschaftssekretärin vor und erklärte, dass er am Freitag, bevor sie sich getroffen hatten, bei der Gewerkschaftsversammlung gewesen sei. „Ich hoffe nicht, dass das für dich ein Problem ist, Cornelia. Du musst nämlich wissen, Fanny, dass Cornelia die Tochter des Chefs der Firma Bazzi ist!“

Fanny und Philipp setzten sich kurz zu ihnen dazu und Fanny zeigte sich erfreut, die Tochter Bazzi kennenzulernen. „Dein Vater gilt als überaus korrekter Chef. Aus gewerkschaftlicher Sicht gibt es bei der Firma Bazzi nichts auszusetzen. Wir haben nie Probleme gehabt, die Arbeiter auf den Bazzi-Baustellen aufzusuchen!“ Fanny ergänzte dann noch, dass es in letzter Zeit etwas schwieriger geworden sei, die Arbeiter auf den Baustellen anzusprechen, denn es gebe neuerdings viele sogenannte Entsandte, also Arbeiter ausländischer Firmen, die nur für ein paar Monate in der Schweiz waren. Viele von denen hätten offenbar die Anweisung erhalten, nicht mit den Gewerkschaften zu sprechen. Aber sie wolle am Sonntagnachmittag nicht über die Arbeit und über Probleme sprechen. Dann plauderten sie noch ein wenig über das Wetter, dass es schon viel zu warm sei für die Jahreszeit, was sie alle auf die Klimaerwärmung zurückführten, und als sie sich verabschiedeten, versprach Luca nochmals, sich bei den Leuten von Ceretti nach Enzo zu erkundigen.

Cornelia wollte wissen, wer dieser Enzo sei.

„Das ist ein Arbeiter bei der Plattenlegerfirma Ceretti. Er war letzte Woche bei der Gewerkschaft und hat erzählt, dass etwas mit den Löhnen nicht stimmen würde. Er wollte zur Versammlung kommen und versuchen, noch mehr Kollegen mitzunehmen. Dann ist er aber nicht aufgetaucht und auch keine anderen Arbeiter von Ceretti. Ich werde morgen mal auf die Baustelle gehen und Enzo fragen, was los war.“

Cornelia erzählte Luca, dass auch der Bauführer ihrer Firma Probleme mit der Firma Ceretti habe. Sie werde ebenfalls ein spezielles Augenmerk auf diese Firma haben, denn auch die Arbeit, die sie leisten würde, sei nicht besonders gut.

Luca wäre gerne länger mit Cornelia zusammengeblieben, aber Cornelia gab vor, am Abend noch verabredet zu sein. Sie war zwar gern mit Luca zusammen, aber sie wollte nichts überstürzen und vor allem wollte sie sich nicht verlieben. Sie wollte Luca erst besser kennenlernen. Sie wusste ja nicht einmal, ob er in Italien eine Freundin hatte.

*

Auf der Baustelle

Am Montagmorgen beschloss Cornelia, selbst diesen Enzo aufzusuchen. Um neun Uhr pflegten alle Arbeiter in den Containern, die als Kantinen eingerichtet waren, ihr Frühstück einzunehmen. Die Ceretti-Arbeiter hatten einen eigenen Container. Cornelia betrat diesen um zehn nach neun. Acht Männer waren dort. Sie tranken Kaffee und assen belegte Brote. Cornelia begrüsste sie auf Italienisch und fragte, wer von ihnen denn Enzo sei.

Enzo sei nicht da, sagte der älteste der Männer. „Ich bin Stefano, der Vorarbeiter der Gruppe“, stellte sich dieser vor. „Sie sind Fräulein Bazzi, nicht wahr?“ Stefano sagte, Enzo sei ganz kurzfristig am Freitag nach der Arbeit nach Italien abgereist. Er habe ihm mitgeteilt, dass seine Mutter krank geworden sei und er zurückmüsse. „Warum suchen Sie ihn denn?“, wollte Stefano wissen.

„Er hat mich letzte Woche sprechen wollen“, log Cornelia. „Und hat mir ausrichten lassen, dass ich ihn hier finden könne. Wann kommt er denn wieder zurück?“

Das wisse er nicht, entgegnete Stefano. Aber er würde sich sicher bei ihr melden, sobald er zurück sei. Die anderen Männer sassen schweigend da und sahen Cornelia nicht einmal an. Sie waren alle ganz konzentriert damit beschäftigt, ihre Stullen zu kauen. Cornelia verliess den Container mit einem merkwürdigen Gefühl.

Fanny sass im Büro und hatte gerade eine Auseinandersetzung mit ihrem Vorgesetzten gehabt. Dieser wollte ihr verbieten, Arbeiter zu beraten, die sich an sie wandten und nicht Gewerkschaftsmitglied waren. Dabei gelang es Fanny meistens nach einer solchen Beratung, die Arbeiter auch als Gewerkschaftsmitglieder zu gewinnen. Ab und zu gelang dies nicht. Aber das fand Fanny nicht so schlimm. Insgesamt war ihre Tätigkeit für die Gewerkschaft ein Gewinn. Nicht nur, weil sie dadurch viele neue Mitglieder aufnehmen, sondern auch den Ruf der Gewerkschaft verbessern konnte. Es sprach sich nämlich herum unter den Arbeitern, dass man sich mit Problemen an Fanny wenden konnte. Dadurch erfuhr Fanny auch immer wieder über Missstände und konnte bei den Firmen intervenieren. Meistens betrafen die Unregelmässigkeiten nicht nur diejenigen Arbeitnehmenden, die zu Fanny kamen, sondern alle Beschäftigten einer Firma und die Missstände konnten dann für alle Beschäftigten behoben werden.

Gerade das passte ihrem Chef aber nicht. „Du hilfst damit auch Leuten, die nie etwas von der Gewerkschaft wissen wollten“, ereiferte er sich.

Fanny war aufgebracht: „Und du verstehst nichts von Gewerkschaftsarbeit“, warf sie ihm an den Kopf. Daraufhin verliess ihr Vorgesetzter erbost ihr Büro.

Kurz darauf erhielt Fanny einen Anruf von Luca. „Hallo Fanny. Ich habe Enzo nicht gefunden. Seine Kollegen haben mir gesagt, er sei nach Italien gefahren, weil seine Mutter krank sei. Sie wussten nicht, wann er wiederkommen würde. Ich halte dich auf dem Laufenden. Sobald er zurück ist, wird er sich bei mir melden.“

Fanny war beruhigt, dass es eine Erklärung dafür gab, dass Enzo am Freitag nicht gekommen war und dass der Grund offenbar ein anderer war, als sie befürchtet hatte. Sie hatte nämlich befürchtet, dass Enzo sich durch den Vorarbeiter habe einschüchtern lassen und jetzt nicht mehr bereit sei, gegen Ceretti auszusagen. Nun würde Fanny sich wohl ein paar Tage gedulden müssen, bis Enzo zurückkehrte. Enzo hatte übrigens, als er Fanny letzte Woche aufgesucht hatte, gleich ein Beitrittsformular unterzeichnet.

Aber auch das war Fannys Chef nicht recht gewesen. „Das ist ja nur ein Entsandter“, hatte er zu Fanny gesagt. „Der ist höchstens drei Monate hier. Da lohnt sich der Aufwand nicht, ihn aufzunehmen.“ Und er hatte angekündigt, dass er seine Angestellten in Zukunft anweisen wolle, keine entsandten Arbeiter mehr aufzunehmen.

Als ein paar Tage vergangen waren und Enzo noch immer nicht angerufen hatte, versuchte Fanny, ihn auf der Handynummer, die er ihr gegeben hatte, zu erreichen. Es war eine italienische Rufnummer und er würde das Handy sicher dabeihaben. Sie versuchte es die ganze Woche mehrmals, aber das Handy war abgestellt. Das kam Fanny zwar merkwürdig vor, aber sie versuchte, sich damit zu beruhigen, dass wahrscheinlich nicht alle Menschen wie sie immer erreichbar sein wollten. Sie hatte ihr Handy immer dabei, auch in den Ferien.

Die ersten beiden Wochen im Juli waren stets sehr arbeitsintensiv, weil vor den Sommerferien viel zu erledigen und zu koordinieren war. Die Bauarbeiter fuhren meistens erst im August in die Ferien, wenn auch in ihren Heimatländern Ferienzeit war. Aber die Angestellten der Gewerkschaft versuchten jeweils, die Ferien gestaffelt zu nehmen, damit immer ein paar Leute den Betrieb aufrechterhalten konnten.

Fanny hatte sich die letzten beiden Juliwochen freigenommen und wollte mit ihrem Freund Philipp ans Meer fahren. Am letzten Donnerstag vor ihren Ferien hatte Philipp ein kleines Nachtessen vorbereitet, das sie auf der Terrasse ihrer Wohnung einnahmen, und Philipp bestand darauf, dass sie nun die Ferien konkret planen sollten. Er wollte mindestens einen Campingplatz in Südfrankreich buchen, denn er befürchtete, dass sie sonst keinen guten Platz mehr finden würden. In vielen Ländern begannen nächste Woche die Sommerferien und die schönsten Campingplätze in Südfrankreich waren sehr begehrt.

„Philipp, lass uns nach Süditalien statt nach Südfrankreich fahren.“ Fanny hatte Fotos ausgedruckt von wunderschönen, einsamen Stränden in Kalabrien. „Kalabrien ist noch nicht sehr touristisch und die italienischen Familien machen erst im August Ferien. Ich war noch nie in Kalabrien. Und du doch auch nicht, oder?“

Ausserdem gestand Fanny ihrem Freund, würde sie gerne dieser merkwürdigen Firma Ceretti etwas auf den Zahn fühlen. „Wir können doch die Ferien verbinden mit ein paar Recherchen vor Ort. Was meinst du, Philipp?“

Philipp kannte seine Freundin mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie wohl kaum noch von dieser Idee abzubringen war. Und da er tatsächlich auch noch nie im Süden Italiens gewesen war und die Fotos, die Fanny ausgedruckt hatte, sehr überzeugend wirkten, beschlossen sie, am Samstag in einer Woche wie geplant in die Ferien zu fahren – mit dem Auto und dem Zelt von Philipps Eltern, aber nach Süditalien statt nach Südfrankreich.

*

Pasquale

Pasquale war am Samstagabend in Lamezia Terme in den Zug gestiegen, um in die Schweiz zu fahren. Fliegen wäre schneller gegangen, aber Pasquale hatte Flugangst. Mit dem Zug stand eine weite Reise vor ihm – in ein Land, das er nicht kannte. Überhaupt war Pasquale noch nie ausserhalb Italiens gewesen. Damit war er aber in guter Gesellschaft mit den meisten Leuten aus seiner Umgebung. Die meisten hatten die Mittel nicht, um Ferien zu machen. Ausserdem waren sie gewissermassen das ganze Jahr in den Ferien, denn sie lebten in der Nähe des Meeres und im Hinterland gab es Berge, welche die Einwohner der Küste vor allem im Sommer anzogen, wenn es in der Ebene unten viel zu heiss war. Aber auch die Familien, die besser gestellt waren, wie Pasquales Familie, machten selten Ferien im Ausland. Wenn, dann besuchten sie Verwandte oder andere Regionen Italiens.

Pasquale war schon in Neapel und Rom gewesen. Auch Sizilien kannte er und im Norden war er bis Florenz gekommen. Viele junge Leute, vor allem die gut ausgebildeten, hatten den Süden Italiens verlassen. Sie waren entweder in den Norden gezogen oder ins Ausland. Aber das waren vor allem die Kinder von Akademikern, die selbst studiert hatten. Pasquales Vater hatte eine Firma für Import-Export. Er hatte aber nicht studiert, nicht mal einen Sekundarschulabschluss. Die Firma hatte er von einem Bekannten übernommen. Der Vater hätte es gerne gesehen, wenn sein ältester Sohn Pasquale studiert hätte. Aber Pasquale war nie ein guter Schüler gewesen. Nicht einmal die Ausbildung an einer privaten Berufsschule zum Kaufmann hatte er geschafft. Mit 27 Jahren stand er nun da ohne Ausbildung und ohne weitere Unterstützung durch den Vater. Der hatte nämlich den jüngeren Sohn, der immerhin die Ausbildung zum Kaufmann abgeschlossen hatte, als Nachfolger in die Firma genommen. Nun hoffte die Familie, dass Pasquale in der Schweiz etwas Brauchbares lernen würde und vielleicht sogar in der Schweiz bleiben könne. Der Mann seiner Tante, Aldo Bazzi, hatte ihm das Praktikum in Lausanne bei seinem Bruder organisiert. Pasquale hatte nicht besonders gute Erinnerungen an die Familie des Bruders von Onkel Aldo. Diese kam früher jeden Sommer nach Palmi in die Ferien, aber die drei Mädchen galten im Dorf als hochnäsig, sie wollten nichts mit der Dorfjugend zu tun haben. Pasquale wäre lieber irgendwo hingegangen, wo ihn niemand kannte. Er wusste, dass er in den Augen seiner Familie als Versager galt, der nichts auf die Reihe gekriegt hatte. Dieser Ruf war ihm sicher auch nach Lausanne vorausgeeilt. Umgekehrt galten die Bazzi-Töchter, vor allem die beiden jüngeren als intelligent und erfolgreich. Cornelia studierte an einer sehr renommierten Hochschule. Sie würden jetzt noch viel mehr auf ihn herabschauen als früher, als sie noch Teenager waren. Aber Pasquale hatte sich nicht vorstellen können, alleine ins Ausland zu reisen an einen Ort, wo er niemanden kannte. Seine einzige Chance war die, vorerst bei der Familie seines Onkels unterzukommen und vielleicht dann von da aus eine Stelle in einer anderen Firma zu finden.

Vorerst würde er nun also bei Bazzis wohnen und versuchen, auch mithilfe der Bazzi-Töchter Anschluss an andere Leute zu finden. Pasquale sprach kein Wort Französisch und auch kein Englisch. Aber Onkel Aldo hatte ihm gesagt, dass es in Lausanne viele Leute gebe, die Italienisch sprächen und er sicher bald Anschluss finden würde. Ausserdem würde er auch in der Baufirma von Bruno Bazzi Leute kennenlernen. Am Sonntag war Pasquale nun in Lausanne angekommen. Bruno Bazzi hatte ihn am Bahnhof abgeholt und Rosa Bazzi hatte ihm ein wunderbares Nachtessen gekocht. Aber die Töchter hatte er noch nicht gesehen, obwohl er nun schon fast eine ganze Woche in Lausanne war.

Cornelia war die ganze Woche über sehr beschäftigt gewesen und hatte immer bis gegen neun Uhr gearbeitet. Nun gut, die Arbeit war auch vorgeschoben gewesen, denn sie hatte keine grosse Lust auf das Nachtessen im trauten Kreis der Familie gehabt, schon gar nicht zusammen mit Pasquale. Einmal war sie auch mit einer Freundin ausgegangen. Aber heute Abend würde sie nun nicht mehr um die Begegnung mit Pasquale herumkommen, denn Mama Bazzi hatte alle zum Essen eingeladen. Auch Barbara und ihr Mann würden kommen. Pasquale würde ihr früher oder später auch in der Firma begegnen, denn er hatte sein Praktikum im Betrieb begonnen. Cornelia hatte bisher aber keine Veranlassung gehabt, die Büros der Firma Bazzi aufzusuchen. Sie hatte ihren Arbeitsplatz auf einer der Baustellen, wo sie dem Betriebsleiter Alphonse zur Hand ging.

Pasquale war genauso schlimm, wie Cornelia befürchtet hatte. Er war ein paar Jahre älter als sie und kein bisschen cool. Er war klein, schmächtig und dunkelhaarig und die Haare klebten ihm merkwürdig am Kopf. Er kam im Anzug zum Nachtessen und überhäufte ihre Mutter mit Komplimenten. Ein richtiger Schleimer. Vater Bazzi sagte ihm, er solle ruhig die Jacke ausziehen, sie würden sich zu Hause locker kleiden. Er brauche also keine Krawatte zu tragen. Im Betrieb übrigens auch nicht, das sei hier in der Baubranche nicht üblich. Höchstens wenn sie Meetings mit Bauherren oder den Behörden hätten.

Pasquale legte zwar die Jacke ab, weil es ein sehr warmer Abend war, aber die Krawatte behielt er an. Er wirkte irgendwie deplatziert und wie aus einer anderen Zeit. Cornelia versuchte, mit ihm etwas Konversation zu machen. Sie fragte ihn, was er denn in Italien mache. Aus seinen Antworten wurde sie aber nicht ganz schlau. Er eierte herum und sagte lediglich, dass er in der Firma seines Vaters arbeite. Was er für eine Ausbildung habe und was er da genau mache, wurde nicht klar. Irgendetwas mit Import-Export. Wieso er denn ein Praktikum in einer Baufirma absolviere, wollte Maddalena wissen. Es gehe mehr darum, die Schweiz kennenzulernen. Vielleicht wolle er hierherkommen, um Französisch zu lernen. Die Firma seines Vaters wolle expandieren und eventuell eine Filiale in der Schweiz oder in Frankreich aufmachen.

Tatsächlich hatte Pasquale sich vorgestellt, dass er vielleicht mit Französischkenntnissen bei seinem Vater Eindruck machen könnte. Er wusste, dass sein Vater gerne in der Schweiz eine Filiale eröffnen würde, denn einige seiner Konkurrenten schienen auch Geschäfte in der Schweiz und in Deutschland zu machen, vor allem in der Gastronomie. Obwohl Pasquale bisher kaum in die Geschäfte des Vaters eingeweiht worden war, hatte er ein paar Dinge aufgeschnappt und sich darum herum seine eigenen Vorstellungen gemacht. Aber im Moment interessierte er sich vor allem dafür, was man denn in Lausanne am Abend und am Wochenende unternehmen könne.

---ENDE DER LESEPROBE---