Tote Hummer beißen nicht - Gabriele Boschbach - E-Book

Tote Hummer beißen nicht E-Book

Gabriele Boschbach

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Beschreibung

Auf Norderney geht es eigentlich gemächlich zu, doch als ein Angriff das Luxushotel „Promenadendeck“ erschüttert, und weitere bizarre Taten folgen, wird der Inselkommissar Ole Lokeldiek in einen Strudel aus Intrigen und Missgunst gezogen. Während die Ermittlungen ins Stocken geraten und am Strand eine Leiche angespült wird, gerät Oles Welt aus den Fugen. Doch dann stößt er zufällig auf die unerwartete Wahrheit - und die hat es in sich. Plötzlich wird klar: Nichts ist so, wie es scheint.

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Seitenzahl: 287

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Gabriele Boschbach

Tote Hummer beißen nicht

Küsten-Krimi

Zum Buch

Inselsturm Der Gastro-Kritiker Tibor von Strelitz und die Influencerin Viola Vandame checken unabhängig voneinander im Luxushotel »Promenadendeck« auf der Nordseeinsel Norderney ein. Pure Entspannung – das ist ihr Ziel, so scheint es zumindest. Doch die Idylle wird jäh gestört: Bei einem Anschlag wird die Fassade des Nobelhotels schwer beschädigt, kurz darauf fällt das Auto des Verwaltungschefs einer zweiten Attacke zum Opfer. Als es am Hafen zu einem weiteren Zwischenfall kommt und eine weibliche Leiche am Strand angespült wird, wächst die Angst. Auch Viola fühlt sich nicht mehr sicher. Handelt es sich bei der Toten etwa um ihre Konkurrentin, die wenige Tage zuvor auf Norderney aufgetaucht ist? Und was hat Tibor von Strelitz zu verbergen? Inselkommissar Ole Lokeldiek und sein Team stoßen bei den Ermittlungen schnell an ihre Grenzen. Wird es ihm gelingen, den Täter aufzuhalten?

Gabriele Boschbach ist 1960 in Lüdenscheid geboren. Nach dem Abitur hat sie Germanistik und Kunstpädagogik an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf studiert. Begleitend hierzu arbeitete sie bei der Rheinischen Post im Feuilleton, außerdem absolvierte sie zahlreiche Hospitanzen an Schauspielhäusern, unter anderem dem Düsseldorfer Schauspielhaus. Nach einem Volontariat bei den Lüdenscheider Nachrichten und einigen Jahren als Redakteurin beim Oranienburger Generalanzeiger – zunächst Leitung der Feuilleton-Redaktion, dann in der Lokalredaktion – war sie freiberuflich als Journalistin in Düsseldorf und später in Leer tätig. Seit 2009 ist sie Redakteurin und arbeitete unter anderem auch drei Jahre lang auf Norderney.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Jürgen Hamann / stock.adobe.com

ISBN 978-3-7349-3146-8

Widmung

Für meinen Bruder Ingo

Viola

Alarm. Höchste Alarmstufe. Am Nachbartisch droht eine Frontalattacke. Viola bringt sich instinktiv in Deckung, rückt mit ihrem Stuhl ein paar Zentimeter nach hinten, berührt fast den türkisfarbenen Leinenschal, der die bodentiefen Fenster im Restaurant flankiert. Die Augen des Mannes, der vielleicht fünf Armlängen von ihr entfernt sitzt, verengen sich zu schmalen Schlitzen. Im selben Moment kräuselt sich seine Nase, die Lippen formen einen Trichter. Dann schießt eine Salve Rotzwasser aus ihm heraus, in einen Sprühnebel atomisiert.

Viola kann nicht anders. Sie muss an Siphonflaschen denken. An diese zylindrischen Dinger, mit denen Köche Soßen und Dips auf Tellern anrichten. Die bei ihr aber nie funktionieren. Wenn sie zur Flasche greift und ein feines Schäumchen herausdrücken will, macht es »Zisch«. Die Umgebung ist voller Spritzer und auf dem Teller landet – nichts. Generalversagen, wie blamabel.

Die Niesattacke schüttelt den übergewichtigen Körper des Gastes. Ungelenk fingert er in seiner Jacketttasche nach einem Taschentuch. Ein zerknülltes Papierexemplar nimmt die Reste des Nasenauswurfs auf, wandert dann zurück in die Stoffhöhle. Dort kann der Inhalt in Ruhe vor sich hinsuppen, denkt Viola und ringt einen Anflug von Übelkeit nieder. Nicht zu reden von der Virenlast, die jetzt den Saal kontaminiert.

Mit einem Nieser ist die Atmosphäre des Ortes zerstört, die Schönheit entweiht. Wie soll sie jetzt noch die Tischplatte aus feinstem kanadischem Kirschholz wahrnehmen? Die elegante Dekoration darauf aus cognacfarbenen Muranoglasschalen mit den sorgfältig drapierten Moos- und Schwemmgutpartikeln?

Muss das sein, fragt sich Viola. Dass im Frühstücksraum eines Nobelhotels jemand logiert, der mit den abendländischen Tischsitten nicht im Mindesten vertraut zu sein scheint? Der jetzt noch zu allem Überfluss das kontaminierte Tuch aus der Hose zieht, eine trockene Ecke freilegt und damit die schweißnasse Stirn abtupft. Dabei fällt ihr Blick auf den Wulst, der wie ein Höcker auf seiner Nasenwurzel sitzt. Was ist das? Ein Geschwür? Ein Neurofibrom gar? Viola hat erst vor Kurzem etwas über diese Tumore gelesen, die den Körper an einigen Stellen modellieren.

Hin und her gerissen zwischen Ekel und Erkenntniswillen senkt Viola den Kopf und hebt ihn dann wieder. In diesem Moment fängt sie den Blick des Virenverbreiters ein. In seinen Pupillen lauert Argwohn.

Muss das sein? Natürlich hätte Viola wegschauen können, hätte sich auf das Ei Benedict konzentrieren können, das sich auf den hellblau marmorierten Teller einer Edel-Designermarke schmiegt. Das Spinatblatt leuchtet wie von Caravaggio koloriert. So muss es sein, findet Viola. Die natürliche Schönheit der Lebensmittel muss durch das Kochen verstärkt werden. Alles andere hat in ihren Augen überhaupt keinen Sinn. Das Spinatblatt wurde nicht bis zur Erschöpfung blanchiert, sondern gerade mal so lange, dass es perfekt für den Genuss ist. Und perfekt für Viola. Für ihre hochfein ausgebildeten Geschmacksknospen und ihre elitären Ansprüche. Deshalb sitzt sie an diesem Septembermorgen im Frühstücksraum eines Hotels, das die besten Voraussetzungen für einen Rausch der Sinne bietet.

Ein Küchenchef, der sein Können und Talent in erstklassigen Häusern Deutschlands vertieft hat, ist Garant dafür. Er hat es durch seinen kreativen Umgang mit den feinsten Produkten geschafft, drei Michelin-Sterne auf die Nordseeinsel zu holen, deren Image durch Heerscharen von Touristen und ihrem Allerweltshunger ramponiert ist. Sobald jemand mit seinen Leistungen am Herd aus der Masse heraussticht, wittern auch andere Restaurants in der Umgebung Morgenluft.

Michelin-Sterne entfalten ungeheure Sogkraft. Plötzlich meinen selbst mittelmäßige Küchenchefs, sie müssten ihren Gästen mehr geben als das stumpfe Einerlei aus panierten Fleischfetzen, belanglosen Burgerkreationen oder liederlich zusammengestellten Salaten. Sie werden ehrgeizig, geben ihren Gerichten besondere Namen und machen auf sich aufmerksam. Durch den Stern kommt Bewegung in die träge Masse. Der Kampf beginnt. Er wird auf allen Portalen ausgetragen, die das Internet und die Genussmittelindustrie in Kooperation mit den Hotelfachverbänden der Welt hervorgebracht haben.

Und Viola ist eine ihrer Preisrichterinnen. Sie entscheidet, wer aufsteigt und wer in die Tiefe stürzt. Das passiert nicht direkt, nicht wie bei einem sportlichen Wettkampf, wo auch für Außenstehende schnell klar ist, wer versagt hat und wer gewinnt. Viola bewertet aus dem Bauch heraus ein Augenblickserlebnis.

Die Arithmetik der Suchmaschinen und digitalen Netzwerke generiert daraus ein Ergebnis. Viola ist immer wieder fasziniert davon, was ihre Kommentare bewirken. Je mehr Follower sie hat, desto hochgeschätzter ist ihre Meinung.

Die Medien bezeichnen sie als Influencerin. Sie selbst kann dieses Wort nicht leiden. Influencerin! Immer wenn der Begriff fällt, rümpft sie angewidert die Nase und protestiert. »Influencerin? Das klingt doch wie eine Erkältung, oder?«, sagt sie. Alles, was auch nur annähernd mit einer Beeinträchtigung der Sinne zu tun hat, ist ihr zuwider, lenkt ab von der Reinheit des Genusses. So wie die Niesattacke des Mannes fünf Armlängen entfernt.

Viola schüttelt sich innerlich. Schüttelt die Vorstellung eines Horror-Szenarios von frei im Raum flottierenden Killerviren ab. Sie greift zum Besteck und legt instinktiv eine Stoff-Serviette auf ihren türkisfarbenen Jersey-Minirock. Das Messer schlitzt die hauchfeine Membran des Eigelbs auf. Die sämige Flüssigkeit vermählt sich mit dem Spinat und dem Briocheteig darunter. Zusammen mit dem Schinken und der Sauce Hollandaise ist das Gericht ein Gedicht. Kulinarische Poesie am frühen Morgen. Der Tag kann beginnen.

Lothar

Für Lothar Niehoff ist der Tag schon fünf Stunden alt, als Viola frühstückt. Die schrillen Klänge von Fanfare Ciocărlia aus seinem Smartphone haben ihn wie jeden Morgen aus dem Schlaf gerissen. Kein Rekeln in den Laken, kein Fluchen, Stöhnen, Hadern. Mit einem Satz federt er aus dem Bett, greift nach Slip und Feinripp­hemd, die auf einem Stuhl bereitliegen, und geht hinunter in die Küche. Dort blinkt ihm die noch am Abend auf Hochglanz polierte San Marco Leva V6 entgegen, das Wunderwerk einer Espressomaschine, einer Siebträgermaschine allerfeinster Machart. Was sonst! Die Welt ist zugepflastert mit Vollautomaten. Vollautomaten, mit Geringschätzung zischt er dieses Wort vor sich hin. Vollautomaten, das erinnert ihn an Vollidiot oder Vollsperrung, also an etwas, das keine Alternativen zulässt.

Mit seinen in die Luft ragenden Hebeln, der Haube aus gehärtetem Glas und dem Stahlgehäuse sieht seine Leva V6 aus wie eine futuristische Kaffeemanufaktur in Mini-Format. Nur geschaffen, um seinen Durst auf ein Getränk der Extraklasse zu stillen. Routiniert greift er zu dem stabilen Sieb, drückt es unter die Öffnung des Kaffeemahlwerks. Zerrieben wird eine exakt abgemessene Menge an Pulver für eine Tasse.

Der Duft nach Karamell, Muskatnuss und nassem Strandkorbgeflecht erfüllt den Raum. Mit einem Tamper drückt Lothar Niehoff das braune Pulver fest in die Sieböffnung hinein. Dann dreht er das Rondell in das Gewinde der Maschine. Nur noch ein leichter Druck auf einen Kippschalter – schon stößt die V6 fauchend einen Schwaden Dampf aus, und wenig später rinnt die braune Flüssigkeit in die angewärmte Tasse. Auf der Oberfläche bildet sich ein feiner, kaum als solcher sichtbarer mokkafarbener Schaumfilm.

Die erste Tasse ist der Lebensgeistererweckungstrunk. Danach ist Lothar bereit für die Nachrichten des Morgens. Er greift zu seinem Tablet und ruft die Norderneyer Badezeitungs-App auf. Gleich auf der Titelseite blickt ihn eine Frau mit Leichenhallenlächeln an. Diese wie eingefroren wirkenden Verkrustungen um den Mund herum deuten schon auf professionelle Routine hin. Der Harpunenblick aus blaugrünen Augen ebenfalls.

»Das ist … Das kann doch nicht wahr sein«, murmelt er vor sich hin und zieht das Display ganz nah zu seinen Augen. Das Foto zeigt Viola Vandame. Die Bildunterschrift bestätigt die Befürchtung, die Lothar sofort in den Sinn schoss, als er das Konterfei der Influencerin auf dem Titel gesehen hat: Die selbst ernannte Göttin der Restaurantkritik logiert im Hotel Promenadendeck, dem zweiten Haus auf der Insel, das neben seinem eigenen mit dem Prädikat Vier-Sterne-plus zertifiziert ist. Warum dort, fragt er sich. Warum dort? Lothar Niehoff kann es nicht fassen. Spontan fällt ihm kein Argument ein, warum jemand seinem Konkurrenten den Vorzug geben sollte. Er hat alles gemacht, um mit dem Promenadendeck gleichzuziehen. Ach was, gleichziehen! Allein dieses Verb löst fast einen Würgereiz in ihm aus.

Er hat die Standards gesetzt. Er ist der kulinarische König der Insel. Davon ist er fest überzeugt. Daran hat er lange Zeit gearbeitet. Er hat schon vor zwanzig Jahren, als noch niemand auf regionale und saisonale Speisen gesetzt hat, den Saum des Wattenmeers abgesucht. Damals galt es noch als trendy, aus den entlegensten Regionen der Welt Produkte für die Küche zu beschaffen. Schon damals hat er seinen eigenen Riecher entwickelt, hat gespürt, dass das Gute sehr nah liegt. Er hat auf der Insel Queller gefunden und geschnitten. Er hat Wildkräuter gesammelt. Hat sich dafür starkgemacht, dass weiter Hochlandrinder auf den Wiesen der Insel grasen dürfen. Er hat dafür gesorgt, dass auf der Insel die Voraussetzungen für eine ursprüngliche Küche erhalten wurden.

Er hat seine Chancen genutzt, war hell- und weitsichtig. Davon ist er überzeugt. Und nicht nur er. Es gibt Tausende von Gästen, die ihm das bestätigt haben. Und jetzt das! Er kann es nicht fassen. Viola Vandame hätte bei ihm absteigen müssen. Dass sie sich für eine andere Destination entschieden hat, kann nur einen Grund haben: Jemand hat interveniert, hat dafür gesorgt, dass die Influencerin bei ihm absteigt. Ein paar Scheine vielleicht. Diskret lanciert. Niemand wird es je nachweisen können.

Lothar Niehoff ärgert sich. Er brüht sich einen zweiten Espresso. Mittlerweile ist es kurz vor sechs Uhr. Die ersten Mitarbeiter kommen zur Frühschicht. Das Frühstück für die Gäste muss vorbereitet werden. Gleich plumpsen die hungrigen Mäuler aus ihren Betten direkt ins Erdgeschoss, um dann gierig über das herzufallen, was ihnen dargeboten wird, so als hätten sie wochenlang keine Nahrung zu sich genommen.

Seine Konkurrenten stellen ein Büffet bereit. Was sonst. Sollen die Gäste sich doch kannibalisieren.

»Wo ist denn die lactosefreie Milch geblieben?« Jonny, einer seiner Mitarbeiter, steckt den Kopf durch die Küchentür. Er muss die Kannen vorbereiten. In jedes der sechs hochwandigen Behältnisse wird eine andere Flüssigkeit abgefüllt, mal für Semi-Lactoseintolerante, dann für Hundert-Prozent-Lactoseintolerante, für Fruchtzuckerallergiker, für Kakaophobiker, für Kohlensäure-Skeptiker und für Puristen.

Die individuelle Wunscherfüllung ist in seinem Haus eine Selbstverständlichkeit. Wer für ein Doppelzimmer pro Nacht im Schnitt vierhundert Euro zahlt, möchte auf Händen getragen werden und dabei das trinken, worauf er gerade Lust hat. Und was sein Körper verlangt. Die Zahl derjenigen, die gegen Allergien zu kämpfen haben, steigt von Tag zu Tag.

Darauf hat er sich eingestellt. Das ist eine schwierige Gratwanderung. Natürlich darf er nicht den Eindruck erwecken, ein Sanatorium zu sein. Das würde diejenigen düpieren, die sich in seinen fein designten Räumen nur aufhalten, um das Leben zu feiern. Niehoffs Devise: Er möchte in jeder Sekunde dem Gast das Gefühl vermitteln, der Aufenthalt im »Horizontal« sei eine Entschädigung dafür, dass das Alltagsleben die Kräfte aufzehrt.

»Die lactosefreie Milch ist noch in Kartons verpackt. Sie stehen im Kühlhaus«, ruft Lothar Niehoff.

In der Küche sind alle fünf Mitarbeiter der Frühschicht auf ihrem Posten. Lucia raspelt Nüsse, die sie vorher geröstet hat, in das Bircher Müsli. Mario drapiert den Rohmilchkäse auf der Etagere, Sibille und Ernst füllen die acht Marmeladen aus den großen Behältern in kleine ovale Schälchen mit einem silbernen Klappdeckel. Ganz hinten an der Schneidemaschine zersäbelt Paul den San-Daniele-Schinken in hauchfeine Scheiben.

»Sieh zu, dass er dir nicht wieder zerbröselt«, brüllt Lothar Niehoff in die Küche.

»Wir haben einen etwas stärker gereiften geholt. Der ist kompakter. Ich schaff das schon«, murmelt Paul vor sich hin. Spricht mehr zu sich selbst als zu seinem Chef, den er mit keinem Blick würdigt. Er muss sich auf die Bewegung des Sägeblatts konzentrieren, das geschmeidig und zielstrebig in dem tiefroten Schinkenlaib verschwindet.

Paul ist noch ungeschickt, weiß nicht, wie man die Lebensmittel richtig anfasst, langt nach dem Schinken, als wolle er ein Paket auf ein Förderband werfen.

»Wie kommt so ein Kerl in die Gastronomie?«, murmelt Lothar Niehoff vor sich hin. »Warum habe ich ihn nur eingestellt?«, könnte er sich auch fragen.

Müßig! Es gibt keine richtige Auswahl an Arbeitskräften auf der Insel. Keine gute Auswahl. Man muss nehmen, was man kriegen kann. Wie das klingt! Es ist absurd. Sonst nimmt er immer nur das, was andere nicht kriegen können. Aber beim Personal muss er Abstriche machen. Wie soll er unter diesen Bedingungen ein Spitzenhaus führen? Was hat er neulich als Headline in einer Tageszeitung gelesen, wo es um die Haute Couture ging? »Unser Credo ist es, das Perfekte noch vollkommener zu machen.« Das will er auch. Wenn er sich nur nicht manchmal fragen müsste für wen.

Gott sei Dank, sind die Qualitätsstandards beim Frühstück nicht so eminent wichtig wie im weiteren Verlauf des Tages. Das hat Lothar Niehoff in vierzig Jahren Gastronomie gelernt. Morgens sind die Sinne der Gäste mürbe. Die Speisen landen im Körper, so wie man früher die schweren Dampflokomotiven mit Briketts geheizt hat. Halbe Wagenladungen werden in den Leib geschaufelt, um ihn auf Betriebstemperatur zu bringen. Wer schaut schon danach, ob der Käse wirklich aus Rohmilch hergestellt wurde? Ob im Bircher Müsli die Äpfel raspelkurz zerrieben wurden? Manche, vielleicht sogar die meisten, wissen ja nicht einmal, dass ein erstklassiges Bircher Müsli die ganze Nacht durchweichen muss.

Niehoff hat die Küche verlassen, er geht zum Aufzug und fährt in den vierten Stock. Die Metalltür öffnet sich mit einem Ruck. Er geht nach rechts zum Spa-Bereich. Erst im Frühling hat er einen Betrag investiert, mit dem andere sich ein Chalet in St. Moritz oder eine Eigentumswohnung auf Mallorca kaufen würden. Alles nur, um ein paar Must-haves einzuführen. Designerliegen im Ruheraum, die sich um dreihundertsechzig Grad drehen lassen. Eine Spielwiese für die Gäste. Dazu ein spezielles Kaminfeuer, das täuschend echt aussieht, aber nur aus künstlichen Holzscheiten besteht. Künstliche Holzscheite! Allein dieses Wort. Lothar Niehoff verachtet den ganzen Hokuspokus manchmal, den er für seine Gäste veranstalten muss. Er hat keine Wahl, der Markt fordert Innovation. Lässt man sich nicht darauf ein, ist man sehr schnell weg vom Fenster.

Sein Weg führt ihn durch den Spa-Bereich, vorbei an dem fünfzehn Meter langen Rooftop-Pool. Wasserschwaden schweben über der Oberfläche, hüllen das Bassin so stark ein, dass man dessen Konturen kaum sehen kann. Dann erreicht er das Geländer des Balkons und schaut zum Horizont. Die Sonne steigt als kleiner orangeroter Ball auf und schiebt sich langsam nach oben. Schickt ihre Strahlen über das Meer, das sich wie ein straff gespanntes türkisfarbenes Bettlaken vor ihm ausbreitet. Ja, denkt er, während er sich auf einen Stuhl gleiten lässt. Deshalb lebe ich hier. Wegen der Natur, die so nahe ist, als würde man auf ihrem Schoß sitzen. Einatmen, ausatmen. Schauen, riechen, fühlen, schmecken. Die Sinne werden wach.

Was sonst im Dämmerschlaf vor sich hin schnarcht, beansprucht Aufmerksamkeit. Mancher Gast merkt erst auf der Insel, dass er lebendig ist. Lothar Niehoff weiß, wie er dieses Gefühl triggern kann. Stammkunden sind süchtig danach. Sie buchen bereits bei ihrer Abfahrt für die nächste Saison oder manchmal auch für die nächsten Urlaube in drei, vier Monaten. So oft wie möglich ergreifen sie die Chance, wieder dort zu sein, wo sie Abstand von ihrem Alltagsleben haben. Doch alleine auf die Stammkunden kann er nicht setzen. Deshalb wäre Viola Vandame so wichtig für ihn gewesen. Abrupt steht Lothar Niehoff auf. In ihm reift ein Plan.

Katie

Fünfzehn Fahrzeuge vor mir. Das darf doch nicht wahr sein, denkt Katie Niehoff, als sie auf den Fähranleger in Norddeich zufährt. Es ist früh am Morgen. Normalerweise ist um diese Zeit nicht viel los. Doch von Weitem sieht sie die lange Schlange vor dem Deck der Frisia IV. Sie drosselt das Tempo und gleitet in ihrem Mercedes-Coupé auf die Blechlawine zu. Sie kennt den Prozess, der jetzt vor ihr liegt. Sie kennt ihn schon so lange, dass sie müde davon ist, sehr müde. Andere Menschen, die nicht auf einer Insel leben, können einfach nach Hause fahren, ihr Eigenheim oder ihre Mietwohnung ansteuern und in die Garage fahren. Tür zu, Schlüssel im Schloss rumdrehen. Feierabend.

Sie muss immer erst in einer Schlange anstehen, auf das Deck einer Fähre fahren, eine Stunde lang über das Wasser gleiten und dann noch mal zehn Minuten lang über die Insel fahren, bevor sie sich irgendwann aufs Sofa legen und die Beine ausstrecken kann. Eine eigene kleine Jacht wäre schon eine Hilfe, denkt sie. Das würde sie unabhängig machen von solchen Angeboten wie einer Fähre. Dort ist sie eine Passagierin unter vielen. Das ärgert sie. Als Bewohnerin von Norderney stehen ihr Sonderrechte zu, findet sie. Ein klein wenig Entschädigung dafür, dass sie die Nachteile dieses Wohnorts auf sich nehmen muss. Eine Jacht wäre genau das Richtige. Schon allein die Vorstellung, wie sie, die kupferfarbenen Haare mit einem hellen Tuch gebändigt, am Ruder des pfeilschnellen Flitzers steht. Der Wind spielt mit den Haarzipfeln, die unter der Kopfbedeckung hervorlugen. So braust sie an der Fähre vorbei.

Auf dem Oberdeck knubbeln sich an schönen Sommertagen die Touristen, dicht an dicht. Viele blicken über die Reling und sehen ihr neidisch nach, wie ihre kleine Jacht durch das Wasser gleitet. Jeder Zweite denkt natürlich: »Mein Gott, was für ein schönes Boot! Wenn ich das doch auch hätte.« Der böse, böse Konjunktiv. Er galt leider auch für sie selbst, obwohl sie nicht verstehen konnte, warum. Ist Geld wirklich ein Argument? Wenn es nach Lothar geht, schon. Zu teuer, behauptet er. Wenn seine pädagogische Ader gerade die Oberhand hat, erklärt er ihr, warum das so ist. Zu teuer, murmelt sie halblaut vor sich hin und könnte sich vor Wut fast auf die Zunge beißen.

Als ob es irgendetwas gäbe, was für ihren Mann zu teuer ist. Erst vor sechs Wochen hat er sich einen Jaguar gekauft, einen Oldtimer, hinter dem er schon seit Monaten, ja vielleicht sogar seit Jahren her ist. Ein Jaguar E-Type, ein legendäres Auto, gebaut in den Sechzigerjahren. Die Karosserie sieht aus wie eine Mischung aus Hai und Marienkäfer, findet Katie. Eigentlich eine unmögliche Kombination. Das Maximum an Verschlagenheit und das Maximum an Niedlichkeit, wie konnte man so etwas nur zusammenbringen? Wahrscheinlich macht das den Erfolg des Autos aus, das 2021 seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert hat und viel Aufmerksamkeit bekam. Die schenkt ihr Mann vor allen Dingen seinen Oldtimern, murrt Katie vor sich hin. Und wo bleibe ich? Muss ich mir erst einen Zweihundertfünfzig-PS-Motor einbauen lassen, um wahrgenommen zu werden? Muss ich mich erst tunen lassen?

Während sie sinniert, bewegt sich der Autotross vor ihr. Die Fähre hat ihre Ladeklappe gesenkt und ein Fahrzeug nach dem anderen fährt langsam an Deck. Ein Mitarbeiter der Reederei dirigiert den Prozess, winkt die Autos nach rechts oder in die Mitte. An der Geschwindigkeit der Reaktionen liest Katie ab, ob die Fahrgäste erstmals auf die Insel reisen oder ob es Routiniers sind, also Einheimische oder Dauergäste. Von denen gibt es seit Jahren immer mehr. Die Zahl derjenigen, die sich eine Zweitwohnung auf der Insel zulegen, steigt rasant. Wo kommen nur die ganzen Immobilien her, fragt sie sich. Verkaufen so viele?

Rund sechstausend Einwohner hat die Insel. Und das seit Jahren. Irgendetwas stimmt nicht, grummelt sie vor sich hin und fährt mit ihrem Mercedes auf die Fähre. Sie hat einen Platz in der rechten Reihe, wird eingekeilt von einem Norderneyer Geländewagen vor ihr und einem SUV aus Düsseldorf dahinter. Sie schaltet das Radio aus und schiebt die Lehne des Sitzes nach hinten. Einen Moment lang ausruhen, Kraft schöpfen, der Landgang ist anstrengend gewesen. Anstrengend und schön. Sie ist immer noch erfüllt von ihrer Erinnerung an die vergangene Nacht.

Ihre Sinne sind überreizt. Vor ihrem geistigen Auge taucht immer wieder das Bild des Mannes auf, der ihr jeden klaren Gedanken raubt. Ein hochgewachsener Mann mit einem schön geschnittenen, fast femininen Gesicht. Lippen so voll, als seien sie aufgespritzt worden. Irgendwie hat er sie gleich am Anfang an Mathieu Carrière erinnert, den Schauspieler, der in »Die flambierte Frau« eine männliche Hure gespielt hat. Die Szenen haben sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Es war etwas Außergewöhnliches, in einem Film zu zeigen, dass auch ein Mann käuflich war. Diese Vorstellung hat in ihrem Kopf einen Schalter umgelegt. Das war möglich! Sie konnte es nicht fassen. Jemanden zu kaufen, der sich auf die Bedürfnisse einer Frau einstellt. In den Neunzigerjahren war sie eine nicht mehr ganz junge Frau gewesen, sie hatte Erfahrungen gemacht, aber keine Erfüllung gefunden. Der Film hat ihr eine Vorstellung davon vermittelt, dass das möglich sein könnte. Und jetzt diese Begegnung! Die ihr zeigt, dass ihre Tagträume keine Tagträume bleiben müssen.

Mittlerweile hat die Fähre abgelegt. Im Hintergrund hört sie die vertrauten Geräusche. Das mächtige, ruckelnde Dröhnen des Motors, bei dem sie immer wie ein kleines Mädchen fürchtet, dass er den Kampf gegen die Wellen verlieren könnte. Die Frisia schiebt sich in die Fahrrinne und nimmt Kurs Richtung Norderney. Die meisten verlassen ihre Fahrzeuge und suchen einen Platz an Deck.

Katie ist froh, dass sie allein mit sich und ihren Gedanken ist. Sie bringt den Sitz noch stärker in Schräglage, rollt sich auf die Seite und legt ihren Parka über den Oberkörper. Ein wenig schlummern. Zeit für sich. Sie genießt die nächsten fünfundvierzig Minuten. Die Realität wird sie früh genug einholen.

Menke

Nach dem Frühstück hat sich Menke Mennen in sein Zimmer geschleppt. Kurz vorher hat er sich mit dem Personal rumärgern müssen. Eine der Mitarbeiterinnen an der Rezeption hat ihn darauf angesprochen, dass er im Restaurant geniest habe, und zwar nicht einmal oder zweimal, sondern mehrmals. Dabei habe er eine junge Frau, die als Gast im Haus weilt, angestarrt. Die habe sich darüber beschwert. Es sei nicht hinnehmbar, dass man sich als alleinerziehende Frau solchen Obszönitäten aussetzen müsse. Das bewege sich kurz vor dem Strafbestand zur Körperverletzung.

Menke hat nur genickt und der Frau kommentarlos die Visitenkarte seines Freundes und Rechtsanwalts Victor Säbel gegeben. »Der regelt alles, wenn es was zu regeln gibt«, hat er gesagt und sich auf den Weg in sein Zimmer gemacht. Ungeheuerlich, denkt er bei sich. In welcher Welt sind wir mittlerweile angelangt? Noch vor zehn Jahren haben ihm die Menschen zu Füßen gelegen, jetzt muss er sich mit Belanglosigkeiten rumschlagen.

Das hätte er auch noch gemeistert, wenn nur der Kampf mit seinem Körper nicht alles von ihm abverlangen würde. Das Kribbeln in den Beinen macht jeden Schritt zur Qual. Schon nach wenigen Metern hat er seinen Gang nicht mehr richtig unter Kontrolle. Heben und Senken der Füße, Aufsetzen der Ballen – was für ihn früher normal war und instinktiv passierte, ist jetzt eine Herausforderung. Als müsse sein Körper jede Bewegung neu berechnen. So fühlt es sich an. Wo soll das noch hinführen? Wenn es ihm nicht mal mehr gelingt, die einfachsten Dinge zu steuern.

Er darf nicht an früher denken. An seine Glanzzeiten, in denen er komplexe Geschmacks-Codes geknackt hat. Einfach so. Indem er den Bissen einer hochfein zubereiteten Speise auf die Zunge geschoben hat und innerhalb von Sekunden sagen konnte, welche Aromen sich darin verbargen. Ja, das war ein exzellentes Decodieren von Geschmackscodes, ein sehr Beeindruckendes vor allen Dingen, wenn er künstliche Substanzen herausschmeckte, die eigentlich gar nichts in der Komposition zu suchen hatten.

Er zieht das benutzte Taschentuch aus der Hose, in das er sich eben beim Frühstück geschnäuzt und diese Unperson in ihrem Flanellfummel fast zur Weißglut gebracht hat. Damit betupft er die schweißnasse Stirn. Sein Leib ist ein einziger Hochofen. Die kleinen Kraftwerke in seinen Zellen arbeiten an der Grenze ihres Leistungsvermögens, um das System am Laufen zu halten.

Jetzt müssen sie auch noch drei Scheiben Toastbrot, ein Ei Benedict, vier Scheiben krossen Speck, eine sauer eingelegte Gurke, ein Schwarzbrot und zwei Scheiben feinsten hausgebeizten Lachs verarbeiten. Ruhe, am besten würde er sich jetzt Ruhe gönnen. So könnte er die Voraussetzung dafür schaffen, dass sein Körper sich ausschließlich dem Häckseln der Nahrung und dem Verteilen der einzelnen Betriebsstoffe auf die unterschiedlichen Organe widmet.

Warum hat er nur ein Zimmer zur Seeseite genommen? Der Anblick des Wassers, das sich schaumspritzend auf den Strand zubewegt, macht ihn nervös.

Er geht zu dem bodentiefen Fenster und blickt auf den luxuriösen XXL-Kiosk, diese architektonische Symphonie aus Milchglas, Backstein und Beton direkt an der Promenade, die schon vormittags Tummelplatz für Cocktailtrinker ist. Für die Aperolisten dieser Welt. Das quietschorangefarbene Getränk ist in seinen Augen der Inbegriff für den Geschmacksverlust der westlichen Welt. Instinktiv muss Menke sich schütteln. Gut, dass er den Vorhang zuziehen kann. Gut, dass es diese Möglichkeit in seinem Hotel noch gibt. Jetzt ist die Welt ausgesperrt. Sie ist draußen. Dort, wo sie hingehört. Seit etwa zwei Jahren beobachtet er, dass sein Interesse an all dem, was Soziologen vielleicht als Umwelt bezeichnen würden, in rasantem Tempo abnimmt.

Zunächst hatte er das Weltgeschehen ausgeblendet. Krieg in der Ukraine, Waffenlieferungen nach Libyen, der zweite Regierungswechsel in einem Jahr in England – es war ihm gleichgültig. Er nahm es nicht mehr zur Kenntnis. Während der Corona-Pandemie hat er gemerkt, wie die Nachrichtensysteme funktionieren. Früher hat er immer gedacht, es seien Informationsübermittlungszentralen. Mittlerweile ist er überzeugt davon, dass das Weltgeschehen von den Medienleuten nach der Maßgabe aufbereitet wurde, wie es eine maximale Wirkung beim Empfänger hervorruft. Voll auf die Zwölf, das ist die Devise. Als könne man eine Nachricht abschießen wie einen Dartpfeil.

Der Irrglaube, alle Prozesse bis ins letzte Detail lenken zu können, richtet einfach in manchen Branchen Verheerendes an, denkt Menke. Alle gieren nach Reichweite, lechzen danach, Leser zu bekommen. Sie buhlen um das Wichtigste, das man von einem Menschen bekommen kann, weil es die Grundlage für alles Folgende ist. Sie buhlen um seine Aufmerksamkeit. Kohle ist das Einzige, was zählt.

Auf die Medienleute, die Nachrichtenjongleure und Schlagzeilen-Schacherer ist er ohnehin nicht gut zu sprechen. Die ganze Branche droht zu einem Blätterwaldbordell zu werden. Die Jagd nach dem Zeitgeist wird immer blutrünstiger. Er hat das aus nächster Nähe beobachtet und sich angeekelt zurückgezogen.

So wie die Nachrichten ignoriert er mittlerweile auch seine Familie, seine Bekannten sowieso. Gloria, seine Frau, hat zuletzt vor fünf Wochen mit ihm telefoniert. Sie hat sich flüchtig verabschiedet, weil sie mit einer Freundin nach Mauritius reisen wollte. Dort hat sich ein neuer Wellness-Guru niedergelassen, der versprach, aus einem vom Alter gezeichneten Körper einen Vitalitätsbolzen zu machen. Im Wesentlichen ist es wohl darum gegangen, so wenig wie möglich zu essen. Fasten verbrämt mit feingeistigem Getue. Wenn es um Getue geht, ist sein Sohn ebenfalls weit vorn. Der hat sich in seinem Leben nur darauf verlassen, dass er durch sein gutes Aussehen Model-Termine bekommt. »Pa, das ist anstrengender, als du vermutest«, sagte er immer wieder gebetsmühlenartig.

Eine Zeit lang hat Menke geglaubt, das Desinteresse an allem Zwischenmenschlichen würde den Orkan in seinem Inneren bändigen. Er weiß, wer diesen Sturm entfacht hat. Und er hat als aktiver Mensch, als Mensch, der auf seine Sinne vertraut, einen Plan eingefädelt. Es ist ein Plan gewesen, der seine niederen Instinkte bedient. Das weiß er. In manchen Phasen seines Lebens hat das funktioniert. Jetzt ist das aber nicht mehr so. Im Gegenteil. Er humpelt zu dem breiten Bett und lässt sich darauf niedersinken. Mit der rechten Hand greift er nach seinem Laptop, öffnet ihn und gibt »www.klaralustig.de« ein. In Bruchteilen von Sekunden baut sich ein Bild auf. Es zeigt eine knabenhafte Frau, die ihren herzförmigen Po ins Blickfeld des Betrachters reckt. Das Hinterteil wird nur notdürftig von einem Stringtanga bedeckt. Allein dieser Anblick macht Menke scharf. Richtig scharf, die Geilheit hat eine andere Natur als die, die er empfand, wenn er mit ihr zusammen war. Das war wie ein warmer Sommerregen, wie eine Vitalkur, die jede Zelle durchpulst. Was er jetzt sieht, ist so, als würde sein Körper von einem Wasserschlauch mit Überdruck getroffen, und zwar so stark, dass er fürchten muss, das dabei anvisierte Organ werde weggesprengt.

»Ja, du alte Schlampe, hast den Tanga in einer viel zu kleinen Größe geholt. Jetzt schneidet er dir ins Fleisch, was?« Seine linke Hand wandert runter zu seinem Glied, das wie ein praller Rettich gegen den Slip drückt. »Scheißstoff«, ätzt er, während er weiter auf das Display starrt. Jetzt wandert die Kamera nach oben, fängt ihr Gesicht ein. Es ist nur im Halbprofil zu sehen. Die Lippen sind leicht aufgeworfen, die Augen durch einen dicken Lidstrich hervorgehoben. Sie beginnt sofort, nachdem sich das Bild vollständig aufgebaut hat, ihre Lippen zu befeuchten. Sie schiebt erst die Zungenspitze heraus, dann lässt sie diese weiter hinausgeleiten. »Ja, ich weiß, wohin du damit willst«, grunzt er und beginnt damit, seinen Unterleib von der textilen Ummantelung zu befreien.

In diesem Moment dringt ein ohrenbetäubendes Geräusch an sein Ohr, es klingt so, als wolle jemand die Hauswand des Hotels planieren. Eine Kombination aus Rütteln und Stampfen, die auch sein Bett in Vibrationen versetzt. Oder er glaubt, dass es so ist. Durch seine Erkrankung hat auch die sinnliche Wahrnehmung gelitten. Er horcht nach draußen. Der Lärm ist unvermindert heftig. Er greift zu seinem Handy und wählt die Nummer der Rezeption.

»Hallo, hier Mennen. Was ist das für ein ohrenbetäubender Lärm? Sind Sie dabei, das Hotel abzureißen? Ich buche nicht im ersten Haus am Platz, um einem Lärmgewitter ausgesetzt zu sein.«

»Wir bedauern das außerordentlich. Es sind Arbeiten an der Infrastruktur der Insel, auf die wir keinen Einfluss haben. Wir haben unsere Gäste über eine SMS auf mögliche Unannehmlichkeiten hingewiesen«, sagt eine Frauenstimme in auswendig gelerntem Singsang.

»Habe ich nicht gelesen. Muss ich auch nicht lesen. Ich logiere in Ihrem Hotel, gehe jeden Tag mehrmals an der Rezeption vorbei. Warum sprechen Sie mich nicht an?«

»Dafür haben wir ja die SMS geschrieben.«

»Wie können Sie sichergehen, dass ich die gelesen habe?«

»Wir haben unserer Informationspflicht Genüge getan«, klingt es ziemlich automatenhaft an sein Ohr. Menke fragt sich, ob er einen Menschen an der Strippe hat oder vielleicht nur einen gut programmierten Bot. Er überlegt und stellt eine weitere Frage: »Glauben Sie, dass meine Mutter meinen Vater betrogen hat?«

»Wir haben unserer Informationspflicht Genüge getan«, antwortet die Frauenstimme, ohne ihren Duktus in irgendeiner Form zu verändern. Menke weiß jetzt, dass er es mit sogenannter künstlicher Intelligenz zu tun hat. Er hätte auch mit dem Wind reden können, mit dem Sturm, egal, alle Antworten auf seine Fragen sind vorgefertigt.

Er fühlt sich verhöhnt. Er sinkt wieder zurück in die Kissen seines Betts. Das Bild von Klaralustig, oder wer auch immer sich für ihn verrenkt hat, ist eingefroren. Er sieht nur, wie sie gerade dabei ist, ihre Brustwarzen mit einem Schleimfilm zu überziehen. Mach nur, denkt er gleichmütig. »Ist sowieso egal«, flüstert er. Auf seinem Account ist rechts in einem orangefarbenen, hervorstechenden Fenster der Betrag 243,54 Euro zu sehen. Abgerechnet wird zum Schluss. Er muss grinsen, er muss über seine eigene Geilheit grinsen. Natürlich ist bereits abgerechnet worden, während er mit der Rezeption telefoniert hat. Der Krach ist so ohrenbetäubend gewesen, dass er nicht mehr darüber nachgedacht hat. Er hat es schlicht vergessen, er hat sich sogar ertappt gefühlt. Auch egal, es ist ihm fast egal, nicht ganz so egal wie die Meinung seiner Bekannten, aber ziemlich egal.

Alles Idioten, denkt er, während er in die Kissen zurücksinkt und den Deckel des Laptops zuklappt. Soll ficken, wer will, er geht jetzt erst mal schlafen, sagt er sich und sackt vollends in die mit Leinenbettwäsche bezogenen Plumeaus. Binnen weniger Minuten ist er woanders, im Reich des Traums. Dort gibt es keine Grenzen, denkt er, bevor er wegdämmert.

Fred

Für Fred Proust beginnt der Arbeitsalltag wie jeden Morgen. Der Verwaltungschef lässt sich die aktuellen Übernachtungszahlen vorlegen. Er hat eine genaue Vorstellung davon im Kopf, wie das Ergebnis aussehen soll: eine Steigerung von mindestens fünf Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das ist der Standard, den er selbst vorgegeben hat. Es darf nicht sein, dass man dahinter zurückfällt. Pandemie hin oder her. Das kann keine Entschuldigung sein. Rose Gold, seine Sekretärin, öffnet geräuschlos die Tür und legt ihm einen Stapel Papiere an den rechten Rand des Schreibtisches. Sie nickt nur kurz, flüstert etwas Unverständliches und zieht sich dann zurück.

Dafür liebt er sie. Sie weiß, dass er gerade morgens nichts mehr hasst als Small Talk. Dieses »Haben Sie gut geschlafen?« oder »Wie geht es der Familie?«. Das braucht er nicht. Das hat sie sehr schnell verstanden. Deshalb hat er sie behalten, und dafür wird sie von den anderen Frauen in der Verwaltung gemobbt, alle wollen sie am liebsten wegbeißen, alle wollen ihren Platz. Sie ist nicht so oberflächlich wie die anderen. Sie lästert nicht umstandslos über jeden, hält sich gern im Hintergrund. Das mögen die Wenigsten. »Die hält sich wohl für was Besseres?«, heißt es dann. Und eh man es sich versieht, steht man außerhalb der Gruppe. Alle stellen sich gegen eine Person, wollen die Missliebige rausdrängen. Aber nein, das lässt er bei Rose Gold nicht zu. Solange er auf der Insel etwas zu sagen hat, also bestimmt noch dreißig Jahre, wird sie unter seinem persönlichen Schutz stehen.