Tote Mädchen zum Auftakt - Andrea Braun - E-Book

Tote Mädchen zum Auftakt E-Book

Andrea Braun

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Beschreibung

Der erste Krimi aus der Alten Musik-Szene: Spannung mit einem Weltstar! Eine Opernproduktion in Brüssel: Eigentlich hat der exzentrische Stardirigent Adrian von Hohenfels mit Monteverdis Orfeo alle Hände voll zu tun. Doch als er von mehreren nigerianischen Mädchen erfährt, die missbraucht und ermordet wurden, und für die sich die Polizei nur peripher interessiert, meldet sich sein Gerechtigkeitssinn — und sein Faible für die Melancholie des Todes. Gemeinsam mit seiner Assistentin Freya Johansen, forensische Psychologin und ehemalige BKA-Ermittlerin, macht er sich also auf die Suche nach dem Mörder. Dabei stoßen die beiden mit ihren ganz besonderen Methoden und Möglichkeiten in immer neue Kreise des Schreckens vor und müssen bald erkennen, dass sie sich nicht nur mit einem Mörder, sondern mit einem Menschenhändlerring angelegt haben, dessen Tentakel bis in höchste gesellschaftliche Kreise reichen. Und plötzlich sind sie nicht mehr nur die Jäger eines Mörders, sondern selbst die Gejagten einer mächtigen Organisation, die sich ihr lukratives Geschäft nicht verderben lassen möchte … Dies ist der erste Band einer neuen Krimireihe rund um den Dirigenten Adrian von Hohenfels. Autorin Andrea Braun weiß als Leiterin einer Agentur für Alte Musik und international tätige Musikjournalistin, wie groß das Interesse an Musikern und deren Leben ist: Was für Persönlichkeiten das sind; wie es ist, so viel zu reisen, so selten zuhause zu sein, dafür aber wunderbare Städte und faszinierende Konzertorte kennenzulernen; wie es sich anfühlt, etwas extrem gut zu können, was andere Menschen nicht können — und wie es ist, berühmt und bewundert zu sein. Diesem Interesse möchte sie mit ihrer Krimireihe entgegenkommen. So wird jeder Band der Reihe an einem authentischen Ort (Festival, Konzert-/Opernhaus) spielen und es tauchen auch reale Personen aus der Musikszene auf. Dennoch sind musikalische Kenntnisse oder Interessen nicht von Nöten, um die Bücher zu lesen und zu genießen. Im Vordergrund steht vielmehr immer die Spannung: Einmal im Hinblick auf die jeweilige Krimi-Handlung, die sich in jedem Band um ein reales, gesellschaftlich höchst relevantes, aber medial und politisch vernachlässigtes Problem dreht — aber auch im Hinblick auf die sich entwickelnde Beziehung der Hauptprotagonisten zueinander. Denn ein Stück weit ist diese Krimi-Reihe auch eine Liebesgeschichte ...

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Ähnliche


Andrea Braun

Tote Mädchen zum Auftakt

Maestro von Hohenfels: Der erste Fall

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

Epilog

Danksagung und Nachwort

Die Autorin

Impressum

1. Kapitel

Mit scharfem Zischen, unterlegt mit einem unerfreulich hohen Anteil widerwilligen Quietschens, schloss sich die automatische Tür des BKA-Hauptgebäudes in Wiesbaden hinter Freya, als sie hinaus in den sonnigen Junivormittag trat. Das Geräusch hatte in ihren Ohren plötzlich etwas sehr Endgültiges — aber nichtsdestotrotz war sie absolut sicher, es künftig nicht zu vermissen.

Gut sechs Jahre lang hatte sich Freya hier — erst in der Schule des Bundeskriminalamts, dann als forensische Psychologin und Ermittlerin — mit den weniger anziehenden Aspekten der menschlichen Natur auseinandergesetzt; das war nun vorbei. Damit vollzog sich gerade ein wesentlicher Einschnitt in ihrem Lebenslauf. Doch während sie über den betonlastigen Vorplatz zu ihrem Auto lief, wurde ihr klar: Sie fühlte sich nicht nur entspannt, sondern sogar erleichtert ob dieses Einschnitts.

Und bewusst hatte sie sich, nachdem sie vor vier Wochen vom Dienst freigestellt worden war und danach beschlossen hatte, dass ihres Bleibens beim BKA nicht mehr sein sollte, jeden Gedanken an ein Danach verboten. Das hatte Zeit. Sie beabsichtigte, erst einmal zur Ruhe zu kommen, in sich hinein zu spüren, bevor sie konkrete Zukunftspläne fassen würde. Sie war 32 Jahre jung, hatte keine familiären Verpflichtungen, sie war finanziell für die nächste Zeit abgesichert und nunmehr das erste Mal seit ihrem Studienabschluss frei, zu tun und zu lassen, was ihr in den Sinn kam. Ein Gefühl wie als Schulkind am ersten Tag der Sommerferien: Alle Optionen waren offen.

Eigentlich ein wunderbarer Zustand — wenn man mal von dem kleinen Knacks fürs Ego absah, den ihre Entlassung mit sich brachte. Also freute sie sich, während sie nun in ihr Auto stieg und losfuhr, auf ein paar entspannte und zufriedene Tage — aus denen ihretwegen gerne auch Wochen werden konnten — mit ihrem E-Book-Reader auf der schattigen Terrasse, unterbrochen von belebenden Joggingrunden, Ausflügen zum Badesee oder Treffen mit Freunden. Sie würde sich so viel Zeit nehmen wie nötig, um ausführlich zu eruieren, was ihr wichtig war und womit sie ihr Leben künftig verbringen wollte.

Doch noch bevor sie ihre Wohnung im Wiesbadener Komponistenviertel erreicht hatte, machte ihr eben dieses Leben einen Strich durch die kontemplative Rechnung.

Gerade als sie in ihre Straße einbog, gab ihr Smartphone ein scharfes Schäferhund-Bellen von sich: Den Klingelton, den sie für Gotthold Meinhardt eingestellt hatte, seit drei Jahren Direktor derjenigen Behörde, die sie soeben verlassen hatte; gleichwohl der einzige ihrer Ex-Kollegen, mit dem zu sprechen sie momentan geneigt war. Denn Meinhardt war nicht nur ein erstklassiger Kriminaler und fairer Chef, sondern auch der Gatte ihrer Patin Wilhelmina und damit gewissermaßen ihr Ersatzvater. Er kannte sie seit ihrer Geburt und hatte gemeinsam mit seiner Frau als Vormund über sie gewacht, nachdem ihre Eltern kurz nach ihrem 16. Geburtstag bei einem Anschlag in Ägypten ums Leben gekommen waren. Und auch während ihrer beruflichen Laufbahn hatte er Freya, wo immer sie es zuließ, als väterlicher Freund im Auge behalten und ihr mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Also ja: Bei Gotthold ging sie eigentlich immer ans Telefon.

»Wo bist du?«, tönte es von seiner Seite nun ohne Einleitung aus der Freisprechanlage.

»Auf dem Weg nach Hause — nachdem du mich gerade entlassen hast«, gab Freya in strahlender Laune zurück. Das war ein bisschen unfair, denn genau genommen hatte er sie natürlich gar nicht entlassen wollen, sondern sie hatte sich geweigert, die Brücke zu beschreiten, die er ihr immerhin noch gebaut hatte. Aber sie fühlte sich gerade so fröhlich, frei und unabhängig, dass ihr für derartige Haarspaltereien der Sinn abging.

»Du müsstest heute Abend gegen 19 Uhr in Brüssel sein«, teilte ihr nunmehriger Exchef ihr mit.

»Bitte, was? Ich bin nicht mehr beim BKA!«, versetzte Freya, nun nicht mehr ganz so fröhlich und frei. Aber immer noch unabhängig!

»Nicht für das BKA. Für dich. Ich kann dich zwar nach dem, was du dir geleistet hast ...«

»Könnten wir das nun vielleicht für einen Augenblick beiseite lassen?«, unterbrach sie ihn ungnädig. »Das Thema sollte zwischen uns ja wohl mit meinem Abschied erledigt sein. Also, was soll ich in Brüssel?«

»Ja, ist schon gut«, ruderte Meinhardt zurück. »Es hat nichts mit dem BKA zu tun, aber wie es der Zufall so will, hatte ich gerade ein Gespräch mit einem alten Bekannten, der auf der Suche nach jemandem mit exakt deinen Qualifikationen ist.«

»Wie, nach einer forensischen Psychologin?«, fragte Freya erstaunt. Sie hatte sich bislang nicht für einen sehr gängigen Bedarfsartikel gehalten.

»Naja, gewissermaßen — eher nach einer Assistentin mit speziellen Fähigkeiten«, lavierte er sehr kryptisch. Und kryptisch konnte Gotthold gut, wie Freya wusste.

Weshalb sie etwas inquisitorischer nachhakte: »Assistentin für was? Mit welchen speziellen Fähigkeiten? Und wer ist dieser Bekannte?«

Gotthold ignorierte verdächtigerweise die beiden ersten Fragen und beantwortete nur die dritte: »Du wirst den Namen schon mal gehört haben: Adrian von Hohenfels, der Dirigent.«

Natürlich kannte sie diesen Namen. Freya, der holden Tonkunst sehr zugetan, besaß zahlreiche Aufnahmen dieses Musikers: Sowohl Produktionen, denen er als Dirigent diverser Orchester und seines eigenen Barockensembles vorgestanden hatte, als auch Einspielungen einiger Werke für Tasteninstrument auf Cembalo, Hammerklavier und Orgel. Ein Star der Klassikwelt, ein Meister seines Fachs, zweifelsohne.

»Ja, sicher habe ich den Namen schon gehört«, bestätigte sie also. »Wenn ich auch nicht wusste, dass er ein Bekannter von dir ist. Aber inwiefern, bitte, könnte ich dem von Nutzen sein?«

»Lass dich überraschen und vertrau’ mir: Er sucht jemanden mit so einer Ausbildung wie deiner, und nachdem ich ihm von dir erzählt habe, denkt er, du wärst genau die Richtige.« Er schwieg kurz, bevor er etwas weniger entschieden fortfuhr: »Den Rest soll er dir selbst erklären, denn ehrlich gesagt ist der Mann so verrückt, dass ich das nicht wirklich vermitteln könnte.«

»Na, das klingt doch wahrhaftig verlockend!«

Meinhardt überging ihre süffisante Bemerkung schlicht. »Ein Ticket Wiesbaden-Brüssel für den Zug um 13 Uhr 48 müsste in den nächsten zehn Minuten in deinem Posteingang landen. Ich habe mir erlaubt, deine Mail-Adresse weiterzugeben und sein Büro wollte sich direkt darum kümmern. Die schicken dir auch die Infos zu Hotel und Zeitplan.«

Freya fühlte sich überfahren. »Du hast also schon für mich entschieden«, beschwerte sie sich, während sie in die Einfahrt des Hauses einbog, in dem sich ihre Wohnung befand.

»Ach was, natürlich kannst du ablehnen«, beruhigte Meinhardt in für seine Verhältnisse sehr konziliantem Ton. »Aber du weißt, was mir an dir liegt und dass ich dir nichts vorschlagen würde, was nicht in deinem Interesse wäre. Also: Es kostet dich maximal 24 Stunden, Hohenfels kennenzulernen und zu erfahren, worum es geht. Wenn es dich nicht interessiert, fährst du wieder heim und bringst mir eine Tüte Sahnetrüffel mit.«

»Wenn mich diese Möglichkeit nicht überzeugt ...«, ätzte Freya, öffnete die Autotür und schaltete das Gespräch von der Freisprechanlage des Autos auf ihr Headset um.

»Und du könntest Maja sehen.« Dieses Argument war schon zugkräftiger. Maja war Freyas älteste Freundin und als Journalistin zurzeit im ARD-Hörfunkstudio Brüssel tätig. Und wenn sie morgen Vormittag Lust auf ein Treffen hätte …? Dafür könnte es sich lohnen, nach Brüssel zu fahren und in Gottes Namen auch noch mit dem verrückten Musiker zu sprechen.

Ihre Überlegungen wurden von Gotthold abrupt beendet. »Also: 13 Uhr 48 Abfahrt.«

Sie sah auf die Uhr: 11 Uhr 44. Das reichte, um einen Kaffee zu trinken, ein paar Sachen in einen Koffer zu werfen und zum Bahnhof zu kommen. »Ja, Herr Direktor. Ich fahre. Aber nur, weil ich Hohenfels als Musiker wirklich genial finde.« Und weil sie sowieso nichts anderes vorhatte und Maja so gerne einmal wieder besuchen wollte.

»Dann gute Reise. Und grüß’ ihn von mir.« Zack. Gotthold hatte aufgelegt.

Erst als sie im Zug saß — Hohenfels’ Büro hatte ihr ein Erste-Klasse-Ticket spendiert — kam Freya die Absurdität der Situation vollständig zu Bewusstsein.

Rasch hatte sie zuhause Maja kontaktiert, um sich für den nächsten Vormittag mit ihr zu verabreden, dann ein paar Sachen zusammengepackt; an kurzfristiges Aufbrechen zu Ermittlungen und Einsätzen war sie aus den letzten Jahren schließlich gewöhnt. Die S-Bahn hatte sie nach Frankfurt gebracht, wo sie in den ICE umgestiegen war, und nun saß sie hier also auf der Reise zu einem Menschen, von dem sie nichts wusste, als dass er ein hervorragender Musiker war, weltweit gerühmt insbesondere ob seiner Verdienste um die historische Aufführungspraxis — die Aufführung von Werken vergangener Jahrhunderte mit den für die jeweilige Zeit angemessenen Instrumenten, Vokal- und Instrumentaltechniken. Und nicht zuletzt auch bekannt für seine Exzentrizität; worauf genau dieser Ruf allerdings gründete, wusste sie nicht.

Aber sie vertraute Gotthold, und sie war ausgesprochen neugierig auf Adrian von Hohenfels. Wie oft hatte man schon Gelegenheit, einen solchen Star persönlich kennenzulernen? Das konnte durchaus spannend werden!

Um sich wenigstens rudimentär auf das bevorstehende Gespräch — war es eigentlich ein Vorstellungsgespräch oder nur ein unverbindliches Kennenlernen? Selbst das wusste sie nicht — vorzubereiten, gab sie den Namen des Dirigenten in die Suchmaschine ihres MacBooks ein und scrollte durch einen Wikipedia-Eintrag. 40 Jahre zählte er, dessen voller Name Adrian Florentinus Johann Maximilian Alexander Carl Erwein, Graf von Hohenfels, Conte da Ruffo lautete. Freya grinste vor sich hin: Das sprengte zweifelsohne jedes Online-Formular.

Hohenfels entstammte einem alten süddeutschen Adelsgeschlecht, zu dem es einen eigenen Eintrag gab. Freya klickte auf den Link: Die Grafen von Hohenfels hatten mit ihren ausgedehnten Ländereien im süddeutschen Raum vor allem im Holzgeschäft über Jahrhunderte ein recht auskömmliches Vermögen erwirtschaftet, ein paar Fürstbischöfe und kaiserliche Emissäre gestellt. Nicht genug damit, war die Familie im 20. Jahrhundert durch diverse Unternehmungen in der Pharmabranche zu geradezu obszönem Reichtum gelangt: Großvater Johann Maximilian et cetera von Hohenfels hatte ein Herzmedikament erforscht und ein Patent darauf angemeldet, von dessen Profiten seine Erben noch heute komfortabel existierten. Inzwischen stand Vater Carl Johann Erwein und so weiter, Mediziner und Biochemiker, den Besitzungen und dem noch immer familieneigenen Pharmaunternehmen vor, in dem mittlerweile auch diverse andere Arzneien hergestellt wurden, während die Mutter des Dirigenten, eine geborene Contessa da Ruffo aus Italien, bis zu ihrem frühen Tod vor 36 Jahren unziemlicherweise als Opernsängerin tätig gewesen war.

Das alles hatte Freya nicht gewusst; ihr war der Name Hohenfels bislang nur als der des Dirigenten begegnet.

Aber jetzt wollte sie etwas über ihn als Menschen erfahren, also wechselte sie zurück auf den Eintrag über ihn. Viel Persönliches stand da allerdings auch nicht.

Hohenfels hatte in München, Oxford, Basel und Harvard studiert — dort bei dem berühmten Bach-Forscher und Musiker Joshua Rifkin: nobel, nobel —, jedoch nicht nur Musik, sondern auch Medizin und Philosophie; er durfte sich Doktor med. nennen. Die Listen der Orchester die und der Bühnen an denen er dirigiert hatte überflog Freya nur, da tummelten sich die üblichen Verdächtigen: Wiener und Berliner Philharmoniker, London Philharmonic, Concertgebouw Orkest Amsterdam, New York Philharmonic et cetera; also alles, was in der Orchesterwelt Rang und Namen hatte. Vor allem jedoch arbeitete Hohenfels mit seinem eigenen, auf historischen Instrumenten musizierenden Orchester, mit dem er auf der ganzen Welt unterwegs war.

Die Aufzählung seiner CDs umfasste denn auch vor allem Werke vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, aber auch mit der Romantik schien Hohenfels vertraut. Das konnte bedeuten, dass er alles ein bisschen und nichts so richtig machte — oder dass er einfach so gut war, dass er sich die Stilwechsel ohne Qualitätseinbußen erlauben konnte. Nach den Aufnahmen, die Freya kannte, schien ihr Letzteres wahrscheinlicher.

Sie wechselte auf die Website des Dirigenten selbst. Da erfuhr sie noch weniger Persönliches, nur die Pressestimmen fand sie interessant: Er sei unvergleichlich in seinem subtilen Umgang mit Sprache, las sie, und ein Verfechter perfekter Intonation. Das machte ihn ihr sympathisch. Sie scrollte durch den Terminplan, der auf der Seite zu finden war, stellte fest, dass Hohenfels ein sehr reisefreudiger Mensch sein musste, denn er weilte kaum einmal länger als ein paar Tage an einem Ort auf der Welt; aber das war für einen Musiker wohl normal. Vielversprechend schienen jedenfalls die Bilder auf seiner Website. Wenn die nicht allzu stark retuschiert sein sollten, war der Dirigent ein außergewöhnlich gutaussehender Mann.

Sie klickte sich zurück zu den Ergebnissen der Suchmaschine, immer noch auf der Suche nach einem Hinweis auf den Menschen hinter dem Musiker.

Aber sie fand nichts.

Nur viele Rezensionen, viel Lobpreis neuer Interpretationen und Aufnahmen. Da stand auch, er sei einer der bestbezahlten Dirigenten der letzten Jahre — was immer das bedeuten mochte. Nur wenige Interviews. Und die zwei oder drei, die sie in großen europäischen Blättern online lesen konnte, verrieten ebenfalls nicht viel über den Menschen Hohenfels: Er schien wahrlich eher der verschlossene Typ zu sein.

Seufzend gab sie ihre Suche auf. Sie musste sich bei diesem Treffen eben überraschen lassen. Flexibilität und der angemessene Umgang mit unerwarteten Situationen hatten schließlich zu den wesentlichsten Anforderungen ihrer bisherigen Tätigkeit gehört. Ebenso wie die Fähigkeit, überall schlafen zu können, wenn gerade einmal Zeit dafür war, dachte sie mit einem Anflug von Ironie. Also zog sie ihr Kopfkissen, ohne das sie nie verreiste, aus dem Rucksack, stellte den Wecker ihres Smartphones, lehnte sich zurück und war keine zwei Minuten später in tiefen Schlaf gefallen.

2. Kapitel

Freya schlummerte selig und süß, bis ihr Smartphone sie zwanzig Minuten vor Ankunft in Bruxelles Midi weckte.

Ein Blick aus dem Fenster zeigte triste Vorstadtviertel, unterbrochen von noch tristeren Industriegebieten. Warum führten die Gleise zu Hauptbahnhöfen nur immer durch die hässlichsten Viertel einer Stadt? Was für ein mieser erster Eindruck für Besucher, wie frustrierend für Heimkehrende! Oder lag es daran, dass niemand an Bahngleisen wohnen mochte und insofern jede Gegend mit der Zeit verarmen und verhässlichen würde, baute man Bahngleise hindurch? Was war Ursache, was Folge?

Die Ankündigung des Zugführers, man werde in wenigen Minuten den Zielbahnhof erreichen, riss sie aus ihren städteplanerischen Erwägungen. Sie packte Laptop, Kopfkissen und Wasserflasche ein, fuhr sich zweimal ordnend mit den Fingern durch die Locken und machte sich zum Aussteigen bereit.

Sie würde am Ausgang Rue de France abgeholt und zum Hotel gebracht, hatte in der Mail von Hohenfels’ Büro gestanden. So lief sie hoffnungsfroh in diese Richtung und erblickte richtig vor der Bahnhofstür einen Mann in dunklem Anzug über schwarzem Hemd, der ein Schild hielt, auf dem ihr Name stand.

Sie trat auf ihn zu, aber noch bevor sie sich zu erkennen geben konnte, sprach er sie auf Deutsch an, mit leichtem französischen Akzent: »Frau Johansen? Ich bin der Chauffeur des Grafen von Hohenfels. Gestatten: Philippe Pham.« Ein Chauffeur — na klar ... Und offenbar hatten sich Hohenfels und seine Angestellten also nicht nur über ihren Werdegang informiert, sondern sich auch ein Foto von ihr verschafft. Was nicht ganz leicht gewesen sein dürfte, verweigerte sie doch konsequent die Preisgabe persönlicher Daten und Bilder in sozialen Netzwerken oder an anderen Orten im Internet; Berufskrankheit.

»Ja, guten Tag, ich bin Freya Johansen. Erfreut, Sie kennenzulernen.« Sie streckte die Hand aus, um die seine zu schütteln, was er ohne eine Miene zu verziehen ignorierte, indem er den Blick schlicht nicht unter die Ebene ihres Gesichts sinken ließ.

»Ebenso, danke«, gab er nur sachlich, aber mit einer kleinen Verbeugung zurück. »Geben Sie mir Ihr Gepäck und folgen Sie mir bitte, der Wagen steht um die Ecke.«

Damit nahm er ihr den Griff ihres Rollkoffers aus der Hand und schritt ohne weiteres Wort oder einen Blick zurück flott voran. Freya tappte hinterher und fragte sich, wie Hohenfels wohl zu diesem Mann gekommen war: Nach der Form seiner sehr dunklen Augen und seinen sehr gleichmäßigen, aber scheinbar vollkommen starren Gesichtszügen zu schließen, war er zumindest Halbasiate; sein schwarzes Haar war mittellang und zurückgegelt, und obwohl er nur ein paar Zentimeter größer war als sie selbst mit ihren 1,70 Metern, schien sein ganzer Körper doch ausschließlich aus Muskeln und Sehnen zu bestehen. Er bewegte sich federnd wie ein Panther und blickte ebenso aufmerksam aus den Augenwinkeln um sich; wie eine — momentan beruhigenderweise immerhin satte — Großkatze auf Beutetour.

Hinter der Ecke hielt Pham auf einen tiefschwarzen Tesla S im absoluten Halteverbot zu, dessen Kofferraumklappe sich in vorauseilendem Gehorsam öffnete und dessen Türgriffe zu Freyas Amüsement einladend aus den Seiten herausfuhren, als sie sich näherten. Pham schwang ihren Koffer hinein, die Klappe schloss sich, und er öffnete ihr die Autotür; die rechte hintere, wie Freya belustigt feststellte: sehr herrschaftlich. Offenbar hielt es zumindest die Dienerschaft des Herrn Grafen gerne offiziös. Mit einer angedeuteten Verbeugung trat der Asiate dann einen Schritt zurück und wies auf den Einstieg. »Bittesehr«, sagte er, wiederum ohne eine Miene zu verziehen.

»Dankesehr«, antwortete Freya, mit nur ganz leicht ironischem Unterton, als sie in dem Gefährt Platz nahm, das in ihren Augen entschieden zur automobilen High Society zählte.

Das konnte ja heiter werden, wenn die Konversation im Hause derer von Hohenfels generell auf diesem gesellschaftlichen Niveau rangierte! Als eher pragmatisch veranlagte Persönlichkeit hatte Freya zwar im Laufe ihrer Kindheit — ihr Vater war als Botschafter Deutschlands in aller Welt tätig gewesen — nicht vermeiden können, gute Umgangsformen zu erlernen, und Höflichkeit gegenüber ihren Mitmenschen gehörte für sie durchaus zu den Elementen, die das soziale Gefüge der Gesellschaft bereicherten. Aber gerade während ihrer Jahre in der Männerwelt des BKA hatte sie es auch genossen, sich nicht jeden Morgen nach der Gesundheit der werten Frau Gemahlin erkundigen und die Wetteraussichten thematisieren zu müssen, bevor man zur Sache kam. Inhaltsleere Formalien lagen ihr genauso wenig wie Smalltalk.

Aber vielleicht war ja nur der Fahrer so formell. Und über einen Drang zum Smalltalk immerhin konnte sie sich in seinem Falle nicht beklagen.

Pham saß inzwischen auf dem Condukteurssessel — diese Bezeichnung erschien Freya angesichts seiner Umgangsformen angemessener als die schnöde Vokabel Fahrersitz —, hatte das Auto gestartet und kündigte an: »Wir werden in wenigen Minuten im Hotel ankommen, wo sie sich frisch machen können.«

Sich frisch machen: Auch so ein Begriff, der definitiv nicht zu Freyas Alltagsvokabular gehörte. Von der Natur mit einer stets leicht bronzen schimmernden Haut, sehr symmetrischen und allgemein als ausgesprochen attraktiv empfundenen Zügen, braungrünen, wachen Augen sowie seidigen braunen Locken gesegnet, die in der Sommersonne aparte kupferfarbene Lichter annahmen und die sie knapp schulterlang und meist offen trug, bestand Freyas kosmetische Routine gemeinhin darin, sich das Gesicht zu waschen, die Zähne zu putzen und sich zwei-, dreimal mit der Bürste durch die Haare zu fahren. Mit ihrer schlanken, doch sehr trainierten Figur konnte sie mehr oder weniger alles tragen, was ihr im nächstbesten Klamottenladen über den Weg lief, und so verwandte sie auch auf ihre Kleiderauswahl gewöhnlich nur die allernötigste Mühe. Für das Gespräch mit Hohenfels immerhin hatte sie einen recht eleganten Rock und eine Bluse eingepackt, würde also optisch nicht negativ auffallen.

In Schweigen verlief die Fahrt; Philippe Pham zu fragen, worum es sich bei dem Jobangebot überhaupt handelte, schien ihr angesichts der bisherigen Kurzangebundenheit des Mannes so aussichtslos, dass sie es gar nicht versuchte. Erst bei ihrer Ankunft vor einem der zweifelsohne teuersten Hotels Brüssels ergriff Pham wieder das Wort.

»Der Page wird Sie auf Ihr Zimmer bringen. Ich habe mir erlaubt, die Schlüsselkarte schon abzuholen«, erklärte er, als er ihr die Tür öffnete und eine Plastikkarte überreichte. Und richtig eilte schon ein diensteifriger junger Mann herbei und bemächtigte sich ihres Köfferchens. »Sie werden gebeten, sich um 19 Uhr 30 in Suite 3 im fünften Stock einzufinden«, beschied sie Pham noch, deutete wiederum eine leichte Verbeugung an, übergab ein kleines Plastikteil, offenbar den Schlüssel des Tesla, an den wartenden Parkdienst des Hotels und verschwand panthergleich im Eingang.

Im Zimmer angekommen, überlegte Freya gerade, ob sie in der Dreiviertelstunde bis zum Treffen mit Hohenfels noch ein Bad in der gigantischen Wanne ihres Luxuszimmers nehmen sollte, als ihr Telefon die ersten Takte eines Schubert-Impromptus von sich gab.

»Guten Abend, Wilma«, grüßte sie in ihr Headset.

»Ach Schätzchen, wo hat er dich nun wieder hingeschickt!«, tönte es ihr entgegen. »Gotthold ist gerade erst nach Hause gekommen und hat mir erzählt, was er sich da erlaubt hat. Ich fürchte, ich kann beim Abendessen kein Wort mit ihm sprechen!«

Und das wollte etwas heißen: Wilhelmina Grothe, ihres Zeichens Pianistin und Ehefrau Gotthold Meinhardts, war zweifelsohne der emotionalste Mensch, den Freya kannte und trug, wie man so schön sagte, das Herz auf der Zunge. Ziemlich weit vorne auf der Zunge.

»Ist schon gut, Wilma. Ich hätte ja nein sagen können. Aber warum soll ich mir nicht anhören, was Hohenfels zu bieten hat?«, beruhigte Freya die Frau, welche die letzten 16 Jahre quasi Mutterstelle an ihr vertreten hatte. »Er ist doch ein hervorragender Musiker, schon deshalb lohnt es sich, ihn mal kennenzulernen.«

»Ach, ich weiß nicht, er ist halt ein echter Playboy und gilt in der Branche als sehr exzentrisch. Und was er von dir will, ist ja schon ein bisschen eigenartig«, jammerte Wilma.

»Wie: eigenartig? Weißt du da etwas, was ich nicht weiß?«

Kurzes Schweigen am anderen Ende. Freya hörte Gotthold im Hintergrund etwas murmeln, dann sprach Wilma weiter: »Also, Gotthold sagt, ich soll nicht so viel reden und Hohenfels soll dir alles selbst erklären.«

»Es wäre in der Tat ganz reizend, wenn mal jemand mit mir, anstatt nur über mich reden würde«, brummte Freya zurück. »Ich muss jetzt Schluss machen und mich noch umziehen, bevor ich den Meister persönlich treffe. Wir sprechen uns, mach’s gut!«

»Du auch. Und gib mir morgen Bescheid, wenn du zu Hause bist, ich mache sonst kein Auge zu!«

»Versprochen.« Nun doch wieder lächelnd legte Freya auf.

3. Kapitel

Eine gute halbe Stunde später machte sie sich auf den Weg in den fünften Stock, um, wie sie fromm hoffte, endlich zu erfahren, was Hohenfels mit ihrer Arbeitskraft im Sinne hatte. Und ob sie dieses Ansinnen für gut befinden sollte.

Suite 3 beeindruckte in der Außenansicht durch eine Doppeltür aus Kirschbaumholz, die eines Loire-Schlosses würdig gewesen wäre, und obgleich sie zu diesem Treffen ja eigentlich ohne Erwartungen und aus reiner Neugier gefahren war, fühlte Freya nun doch einen dezenten Anflug von Nervosität in ihrem Magen aufflackern, diesem Star der Musikwelt erstmals gegenüberzutreten. Aber Feigheit vor dem Feind — und befinde er sich auch in ihr selbst — war noch nie ihr Ding gewesen. So hob sie ohne Zaudern die Hand und betätigte den bronzenen Klingelknopf neben der Tür.

Geöffnet wurde erwartungsgemäß von Philippe Pham, der Freya mit einem knappen Gruß und der gewohnten Andeutung einer Verbeugung hereinbat. Durch ein kleines, ebenfalls mit Kirschbaumholz ausgekleidetes Vorzimmer trat sie in den Hauptraum der Suite, in dem, entspannt am Fensterbrett lehnend und telefonierend, der Mann stand, den sie bislang nur von Fotos und CD-Covern kannte: Adrian, Graf von Hohenfels.

»Non, c’est impossible. J’ai besoin d’au moins trois jours pour ce projet«, erklärte er gerade in nahezu akzentfreiem Französisch in das Headset des Smartphones, das er in der linken Hand hielt. Der Gesprächspartner am anderen Ende schien nicht zu seiner Zufriedenheit zu reagieren, denn der Ton des Dirigenten wurde mit jeder Replik entschiedener — wenn er zu Freyas Erstaunen auch stets beherrscht und höflich wirkte, nicht laut wurde. Von ihrer Anwesenheit nahm Hohenfels dabei vorerst nur insofern Notiz als er stumm, mit der Andeutung eines Lächelns nickend, auf einen der Sessel in einer lederbezogenen Sitzgruppe vor dem Panoramafenster wies. Er selbst telefonierte weiter, trotz der offensichtlichen Meinungsverschiedenheiten mit seinem fernmündlichen Gegenüber nach wie vor sehr entspannt wirkend, eine Hand in der Hosentasche.

Sein Gespräch gab Freya Zeit, den Dirigenten ausgiebig zu betrachten: Er war groß, fast 1,90 schätzte sie, schlank, aber kräftig, mit breiten Schultern — klar, Dirigieren trainiert — und sehr gerader Haltung. Seine Bewegungen wirkten ruhig, doch voller Energie, er trug einen nachtblauen, exzellent geschnittenen Anzug, zweifelsohne eine Maßanfertigung, ein weißes Hemd aus feinstem Linnen, dessen obere zwei Knöpfe geöffnet waren, und elegant schimmernde Oxford-Schuhe mit Ledersohlen. Kurz: Seine Kleidung sang von Wohlstand und exquisitem Geschmack, die Schuhe trällerten dasselbe Lied. Die dichten, weichen Haare, die farblich zwischen dunklem Mahagoni und Schwarz changierten, waren länger als beim gemeinen Investmentbanker zulässig, aber noch weit entfernt von einer Künstlermähne à la Beethoven und zu einem lockeren Seitenscheitel gekämmt. Er hatte sie aus dem Gesicht gestrichen, doch die eine oder andere Strähne fiel ihm immer wieder einmal in die hohe Stirn. Darunter dunkle Augen und Brauen, symmetrische Gesichtszüge mit schönem Profil, ein erstaunlich weich geschwungener Mund über einem entschiedenen Kinn, eine Andeutung von Lachfältchen, dezenter Bartschatten auf der eher blassen Haut. Und er hatte schöne Hände: Lange, schlanke, aber kräftige Finger mit perfekt geformten Nägeln waren es, die das Telefon hielten. Eigentlich ungewöhnlich für einen Cembalisten und Pianisten, dachte sie: Die meisten Tastenspezialisten, die sie kannte, hatten eher kurze, gedrungene Hände.

Was hatte Wilma noch gesagt: ein Playboy? Ja, das schien sehr glaubhaft.

Hohenfels war ein außergewöhnlich attraktiver Mann, den anzusehen auch ihr, Freya, Vergnügen bereitete; außerdem war er vermutlich der Traum sämtlicher aufstiegswilliger Sopranistinnen und beziehungstechnisch flexibler Intendantinnen der Szene — was seinen Erfolg in der äußerlichkeits-fixierten Musikwelt noch untermauern dürfte.

Und nunmehr war er am Ende seines Gesprächs angekommen.

»J’attends de vous que vous résolviez le problème à ma satisfaction jusqu’à demain. Merci d’avance«, beschied er seinen Gesprächspartner, gelassen, doch in kühlem Ton, und unterbrach die Verbindung grußlos.

Er scheint entschieden zu wissen, was er will, dachte Freya gerade noch — und erschrak beinahe, als er sich in gänzlich anderer Manier an sie wandte: »Verzeihen Sie meine Ungehörigkeit, Sie warten zu lassen«, sagte er mit einer Freundlichkeit und Wärme in der Stimme, die sie ihm noch vor zehn Sekunden niemals zugetraut hätte. Und mit einem Lächeln, das bis in die Augen reichte und sein Gesicht noch anziehender machte. »Es ist in der heutigen Musikwelt gleichwohl kein Leichtes, zielführende Probenmodalitäten durchzusetzen, denn auch hier dominiert in diesem unserem Zeitalter das schnöde pekuniäre Element. Seien Sie nichtsdestotrotz meines höchsten Entzückens versichert, Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen.«

Freya fragte sich angesichts seiner Ausdrucksweise eine Sekunde lang, ob er sie auf den Arm nehmen wolle, doch kam sie schnell zu dem Schluss, dass dies keineswegs der Fall war: Der Dirigent sprach einfach so; und der leicht ironische Unterton, der in seinen Worten mitschwang, schien sich nicht auf den Inhalt derselben im Besonderen, sondern eher auf das menschliche Dasein und den Zustand der Welt im Allgemeinen zu beziehen.

»Gleichfalls. Und vielen Dank für Ihre Einladung«, gab sie zurück, momentan zu sehr mit ihren ersten Eindrücken von diesem Mann und seiner Natur beschäftigt, um viel mehr herauszubringen.

»Wollen wir zur Sache schreiten?«, fragte ihr Gastgeber, öffnete einen Jackettknopf, ließ sich auf einem Sofa ihr gegenüber nieder und winkte seinem Faktotum zu: »Philippe, danke.«

»Immer zu Diensten«, gab Pham, geradezu ostentativ unterwürfig, zurück, und verließ mit einer der bei ihm scheinbar in den Genen verankerten Verbeugungen den Raum.

Hohenfels lehnte entspannt mit übergeschlagenen Beinen in den Polstern und sah Freya einige Sekunden lang mit undurchdringlicher Miene aber ungemein intensivem Blick an, bevor er das Gespräch eröffnete: »Freya Laura Wilhelmina Johansen: Sie sind in einem Diplomatenhaushalt in verschiedenen Ländern aufgewachsen, haben in München, Leiden und Paris studiert, in Psychologie mit Nebenfach Kriminologie promoviert, außerdem einen Magistertitel in Musikwissenschaft, Philosophie und Sprachwissenschaft erworben, sprechen Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Niederländisch und Arabisch fließend, in einigen weiteren Sprachen sind Sie in der Lage, sich zu verständigen. Sie wirkten neben Studium und Promotion als Musikrezensentin und zwei Jahre in einer forensischen Landesklinik, dann im Vorbereitungsdienst und zuletzt als Ermittlerin, Analystin und forensische Psychologin in der Abteilung Operative Fallanalyse beim BKA, mit einem Außeneinsatz bei Interpol. Nunmehr zählen Sie 32 Jahre und Ihre Arbeitsmoral gebietet Ihnen stets vollen Einsatz. Sie sind erfahren und erfolgreich in mehreren asiatischen Kampfsportarten, gelten als hochintelligent und Sie verfügen über ein eidetisches Gedächtnis«, zählte er auf, ohne irgendwo abzulesen.

»Das fasst meine Biografie im wesentlichen zusammen«, nickte Freya beeindruckt. Hatte Gotthold ihren gesamten Lebenslauf kolportiert? Schließlich gab es über sie nun wirklich keinen Wikipedia-Eintrag.

»Dann werden Sie sich möglicherweise gefragt haben, in welcher Weise mir Ihre — durchaus außergewöhnlichen — Kompetenzen von Nutzen sein könnten«, fuhr er fort.

»In der Tat«, bestätigte Freya. Für wesentlich zusammenhängendere Aussagen war sie noch immer zu überrumpelt.

»Nun, lassen Sie mich ein wenig ausholen. Wie Sie dem World Wide Web entnommen haben dürften« — Freya musste grinsen: An Realitätssinn mangelte es dem Maestro offensichtlich nicht — »beschränkte auch ich meine Studien nicht auf ein Fach, sondern erging mich neben der Musik auch noch in der Philosophie sowie der Medizin.«

»Ja, soweit bin ich instruiert.«

»Schön.« Er betrachtete sie weiterhin mit diesem Röntgenblick und Freya konnte sich des unguten Gefühls nicht erwehren, er lese ihre Gedanken mit, während er fortfuhr: »Dabei lag und liegt mein Interesse an der Medizin nicht ausschließlich in der Kunst des Heilens, sondern vielmehr ebenso in der Faszination für die mannigfaltigen Weisen, wie die Funktionalität des menschlichen Körpers zu einem Ende kommen kann. Kurz: Ich interessiere mich für den Tod und all die Aspekte der Melancholie, die ihn begleiten.«

Freya fühlte sich kurz ins England des 16. Jahrhunderts zurückversetzt: Melancholie und Todessehnsucht? Na fantastisch! Was trieb der Mann wohl in Vollmondnächten? Hohenfels’ intensiver Blick, der sie während des Gesprächs noch keine Sekunde losgelassen hatte, holte sie zurück in die Gegenwart. »Und da komme ich dann ins Spiel, weil es Ihnen vor allem um gewaltsame Tode geht?«, fragte sie.

Der Dirigent nickte. »So ist es. Meine Faszination gilt fürnehmlich den Opfern gewaltsamer Tode, da mir in diesen die Melancholie des Todes in vorzüglichster Weise offenbar zu werden scheint. Und mit den Jahren entwickelte ich ein gewisses Faible dafür, den Umständen ihres Todes auf den Grund zu gehen.«

Sherlock Holmes mit Dirigentenstab: War doch mal was Neues. »Ich bin aber ja nun gerade nicht mehr beim BKA tätig, insofern die Frequenz gewaltsamer Tode, mit denen ich zu tun habe, in nächster Zeit stark abnehmen dürfte«, gab sie zart ironisch zu bedenken.

»Das möchte man hoffen«, erwiderte Hohenfels trocken. »Doch dafür mangelt es mir selbst nicht an Zugang zu solchen Toten.« Freya zog fragend die Augenbrauen hoch und er führte aus: »Ich pflege noch aus Studienzeiten diverse Kontakte zu Pathologen und anderen forensischen Wissenschaftlern; hier in Belgien etwa zum Leiter der größten Gerichtsmedizin des Landes. Und da ihm mein Interesse geläufig und er einem Austausch unter Kollegen nie abgeneigt ist, ermöglicht er mir nicht nur freien Zugang zum Autopsiesaal, sondern auch zu den jeweiligen Fallakten und etwaigen Erkenntnissen der Spurensicherung.«

»Wie, ganz offiziell? Hier in Belgien? Wie haben Sie das denn hingekriegt?«, wunderte sich Freya, eingedenk ihrer eigenen Erfahrungen mit administrativen Abläufen in Polizei- und Justizapparaten. Bis das BKA Einblick beispielsweise in belgische Fallakten bekam, mussten so viele Stellen so viele Kommata in so vielen Formularen absegnen: Da konnten schon mal ein paar Monate ins Land gehen.

»Nicht offiziell. Es mag bei der Toleranz der Behörden jedoch speziell in diesem belgischen Falle hilfreich sein, dass meine Mutter eine Nichte der belgischen Altkönigin war, und die HohenfelsHolding mit einer Herstellungsstätte pharmazeutischer Produkte ihr Scherflein zum Bruttosozialprodukt dieses Landes beiträgt. Ein wenig ähnlich liegen die Dinge in Bayern oder an anderer Stelle.«

Freya wusste nicht recht, ob sie lachen sollte. Der Gegensatz zwischen der Bedeutung seiner Worte — die hinausliefen auf: Der König ist mein Großcousin und mein Vater der beste Kumpel des belgischen Finanzministers — und dem beiläufigen Ton, in dem Hohenfels sie vorbrachte, wäre von jedem anderen Menschen vermutlich scherzhaft gemeint gewesen. Ihr Gesprächspartner dagegen schien hier nur sachlich Tatsachen aufzuzählen, als ginge es um einen Zugfahrplan. Sie verkniff sich das Lachen.

»Insonderheit gilt mein Interesse in jüngster Zeit solchen Fällen, für die von Polizei und Pathologie wenig getan wird, für die keine Ressourcen zur Verfügung stehen, deren Aufklärung mir aber nicht unerhebliches intellektuelles Ergötzen bereitet«, erklärte er weiter. »Oft sind das Tote, die nicht unmittelbar identifiziert werden können, beispielsweise Obdachlose oder illegale Einwanderer.« Er hielt kurz inne, um sich mit einer vollendet lässigen Geste die Haare aus der Stirn zu streichen, bevor er fortfuhr: »Meine musischen Verpflichtungen erlauben es mir jedoch nicht annähernd, genügend Zeit in Recherchen oder Ausschlussverfahren zu investieren, wenn ich mich mit einem solchen Fall befasse. Und des Weiteren musste ich wiederholt bedauernd feststellen, dass meine nicht unwesentliche Bekanntheit sich bei Befragungen als recht kontraproduktiv erwies.«

»Das kann ich mir irgendwie vorstellen ...«, murmelte Freya, die, als sie sich bildlich ausmalte, wie der hochberühmte Dirigent in seinem Maßanzug auf der Jagd nach Bösewichten durch Schmuddelkneipen und Bahnhofsviertel zog und Kleinkriminelle mit seinen von Konjunktiven und Historizismen wimmelnden Bandwurmsätzen konfrontierte, dann doch lachen musste. Hohenfels schien das nicht krummzunehmen, wenn er auch selbst nur die Andeutung eines Lächelns zeigte.

»Ich sehe, Sie verstehen. Nun, dafür also wären Ihre Dienste gefragt.«

»Und was wäre da konkret meine Aufgabe?«

»Eine exakte Stellenbeschreibung vermag ich Ihnen nicht zu präsentieren, da diese Stelle bislang noch nicht existierte. Aber lassen Sie mich kurz darlegen, wie ich mir den Lauf der Dinge vorstelle: Sie begleiten mich und meine Entourage auf meinen Reisen und bei meinen Besuchen in den örtlichen Pathologien und Polizeibehörden. Sie unterstützen meine Recherchen, führen selbige weiter, wenn ich selbst nicht die Zeit dazu finde. Sie sprechen mit potentiellen Zeugen, wobei ich es Ihnen und Ihrem kriminalistischen Feingefühl überlasse, ob Sie sich als Angestellte eines zum Morbiden tendierenden Dirigenten zu erkennen geben, welchen zuzeiten der Drang überkommt, der Enge des Musikbetriebs zu entfliehen, oder gewissermaßen undercover tätig werden. Und sollte im kriminalistischen Bereich nichts anliegen, widmen Sie sich Ihrer Weiterbildung und machen sich im musikalischen Metier nützlich. Eine feste Zahl an Wochenstunden kann ich Ihnen dabei nicht garantieren; es werden mal zehn, mal achtzig sein, und in jedem Falle dürfte Ihre Arbeitssituation ein höchst unkonventionelles Arrangement darstellen.« Bei diesen Worten betrachtete Hohenfels sie noch immer so fokussiert, als wolle er ihre Reaktion schon im Voraus in ihrem Kopf entdecken.

»Klingt nach einer recht engen Zusammenarbeit — und einer größeren Aufgabe.«

»Ja, auf beides dürfte es hinauslaufen«, stimmte er zu. »Doch möchte ich betonen, dass Ihnen erstens Philippe Pham vielfach zur Seite wird stehen können, und ich mich zweitens auch selbst möglichst aktiv in die jeweiligen Fälle einzubringen gedenke. Ich pflege zwischen meinen Reisen und Projekten doch ab und an Phasen der Ruhe und Kontemplation einzuschieben, um mich etwa auf neue Produktionen vorzubereiten oder aber anderen Liebhabereien nachzugehen.« Freya fragte sich bei diesen Worten spontan, ob er wohl noch ein paar solch abstruser Hobbys pflege und ob sie wirklich wissen wolle, wie die aussahen, aber Hohenfels führte das Thema nicht weiter aus.

»Und warum wollen Sie dafür genau mich? Oder gibt es noch weitere Bewerber?«, forschte sie.

Diese Frage hatte er wohl erwartet. »Nein. Wie Sie sich zweifelsohne vorstellen können, ist die Zahl der Adepten mit einer derart exotischen Kombination von Qualifikationen wie kriminalistische Erfahrung, solche als Profiler und musisches Verständnis auf dem freien Markte vergleichsweise limitiert. Sie jedoch verfügen über jene Fähigkeiten in überreichem Maße, wurden mir von Gotthold Meinhardt und anderen warm empfohlen, und auch meine sonstigen Recherchen ergaben, dass einer erquicklichen Zusammenarbeit zwischen uns eingedenk Ihrer Ausbildung, Kompetenzen und Charaktereigenschaften mindestens objektiv nichts im Wege stünde.«

Es klang ein bisschen, als wolle Hohenfels einen Staubsauger kaufen und hätte bei der Stiftung Warentest nachgelesen, welches Modell all seine Bedürfnisse am besten befriedige — aber momentan hatte Freya gewisse Schwierigkeiten, sich mit einem Staubsauger zu identifizieren. Auf der anderen Seite hieß das, er habe nicht allzu viel dem Zufall überlassen, und das wiederum gefiel ihr. Sie nickte also zum Zeichen, dass ihr seine Argumentation einleuchtete. »Und was wären die sonstigen Modalitäten?«, erkundigte sie sich dann.

»Ihre Bezahlung wäre Ihrer Ausbildung, Ihren Fähigkeiten und dem Aufwand angemessen« — Hohenfels nannte eine Summe, die beinahe das Doppelte ihres auch schon nicht ganz bescheidenen Gehalts beim BKA betrug und Freya musste sich beherrschen, nicht sichtbar nach Luft zu schnappen — »und Kost und Logis wären frei. Sie hätten eine Wohnung auf unserem Familiensitz in Starnberg zur Verfügung, und ob Sie Ihre Wohnstatt in Wiesbaden aufgeben oder behalten möchten, um freie Tage dort zu verbringen, läge bei Ihnen. Wobei ich allerdings nicht geloben kann, dass Ihnen freie Tage immer an einem Wochenende, an einem bestimmten Orte oder auch nur regelmäßig zuteil würden, da Sie sich in Ihren Arbeitszeiten nach meinen Engagements richten und mit mir reisen müssten.«

Freya lehnte sich zurück und schloss die Augen, um unbeeindruckt von Hohenfels’ Röntgenblick zu überlegen. Wollte sie das: Ermittlerin sein, für einen Amateurdetektiv mit morbiden Neigungen? Für einen Menschen und in voller Abhängigkeit von diesem arbeiten, und außerdem noch quasi mit ihm zusammenleben, in wechselnden Städten und Hotels? Das würde eine geradezu familiäre Beziehung bedeuten, mit möglicherweise wenig Option, sich aus dem Weg zu gehen.

Doch sie hatte sich nie als besonders bedürftig nach Gesellschaft, nach Familie, kollegialem Miteinander oder überhaupt als große Teamplayerin betrachtet. Dafür war sie schon in der Schule zu intelligent, zu effektiv, und damit zu schnell für die meisten anderen Menschen gewesen. Erst spät hatte sie gelernt, dass ihre Ungeduld mit langsamer Denkenden oft verletzend wirkte. So hatte sie als arrogant und als Einzelgängerin gegolten, bis sie lernte, anderen gelegentlich ein wenig Zeit zu geben, Zusammenhänge zu begreifen und die drei Ecken, um die sie blitzschnell vorausgedacht hatte, im jeweils eigenen Tempo zu umrunden. In der Folge gab sie sich zumindest häufiger Mühe, ihre Ungeduld zu bezwingen; aber langsamere Kollegen waren ihr dennoch immer schlicht lästig gewesen und nie hatte sie den Wunsch verspürt, auch noch ihre Freizeit mit ihnen zuzubringen.

Schwerer noch wog vielleicht, dass es ihr bei ihren Tätigkeiten ausschließlich um die Sache ging, nicht um Formalien, persönliche Eitelkeiten oder den eigenen Vorteil. Darum verbiss sie sich gewöhnlich so erbarmungslos in ihre Aufgaben, dass daneben nur wenig Kapazität blieb, um Bedürfnisse oder Gefühle ihrer Mitstreiter zu berücksichtigen. Diese Kompromisslosigkeit, dieser Anspruch an sich selbst war bei den meisten ihrer Kollegen und Vorgesetzten, die lieber eine ruhige Kugel schoben, auf wenig Verständnis gestoßen und hatte letztendlich auch zu ihrem nur halbwegs freiwilligen Abschied vom BKA geführt.

Andererseits: Hohenfels hatte ihr bisher keinen Grund zu der Annahme gegeben, er sei langsam im Denken oder wisse Kompetenz und vollen Einsatz nicht zu schätzen. Und was Exzentrizität und Einzelgängertum betraf, dürfte er ihr nach ihren ersten Eindrücken gar weit überlegen sein.

Sie öffnete die Augen wieder. Sein dunkler Blick ruhte noch immer auf ihr; seine entspannte Haltung zeugte von keinerlei Ungeduld — oder perfekter Selbstbeherrschung. Freya überlegte, wie sie ihre Befürchtungen darlegen könnte, ohne ihn gleich gänzlich zu verschrecken, aber es fiel ihr keine Möglichkeit ein, die Dinge wesentlich schonender zu formulieren als sie waren. Also die glasklare Wahrheit: »Das scheint mir einerseits ein sehr attraktives Angebot. Andererseits bin ich mir nicht sicher, wie gut ich in menschlicher Hinsicht für eine so enge Zusammenarbeit mit nur einer Person — oder zweien — geeignet bin. Wissen Sie, ich bin nicht sehr diplomatisch und auch nicht sehr sozial, was etwa Smalltalk betrifft. Außerdem gelte ich als manchmal ein bisschen zu direkt und ehrlich. Und ich habe Schwierigkeiten mit Anweisungen, wann ich was wie zu erledigen habe. Das wollte ich mir nach meinem Abschied vom BKA eigentlich auch nicht mehr antun, sondern irgendetwas machen, wobei ich meine Aufgaben so angehen kann, wie ich es für zielführend halte.«

Er schien gänzlich unbeeindruckt. »Beim Thema Smalltalk respektive Direktheit sähe ich kein Konfliktpotential zwischen uns«, erwiderte er. »Auch ich suche zeitraubende gesellschaftliche Usancen zu meiden, wo immer möglich. Was die Entgegennahme von Anweisungen betrifft: Belegen Sie mir, warum Ihre Idee eines Vorgehens die bessere ist — dann soll sie zum Zuge kommen. Sollte Ihr Beleg jedoch zu wünschen übrig lassen, sei es die meinige.« Als er fortfuhr, lächelte er: »Oder lassen Sie es mich — etwas dramatischer — mit Richard Wagner umschreiben: Wen ich liebe, lass ich für sich gewähren: er steh oder fall, sein Herr ist er; Helden nur können mir frommen.«

»Das sagt Wotan, im Siegfried, oder?«

Er nickte. »Schön, Sie kennen die Wagnerschen Musikdramen.« Wieder dieses warme Lächeln, das beinahe ein wenig jungenhaft wirkte. Charmant, fand Freya. »Weitere Bedenken?«, fragte er.

»Ich gelte als extrem zielstrebig — wenn man es positiv formulieren möchte. Das heißt, ich bin nicht mehr besonders angenehm im Umgang, wenn ich mal an einer Sache dran bin, und sicherlich nicht sehr geduldig«, gestand sie.

Jetzt lachte er wirklich. »Nun, das spräche in meinen Augen eher für Sie, und wenn Sie ab und an ein hartes Wort vertragen, sollte dies nicht zwischen uns stehen. Außerdem: Ich bin nicht nachtragend.«

»Hm, gut, nachtragend bin ich auch nicht.« Sie betrachtete ihn sinnend. Das klang alles sehr sympathisch, wenn auch ein wenig schräg. Aber schräg wäre vielleicht nach sechs Jahren rechtwinklig zwangsformatierten Beamtendaseins gar nicht so schlecht. Und ja: Hohenfels war zweifellos ein höchst ungewöhnlicher, faszinierender Mensch, den näher kennenzulernen sie durchaus reizen könnte.

»Nehmen Sie sich gerne einige Tage Zeit, mein Angebot zu erwägen. Ich möchte Sie nur ersuchen, meinem Büro bis Ende der Woche von Ihrem Entschlusse Kunde zu tun«, bot er ihr an. Ohne den geringsten Anflug von Ungeduld oder Unsicherheit.

Freya nickte. »Ich schreibe Ihnen bis spätestens morgen Abend, wie ich mich entschieden habe.« Sie machte Anstalten aufzustehen und ihm die Hand zu reichen, da sie das Kennenlernen nunmehr für beendet hielt, doch Hohenfels überraschte sie einmal mehr, indem er vor ihrer Geste zurückwich und stattdessen fragte:

»Möchten Sie mir nunmehr beim Diner Gesellschaft leisten?« Er sprach das Wort — selbstverständlich — französisch aus. Adel verpflichtet, dachte Freya.

»Gern«, stimmte sie spontan zu.

»Exzellent. Dann begleiten Sie mich doch bitte ins Restaurant. Die Küche hier wird keinen Ihrer Wünsche offen lassen.«

Beide machten sich auf den Weg zur Tür, die er ihr galant aufhielt. Im Restaurant dann wurden sie und der Dirigent unmittelbar und mit ausgesuchter Höflichkeit von einem der Hotelangestellten empfangen und zu einem etwas abseits des allgemeinen Trubels platzierten Tisch am Fenster geleitet, der für zwei gedeckt war. Sogleich sprangen zwei Kellner mit ledergebundenen Karten herbei, die im Format an Adlerschwingen gemahnten und edelste Gaumenfreuden verhießen — und Freya, die sich an diesem Abend ohne Hohenfels’ Einladung wohl eher eine Portion Pommes und vielleicht noch eine belgische Waffel an einem der Stände in der Stadt geholt und mit auf ihr Zimmer genommen hätte, konnte dem Zusammensein mit diesem Musiker plötzlich eine ganze Menge abgewinnen.

4. Kapitel

»Jetzt erzähl schon, wo warst du, was ist dein neuer Job, kommst du nach Belgien?«, wurde sie am nächsten Vormittag von Maja bestürmt, die sie gleichzeitig umarmte und ausfragte, noch bevor Freya ihre Dachwohnung über der historischen Innenstadt von Leuven — 16 Zugminuten von Bruxelles Midi — überhaupt betreten hatte. Freya lachte herzlich und drückte Maja umso fester.

Wie sehr ihr die Freundin in persona in den letzten Wochen gefehlt hatte, spürte sie erst jetzt wirklich. Zwar telefonierten sie fast täglich, und gerade in der Zeit vor Freyas Entlassung und während all der Querelen, die selbiger vorausgegangen waren, hatten sie in ständigem Austausch gestanden. Dennoch war es etwas anderes, Maja — die wilde, ungebärdige und stets fröhliche, aber gleichzeitig so pragmatische Kameradin, die sie kannte, seit sie gemeinsam die erste Klasse in der International School in Damaskus besucht hatten — persönlich zu sehen.

»Na, noch ist es nur ein Angebot. Ich habe noch nicht zugesagt; obwohl das eine durchaus spannende Sache sein könnte«, hielt Freya die Freundin noch ein bisschen hin. »Denn du wirst nicht glauben, wer mein potentieller neuer Arbeitgeber wäre …«

»Jetzt sag’ schon: Kenne ich ihn? Oder ist es die EU oder was?« Maja zog sie in ihr sonnendurchflutetes Wohnzimmer mit Blick über die gotische Altstadt.

»Knapp daneben. Aber doch, du kennst ihn sicher, wenn auch vermutlich nicht persönlich.« Freya entledigte sich entspannt ihres Rucksacks und ihrer Schuhe und fläzte sich mit einem tiefen Seufzer des Wohlbehagens auf Majas Sofalandschaft. Maja schmiss sich daneben und Freya erklärte: »Es ist Adrian von Hohenfels.«

Maja fuhr hoch. »Du meinst: Der Adrian von Hohenfels, der Star der Musikwelt, der gerade hier am La Monnaie Monteverdis Orfeo probt, und damit nach allem, was man von den Kollegen hört, die Szene ziemlich aufmischt?«

»Den Orfeo probt er; was er mischt, weiß ich nicht. Aber ja: der Adrian von Hohenfels.«

»Holla!« Maja ließ sich auf den Rücken fallen und atmete demonstrativ einmal tief durch. »Und was bitte kannst du bei dem arbeiten? Hast du heimlich wieder Gesangsstunden genommen?«

Freya grinste und rollte sich neben sie. »Das wäre für meine Aufgabe nicht so richtig zielführend: Ich soll ihm bei seinen Forschungen zur Melancholie des Todes helfen.«

Maja lachte hell auf. »Du sollst was? Will er künftig nur noch Opern aufführen, die mit dem Tod aller Beteiligten enden?«

»Ach, gibt es auch andere?«, scherzte Freya. »Aber nein, nicht ganz.« Majas erstaunte Reaktion machte Freya die Abstrusität ihrer neuen Stellenbeschreibung erst so recht bewusst. Aus dem Munde des Dirigenten hatte am Vorabend alles halbwegs logisch geklungen, doch für den Rest der Welt schien diese Logik nicht unmittelbar evident. »Ich gebe zu, wenn ich das so sage, klingt es ein bisschen verrückt«, begann sie, sich nach einem Blick in Majas Gesicht korrigierend: »Also gut, eindeutig verrückt. Aber eigentlich will er mich als das anstellen, was ich die letzten Jahre war: als Fallanalytikerin und Ermittlerin.« Ausführlich gab sie wieder, was Hohenfels ihr zu ihren Aufgaben und Arbeitsbedingungen mitgeteilt hatte.

Maja hörte schweigend zu, bis Freya geendet hatte. Dann aber schüttelte sie erstaunt den Kopf. »Und wieso macht er das überhaupt? Ich meine, er braucht doch keinen bezahlten Nebenjob als Privatdetektiv oder so, er ist nicht bei irgendwelchen Behörden angestellt. Und wenn er dich noch dafür bezahlt — und auch noch so opulent — dann ist das ja ziemlicher Schwachsinn.«

»Ja, von der rein ökonomischen Warte betrachtet sogar totaler Schwachsinn. Aber Gott, andere Leute lösen Sudokus oder gehen Salsa tanzen — er möchte halt Mordfälle aufklären. Dafür ist es ihm offenbar egal, was es kostet: Er kann es sich leisten, denke ich, er kommt aus einer ziemlich reichen Familie und verdient auch als Musiker ganz gut. Und bevor er für das Geld drei PS-Schleudern kauft, zum Golfen nach Florida oder zum Heli-Skiing nach Aspen fliegt, ist Morde-Aufklären doch, selbst wenn man dafür eine eigene Ermittlerin unterhält, ein ziemlich billiges Hobby. Außerdem im Vergleich zum Heli-Skiing und zu den Krokodilen auf floridianischen Golfplätzen immer noch eher ungefährlich, möchte ich meinen, und er tut was Gutes für die Allgemeinheit«, rechtfertigte Freya ihren potentiellen künftigen Arbeitgeber.

»Aber was kann er denn tun, was die Polizei nicht kann?«

»Also, da fällt mir eine ganze Menge ein«, erklärte Freya und stützte sich auf einen Ellenbogen, um Maja ansehen zu können. »Mal angefangen von überhaupt was. Denn wir wissen beide, dass manche Fälle für die Behörden interessanter, manche Opfer gleichgültiger sind als andere.« Maja nickte sinnend; über dieses Thema hatten sie oft gesprochen, seit Freya beim BKA tätig gewesen war. »Und dann wäre da die Tatsache, dass sehr viele Leute, mit denen die Polizei reden möchte, diesen Wunsch so überhaupt nicht erwidern«, fuhr diese nun fort. »Beim BKA sind wir da dann oft undercover hin, aber ein für sein Fach halbwegs talentierter Krimineller erschnuppert einen Undercover-Mann 200 Meter gegen den Wind. Hohenfels dagegen ist gänzlich unverdächtig. Wer denkt schon bei einem verrückten Musiker, der gerne an Leichen schnüffelt, dass er auf Sherlock Holmes’ Spuren wandele? Außerdem muss er nicht 20 Fälle gleichzeitig bearbeiten, sondern kann sich mit einem so lange beschäftigen, bis er zufrieden ist. Dazu hat er das Geld und gelegentlich vielleicht sogar die Zeit, das zu machen was er will und für zweckdienlich hält — und das Wichtigste: Er muss sich nicht an Vorschriften halten und hat keine inkompetenten respektive stinkfaulen Vorgesetzten. Auch damit ist er einer Behörde gegenüber ganz entschieden im Vorteil!« Und Freya hatte sich die meisten der Möglichkeiten, die sie da aufzählte, während ihrer BKA-Tätigkeit oft genug für sich selbst gewünscht.

»Ja. Na gut.« Maja neigte den Kopf. »Wie bist du überhaupt zu diesem Jobangebot gekommen?«

»Gotthold. Er rief mich gestern Vormittag an und erklärte, ich solle am Abend in Brüssel sein und Hohenfels treffen.«

»Also kennt Gotthold ihn über einen Fall?«, brachte Maja einen Gedanken auf, der Freya noch gar nicht gekommen war.

»Ja, das ist durchaus möglich. Er — also Gotthold — hatte nämlich bis gestern noch nie ein Wort über Hohenfels verloren, auch wenn zum Beispiel Wilma und ich mal über eine seiner Aufnahmen diskutiert haben, und über seine Fälle darf er ja zuhause nicht reden.«

»Hat Wilma mal mit ihm gespielt?«

»Glaub’ ich nicht, das ist nicht ihr Genre. Sie ist doch eher in der breiten Romantik daheim als in der historischen Aufführungspraxis, und ich denke, wenn Hohenfels Konzerte mit Tasteninstrument aufführt, dann spielt er selber.«

»Okay. Ja, das klingt dann doch, als hätte der Herr Dirigent tatsächlich schon mal in der großen, internationalen Kriminalistik mitgespielt.«

»Und im Zweifelsfalle eine eher tragende Rolle, denn sonst hätte er nicht mit Gotthold höchstpersönlich zu tun gehabt. Aber ich kann mir das schon vorstellen: Er ist durchaus ein ziemlich helles Kerlchen, so wie ich ihn gestern erlebt habe.« In jedem Falle — so viel konnte Freya nach ein paar Stunden in seiner Gesellschaft sicher sagen — außergewöhnlich intelligent, gebildet und eloquent.

»Das aus deinem Munde will was heißen.« Maja grinste und rutschte näher, stützte sich nun auch auf ihren Arm und sah Freya neugierig an. »Aber jetzt zu den wirklich relevanten Details: Er ist heiß, oder?«

»Wie, heiß?« Freya stand auf der Leitung.

»Herrje, du wieder: Boyfriend-material! Er ist einer der attraktivsten Männer, die momentan durch diese Welt jetten — der Pierce Brosnan der klassischen Musik wird er genannt, weil er auch so ein perfektes Gesicht und tolle Haare hat!« Maja setzte sich auf und zerwühlte zur Verdeutlichung des Gesagten ihre eigene rote Mähne, so dass sie noch wilder aussah.

»Wer ist Pierce Brosnan?«, fragte Freya, ehrlich interessiert.

»Na, dieser Schauspieler mit den blauen Augen, der ein paarmal den James Bond gespielt hat! Unglaublich gutaussehend. Oder früher mal zumindest; jetzt ist er glaube ich ziemlich faltig.«

»Hohenfels hat wirklich schöne Haare, aber braune Augen«, warf Freya sachlich ein. »Er hat was Italienisches — und gar nicht viele Falten.«

Maja blickte verzweifelt gen Himmel. »Oh Mann, ich geb’s auf! Ist ja auch egal …« Sie schüttelte den Kopf. »Aber war dir eigentlich klar, dass du ein Bewerbungsgespräch bei einem der aktuell begehrtesten Junggesellen der westlichen Intelligenzija hattest?«

»Naja, es war schon so, dass ich ihn gerne angeschaut habe — aber das war jetzt eher unter ästhetischen Gesichtspunkten, wie eine griechische Statue«, gab Freya zu, worauf Maja nur abschätzig die Luft ausstieß und sich wieder auf den Rücken fallen ließ.

Es war ein altes Diskussionsthema zwischen ihnen: Die höchst lebensfreudige Maja mit der kurvigen Figur, dem roten Schopf und den blitzgrünen Augen hatte schon als Teenager stetig wechselnde Affären mit den jeweils beliebtesten Jungs ihrer jeweiligen Schule unterhalten, während Freya ihr Treiben mit leicht amüsiertem, aber durchaus wohlwollendem Interesse verfolgte. Was Maja ihr nicht schwer machte, da sie die Freundin regelmäßig und im Detail über ihre diffizilen Beziehungswirren auf dem Laufenden hielt. Auch während des Studiums, als sie sich in München einige Jahre eine Wohnung geteilt hatten, war das so weitergegangen und in den Jahren danach, seit Maja an wechselnden Orten für den Hörfunk tätig war, hatte sich ihr Verschleiß an — ausnahmslos ungewöhnlich attraktiven — Repräsentanten der gehobenen Männerwelt nicht wesentlich reduziert. Einzig ihr berufliches Engagement und der damit einhergehende Mangel an Freizeit limitierte die Zahl der Glücklichen, die Maja stets und von vorneherein nur für eine begrenzte Weile zu erwählen pflegte. »Wenn ich nur mit einem Mann zusammen wäre, wäre das doch unfair gegenüber all den anderen, die dann nichts von mir hätten«, war dabei ihr Motto.

Das für Freya unfassbar Erstaunliche war jedoch, dass es Maja gelang, nahezu all diese Affären oder kurzen Beziehungen in freundschaftlichstem Einvernehmen zu beenden; selbst wenn die soeben abservierten Herren genau wussten, dass sie, quasi schon während Maja ihnen noch hinterher winkte, durch ein mindestens ebenso prachtvolles Exemplar aus der Garde ihrer Geschlechtsgenossen ersetzt wurden.

Da es sich bei einem Großteil dieser Glücklichen aber um Männer handelte, die Maja im Rahmen ihrer Tätigkeit als Journalistin kennenlernte — Wissenschaftler, Politiker, Vorstandsvorsitzende großer Konzerne, Berater oder auch Künstler; eben alle, die entsprechendes Renommee besaßen, um von einer ARD-Korrespondentin interviewt zu werden — hatte sie sich im Laufe der Jahre gerade durch diese Promiskuität ein stabiles Netzwerk von Informanten und Freunden aufgebaut, das ihr beruflich immer wieder zugutekam.

Freya dagegen war, was das andere Geschlecht betraf, schon als Jugendliche zurückhaltend gewesen. Es hatte ihr zwar nicht an Verehrern gemangelt, doch sie hatte sich bislang nur selten in ausreichendem Maße für einen Mann erwärmen können, um sich auf eine Beziehung einzulassen. Ihr Problem war: Affären fand sie uninteressant, denn wenn schon, dann wollte sie ihr Gegenüber in allen Einzelheiten kennen- und verstehen lernen. War ihr das aber bis zu einem gewissen Grade gelungen, begann sie bald, sich mit dem jeweiligen Auserwählten zu langweilen.

Zuletzt war das ein Kollege beim BKA gewesen, ein brillanter Kriminaler, einige Jahre älter und reicher an Erfahrung als sie, ein guter Unterhalter und enorm freundlicher Mensch. Zwei Jahre waren sie zusammen gewesen — doch irgendwann hatte sie sich eingestehen müssen, dass die gemeinsamen Tage ihr nichts mehr gaben. Auch das aufflammende Interesse eines Vorgesetzten bei Interpol in Lyon, wohin sie ein Jahr lang ausgeliehen gewesen war, hatte sie schnell im Keim erstickt. Seither hatte sie kein männliches Wesen mehr getroffen, das sie ausreichend attraktiv gefunden hätte, um sich ernsthaft verlieben zu können, und insofern hatte sie dem Thema Beziehung — von ein paar kleinen Flirts am Rande abgesehen — keine weitere Aufmerksamkeit mehr gewidmet.

Doch sie litt nicht unter dieser Situation. Im Gegenteil: Sie fühlte sich wohl als Single, genoss es, auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen, und während der letzten Jahre hatte es ihr der berufliche Einsatz ohnehin schwer gemacht, liiert zu sein. Insofern war es für sie wahrlich nicht ungewöhnlich, ein männliches Wesen gerade nicht im Hinblick auf seine Eignung als Boyfriend-material zu betrachten.

»Also, wenn du mit dem Mann die nächsten Monate oder gar Jahre verbringst — da bin ich sehr gespannt, was passiert. Und wenn du kein Interesse hast, dann stellst du ihn mir vor, ja?« Maja strahlte sie an, als sie aufstand, um in die Küche zu gehen. »Willst du was trinken?«

»Wasser, gern«, nickte Freya. »Und ja, ich stelle ihn dir bei Gelegenheit gerne vor, auf dass du ihn in die Hall of Fame deiner Verflossenen einreihen mögest.« Sie setzte sich auf. »Aber vielleicht ist er ja schwul? Immerhin ist er Dirigent; gehört das da nicht zur Stellenbeschreibung?«

»Wir haben gar keine sexistischen Vorurteile, nein? Aber du hast recht: Ich meine mich zu erinnern, dass er mal was mit diesem österreichischen Countertenor hatte — du weißt schon, der immer in München die Händelpartien sang?« Freya nickte. »Da gab es irgendeinen Skandal, allerdings schon ziemlich lange her, als wir noch da studiert haben«, überlegte Maja, während sie zwei Gläser aus dem Schrank holte und sie am Wasserhahn füllte. »Auf der anderen Seite habe ich auch noch was mit einer Geigerin im Hinterkopf — was lief da noch? Ich krieg’s nicht mehr zusammen. Ich muss mich mal bei den Kollegen umhören, die bei uns die Kultur machen. Aber offenbar ist er zumindest bi und vielleicht habe ich doch noch eine Chance«, schloss Maja, als sie mit zwei vollen Gläsern zurückkam. »Und jetzt sag: Wie ist er denn so, über was habt ihr gesprochen?«

»Er ist sehr intensiv. Wie er einen anschaut, welches Niveau er einem Gespräch gibt. Und er ist ... — schnell. Im Denken, meine ich«, begann Freya zögerlich.

»Oho, das aus deinem Munde ist ja schon fast ein Heiratsantrag in absentia!« Maja besah sich ihre älteste Freundin lauernd und rieb sich abwartend die Nase.

»Nein, das dann doch nicht, denn er ist auch schrecklich distanziert. Er hat mich nach dem eigentlichen Bewerbungsgespräch, das übrigens sehr kurz war, noch zum Essen eingeladen und wir haben eine wirklich spannende Unterhaltung über die Wirkung von Musik auf Menschen geführt: Wie man diese Wirkung beeinflussen oder verstärken kann, auf dass die Herzen der Hörer schwöllen — O-Ton Hohenfels — und so weiter«, erzählte sie, nahm einen großen Schluck Wasser und stellte das Glas dann auf dem Regal über dem Sofa ab. »Und er war sehr freundlich und wirklich brillant als Gesprächspartner — aber er hat dabei so gar nichts über sich selbst verraten. Nur Fakten, Quellen, Forschung … Und genauso, wenn er über sein eigenes Musizieren spricht: Er kann dir genau erklären, warum er was macht und was das für eine Wirkung auf die Hörer hat — aber kein Wort darüber, was ihm das gibt.« Sie zuckte die Schultern, selbst nicht so ganz sicher, wie sie das Gefühl, einfach nicht an den Menschen Adrian von Hohenfels heranzukommen, besser beschreiben sollte. »Ich habe mich mehrere Stunden allein mit ihm unterhalten und nicht eine Sekunde lang gewusst, was er fühlt, weil er hundertprozentig rational und beherrscht ist, perfektes Pokerface. Und er hat mir weder zur Begrüßung noch zum Abschied die Hand gegeben: Allein das ist doch seltsam! Das fiel mir in dem Moment gar nicht so auf, aber im Nachhinein finde ich das schon ziemlich eigenartig. Die meisten Musiker sprechen doch immer zuerst von ihren Gefühlen und sich selbst, sind sehr spontan, fallen einem sofort um den Hals …«

»Naja, wenn wir an Wilma denken: definitiv.« Maja lachte.

»Ja, und ich kenne ja auch viele ihrer Kollegen; die sind alle eher emotional veranlagt. Hohenfels dagegen ist kühl und sachlich. Und du findest auch im Netz kaum was zu ihm persönlich, was er neben der Musik macht, was er fühlt«, überlegte Freya.

»Was umso erstaunlicher ist, da sein blutiges Hobby ja nun ein gefundenes Fressen für mich und meine lieben Kollegen wäre«, gab Maja zurück, diabolisch grinsend.

»Vorsicht mit unautorisierten Storys über meinen künftigen Arbeitgeber: Vergiss nicht, wer von uns beiden den Waffenschein hat!«, gab Freya mit ähnlichem Gesichtsausdruck zurück.

Doch Maja war schon wieder ernst: »Also bist du entschlossen, anzunehmen? Ich meine, eigentlich kannst du gar nicht nein sagen: Das ist einfach phänomenal, was er dir da bietet. Inhaltlich und finanziell!«

»Naja, inhaltlich weiß ich ja noch nicht so genau, was auf mich zukommt, wenn ich ehrlich bin. Aber auf der anderen Seite: Ich habe aktuell sonst keine Pläne, ich bin frei zu machen was ich will, und wenn’s mir nicht behagt, kann ich nach sechs Wochen kündigen. Also ja, ich denke ich werde das mal ausprobieren. So einen verrückten Job bekomme ich wahrscheinlich nie wieder angeboten«, gab Freya zu. »Ich schreibe ihm heute Abend, wenn ich im Zug sitze.«

»Dann bin ich ja beruhigt. Und eigentlich kannst du ihm auch gleich jetzt schreiben. Dann fange ich so lange schon mal an, uns ein schmackhaftes, aber vitaminreiches Mahl zu bereiten, wie es uns die Lobbyisten der großen Nahrungsmittelkonzerne so gerne ans Herz legen.«

»Ah ja, du bist gerade mit einem Jungvorstand von Nestlé zusammen, oder?«

»Genau«, bestätigte Maja. »Das heißt: Ich war mit ihm zusammen. Denn er ist zwar ein reizender Mensch, der nie irgendsoeinen Fertigkram gegessen hätte, wie er ihn verkauft — aber leider musste ich ihn am Wochenende gegen ein noch attraktiveres Exemplar der Gattung Mann eintauschen, das ich nicht an mir vorüberziehen lassen konnte. Ich erzähl’ dir gleich alle Details, jetzt schreib’ erstmal deine Mail«, befahl sie, während sie sich in Richtung Küche bewegte.

Freya fischte ihren Laptop aus dem Rucksack — die Visitenkarte, die Hohenfels ihr zum Abschied überreicht hatte, war längst in ihrem Kopf gescannt — und tat, wie ihr geheißen:

Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Herr von Hohenfels,

hiermit möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich Ihr Angebot, als Ihre kriminalistische Assistentin tätig zu werden, gerne annehme. Bitte teilen Sie mir mit, wann und wo ich meine neue Aufgabe antreten soll und welche Unterlagen Sie gegebenenfalls noch von mir benötigen.

Mit freundlichen Grüßen,

Freya Johansen