Tote Zonen - Simon Pasternak - E-Book

Tote Zonen E-Book

Simon Pasternak

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Beschreibung

Jonathan Littell trifft Quentin Tarantino – literarisch, spannend, provozierend.

Wie lange kann der Mensch in einer vom Krieg verwüsteten Welt das Menschliche bewahren? Im August 1943 erklärte die SS weite Teile Weißrusslands zu sogenannten „toten Zonen“ – Landstriche, die von Partisanen und Juden „gereinigt“ werden sollten. Eine unvorstellbar grausame Hetzjagd begann. Auf der Grundlage dieser und anderer realer Kriegsereignisse hat der Däne Simon Pasternak einen verstörenden und provozierenden Roman geschrieben, der diese Zeit konsequent aus der Sicht der Täter beschreibt.

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Seitenzahl: 332

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Simon Pasternak

TOTE ZONEN

Roman

Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg

Knaus

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Dødszoner« bei Gyldendal, Kopenhagen.Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe by

Pasternak & Gyldendal, Kopenhagen 2013.

Published by agreement with Gyldendal Group Agency.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe

2014 beim Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-14314-5V002www.knaus-verlag.de

Tote Zonen spielt im Sommer 1943 in dem Gebiet, das heute Weißrussland oder Belarus heißt – im Laufe des 20. Jahrhunderts hatte es allerdings fließende Grenzen und viele Namen: Mit unterschiedlichen Grenzverläufen war es ein Teil des zaristischen Russland (bis 1917), des deutschen Kaiserreichs (1917–18), der Sowjetunion (1918–20), Polens (1920–39) und wieder der Sowjetunion unter dem Namen SSR Belarus (1939–41 und 1944–91). Während der deutschen Besatzung (1941–44) war Weißrussland geteilt in ein Gebiet mit einer Zivilverwaltung, dem Generalkommissariat Weißruthenien, und dem Rückwärtigen Heeresgebiet Mitte, das der Wehrmacht unterstellt war. Der Roman Tote Zonen ist Fiktion, viele Ereignisse haben so nicht stattgefunden, einige allerdings schon. Ein Teil der Personen hat existiert. Eine Übersicht dazu am Ende des Buches.

Für Mikael, meinen Großvater

»In dem evakuierten Raum sind die Menschen in Zukunft Freiwild.«

Curt von Gottberg,SS- und Polizeiführer in Weißrussland,1. August 1943

STEINER

Briefe

Lida, 4. Juli 1943

Brief 7

Liebe Eline,

danke für den Honig! Hast Du ihn von unserer geheimen Stelle in der Heide, den verlassenen Bienenstöcken in der Mulde an den Windschutzhecken ganz unten an der Alster, die wir in der letzten Nacht gefunden haben? Ich möchte es gern glauben … »Und dennoch sagt der viel, der ›Abend‹ sagt, Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt. Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.« Stell Dir vor, es ist jetzt elf Monate her, dass wir am Bahnhof Abschied nahmen und Manfred und ich aufbrachen, dem Unbekannten entgegen … Weißrussland …

Das Glas steht auf meinem Schreibtisch, versteckt zwischen Akten und Generalstabskarten. Es soll unser kleines Geheimnis bleiben, unberührt von dem großen Krieg. Manchmal nehme ich es in die Hand, schraube den Deckel ab, lasse den Duft heraus, duftend nach fließendem Sommer, und der Geruch ,zwischendurch rieche ich den fließenden, summenden Sommer gaukelt mir vor, dass ich den fließenden, summenden Sommer rieche. Ich bilde mir ein, dass es nach deinem blonden Haar riecht … es duftet …

Ich lege den Füllfederhalter auf den Schreibtisch und lese die letzten Zeilen noch einmal. Das Glas mit Honig steht neben der Schreibmaschine, auf der Akte mit dem Material über den Mord an dem Juden Feigl. Meine Arbeit, mein Problem: der Hickhack zwischen den SS-Männern Heinz Breker und Sigmund Kindler.

Ich schraube den Deckel vom Glas und schnuppere an dem geronnenen Wachs, dem weißen Schaum auf der Oberfläche. Es riecht nach nichts. Ich stecke den Finger hinein, lasse ihn kreisen und lecke ihn ab. Es schmeckt nach Honig, weder nach Sommer, noch nach Elines Haar.

Ich werfe den Brief in den Papierkorb, stelle die Schreibmaschine vor mich und drehe das Papier mit meinem offiziellen Briefkopf in die Walze:

Heinrich Hoffmann

Oberleutnant der Polizei

GK Weißruthenien

Aktenzeichen LZ 512-A, – GHETTOLIDA/A. Feigl,

Zusammenfassung

Kopie an: Hptstführer S. Kindler

Hptstführer H. Breker

Die von SS-Hauptsturmführer Sigmund Kindler veranlasste Untersuchung der tot aufgefundenen Person, identifiziert als der Jude Jozef Feigl …

Ich habe mir eine Zigarette angezündet, sie liegt im Aschenbecher und qualmt vor sich hin.

Nach längerem Zögern schreibe ich schließlich:

Es kann daher festgestellt werden, dass die tödlichen Schüsse auf den Juden Jozef Feigl durch SS-Hauptsturmführer Heinz Breker abgegeben wurden, der der SS-Dienststelle Lida angegliedert ist. Laut Verordnung über Straffreiheit im Ostraum fällt der Sachverhalt demnach nicht unter die §§ 211 oder 212 des deutschen Strafgesetzes. Es wird keine Anklage erhoben.

Der Fall ist abgeschlossen.

H.H. Oberleutnant d.P., Distrikt Lida

Ich ziehe das Papier aus der Maschine, stempele Heinrich Hoffmann, Oberleutnant der Polizei und lege den Bericht in die Aktenmappe. Doch dann kommen mir Zweifel, ich rufe Manfreds Nummer an.

Er ist Elines Bruder und ebenfalls bei der SS. Er kennt die Hierarchie. Manfred nimmt nicht ab.

Heute ist sein großer Tag, er kommandiert seine Leute, kontrolliert, ob Knöpfe und Stiefel glänzen, und was ist mit den Waffen, sind die Straßen gefegt? Der Obergruppenführer hat sich angekündigt, Dr. Hubert Steiner, Manfreds Mentor und Lehrmeister.

Ich schraube die Kappe von meinem Füllfederhalter und beginne von neuem, mit zierlichen Bögen.

Lida, 4. Juli 1943

Brief 7

Liebste E!

Danke für den Honig. So voller Erinnerungen! »Und dennoch sagt der viel, der ›Abend‹ sagt, Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt. Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.«

Verflucht noch mal! Ich trommele mit den Fingern auf den Tisch, nehme die Brille ab und fahre mir durchs Gesicht, dann springe ich auf und stelle mich ans Fenster. Die Falkowska-Straße wird geschmückt, Ehrentore mit Bändern und Bannern, eine Fahnenallee direkt unter mir, wo die Straße nach Minsk abbiegt. Manfred hat schräg gegenüber eine Tribüne aufbauen lassen, direkt vor dem gelbweißen Bahnhofsgebäude mit seinen Säulen und Kapitellen im Operettenstil aus der Zarenzeit. Im Moment schließen sie die Lautsprecheranlage an, drei Männer verlegen Leitungen, auf den Stühlen schwitzt das Orchester, die glänzenden Messinginstrumente im Schoß. Vielleicht hofft Manfred, dass die Frau des Obergruppenführers, die Schauspielerin, etwas vorträgt. Jetzt kommt ein Lastwagen mit der Ehrengarde, die schwarzen Paradeuniformen mit den rot-weißen Emblemen stellen sich auf. Ich öffne das Fenster, Hitze, Staub und Lärm schlagen mir entgegen, Manfred kann ich nicht entdecken.

Ich rufe meinen Adjutanten. Wäspli ist sofort zur Stelle, ein etwas zu rundlicher Körper in einer zu stramm sitzenden Uniform. Schreibt er seiner Verlobten auch schlechte Verse? Oder ist er verheiratet? Ich weiß nichts über ihn. Die großen lebhaften Hände sind in Bewegung.

»Wissen Sie, ob die Versetzung des Hauptsturmführers Breker genehmigt wurde?«, frage ich ihn.

»Ich glaube ja.«

»Sie glauben?«

»Mein Freund hat gesagt …«

»Finden Sie es heraus.«

Obwohl die Unterredung beendet ist, bleiben wir einen Augenblick regungslos stehen. Erst als ich mich bewege, zieht er sich zurück. Ich gehe an meinen Schreibtisch und hole aus der untersten Schublade den ungarischen Cognac und ein kleines Glas.

Danach rufe ich noch einmal bei Manfred an.

Ich sehe es vor mir, wie der Apparat in dem leeren Büro des Krankenhauses an der Zufahrtsstraße nach Vilnius lange klingelt.

Er nimmt noch immer nicht ab.

Ich verfluche mich selbst.

*

Wäspli ist zurück.

»Ja?«, frage ich.

»Er hat gesagt, die Papiere würden weitergeleitet.«

»Wusste er es genau?«

Wäspli lächelt nervös.

»Nein.«

Als er die Tür hinter sich schließt, entferne ich das Führerporträt an der Wand hinter dem Schreibtisch, stelle die Kombination des Safes ein und öffne die kleine Klappe. Ich hole den Bericht über den Mord an Feigl aus der Aktenmappe, präge mir das Aktenzeichen ein und lege ihn unter Elines Briefe. Ich greife nach dem Bündel, rieche am Band und der Schleife. Sie riechen nach Safe.

Ich schließe ab und hänge das Foto wieder an seinen Platz.

Nachdem ich das Aktenzeichen und die generellen Angaben vermerkt habe, gebe ich dem Bericht dieselbe Nummer, LZ 512-A, wie dem Bericht, der hinter mir im Safe liegt.

Ich lasse Breker weg.

Ich lasse den Zeugen Finckelstein weg.

Ich fasse zusammen:

Es konnte nicht eindeutig ermittelt werden, ob der tot aufgefundene Jozef Feigl Opfer eines versehentlich ausgelösten Schusses oder einer vorsätzlichen Handlung wurde, da aber nichts auf eine interne jüdische Auseinandersetzung hindeutet, fällt der Sachverhalt nicht unter die §§ 211 oder 212 des deutschen Strafgesetzes. Es wird keine Anklage erhoben.

Der Fall ist abgeschlossen.

H.H. Oberleutnant d.P., Distrikt Lida

Meine rechte Hand zittert, als ich die Zigarette ausdrücke und das Papier aus der Walze ziehe.

Ich trete ans Fenster. Der Himmel ist voller Staub, ein Sonnennebel.

Ich verfluche mich selbst.

Noch einmal.

*

Dies ist Weißrussland, das Ghetto von Lida, der Mordfall LZ 512-A, – GHETTOLIDA/A. Feigl:

SS-Hauptsturmführer Sigmund Kindler führt die Aufsicht über die Werkstätten des Ghettos. Er nimmt sich seinen Teil der Beute, ist aber nicht unverschämt. Sechs Prozent schöpft er ab, der Rest geht ins System. Er schützt einen Juden, der aus kleinen Holzspänen Vögel bastelt, Jozef Feigl. Die Vögel schickt Kindler seinen Kindern in Kiel als Christbaumschmuck, sie sind sehr zerbrechlich und zart, Wunder des Lebens. Feigl selbst ähnelt einem Vogel. Ihr Kontakt wird enger. Kindler macht Feigls Frau kleine Geschenke, die sich verkaufen lassen. Feigl ist privilegiert und exponiert. Er ist Kindlers Mann. Der SS-Hauptsturmführer Heinz Breker arbeitet außerhalb des Ghettos, er ist einer von Manfreds Freunden. Sie lieben die Hasenjagd, sie sind rücksichtslos und brüllen herum, Champagner für alle! Kindler ist betrunken und nennt Brekers Frau eine Hure aus Oberbayern. Breker schreit Holsteinischer Köter und will ihn erschießen, er zieht seine P 38, die breite Lücke zwischen den Vorderzähnen – Schaum steht ihm vor dem Mund. Leute gehen dazwischen. Die beiden stehen sich wie zwei Stiere gegenüber, dieselbe Größe, dieselbe Wut, derselbe Rang: gleichwertig. Breker erschießt Feigl nachts, als der an seinen Vögeln bastelt. Kindler fordert eine polizeiliche Untersuchung des Mords. Ich bin die Polizei.

Die Juristerei ist ebenso verworren wie einfach. Das deutsche Strafgesetzbuch gilt im Reich und in den besetzten Gebieten. Wenn der Täter Deutscher ist und das Opfer ein Jude oder ein Einheimischer, gelten die Bestimmungen der §§ 211 und 212 für Mord und Totschlag jedoch nicht. Wenn aber sowohl der Täter als auch das Opfer auf einer gleichwertigen rassischen Stufe stehen – Deutscher-Deutscher, Jude-Jude, Russe-Russe, Pole-Pole, Pole-Jude, Russe-Pole und diverse weitere Kombinationen –, gelten sie. Die Beziehungen der Beteiligten untereinander könnten theoretisch also ermittelt werden. Ich habe den Zeugen Finckelstein, der den Mord gesehen hat, er saß einen Meter von Feigl entfernt und bemalte die Flügel. Breker streckte den Arm durchs Fenster und drückte seine 9 mm ab, es war, als würde ihm der Kopf abgerissen, hat Finckelstein ausgesagt. Breker muss eine ganze Serie auf die Nackenwirbel des schmächtigen Manns abgefeuert haben. Die blutigen Vögel habe ich als Beweismaterial in Tüten, eine Obduktion ist nicht möglich, allerdings stecken sechs Projektile im Arbeitstisch; ich habe einen Zeugen, der verlässlich ist, und ich habe fünf von Feigls Knochenfragmenten aus dem Hals und der Hand des Zeugen gepult, kleine scharfe Knochenschrapnells. Für mich endet der Fall mit zwei Berichten.

Dem wahren für Kindler. Dem unwahren für Breker.

Ich weiß nicht, wer von den beiden in der informellen Hierarchie höher steht. Liefere ich den falschen Bericht, könnte das mein Ende sein.

Ich brauche Manfred. Er weiß, was ich zu tun habe. Kindler drängt auf eine Antwort.

Wieder rufe ich Manfred an.

Sein Adjutant sagt, es ist etwas passiert.

Allerdings will er nicht sagen, was.

Als ich wieder aus dem Fenster sehe, fangen die Leute auf der Straße an zu rennen.

*

Lida, 4. Juli 1943

Brief 7

Liebste honigsüße E!

Danke für das Päck

Manfred reißt die Tür auf.

Er strahlt pure Energie aus, Elektrizität: die knisternde schwarze Uniform, ein Schlag auf den Rücken, er umarmt mich fest und lange. Als er einen Schritt zurücktritt, sehe ich, dass er innerlich tobt. Der kleine Kopf, die gespitzten Lippen.

»Mein Wagen hält vor der Tür«, sagt er.

»Was ist passiert?«

Er steht bereits am Schreibtisch und hat den Hörer meines Telefons abgehoben, hält ihn in die Luft. Wie in Gedanken schaut er auf meinen Brief an Eline. Dann fällt sein Blick auf das Honigglas, er öffnet es, fährt mit dem Finger darin herum, leckt ihn ab.

»Verdammt, wieso erzählst du mir nicht, was passiert ist?!«, schreie ich.

»Was?«

»Manfred!«

»Steiner«, sagt er leise. »Ein Aufklärungsflugzeug hat nordöstlich des Stützpunktes 43 etwas gesehen … auf seiner Route … Gisela ist auch dabei.«

Nordöstlich des Stützpunktes 43

Manfreds Kommandowagen holpert über den Feldweg. Ich habe nach Breker und Kindler gefragt, aber nur einsilbige Antworten erhalten. Manfred pult sich mit einem kleinen Zahnstocher aus Elfenbein in den Zähnen. Es ist brütend heiß, vorn im Wagen steht ein MG-Schütze mit der Hand am Abzug, vier Lastwagen folgen uns, und mit einem Mal ergießen sich die Wolken über die Straße – ein Steinschlag aus Wetter, die Blitze zucken über der Landschaft. Manfred hat Weber mitgenommen, einen ehemaligen Kriminaltechniker aus Köln, jetzt ist er Regimentsschreiber. Weber hält einen Koffer unter dem Arm. Seine Instrumente? Manfred scheint das Schlimmste zu fürchten.

Webers gesamter kleiner Körper zittert, ihm fällt die Zigarette hinunter.

Ich trete sie mit der Stiefelspitze aus und reiche ihm meine Efka. Er sagt irgendetwas, greift aber nicht nach der Packung. Es hat sich ein wenig abgekühlt, Sicht gleich null.

Wir passieren den schwer bewaffneten Stützpunkt 43, die Soldaten sehen aus wie Waffen-SS in Tarnuniformen und Regenumhängen; es ist die Leibstandarte, ich dachte, sie lägen weiter östlich an der Hauptkampflinie, am Kursker Bogen. Ist es so schnell gegangen, sind die Russen bereits in Weißrussland, auf dem Weg aus den Wäldern mit ihren groben Stiefeln, ihren asiatischen Gehirnen und ihrem URRAAA? Unsere Soldaten springen aus den Lastwagen, bemannen die Flak, spannen Netze aus; in den Laufgräben wimmelt es von Menschen, vom Höhenzug aus wird die Straße kontrolliert, weiter unten haben sie sich eingeigelt – gegen die Sümpfe, die Wildnis, das Nichts.

Der Regen prasselt auf die Plane.

Manfred ist gegangen. Weber friert.

Wir verhalten uns ruhig und warten, dass es nachlässt.

»Partisanen«, sagt Manfred, als er zurück zum Wagen kommt. »Es hat heute mehrere Angriffe gegeben.«

Er klopft auf den Helm des Fahrers, es geht weiter.

Wir sind still, als wir die letzten Stellungen verlassen und uns auf einem hochgelegenen Schotterweg hinaus ins Gelände bewegen. Es gibt nichts als grüne und weiße Baumstämme. Nach dem Regen hebt sich der Nebel.

*

Manfred springt aus dem Wagen.

Als ich unter der Plane hervorkrieche, sehe auch ich die brennenden Fahrzeuge und die überall herumliegenden Toten. Man hat ihnen die Uniformen ausgezogen, sie hängen aus Lastwagen, im Straßengraben, mit den Köpfen im Sumpf. Aus der Luft muss es einer Schlächterei geglichen haben, die rabenschwarzen Strahlen der Explosionen, die hellroten Klumpen.

Hunde mit blutigen Schnauzen laufen über das Feld. Sie kommen aus den Wäldern oder dem kleinen Flecken mit heruntergekommenen Höfen, der ein paar hundert Meter entfernt liegt. Unsere Hunde bellen ihnen hinterher, sie sind vollkommen außer sich, aber sie werden nicht losgelassen. Noch nicht.

Ich bücke mich. Im Matsch liegt eine Erkennungsmarke.

SS-Totenkopf Panz Reg. 3.

Steiners Division.

Alles andere ist verschwunden: Waffen, Uniformen.

Manfred entsichert seine PPK und schießt in die Luft, er brüllt und zielt mit der Waffe auf die Köter. Der MG-Schütze zieht seinen Lederhelm vom Kopf und winkt damit, er hat den Kopf eines geistig Zurückgebliebenen, große Ohren und ein kleines Gesicht, flackernder Blick. Er schießt eine Salve auf die Hunde, die Projektile reißen rote Streifen in die rennenden Tiere, schlagen gegen die Lastwagen, Wasser spritzt aus den Pfützen auf. Er trifft einen der Toten, durch die Salve bäumt er sich auf und wird mitten durchgeschnitten.

Ich laufe zu dem Schützen.

Er hört nichts, ich stelle mich aufs Trittbrett und verpasse ihm eine Ohrfeige.

»Zum Teufel, Mann, hören Sie auf!«

Er wendet sich mir zu, es zuckt in der Schulter, er schießt weiter, als hätte er keine Ahnung, warum ich ihn so anschreie.

Dann, plötzlich, hört er auf und grinst.

Sein Zahnfleisch hat sich zurückgebildet, die Kronen sind braun angelaufen, wackelig.

Er kann nicht mehr als achtzehn, neunzehn Jahre alt sein.

Manfred steht auf einer kleinen Anhöhe.

Er winkt hektisch nach mir.

*

Das offene Fahrzeug des Obergruppenführers qualmt, der schwarz glänzende Mercedes ist in einem Graben gestrandet, die Spuren schlingern durch den Lehm. Manfred steht am Rand des Grabens und schaut in den Wagen. Ein Mann sitzt auf dem Fahrersitz.

Irgendetwas hat ihn am Hinterkopf getroffen, direkt über dem Kragenspiegel. Es muss ein größeres Stück eines Schrapnells gewesen sein.

Als ich mich über den Wagen beuge, erkenne ich Hauptsturmführer Heinz Brekers Zwischenräume zwischen den Vorderzähnen.

Ich sehe Manfred an. Es schaut auf einen Punkt hinter mir.

*

Sie liegt in einem weißen Pelzmantel auf dem Rücken, eine Federboa um den Hals. Einen Meter entfernt ein weißer Hut mit einer langen roten Feder, die weißen Strümpfe sind an den Waden zerrissen, die Beine sind weiß, das Höschen hängt an den Knöcheln.

Ihre Halsmuskulatur ist angespannt, der Kopf abgewandt.

Aber ich weiß genau, um wen es sich handelt.

Frau Steiner, die Schauspielerin, Gisela, geborene Lestrange, ich habe sie 1941 in Hamburg am Staatstheater gesehen. Steiner, der SS-General, rauchend in der ersten Reihe Parkett, selbstherrlich und anmaßend, das Society-Paar der Illustrierte, die Schöne und das Biest aus Minsk, sie war das Gretchen in Faust, wer könnte dieses Puppengesicht vergessen, diese Porzellanpuppenbeine?

Bin ich doch noch so jung, so jung!

Und soll schon sterben!

Schön war ich auch, und das war mein Verderben

Nah war der Freund, nun ist er fern

Fern? Nah war der Freund …

Oder heißt es weit?

Nah war der Freund, nun ist er weit.

Weit. Es heißt weit.

Warum hat er sie hier ans Ende der Welt mitgenommen, diesen Paradiesvogel?

Weber hat neben ihr seinen Koffer ausgepackt und die Instrumente auf eine Decke mit Schottenkaro gelegt, als wäre er bei einem Picknick; er sitzt in der Hocke und rührt mit einem Stöckchen in einem kleinen Topf, er bereitet Gips vor.

Er hat bereits Stöcke in die Erde gesteckt und mit Schnüren verbunden, um so den Tatort zu markieren.

Er pfeift vor sich hin, seine Wangen haben Farbe bekommen.

Ich gehe zu ihm, er hebt eine Hand.

»Nichts anfassen«, sagt er.

»Ich habe schon mal einen Tatort gesehen«, erwidere ich.

Er sieht mich nicht an. Stattdessen verteilt er den Gips in einer Fußspur. Das Gras ist völlig heruntergetreten, sie müssen zugesehen haben, es waren viele. Zwischen ihren Beinen ist die Grassode aufgerissen, sie haben sie hin und her gestoßen.

Und dann haben sie sie den Hunden überlassen.

Als sie fertig waren, haben sie sie den Hunden überlassen.

Ich gehe auf die andere Seite.

Sehe sie an.

Ihren Körper, ihr Gesicht.

Das, was noch übrig ist. In einem Wald aus weißen Federn.

Jetzt kommen die Hundeführer, die Hunde zerren an den Halsbändern. Manfred wendet ihnen den Rücken zu, er zeigt auf die Bauernhöfe, die in ein paar hundert Metern Entfernung auf dem Hügel liegen. Die Koordinaten: 54° 15’N, 26° 30’O, auf der Karte steht Belize.

*

»Warum war die Eskorte so klein?«, erkundige ich mich. »Hier wimmelt es doch vor Partisanen.«

Manfred antwortet nicht. Er steht am Küchenfenster des größten Gehöfts. Beide Hände auf die Fensterbank gestützt, beugt er sich vor und blickt über den Hofplatz. Dort stehen zwei Sturmmänner und mühen sich mit dem Ziehbrunnen ab; sie versuchen mit aller Kraft, ein Gegengewicht zu schaffen. Ich stelle mich neben ihn, schaue ebenfalls hinaus, jetzt gelingt es ihnen, den langen abgeschälten Kiefernstamm herunterzudrücken, das Seil im Brunnen strafft sich. Etwas Schweres muss im Brunnen sein, nun taucht es auf. Ein geflecktes Schwein, Blut tropft aus dem Rüssel, Blut und Wasser.

»Wo ist Steiner?«, fragt Manfred und starrte auf das große triefende Tier. »Und wo sind die Einheimischen, verflucht noch mal.«

Er dreht sich zur Küche um – ein großer, aus Lehm gemauerter Ofen, Holzschüsseln, Regale mit Blechtellern; die Ikone ist weg, nur der Aufsatz mit dem Talglicht ist noch da, er schlägt es mit der Hand herunter. Manfred weiß ebenso gut wie ich, dass sie in die Wälder fliehen, sobald sie uns sehen.

Er geht hinüber zum Herd. In einer Nische des Ofens liegt ein Brot. Er bückt sich und berührt die Kruste.

»Noch warm«, sagte er und bricht etwas davon ab. »Willst du auch ein Stück?«

*

»Hier draußen ist jemand«, ruft irgendjemand aus dem Garten.

Wir laufen die Treppe hinunter, treten die Gartenpforte auf und geraten in hohes Gras; Insekten umschwirren uns, der träge Geruch von Dung und Gras.

Es gibt Fußspuren im Gras, es ist heruntergetreten, es summt um die Bienenstöcke, wir haben das Ende des Gartens erreicht, er fällt leicht ab, hier gibt es Ampfer und einen Bach.

Dann hören wir zwei, drei Schüsse, es klingt nach einem Jagdgewehr, einer Schrotflinte. Manfred zeigt nach rechts, zwei Männer gehen im Schutz des Ampfers in diese Richtung, zwei ziehen sich im Gänsemarsch zurück, entsichern ihre Karabiner. Manfred schlägt mir auf die Wange, wach auf, zum Teufel, und zeigt auf den Hügel an der linken Seite der großen grau schimmernden Scheune.

Gebückt laufen wir hinauf und bleiben mit dem Rücken an der Wand stehen, direkt am Scheunentor. Manfred springt mit gespreizten Beinen hinein und hält die Pistole mit ausgestreckten Armen in Brusthöhe, zielt mit ihr, links, rechts.

Hier ist niemand, ein angespannter Panje-Wagen mit einer Plane, das Pferd schlägt mit dem Kopf, schnaubt.

Ich gehe auf das Pferd zu, fahre mit der Hand durch die Mähne und schlage die Plane zur Seite, ein paar Fässer mit Fisch sind am Boden des Wagens festgebunden. Manfred hat die Scheune bereits durchquert und ist auf der anderen Seite.

»Hier!«

Als ich ihn erreiche, kann ich das ganze Tal übersehen, den abfallenden Hügelkamm und die Schlucht, die im Flussbett endet. Ein Mann in einem weißen Bauernhemd läuft durchs hohe Gras, er trampelt das Gras nieder, die niedergetrampelten Halme hinterlassen eine Spur, in der einen Hand hält er eine Schrotflinte, in der anderen ein großes Bündel. Er läuft linkisch und stockend, vergrößert aber den Abstand; unsere Leute sind hinter ihm her, sie kommen von rechts und von links, und über ihm auf dem Kamm steht mit gespreizten Beinen Michael, der kleine Oberscharführer aus Schwaben; er hat eine lange Eisenstange in der rechten Hand, ist es ein Kuhfuß? In diesem Moment sieht er den Mann. Der Mann sieht sich um, als Michael hastig die Sandbank hinunterschlittert, direkt im toten Winkel des Mannes.

Gleich werden sie aufeinandertreffen.

Michael stellt einen Fuß vor den anderen, dreht sich in der Hüfte und hebt den Kuhfuß mit beiden Händen.

Jetzt.

Ich wende den Kopf ab.

*

Ich weiß nicht, wer den Flaschenzug und die Ketten gefunden hat.

Der Mann liegt in der Scheune im Stroh, die Füße sind gefesselt, die Kette hat jemand über einen Querbalken geworfen, jetzt ziehen sie ihn hoch. Die gesamte obere Hälfte seines Gesichts ist verschwunden, es gibt nur noch den Unterkiefer, die eingeschlagenen Zähne und ein blutiges Loch an Gurgel und Luftröhre. Blut und eine dicke dunkle Flüssigkeit tropfen heraus. Das weiße Hemd ist verdreckt.

So kann er hängen bleiben.

So kann er hängen bleiben und Selbstgespräche führen.

Michael stützt sich auf den Kuhfuß, als sollte er fotografiert werden.

»Und was mach ich mit der hier, Manfred?«

Michaels untersetzter Bruder Hans hat die Frage gestellt. Seine Hand liegt auf dem Kopf eines fünf- oder sechsjährigen Mädchens, sie trägt ein weißes Kleid, das Haar steckt in einer weißen Haube. Ihr Gesicht ist blutverschmiert, die von rechts kommenden Spritzer haben auch ihr Kleid und die Haube besudelt.

Rekonstruktion: Der tote Mann trug das Mädchen unter seinem rechten Arm, deshalb lief er so eigenartig. Michael stand rechts der Laufrichtung des Bauern, und als er dessen Kopf mit dem Kuhfuß traf, spritzte das Gehirn des Vaters in diesem Rechts-links-Muster über das Mädchen.

Manfred wendet sich mir zu.

»Was meinst du, Heinrich? Willst du nicht Vater werden?«

Er geht auf sie zu und knüpft die kleine Schleife unter ihrem Kinn auf, dichtes blondes Haar fällt in seine offene Hand.

»Du hast dir doch immer eine Tochter gewünscht, oder? Du hast das passende Alter. Und meine kleine Schwester … das wird doch nichts mit ihr.«

Das Mädchen guckt auf einen Punkt neben mir.

Jetzt gleitet ihre kleine Hand in Manfreds. Die andere Hand ist zur Faust geballt, sie hält etwas darin.

Eine gestreifte Zuckerstange. Sie guckt ihren Vater nicht an.

»Was meinst du?«, sagt Manfred. »Du bist doch ein so guter Mensch, Heinrich.«

Ich erwidere nichts. Innerlich rase ich.

»Was? Ich kann dich nicht hören?«

»Ich sage auch nichts. NICHTS.«

»Gut.«

Manfred lässt die Hand des Mädchens los, tritt einen Schritt zurück.

Sie steht ganz allein in der Mitte des Raums.

Alle sind still.

Manfred ist hinter sie getreten, sie dreht sich um und sieht uns an.

»Das können wir doch nicht machen«, sagt Hans. »Nicht so …«

Manfred wirft ihm einen wütenden Blick zu.

»Dann nimmst du sie.«

»Nein, das …«

Das Mädchen sagt irgendetwas auf Weißrussisch. Sie beginnt, das Zellophan von der Zuckerstange zu pulen, mit ihren kleinen Fingern fällt es ihr schwer, die Zuckerstange ist stramm eingewickelt. Ich sehe, wie Manfred hinter ihr seine PPK zieht; er hält die Waffe zwischen den Beinen, als wollte er sie verstecken, er lädt durch, das Mädchen dreht sich um und sieht ihn an.

Sie streckt die Hand mit der Zuckerstange aus.

Er hält mitten in der Bewegung inne.

Sie fängt an, auf ihn einzureden.

»Was?«, sagt er. Speichel spritzt ihm aus dem Mund, seine Augen sind blutunterlaufen, er hebt den Arm. Er zittert. »Was? Was, was, was?«

»Sie fragt …«, sagt ein Hiwi, ein groß gewachsener, dunkelhaariger Weißrusse, den ich vorher nicht bemerkt habe. Seine Haut spannt sich über die Wangenknochen, die Augenpartie ist schwarz und eingefallen. »… sie fragt, ob Sie ihr helfen könnten mit dem, wie heißt das noch … Papier?«

»Was?!«

»Das sagt sie«, wiederholt er. »Sie kriegt es nicht ab.«

Manfred tritt einen Schritt vor und reißt dem Mädchen die Zuckerstange aus der Hand, doch auch er schafft es nicht, das Zellophan abzuziehen, seine Waffe ist im Weg; zurück ins Holster, er fummelt und zerrt an der Verpackung. Endlich gelingt es. Er tobt und gibt ihr die Zuckerstange zurück. Sie nimmt sie und fängt an, daran zu lutschen.

»Khotite yvidet tjeloveka. «

»Was ist jetzt schon wieder!?«

»Sie fragt, ob wir den Mann sehen wollen.«

*

Der Hiwi beugt sich zu dem Mädchen hinunter. Sie sagt, sie heißt Etke und ist sechsdreiviertel. Sie war mit ihrem Vater auf dem Markt. In Kolozec. Er heißt Boris. Wo ist er? Sie spricht mit monotoner Stimme, der Hiwi übersetzt stockend. Sie geht durch den Stall und über einen schmalen Gang in eine Scheune mit einem hohen Dachfirst, vor einem großen Haufen Heu bleiben wir stehen.

Ein dreckiger Fuß ragt heraus, ein Stück von einem Hosenbein, ein zerschmetterter Knöchel, Blutspritzer.

Die Hiwis kommen zu mir, räumen das Heu beiseite, legen den Kopf des Mannes frei. Er hat einen Knebel im Mund. Eine offene Wunde an der Seite, direkt über dem Hosenbund ist braune Flüssigkeit ausgetreten.

»Ist er es?«, schreit Manfred von draußen.

»Ja. Es ist Steiner.«

*

Manfred schüttelt das Mädchen, als ich ins Freie komme. Der Hiwi, der vorher übersetzt hat, breitet ratlos die Arme aus. Das Mädchen weint. Ich gehe auf Manfred zu und lege ihm eine Hand auf den Arm.

»Lass mich sie verhören«, sage ich.

»Du?«

Er blickt auf meinen Arm, verblüfft.

Michael hält mitten in einer Bewegung inne, die Zigarette in seiner Hand bleibt auf dem halben Weg zum Mund hängen.

»Ja, denn so geht’s doch wohl nicht, oder?«

Ich nehme das Mädchen bei der Hand und winke dem Dolmetscher. Er kommt zu uns.

»Sag etwas zu ihr«, fordere ich ihn auf.

»Was denn?«, fragt er. »Was soll ich sagen?«

»Irgendetwas.«

*

»Heinrich«, sagt Manfred.

Er hat sich im Kommandowagen ganz hinten neben das Mädchen gesetzt. Ich stehe vorn neben dem Schützen und sehe zu, wie die Hiwis Belize anstecken. Man kann bereits das dumpfe Grollen der Brände hören, das hitzige Knistern der Schindeldächer. Als der Fahrer auf den Schotterweg biegt, bersten die ersten Fenster.

»Heinrich«, wiederholt Manfred.

»Ja?«

»Ich will, dass du ihn findest.«

»Was meinst du mit ›ihn‹?«

»Den, der das getan hat …«

Ich drehe mich zu ihm um und lege den Arm auf die Seitenwand des Wagens. Eine Efka qualmt in meiner Hand.

»Es ist Krieg, Manfred. Alle könnten das getan haben. Die gesamte verfluchte Rote Armee.«

»Heinrich, jetzt stell dich nicht dümmer, als du bist. Genau das ist nicht der Fall. Es gibt einen, einen ganz bestimmten Menschen, der das getan hat.«

»Wir sind hier nicht in Hamburg, Manfred, das ist …«

Ich schaue das Mädchen an, das auf ihr brennendes Dorf blickt, das Blut und der Dreck in ihrem Gesicht schälen sich allmählich ab, in einigen Stunden wird ihr Zuhause bis auf die Grundmauern niedergebrannt sein.

»Das ist was?«, fragt Manfred, und als ich nicht antworte, fügt er hinzu: »Ich verstehe dich nicht, Heinrich. Ich tue dir einen Gefallen.«

»Einen Gefallen?«

Ich inhaliere, überrascht über die Bitterkeit in meiner Stimme.

»Ja, wirklich. Steiners Mörder, das kann für uns eine große Sache werden. Und du liebst doch Hamburg … Recht und Ordnung, Logik, Gerechtigkeit, so was halt.«

»So was halt?«

»Ja, so was halt. Jetzt kannst du wie gewöhnlich vorgehen.«

»Logik, Ordnung … schau es dir an«, sage ich und nicke in Richtung Belize. »Ist das Ordnung, Gerechtigkeit und Logik? Du vernichtest alle Beweise, bringst die Zeugen um …«

»Das ist eine Logik der höheren Ordnung.«

»Höhere Ordnung? Meine Fresse …«

»Ja, kümmere du dich um die Logik, dann nehme ich mich der höheren Ordnung an.«

Manfred lächelt, ein frecher Blick, genau wie damals im Philosophieklub des Gymnasiums, seine schrägen Behauptungen, Neukantianer sind doch ein Haufen Schwuler, Objektivität ist was für Zwerge, nur kann er jetzt innerhalb einer Sekunde umschwenken.

»Nein«, sage ich.

»Halten Sie«, befiehlt Manfred, beugt sich vor und legt eine Hand auf die Schulter des Fahrers. »Und verschwinden Sie … du auch«, fügt er hinzu und nickt dem Schützen zu, als der nicht reagiert.

Der junge Fahrer hält am Seitenstreifen, beide springen aus dem Wagen.

»Heinrich«, sagt Manfred. »Glaubst du, du kannst das selbst entscheiden?«

»Wie bei Feigl?«, erwidere ich, während ich mir die beiden ansehe, die jetzt in einiger Entfernung vom Wagen stehen. Einer sucht etwas in seiner Hosentasche, der andere bietet ihm eine Zigarette an.

»Feigl, wer zum Teufel ist das denn?«

»Der mit den Holzvögeln, Kindlers Jude. Breker hat ihn erschossen … aber das ist ja scheißegal, das ist ja nur ein kleines Scheiß-SS-Spiel, ein verdammtes …«

Ich sehe ein, dass ich zu weit gegangen bin.

»Was sagst du da?«, fragt mich Manfred. »Was sagst du da?«

»Nichts«, antworte ich. »Gar nichts. Entschuldige … Entschuldigung, verdammt noch mal!«

Er lächelt und legt seine Hand auf Efkes Kopf.

»Gut«, sagt er. »Und wenn du ihn gefunden hast, dann … ja, dann töte ich ihn. Und Heinrich …«

»Ja.«

»Du wirst bei ihr doch nicht sentimental, oder?«

»Was meinst du?«

»Du weißt genau, was ich meine.«

Das Mädchen

Zurück in meinem Büro im Polizeihauptquartier in Lida. Das Mädchen sitzt auf einem Stuhl. Sie hat die Hände in den Schoß gelegt und den Blick gesenkt. Ihr Kleid ist verschmiert und blutig. Mein Adjutant Wäspli bringt ihr ein neues Glas Saft. Der Schreck stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er sie vor einer Viertelstunde sah, dann kam er mit einem kleinen Papierschirm an einem Stöckchen, den er ins Glas gesteckt hatte, als wäre es ein Cocktail. Danach ließ er sich nicht mehr sehen. Ein Dolmetscher aus Manfreds Einheit ist gerade gekommen, ein gedrungener kleiner Volksdeutscher, der mir die Hand entgegenstreckt und seinen Namen nennt. Ich nicke kurz zum Gruß und gehe auf das Mädchen zu, setze mich in die Hocke und bitte den Dolmetscher zu übersetzen.

»Etke … so heißt du doch, oder?«

Sie wendet den Blick ab, als sie antwortet.

»Was sagt sie?«

»Sie sagt, dass sie nach Hause will.«

»Sagen Sie ihr, sie kann noch nicht sofort nach Hause … sagen Sie es.«

Der Dolmetscher sagt ein paar Worte auf Weißrussisch, er variiert seine Stimme.

»Sie sagt, sie will aber jetzt nach Hause zu ihrer Mutter.«

Dann fängt sie an zu weinen.

»He!«, rufe ich und sage zu ihr: »Hör mal, kleines Mädchen.«

Der Dolmetscher packt sie an der Schulter und schüttelt sie; sie beißt ihm in die Hand, er zuckt zurück, und mir gelingt es gerade noch, seine Faust abzufangen; es kommt zu einem kurzen Handgemenge, er brüllt, aber ich schubse ihn beiseite.

»Verschwinde, aber sofort!«, befehle ich ihm.

In meiner Villa in der Suwalka-Straße, etwas außerhalb des Zentrums, in der sengenden Hitze.

Das Mädchen sitzt auf dem Sofa im großen Wohnzimmer und lässt die Beine baumeln. Mascha, meine Haushälterin, hat sie gewaschen, jetzt ist sie trocken, sauber und riecht gut. Sie weiß etwas, aber weiß sie es selbst?

Ich sitze am Fenster. Die Efkas liegen auf dem Fensterbrett.

Meine Mascha kommt herein und knickst, obwohl ich ihr gesagt habe, dass sie nicht knicksen soll. Sie setzt sich neben das Mädchen, streicht Etkes Kleid glatt, küsst sie auf die Wange.

Das Mädchen stimmt ein Lied an, sie hat eine zarte, kleine, zerbrechliche Stimme.

Was zum Henker mache ich hier?

Ich gehe zur Kommode, ziehe eine Schublade auf und nehme Block und Stift heraus.

»Übersetz für mich, Mascha«, sage ich und setze mich den beiden gegenüber in einen Stuhl.

Das Mädchen fingert an einer Schleife ihres Kleides, dann sieht sie mich an und sagt etwas.

»Sie sagt …« Mascha fällt es schwer, die richtigen Worte zu finden. »Sie fragt, wo ihr Vater ist. Wissen Sie es?«

»Ja«, sage ich, stehe wieder auf und ziehe eine Zigarette aus der Schachtel, zünde sie an, trete ans Fenster und blicke auf die staubige Straße. »Ja, das weiß ich sogar ganz genau.«

*

Am späteren Nachmittag, Obduktionssaal im Keller unter Manfreds Krankenhaus.

An diesem Gang liegt sein geheimer Raum mit dem Bett aus Stahl.

Weber hat eine Kamera mitgebracht.

Manfred und ich stehen ein paar Meter vom Obduktionstisch entfernt. Manfred hat die Arme verschränkt, ich lehne an der gefliesten Wand. Ein junger SS-Schütze steht an der Tür, verlegen. Der Pathologe, Dr. Weiss, ein SS-Arzt, den Manfred aus dem Feldlazarett in Vitebsk eingeflogen hat, nickt den beiden Hiwis zu, die Steiner jetzt auf den Terrazzotisch heben. Sie verschwinden mit einem linkischen Gruß.

Weber macht ein Foto.

Manfred hat ein paar Kerne in der Hand und fragt, ob ich auch welche wolle.

Ich will nicht.

»Hast du die Zeugenaussage des Mädchens für mich?«, erkundigt er sich.

»Nein. Noch nicht.«

Die Glieder des Obergruppenführers sind steif, die Kiefer ausgerenkt, die Zahnprothese ist verschwunden, nur ein paar schwarze Stummel finden sich noch im Untermund. Der Oberkörper ist nackt, Schuhe und Socken haben sie ihm ebenfalls ausgezogen.

Der Brustkasten weist drei Einschusslöcher auf, schwarze Wundränder.

Die Arme sind an den Ellenbogengelenken nicht zu bewegen, die rechte Hand ist zur Faust geballt, beginnende Totenstarre.

Im Schritt der aufgeknöpften Uniformhose ist ein brauner Fleck zu sehen.

Manfred spuckt einen Strahl Sonnenblumenschalen aus.

»Wann denn?«, fragt er nach.

»Gib mir ein paar Tage.«

»Ein paar Tage?«

Die Füße des Obergruppenführers sehen alt und verhornt aus, die Zehennägel sind aber sorgfältig geschnitten und gefeilt.

Auf dem Zettel am großen Zeh hat irgendjemand 1-233 geschrieben. Der Name wird erst freigegeben, wenn die Propagandaabteilung einen Heldentod zusammengelogen hat.

»Wenn du verlässliche Informationen willst«, flüstere ich, »dann ja.«

»Sehen wir zunächst mal nach, was er in der Hand hält«, unterbricht uns Dr. Weiss.

Wir nicken. Weiss stellt sich neben die Leiche, greift nach der geballten Hand, beugt sich vor und setzt all seine Kraft ein. Er bricht die Fingerglieder einzeln auf.

»Nichts«, stellt er fest. »Da war nichts.«

Webers Blitz explodiert, als er noch ein Foto schießt. Weiss sieht ihn irritiert an.

Ihm steht der Schweiß auf der Stirn.

»Fangen wir an«, fährt er fort und nickt dem Protokollanten zu; der junge Schütze mit dem sommersprossigen Gesicht und den feuerroten Lippen beginnt sofort zu stenografieren. »Der Verstorbene hat drei Einschusslöcher im Thorax, jedes davon vermutlich tödlich …«

Weiss bückt sich und riecht an der Wunde.

»Aufgesetzter Schuss, an den Wundrändern ist der Geruch von Pulver und Verbrennungen wahrzunehmen. Ansonsten keine äußeren Verletzungen des Oberkörpers.«

Er greift nach einer Stoffschere, stellt sich an Steiners Füße und schneidet die Hose auf, klappt sie auf und erstarrt.

»Kommen Sie mal her, Hauptsturmführer«, sagt er leise, und als Manfred zögert, »kommen Sie schon!«

Manfred tritt an den Terrazzotisch und zuckt zurück, als er sieht, worauf Dr. Weiss zeigt. Hastig flüstern sie miteinander, aufgeregt. Weiss wendet sich an mich.

»Sie haben ihn geschändet«, sagt er. »Ein Schnitt …«

»Das darf auf keinen Fall nach außen dringen«, unterbricht ihn Manfred.

Mit zwei Schritten ist er bei dem Schützen, der mitstenografiert hat, und reißt ihm den Block aus der Hand.

»Raus!«, befiehlt er.

Der Junge ist entsetzt, seine Augen sind weit aufgerissen, der Kopf ist schlagartig feuerrot, ein Blutsturz an Verwirrung.

»Das hier«, sagt Manfred langsam, »hast du nie gesehen, verstanden?«

»Jawohl!«

»Bestimmt?«

»Ja.«

»Dann verschwinde!«

Der Schütze sucht seine Sachen zusammen und lässt dabei den Karabiner fallen, den er in die Ecke am Fenster gestellt hat; die Waffe klappert über die Bodenfliesen, er hebt sie auf und verlässt den Raum.

»Und Sie«, Manfred wendet sich an Weber, »lassen die Kamera hier.«

Manfred schließt die Tür hinter ihm. Weiss hat die Lende mit einem Tuch abgedeckt.

»Was ist?«, frage ich, bekomme aber keine Antwort. »Wenn ich herausfinden soll, wer das getan hat, müssen Sie mir erzählen, was passiert ist.«

Keiner der beiden sagt etwas. Weiss hat sich an den Arbeitstisch gestellt und sortiert ein paar Instrumente. Manfred zieht eine Zigarette aus der Brusttasche und zündet sie mit seinem Feuerzeug an.

»Wären Sie bitte so freundlich und würden hier nicht rauchen«, sagt Dr. Weiss.

»Ich rauche genau da, wo ich Lust dazu habe!«, entgegnet Manfred. »Und erzählen Sie uns gefälligst, was verdammt noch mal mit Hubert geschehen ist.«

Dr. Weiss zeiht eine lange Stahlpinzette aus seinem Instrumentenfach. Einem Lederfutteral entnimmt er eine Lampe mit einem Riemen, die er sich um den Kopf schnallt. Er tritt wieder an den Terrazzotisch, schaltet die Stirnlampe an, stellt den Winkel ein und fährt mit der Pinzette in Steiners Schritt herum, hebt Hautfalten und Placken von geronnenem Blut an.

»Sie müssen die Zigarette ausmachen«, sagt er. »Der Geruch ist ein wichtiger Bestandteil der Untersuchung.«

Manfred zögert einen Augenblick, dann tritt er seine Zigarette wütend auf dem Boden aus.

»Und Sie notieren?«, erkundigt sich Dr. Weiss und nickt mir zu.

»Ja.«

»Was ist es?«, fragt Manfred ungeduldig, als ich mir den Stenoblock vom Fensterbrett geholt habe.

»Tja, jedenfalls nicht lege artis«, erwidert Dr. Weiss. »Es hat massive Blutungen gegeben. Am Skrotum klafft eine gewaltige Wunde. S-k-r-o-t-u-m.«

»Ich kann ausgezeichnet Latein«, sage ich.

»Gut … ich fahre fort. Beide Testes verschwunden. Haben Sie seine Testikel am Tatort gefunden?«

»Nein«, antwortet Manfred. »Haben wir nicht.«

»Es wurde ein ausgesprochen scharfes Instrument verwendet, vermutlich ein Skalpell oder ein sehr scharf geschliffenes Messer«, erläutert Dr. Weiss. »Die Wundränder sind sauber und glatt, aber wie gesagt, die Schnittführung ist nicht lege artis.«

»Jetzt sagen Sie mir schon, was ›lege artis‹ bedeutet«, verlangt Manfred.

»Nicht nach den Regeln der ärztlichen Kunst«, antwortet Dr. Weiss, ohne Ironie und ohne den Blick zu heben, er bohrt mit seinem Stahlstäbchen weiter. »Ohne jede Operationsmethodik.«

»Keine Verletzungen an der Leiste oder dem Oberschenkel. Es sind auch keine Abwehrläsionen an den Händen oder Armen zu erkennen.«

Jetzt tritt Manfred einen Schritt vor, er spitzt den Mund.

»Wollen Sie uns weismachen, dass Steiner sich die Eier selbst abgeschnitten hat?«

»Ich weiß es nicht. Aber nein, vermutlich nicht.«

Manfreds Kiefern mahlen. Weiss setzt seine Untersuchung fort. Er hebt den Penis des Obergruppenführers mit einer Zange, geht mit seinem langen Kopf sehr nah heran, drückt die Brille mit einem Finger auf die Nase.

»Schwere Verletzungen der Glans penis«, diktiert er. »Die Haut ist von der Glans den Corpus entlang bis nahezu zur Radix penis lazeriert …«

»Weiss«, unterbricht Manfred und hebt plötzlich die Hand. »Ich will nur eins wissen.«

Dr. Weiss schaut auf.

»Ja?«

»Wie war die Reihenfolge?«

»Die Reihenfolge?«