Totengabe - Chelsea Cain - E-Book

Totengabe E-Book

Chelsea Cain

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Beschreibung

Keine mordet so schön wie Gretchen Lowell …

Archie Sheridan hat Geburtstag, aber zum Feiern kommt er nicht. Ein verdeckter Ermittler aus seinem Team wurde erschossen aufgefunden, und die Spur führt zu Drogenlord Jack Reynolds. Auf einer Dinnerparty, die Reynolds auf seiner Privatinsel veranstaltet, soll Archie Beweise sammeln, doch die Nacht endet mit einer weiteren Leiche. Dieser Mord allerdings trägt eindeutig die Handschrift der grausamen und wunderschönen Serienkillerin Gretchen Lowell, Archies alter Nemesis, die wieder aus dem Gefängnis entkommen ist …

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Seitenzahl: 562

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Buch

Archie Sheridan hat Geburtstag, doch kaum hat die Feier begonnen, wird er zu einem Tatort gerufen. Carl Richmond, ein Mitarbeiter des Drogendezernats und alter Weggefährte Archies, wurde in seinem Hotelzimmer erschossen. Richmonds Identität darf nicht preisgegeben werden, da er verdeckt im Drogenmilieu von Portland ermittelte und seine Kontaktpersonen in der Szene in Gefahr geraten könnten – allen voran Leo Reynolds, den Archie selbst vor Jahren dazu gebracht hat, sich gegen seinen Vater, den lokalen Drogenlord Jack Reynolds, zu stellen und verdeckt mit der Polizei zusammenzuarbeiten.

Da der Kontakt zu Leo vor einigen Tagen abgebrochen ist, wird Archie auf einer Dinnerparty eingeschleust, die Jack Reynolds auf seiner Privatinsel veranstaltet. Er soll Leo ausfindig machen und Beweise gegen dessen Vater sammeln. Doch die Party endet am nächsten Morgen mit einer Leiche, deren Ermordung die Handschrift von Gretchen Lowell trägt. Die Serienmörderin, die Archie selbst hinter Gitter gebracht hat und die auf ihn eine Anziehungskraft ausübt, gegen die er sich kaum zur Wehr setzen kann, ist wieder auf freiem Fuß – und dieses Mal scheint sie es nicht nur auf ihn abgesehen zu haben, sondern auch auf Archies potenzielle neue Freundin Susan …

Autorin

Chelsea Cain, geboren 1972, ist Journalistin und Schriftstellerin. Mit ihren Thrillern hat sie einen fulminanten Erfolg beim deutschsprachigen Publikum erzielt und ist seitdem eine der erfolgreichsten internationalen Thrillerautorinnen. Chelsea Cain lebt in Portland, Oregon. Nach Furie, Grazie, Gretchen, Totenfluss und Sterbensschön ist Totengabe ihr sechster Roman um Detective Archie Sheridan und die atemberaubend schöne Serienmörderin Gretchen Lowell.

Chelsea Cain

Totengabe

Thriller

Aus dem Amerikanischenvon Fred Kinzel

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Let Me Go« bei Minotaur Books, St. Martin’s Press, New York.

1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung Dezember 2014bei Blanvalet, einem Unternehmen derVerlagsgruppe Random House GmbH, MünchenCopyright© der Originalausgabe 2013 by Verite Inc.Copyright© der deutschsprachigen Ausgabe 2014by Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.comRedaktion: text in form, Gerhard SeidlSatz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-13025-1www.blanvalet.de

Für Kelley Ragland, Andrew Martin und George Witte. Danke.

1

Archie Sheridan hatte einen Geburtstagshut aus Papier auf dem Kopf und sechs Kugeln in der Hosentasche. Die Kugeln ratterten, wenn er sich bewegte, und stießen klirrend aneinander, was außer ihm aber niemand zu hören schien. Das Gummiband des Huts schnitt ihm unter dem Kinn in den Hals. Er zog daran und spürte, wie sich der Abdruck eines Würgemals bildete.

»Wie war der Verkehr über die Brücke?«, fragte Doug.

Archie nahm an, dass Debbie ihn geschickt hatte. Mach ein bisschen Small Talk mit unserem verlegenen Gast. Denn das war er jetzt: ein Gast. Er hatte sich noch immer nicht ganz daran gewöhnt. »Kein Problem«, sagte er und rollte die Kugeln zwischen den Fingern. Es war gelogen, es hatte einen kilometerlangen Rückstau gegeben.

Archie sah, wie sich Dougs Gesicht aufhellte, und als er sich umdrehte, kam Debbie aus der Küche auf sie zu. Sie trug eine weiße Küchenschürze und schleckte sich Glasur vom Daumen. Ihr Haar war dunkel und sehr kurz, und ihr Körper war kräftig und schlank, auch wenn das vermutlich etwas war, was Archie nicht mehr bemerken sollte. Doug wollte ihr den Arm um die Taille legen, als sie neben ihn trat, aber sie warf ihm einen raschen Blick zu, und er tat so, als hätte er etwas anderes mit seinem Arm vorgehabt. Keine Zurschaustellung von Zuneigung vor unserem Gast. Er fühlt sich vielleicht nicht wohl dabei.

»Archie sagt, die Brücke war frei«, sagte Doug. Er war hochgewachsen und langgliedrig, mit hellbraunem Haar und einem schütteren Bart, der ihn wie einen Studenten aussehen ließ. Er sah zehn Jahre jünger aus als Archie, obwohl sie im gleichen Alter waren.

Debbie lächelte Archie wissend zu. »Tatsächlich?«, sagte sie. »Um diese Tageszeit? Das wäre ja ganz neu.«

Archie zuckte mit den Achseln. Er hatte sich einmal einen Bart wachsen lassen, aber der hatte ihn nur wie einen Rabbiner aussehen lassen.

Er konnte die Kinder in der Küche hören, aber er konnte sie nicht sehen. Sie hatten ihn vor ein Fenster im hintersten Winkel des Wohnzimmers platziert, während sie den Kuchen glasierten. Die Wohnung roch immer noch nach der Lasagne, die Debbie zum Abendessen gemacht hatte. Auf dem Tisch stand schmutziges Geschirr.

Das Fenster ging nach Süden, auf die Innenstadt von Vancouver, Washington, hinaus. Archie konnte die Hecklichter von Flugzeugen sehen, die sich zum Start auf dem Flughafen von Portland aufreihten, er sah einen Frachtkahn auf seinem Weg flussabwärts in Richtung Osten, die Lichter der neuen Bibliothek von Vancouver, Fort Vancouver, ein Kino und die Digitaluhr am Turm einer Bank. Oregon lag genau gegenüber auf der anderen Seite des Columbia River, an einem fernen, undeutlichen Horizont. Archie lebte in Portland. Er kannte die Topografie der Stadt, ihre Skyline, die Brücken und Wahrzeichen. Aber der Blick aus Debbies Fenster war eine ungewohnte Perspektive.

»Es ist nicht so weit, wie man denkt«, sagte Debbie. »Wenn man den Berufsverkehr meidet.«

»Ich weiß«, sagte Archie. In Wahrheit jedoch fragte er sich manchmal, ob Debbie weit genug weggezogen war. Er vermisste seine Familie, aber er wusste, je weiter entfernt sie von ihm war, desto sicherer war sie.

Debbies Eigentumswohnung lag im zehnten Stock eines sicheren Gebäudes. Die Kinder hatten keinen Garten mehr, aber niemand gelangte in das Gebäude, ohne zu läuten. Für den Aufzug war eine Schlüsselkarte nötig. Kameras überwachten die Flure. Rund um die Uhr taten zwei Wachmänner Dienst.

Die Kinder konnten auch ohne Garten leben.

»Sara will sich zu Halloween als Gretchen Lowell verkleiden«, sagte Debbie.

Archie verschluckte sich und musste husten.

Debbie klopfte ihm auf den Rücken. »Ich habe bereits Nein gesagt«, sagte sie mit einem raschen Blick zu Doug, der auf seine Schuhe starrte. »Ich wollte dich nur vorwarnen, falls sie das Thema zur Sprache bringt.«

Archies Finger schlossen sich um die schlanken Messingpatronen in seiner Tasche. »Sie ist sieben«, sagte er.

»Sie will etwas Furchterregendes sein«, sagte Debbie. »Es hat nichts mit dir zu tun. Die meisten ihrer Freundinnen wissen es nicht einmal.«

Es war mehr als ein Jahr vergangen, seit sich Archie und Debbie endgültig getrennt hatten und sie die Kinder unter ihrem Nachnamen an einer Schule in Vancouver, Washington, eingeschrieben hatte. Das war aus Sicherheitsgründen sinnvoll. Es ersparte außerdem einige Erklärungen. Archie war bereits in den Jahren als Leiter der Task Force Beauty Killer eine Figur des öffentlichen Interesses gewesen, aber seit ihn Gretchen Lowell entführt und zehn Tage lang gefoltert hatte, umgab ihn eine neue Art von Makel. In der Folge ihrer Flucht vor zehn Wochen hatten die Medien all die entsetzlichen Einzelheiten wieder aufleben lassen.

Doug blickte suchend umher, er wusste nicht, was er sagen sollte. »Ich höre, du hast einen Hund.«

»Gewissermaßen«, sagte Archie, der es nicht genauer erklären wollte.

»Die Kinder sind begeistert«, sagte Doug.

Archie brauchte Doug nicht, damit der ihm etwas über seine Kinder erzählte, doch er beschloss, dass jetzt vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt war, um dieses besondere Thema anzuschneiden.

»Wir sind fertig«, rief Ben aus der Küche.

Debbie drückte Doug eine Streichholzschachtel in die Hand. »Kannst du den Kindern mit den Kerzen helfen?«

Er lächelte, froh, eine Aufgabe bekommen zu haben, und trabte los in Richtung Küche.

»Er ist nett«, sagte Archie. Er wollte sich von einer angenehmen Seite zeigen, aber er meinte es auch so. Doug war zuverlässig, gut zu den Kindern, freundlich zu Debbie. Doug war Ingenieur für Windturbinen, ein Beruf, in dem man Serienmördern nur in sehr beschränktem Maß ausgesetzt war. Archie mochte ihn. Solange es ihm gelang zu vergessen, dass Doug mit seiner Exfrau schlief und schöne Stunden mit seinen Kindern verbrachte.

»Bist du mit jemandem zusammen?«, fragte Debbie freundlich.

Archies Finger schlossen sich um die Kugeln, und für einen Moment dachte er, Henry könnte ihr vielleicht von Rachel erzählt haben. Aber als er in Debbies Gesicht blickte, sah er nichts als forschendes Interesse. Debbies Frage enthielt keine Sprengkraft.

»Nicht wirklich«, sagte er.

Sie runzelte skeptisch die Stirn. »Was soll das heißen«, sagte sie.

Archie öffnete die Hand und ließ die Kugeln in den tiefsten Winkel der Tasche fallen. »Das heißt, es gibt jemanden«, sagte er. »Aber ich möchte noch nicht darüber sprechen.«

Debbie strahlte vor Freude. »Ist es Susan?«, fragte sie.

»Nein«, sagte Archie. »Ist das dein Ernst?«

Debbie kniff die Augen argwöhnisch zusammen. »Mag Henry sie?«

Archie zögerte.

»Sag, dass sie nicht blond ist«, sagte Debbie.

Ehe sich Archie eine Antwort ausdenken konnte, erfüllte Gesang das Wohnzimmer, und Archies Kinder erschienen, die Gesichter waren in den Schein der brennenden Geburtstagskerzen getaucht. Doug stand hinter ihnen, er hatte eine Hand auf je einer Schulter und lenkte sie. Sara hielt eine Seite des Kuchentellers und Ben die andere. Sie waren dunkelhaarig und sommersprossig, die Milchzähne machten allmählich einem veränderten Lächeln Platz. Jedes Mal, wenn Archie sie sah, waren sie ihrer Mutter ähnlicher geworden.

Der Gesang hörte auf, und Archie blies die Kerzen aus.

Als er einen Schritt zurück von dem Kuchen machte, spürte er sein Handy vibrieren.

»Du musst dir etwas wünschen, Daddy«, sagte Sara.

Er wünschte sich nichts mehr. Aber er tat als ob und schloss die Augen.

Als er sie wieder öffnete, strahlte ihn Sara an. »Was hast du dir gewünscht?«, fragte sie.

»Das darf ich dir nicht sagen«, antwortete Archie. Er zog eine Kerze aus dem Kuchen und gab sie ihr, damit sie die Glasur abschlecken konnte.

Das Handy vibrierte immer noch in seiner Tasche.

Archie schaute auf das Display. Es war Henry.

Er wandte sich zur Seite und meldete sich. »Ja?«

»Ich bin im Gold Dust Meridian«, sagte Henry. »Ein Mord. Du solltest dir das ansehen.«

Archie drehte sich wieder zu dem Kuchen um. Sara und Ben pflückten die Kerzen heraus und schleckten sie sauber. Debbie und Doug hielten sich an den Händen.

Zweiundvierzig Kerzen. Sechs Kugeln. Zwei Kinder, jedes zweite Wochenende.

»Okay«, sagte er.

Er ließ das Handy in die Tasche gleiten und sah Debbie an. Er musste nichts erklären. Sie wusste, wie es lief.

»Musst du gehen?«, fragte sie.

Archie nickte.

»Ein Stück Geburtstagskuchen mit auf den Weg«, sagte Debbie. »Für deinen bevorstehenden Geburtstag.«

2

Der Mann, der auf dem Boden der Toilette im Gold Dust Meridian lag, schien Mitte fünfzig zu sein, aber es war schwer zu sagen, weil sein Kopf teilweise weggesprengt worden war und hinter der Kloschüssel an der Wand hinunterlief. Der Mörder hatte eine großkalibrige Waffe aus kurzer Entfernung benutzt. Haut, Haare und Knochen waren an die Wand gespritzt. Die Klobrille war heruntergeklappt und von einem feinen, klebrig roten Nebel bedeckt. Die Toilette war klein. Kein Fenster. Eine Kloschüssel und ein Waschbecken. Die Leiche nahm drei Viertel der Bodenfläche ein. Die Kriminaltechniker hatten eine lange Nacht vor sich.

Archie und Henry standen im Gang und betrachteten den Tatort über das Absperrband vor der offenen Tür hinweg, ihre goldenen Dienstmarken trugen sie sichtbar am Gürtel. Die Bar war geschlossen. Die Gäste hatte man im Sitzbereich versammelt, wo sie darauf warteten, befragt zu werden. Die Lichter brannten, und die Musik war aus; es war ungemütlich hell und still in dem Laden.

»Du weißt, dass du einen Geburtstagshut aufhast, ja?«, fragte Henry. Er hatte schwarz-weiß gesprenkelte Stoppel auf dem kahl rasierten Schädel und sah mit seinem massigen Körperbau eher wie der Rausschmeißer der Bar aus als wie ein Detective des Morddezernats.

Archie hob die Hand und berührte den spitz zulaufenden Papierhut auf seinem Kopf, dann nahm er ihn ab und steckte ihn in die Tasche seines Sakkos. Er konnte die Toilettenspülung laufen hören, das hohle Geräusch von Wasser, das durch Rohre fließt. Das Blut auf dem Boden glänzte im Neonlicht.

»Warum bin ich hier?«, fragte Archie. Es war ein scheußlicher Tatort, aber es sah nicht nach etwas für die Major Case Task Force aus.

Henry warf einen Blick zu den beiden uniformierten Beamten, die im Flur standen und sich unterhielten. »Du hast ihn gekannt«, sagte er leise.

Archie erlaubte sich keine Reaktion, keine Gefühlsregung. Aber er wartete bewusst einen Moment, ehe er den Blick wieder über den Leichnam auf dem Boden wandern ließ. Er konnte den Kiefer und den Hals des Mannes sehen, ein halbes Ohr, aber das Gesicht des Mannes war zu sehr entstellt. Er erkannte ihn nicht.

Henry zog einen Beweismittelbeutel mit einer Visa-Card darin aus der Tasche. »Er hatte eine offene Rechnung in der Bar«, sagte er.

Archie nahm den Beutel und las den Namen auf der Karte. Diesmal zuckte er unwillkürlich zusammen. Er sah die Leiche an. Dann wieder die Karte. »Scheiße«, sagte er.

»Was machen wir?«, fragte Henry.

Archie rieb sich den Nacken und dachte nach. Die Polizisten im Flur unterhielten sich immer noch. Jeden Moment würde jemand von der Gerichtsmedizin eintreffen.

»Lass uns einen Spaziergang machen«, sagte Archie.

Im Lauf der Jahre hatte Archie meisterhaft gelernt, Ruhe auszustrahlen. Er hatte diese Fähigkeit zunächst als Leiter der Task Force Beauty Killer entwickelt, im Umgang mit Angehörigen von Opfern, seinen Vorgesetzten, anderen Polizisten. Als er dann schließlich aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen war, nachdem ihn Gretchen Lowell zehn Tage lang gefangen gehalten und gefoltert hatte, hatte er sich erneut auf diese besondere Qualifikation verlassen, um seiner Familie vorzutäuschen, alles sei normal und er vollkommen in Ordnung. Zwei Jahre später, als er nach seinem Krankenurlaub medikamentensüchtig in den Beruf zurückgekehrt war, hatte er Alltag vorgetäuscht. Er konnte einem Menschen in die Augen sehen und mit absolutem Selbstvertrauen versichern, dass es ihm gut ging. Er hatte zu lügen gelernt.

Diese Fähigkeit hatte sich als praktisch erwiesen. Dafür musste er Gretchen dankbar sein.

Jetzt zwang sich Archie, nicht in Hektik zu verfallen. Er lockerte seine Glieder. Henry gab den Beweismittelbeutel an einen der Beamten weiter, und Archie und Henry verließen das Lokal durch den Seitenausgang. Archie sah sich um, ob jemand sie beobachtete, ob jemand nicht hierhergehörte. Es war kurz vor acht am Freitagabend. Vier Streifenwagen standen vor dem Meridian am Hawthorne Boulevard. Wenn Portland die Zentrale der Hipster war, dann war das Meridian der eingedampfte Hipster-Kern Portlands. Die Atmosphäre war 50er-, 60er-, aber der Zeitgeist war 1970er-Jahre Cocktaillounge. Das Ölporträt eines barbusigen Pin-up-Girls hing gleich hinter der Tür. An den meisten Abenden bildete sich eine Menschenmenge draußen auf dem Gehsteig. Doch die Menge heute war anders. Die Gäste, die man vernommen und entlassen hatte, wuselten vor dem Lokal umher. Viele waren kostümiert. Ein als Jesus Christus verkleideter Mann machte eine junge Frau mit Zöpfen und einem Brustpanzer aus Messing an. Thor stritt mit einer Frau, deren Kostüm aus strategisch platziertem grünem Stoff Archie zu der Annahme führte, dass sie entweder eine Superheldin oder eine Art frecher Kobold war. Cleopatra filmte mit ihrem Smartphone. Drei Zombies standen auf dem Gehsteig und rauchten eine nach der anderen. Offenbar hatte die Bar zu einer Art Halloween-Veranstaltung eingeladen. Dann gab es die Leute, die zufällig in die Szenerie gestolpert waren – Leute mit Kartons von einem Imbiss und Anwohner, die gerade ihren Hund ausführten, Radfahrer und Besucher der umliegenden Restaurants, die zum Glotzen auf die Straße gekommen waren. Manche hielten Handys in die Höhe und machten Aufnahmen. Autos verlangsamten, als sie vorbeifuhren.

Archie und Henry bogen nach einem libanesischen Restaurant, das in einem restaurierten viktorianischen Haus untergebracht war, um die Ecke. Im Garten des Restaurants glühten Heizstrahler aus Edelmetall orangefarben über die Tische im Freien.

Sie waren nun in einer Wohnstraße, wo weniger Leute unterwegs waren. Vielleicht beobachtete sie jemand, vielleicht nicht. Aber Archie wollte kein Risiko eingehen. Er sperrte sein Auto auf, und sie stiegen ein. Er ließ den Motor aus, damit die Armaturenbeleuchtung nicht ihre Gesichter erhellte.

Der Tote in der Toilette war Carl Richmond. Er war Agent der Drogenbekämpfungsbehörde DEA gewesen.

»Wir dürfen seine Tarnung nicht auffliegen lassen«, sagte Archie.

»Ich schätze, die ist bereits aufgeflogen«, erwiderte Henry.

Archie rieb sich das Gesicht. »Das können wir nicht wissen.«

»Das war eine Hinrichtung, Archie«, sagte Henry. »Der Barkeeper hat ihn gesehen. Er traf sich mit jemandem in dieser Toilette. Der Deckel der Toilette war zu. Er war nicht zum Pinkeln da drin. Er hat jemanden getroffen, und dieser Jemand hat ihm in den Kopf geschossen. Niemand hat etwas gehört, vermutlich hat unser Killer also einen Schalldämpfer benutzt. Niemand hat etwas gesehen. Die Leiche wurde von dem nächsten Typen entdeckt, der sein Bier loswerden wollte. Das Ganze war geplant. Es war ein Auftragsmord.«

Henry hatte recht. Aber es änderte nichts. Richmond hatte eine umfangreiche Undercover-Unternehmung geleitet. Drogen. Korrupte Polizisten. Das Ganze lief seit Jahren, Henry wusste nicht die Hälfte davon. »Wir unternehmen nichts«, sagte Archie. »Wir überlassen der DEA die Führung in der Sache.« Falls sie noch nicht wussten, dass Richmond tot war, würden sie es bald erfahren. »Wir schauen, wie sich alles entwickelt.« Archie spähte aus dem Fenster. Im Haus auf der anderen Straßenseite brannte Licht in einem Fenster im Obergeschoss.

»Du denkst, sie beobachten alles?«, fragte Henry. Er meinte nicht die DEA.

»Wenn ich gewaltige Mengen Heroin einführen würde und den Verdacht hätte, dass jemand ein Polizist ist, und ich würde ihn töten lassen, dann würde ich beobachten.« Eine Frau ging mit einem schwarzen Labrador am Auto vorbei. »Ich würde warten, ob zwanzig Typen in DEA-Jacken auftauchen, denn wenn sie es tun, wüsste ich mit Sicherheit, dass ich recht hatte.«

»So oder so ist jeder, der mit deinem Freund gearbeitet hat, jetzt in Gefahr.«

»Er war nicht mein Freund«, sagte Archie. Er hatte Carl seit fünfzehn Jahren gekannt. Aber er hatte ihn nie gemocht. Carl stellte seine Ermittlungen über alles und war bereit, jeden zu opfern, um seine Sache durchzubringen. Vor einem Jahrzehnt hatte Archie Carl einen Haupttreffer in puncto Aufklärung beschert – Leo Reynolds, den einundzwanzigjährigen mutmaßlichen Erben der Familie, die den Drogenhandel im pazifischen Nordwesten seit einem Vierteljahrhundert beherrschte. Leo hatte sich Hilfe suchend an Archie gewandt, um von seiner Familie wegzukommen, stattdessen hatten ihn Archie und Carl zurückgeschickt, damit er verdeckt für die DEA tätig wurde. Zehn Jahre später lebte Leo Reynolds immer noch eine Lüge. Noch einmal vor die Frage gestellt, hätte Archie dem einundzwanzigjährigen Leo Reynolds geraten, seinen Namen zu ändern und zu verschwinden.

Leo.

»Carl war Leos einziger Kontakt«, sagte Archie und spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Wenn sie sich Carl vorgeknöpft hatten, konnte Leo der Nächste sein. Er fischte sein Handy aus der Tasche und fing an, Leos Nummer einzutippen. Aber auf halbem Weg hielt er inne, seine Finger verharrten unschlüssig über der Tastatur.

Ein Paar ging Händchen haltend am Wagen vorbei. Sie war bereits ein wenig beschwipst, sie stolperte und lachte dann.

Es brachte Archie auf eine Idee. Er löschte die teilweise eingegebene Nummer und wählte stattdessen eine andere.

Susan Ward meldete sich umgehend.

»Hi«, sagte sie. »Du rufst nie an. Ist dir das schon mal aufgefallen? Ich rufe immer dich an, aber du mich nie. Seltsam, oder?«

»Ist Leo bei dir?«, fragte Archie.

»Ist das jetzt dein Ernst?«, sagte Susan. »Du rufst mich auf meinem Handy an, aber du willst gar nicht mit mir sprechen? Ist dir klar, wie merkwürdig das ist?«

»Ist er bei dir?«, fragte Archie noch einmal. Er warf einen Blick zu Henry, der ihn vom Beifahrersitz beobachtete. Es war kühl, die Wagenfenster beschlugen.

»Ja«, sagte Susan. »Wieso?«

Archie hörte förmlich, wie sich ihr Reporterinstinkt einschaltete, und wusste, dass er das Gespräch beenden musste, bevor ihr Interesse zu groß wurde. Das Letzte, was er brauchen konnte, war, dass Susan in diese Geschichte hineingezogen wurde.

»Du musst ihm sagen, dass ich das Mittagessen absagen muss, okay? Sag ihm genau das: Archie muss das Mittagessen absagen.«

»Er hat ein Telefon«, sagte Susan. »Ruf ihn an und sag es ihm selbst.«

»Susan«, sagte Archie. »Bitte.«

Es war wichtig, dass Susan das für ihn tat, und es war wichtig, dass sie keine Fragen stellte.

Susan stöhnte. »In Ordnung«, sagte sie.

»Danke«, sagte Archie und achtete darauf, sich seine Erleichterung nicht anhören zu lassen. Er beendete das Gespräch und ließ den Wagen an.

Henry hatte das Stück Geburtstagstorte auf der Ablage gefunden, er hatte es ausgepackt und aß es mit den Fingern. »Sag mir, dass das ein Code war und dass du nicht wirklich nur gerade ein Mittagessen abgesagt hast.«

Archie wischte Kondenswasser mit dem Unterarm von der Windschutzscheibe. »Wir müssen meinen Geburtstag feiern fahren«, sagte er.

»Dein Geburtstag ist erst morgen.«

»Hast du Bargeld einstecken?«, fragte Archie und sah in den Rückspiegel, als er den Rückwärtsgang einlegte. »Kleine Scheine?«

»Wofür?«

Archie gestattete sich ein Lächeln, als er losfuhr. »Für die Stripperinnen.«

3

Wieso Leo plötzlich ins Dancin’ Bare gehen wollte, wusste Susan nicht, aber sie war nicht glücklich darüber.

Sie war für die Oper gekleidet.

Sie gingen nicht in die Oper. Sie hatten vor, sich eine Bühnenmusical-Adaption des 80er-Jahre-Films Road House mit Patrick Swayze anzusehen, aber sie hatte gerade ein besticktes Seidencape in einem Trödelladen gekauft und war entschlossen, es zu tragen. Es war silbern mit einem roten Futter und einer Rheinkiesel-Schnalle am Hals, und es streifte beim Gehen ihre Kniekehlen. Sie hatte es mit einem schwarzen ärmellosen Hemd, einer scharfen rosaroten Strumpfhose und ihren silbernen Doc Martens kombiniert. Ihr Haar hatte sie kürzlich schwarz gefärbt, mit einem weißen Stinktierstreifen in der Mitte, und der ganze Look war sehr Cruella de Vil meets Daphne Guinness. Es war perfekt für eine Vorstellung in einem freien Theater. Es war nicht ideal für einen Stripteaseklub.

Leo rauschte an dem Türsteher vorbei, während Susan mürrisch hinter ihm her stiefelte, dann weiter durch den holzgetäfelten Eingangsbereich in die dunkle Bar. Auf dem Weg nach drinnen warben Plakate für die Gelegenheit, Mädchen »aus der Nähe« kennenzulernen.

Sie ging nicht gern mit Leo in Striplokale. Nicht dass sie etwas gegen Striplokale als solche gehabt hätte. Es gefiel ihr nur nicht, dass offenbar alle Leute in diesen Klubs ihren Freund kannten. Leos Vater besaß einige dieser Etablissements. Leo machte in manchen von ihnen Geschäfte. Aber es war mehr dahinter. Leo mochte diese Klubs. Er mochte sie auf eine Weise, die Susan wohl nie ganz verstehen würde.

Und es hatte bestimmt nichts mit der Inneneinrichtung zu tun.

Man durfte in Bars in Portland nicht mehr rauchen, aber der Klub roch immer noch nach kaltem Zigarettenrauch, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, die schwarzen Plastikaschenbecher wegzuräumen, die noch überall herumstanden. Kerzen flackerten in roten Gläsern auf den Tischen wie in einem italienischen Restaurant. Bunte Christbaumkugeln schmückten die Decke, manche blinkten, andere nicht, jede Kette war in einem anderen Stil, man hatte sie scheinbar wahllos aufgehängt, als wäre das ganze Durcheinander von einem ausgelassenen Junggesellenabschied betrunkener Kobolde übrig geblieben. Lichtschläuche zeichneten die Umrisse der Bar und der Bühnen nach, die Kunststoffgehäuse waren mit einem Tacker befestigt worden. All diese schrille Beleuchtung, und es war trotzdem so dunkel in dem Laden, dass man nicht richtig sah. Leo wusste allerdings, wohin er ging. Er führte Susan an der Keno-Schlange und der ersten Bühne vorbei zur Hauptbühne in der Mitte des Raums. Im Klub tummelten sich die üblichen Verdächtigen. Ein Dutzend testosterongesteuerte Verbindungsstudenten sammelten sich um zwei Tische und feuerten ein armes Würstchen an, das einen BH aus Bonbons über dem Hemd trug und ein Bier auf ex trank. Männer in Anzügen hockten vor Cocktails, die Krawatte gelockert, den Ehering in der Tasche. Einige Paare schmiegten sich kichernd aneinander. Ein paar Fans der Portland Timbers waren so betrunken, dass einer von ihnen fast über seinen Schal stolperte. Und dann gab es noch die Gruseltypen, die mit Geldscheinen in der Hand am Rand der Bühne saßen, die Mütze tief ins Gesicht gezogen.

Susan sah Leo an, dass er jemanden suchte. Er tat es nicht sehr offensichtlich, aber sie bemerkte, wie er den Raum mit Blicken abtastete. Schließlich musste er fündig geworden sein, denn er steuerte schnurstracks auf einen Tisch auf der anderen Seite der Hauptbühne zu. Ein Geburtstagskind offenbar – Susan konnte den idiotischen Papierhut sehen, den der Mann trug. Als sie mit Leo hinter den Gruseltypen an der Bühne vorbeischlichen, nickte Leo der Stripperin zu, die gerade darauf tanzte. Sie hatte dunkles Haar, melonengroße Brüste und einen tätowierten Stern über dem Hüftknochen, den sie schwang. Die Stripperin formte die Worte Hi, Leo mit den Lippen. Sie trug ein rotes Stirnband mit Teufelshörnern daran. Susan fragte sich, ob sie es immer trug oder ob es eine Art Halloween-Verkleidung darstellen sollte. Vielleicht hatte sie in voller Satans-Ausstattung angefangen und langsam alles abgelegt.

Sie kamen an den Tisch, und Leo legte dem Geburtstagskind die Hand auf den Rücken. Der Mann drehte sich um und blickte auf.

»Archie?«, sagte Susan, und die Musik schluckte den Klang seines Namens.

Dann tauchte Henry auf, er trug zwei Bier in Plastikbechern, die er auf den Tisch stellte, ehe er sich auf den Stuhl neben Archie setzte.

Susan sah von Archie zu Henry und erwartete eine Art Erklärung, aber sie bekam keine. Henry wich ihrem Blick aus.

Archie nahm einen der Becher und stieß ihn in ihre Richtung, als wollte er ihr zuprosten; ein wenig Bier schwappte auf den Tisch dabei.

War er betrunken? Saß Archie Sheridan mit einem Geburtstagshut für Kinder auf dem Kopf betrunken in einem Stripteaseklub?

Susan wusste nicht, was sie sagen sollte. Es war wie damals, als sie zur Augenbrauenentfernung gegangen war und einer der leitenden Redakteure des Herald, bei dem sie zu dieser Zeit arbeitete, sich gerade einen Termin für eine Analhaarentfernung geben ließ. Sie konnte danach an keiner Redaktionssitzung mehr teilnehmen, ohne sich seinen glatten, haarlosen Schließmuskel vorzustellen. Es gab Dinge über Leute, die man besser nicht wusste.

Ihrer Miene musste ihre Verwunderung anzusehen sein, denn Archie zeigte auf den Geburtstagshut und dann auf Henry. »Seine Idee«, schrie er über die Musik hinweg.

Susan schloss die Finger um Leos Arm. Sie wollte weg von hier. Sie war damals aus dem Haarentfernungsstudio geflohen und nie mehr wiedergekommen. Archie durfte sich betrinken und in Stripteaselokale gehen, aber das hieß nicht, dass sie dabei zusehen musste.

Archie winkte Leo zu sich und sagte etwas zu ihm.

Leo stand auf, lachte und schlug Archie auf die Schulter. »Dann wollen wir dir mal ein Geburtstagsgeschenk besorgen«, sagte er laut. Er sah zu der vollbusigen Brünetten hinauf, die an der Stange herumturnte, und winkte sie zu sich, und sie lächelte und glitt von der Bühne. Archie nahm seinen Drink und stellte sich neben Leo.

Alle anderen Leute rings um die Bühne johlten und pfiffen.

»Was ist los?«, fragte Susan.

»Ich bin sofort wieder da«, sagte Leo.

Susan war verwirrt. Sie ließen sie allein hier? »Nein«, sagte sie. »Ich komme mit euch.«

Leo nahm ihre Hand und beugte sich nahe an ihr Ohr. »Ich habe Archie gerade einen Lapdance spendiert«, sagte er. Er nickte in Richtung des Mädchens, das seine nackte Brust jetzt an Archie presste. »Ich glaube, er würde sich wohler fühlen, wenn du hierbleibst.«

Susan lachte. Leo war nicht bei Trost. Einen Lapdance? So etwas tat Archie nicht. Archie Sheridan ließ sich keinen Lapdance spendieren. Ausgeschlossen. Das Ganze war eine Art Missverständnis. Sie sah zu Archie und wartete darauf, dass er das Angebot ehrenvoll ablehnte. Das Mädchen hatte den Arm um Archies Taille gelegt. Er schien nichts dagegen zu haben. Er lächelte. Susan spürte, wie ihr Gesicht zu brennen anfing. »Oh«, sagte sie.

Sie stand ungelenk da, während Leo Archie und das Mädchen in eins der Séparées im hinteren Teil des Klubs führte und die ganzen Gruseltypen rund um die Bühne applaudierten.

Dann sank sie auf Archies leeren Stuhl und streifte die ellenbogenlangen purpurnen Handschuhe ab. Sie merkte, wie sie zu schwitzen anfing, das Seidencape klebte an ihrer Haut.

»Ihr Haar ist anders«, sagte Henry.

»Sprechen Sie mich nicht an«, sagte Susan.

Ein neuer Song setzte ein, und ein anderes, größtenteils nacktes Mädchen kletterte auf die Bühne und fing zu wackeln an. Susan trank einen Schluck von Archies zurückgelassenem Bier. Sie wusste nicht, was es war, aber es schmeckte scheußlich.

4

Leo führte Archie und die Tänzerin in einen der Privaträume des Klubs. Er hatte die Größe eines begehbaren Schranks mit einer rundum laufenden eingebauten Polsterbank und Spiegelfliesen an den Wänden und der Decke. Die Wirkung war verwirrend – Archies Spiegelbild starrte ihm von jeder Oberfläche entgegen. Die Tänzerin nahm seine Hand, und er ließ sich von ihr zu der Bank führen und auf den Sitz drücken. Leo grinste und setzte sich neben ihn. Dann goss Leo etwas von dem Whiskey, den er an der Bar gekauft hatte, in zwei Gläser und gab eins davon Archie. In der Mitte des Raums befand sich eine Messingstange. Elektronische Tanzmusik ertönte aus Lautsprechern, die Archie nicht sehen konnte. Die Tänzerin beugte sich vor und blinzelte mit ihren stark geschminkten Augenlidern. Ihr Busen schaukelte. Auf ihrer Brust glänzten Schweißperlen. Sie hatte Teufelshörner auf. »Happy Birthday«, hauchte sie.

»Danke«, sagte Archie. »Aber eigentlich ist er erst morgen.« Er sah zu Leo, der bereits an seinem Drink nippte. »In Wirklichkeit will ich keinen Lapdance«, sagte er.

Leo streckte den Arm aus und drehte an einem Regler an der Wand; die Lautstärke der Musik nahm zu einem erträglichen Hintergrundbeat ab. Dann lehnte er sich lässig zurück, das Whiskeyglas auf dem Oberschenkel. »Da ist eine Kamera«, sagte Leo leise. Er trank einen Schluck und blickte in die gegenüberliegende obere Zimmerecke. »Sie können uns nicht hören. Aber sie können uns sehen.« Sein Blick ging rasch zu Archie. »Was gibt es?«

Die Tänzerin trat von Archie zurück und griff nach der Stange. Sobald ihre Finger sie fanden, begann ihr Körper, mühelos um die Stange zu kreisen, ihre Fußknöchel waren gekreuzt, ihre Füße steckten in Schuhen mit zwölf Zentimeter hohen Absätzen. Ihr Gesicht war ausdruckslos, ihre Augen blickten ins Leere. Archie zögerte.

»Sie ist okay«, sagte Leo. »Sie ist eine Freundin.«

»Du kannst Leuten nicht vertrauen, nur weil du mit ihnen geschlafen hast«, erwiderte Archie.

»Ich habe nicht gesagt, dass ich ihr vertraue«, entgegnete Leo. Er trank einen weiteren Schluck Whiskey und lächelte. »Ich sagte, sie wird nichts verraten.«

Die Tänzerin wirbelte weiter um die Stange herum, ihr Haar streifte den Boden. Ihr schwarzer Tanga passte farblich zu den Schuhen.

»Carl Richmond wurde heute Abend getötet«, sagte Archie leise. »Jemand hat ihm in der Toilette des Gold Dust Meridian in den Kopf geschossen. Es ist vor ungefähr zwei Stunden passiert.«

Leo nickte. Er sagte nichts, aber Archie sah, wie sich seine Mundwinkel verhärteten. Carl hatte Leo rekrutiert. Er hatte ihn ausgebildet und als sein Mentor fungiert. Er war jahrelang Leos einzige Rettungsleine zu seiner alternativen Identität gewesen.

»Alles okay mit dir?«, fragte Archie.

Leo trank den restlichen Whiskey in seinem Glas mit einem Schluck aus, die Augen auf die Kamera gerichtet. »Sie wissen, dass jemand eingeschleust wurde«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob sie glauben, dass ich es bin, aber sie wissen genug, um aufzupassen.«

»Dann steig aus«, sagte Archie. »Komm auf der Stelle mit mir. Verschwinde.«

»Ich mache das seit zehn Jahren«, sagte Leo. »Es ist kein Auftrag. Es ist mein Leben.«

»Sie werden dich töten«, sagte Archie. Leo war immer in Gefahr gewesen, aber wenn sie aktiv hinter ihm her waren, war das Risiko sehr ernst. Und Archie wusste, dass Susan ihm nie vergeben würde, wenn Leo sich umbringen ließ. »Dein Vater wird dich töten, wenn er herausfindet, wer du bist«, sagte Archie. »Das ist dir klar, oder?«

»Ich bin nahe dran«, sagte Leo. In seinen Augen lag ein Ernst, den Archie noch nie gesehen hatte. »Richmond hatte recht. In Bezug auf Korruption. Aber mein Vater schmiert nicht nur Leute. Er hat Partner, Archie. Leute in hohen Positionen bei der Polizei.«

Es war das, was Richmond immer vermutet hatte – der Grund, warum Jack Reynolds’ Drogenlieferungen nie abgefangen wurden. Wenn es stimmte und wenn Leo die beteiligten korrupten Beamten identifizieren konnte, würde das alles ändern. Nur deshalb war Richmond bereit gewesen, so viel Risiko einzugehen. »Und du kommst an Namen heran?«, fragte Archie.

»Er baut mich als Nachfolger auf«, sagte Leo. »Es ist ein Familienunternehmen. Er will, dass sein Sohn den Laden übernimmt. Der Mann hasst es, etwas aus der Hand zu geben. Aber er weiß, er muss es tun.«

»Welche Sorte Polizei?«, fragte Archie.

Leo goss sich Whiskey nach. »Das weiß ich nicht.«

»DEA?« Wenn Jack jemanden bei der Drogenfahndung hatte, war Leo sogar in noch größerer Gefahr. Richmond hatte ihn als Quelle geschützt. Aber nachdem Richmond tot war, würde Leo einen neuen Kontakt erhalten.

Leo lachte und setzte das Glas an den Mund. »Wahrscheinlich«, sagte er. »Richmond hat sich Sorgen deswegen gemacht. Er hat immer gesagt, falls ihm einmal etwas zustieße, sollte ich davon ausgehen, dass die DEA unterwandert ist. Er sagte, das FBI würde dann einspringen. Sie führen ihre eigenen Ermittlungen durch, aber sie haben keinen verdeckten Ermittler in der Organisation.«

Es gab nur wenige Menschen, die wussten, dass Leo gegen seinen Vater arbeitete. Archie war klar, dass, wenn das FBI die Sache in die Hand nahm, es nur eine Person gab, der Richmond die Leitung des Unternehmens anvertraut hätte.

Leo zog eine Augenbraue in die Höhe. »Du weißt, wer mein neuer Kontakt ist, oder?«

Es klopfte an der Tür. Archie und Leo hatten kaum noch Gelegenheit, einen Blick zu wechseln, ehe die Person auf der anderen Seite die Tür einen Spalt weit aufstieß. »Leo?«, rief eine barsche Stimme durch die Öffnung. Leo machte der Tänzerin ein Zeichen, und sie wirbelte von der Stange und baute sich gerade rechtzeitig vor Archie auf, bevor der Mann durch die Tür kam. Archie behielt den Blick auf der Tänzerin vor sich, aber er sah das Spiegelbild des Mannes in den Wandfliesen. Er war groß und breit, mit einem Gesicht, das zu viele Fäuste aus der Nähe gesehen hatte. Narbengewebe hatte seine Haut uneben und seine Züge schief werden lassen. Seine Wangenknochen und seine Nase sahen aus, als wären sie mehr als einmal gebrochen und von jemandem wieder zusammengesetzt worden, dem keine große Zukunft in der Chirurgie bevorstand. Sein Haar war ein dichtes, grau werdendes Gestrüpp, das ihm in Büscheln auf die Schulter hing. Seine Oberarme hatten den Umfang von Archies Oberschenkeln. Nein, dachte Archie, sie waren noch umfangreicher. Die Tänzerin ließ ihre Hüften langsam kreisen, den Blick auf Archie gerichtet. Archie schluckte schwer.

Der Mann nahm die Szenerie mit einem flüchtigen Blick in Augenschein, und Archie hatte den Eindruck, dass er irgendwo auf einem Monitor zugeschaut hatte und genau wusste, was er vorfinden würde.

»Was tust du da?«, fragte der Mann an Leo gerichtet.

»Ich feiere mit einem Freund«, sagte Leo und hob sein Glas. »Folgst du mir etwa, Cooper?«

»Er ist ein Bulle«, sagte Cooper mit einer kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung in Archies Richtung.

Die Tänzerin krümmte sich immer noch vor Archie. Sie fuhr mit den Fingern um ihre Brustwarzen herum und stöhnte.

»Er ist ein Freund der Familie«, sagte Leo. »Wie du dich vielleicht erinnerst, wurde meine Schwester von Gretchen Lowell getötet.« Archie war auf der Bank so weit nach hinten gerutscht, wie es ging. Die Tänzerin streichelte ihren Bauch mit den Händen. Leo lachte. »Das ist Archie Sheridan.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Archie.

Cooper grinste Archie von sämtlichen Spiegelflächen im Raum an. Seine Zähne waren graufleckig von alten Füllungen. »Der Heldenbulle«, sagte er. Er durchquerte den Raum in vier Schritten und stellte sich mit verschränkten Armen hinter der Tänzerin auf, die nicht bemerkt zu haben schien, dass Cooper hereingekommen war, oder so tat, als hätte sie es nicht bemerkt. »Ich weiß, wer du bist«, sagte Cooper. Er betrachtete Archie mit herausforderndem Misstrauen. Die Tänzerin fuhr mit einer Hand an der Innenseite ihres Oberschenkels entlang. Cooper setzte sich auf die andere Seite von Leo. Die Bank erzitterte. »Er geht fast drauf, weil er die Mörderin deiner Schwester jagt«, sagte Cooper zu Leo, »und alles, was er dafür kriegt, ist ein Lapdance?«

»Du hast recht«, sagte Leo. Archie sah, wie sich Leo noch einen Drink einschenkte und an den Mund setzte, ehe er sich zu Archie umdrehte und beiläufig sagte: »Du kannst sie ficken, wenn du willst.«

Archie hustete. Die Tänzerin ließ weiter ihre Hüften kreisen. Der Stern über ihrem Hüftknochen war schwarz, etwa von der Größe eines Vierteldollars. »Vielleicht entscheide ich es je nach Laune«, sagte Archie.

Alle Jovialität wich aus Coopers Gesicht. »Was ist dein Problem?« Er beugte sich zu der Tänzerin vor. »Ist er hart?«, fragte er sie.

Ihr Gesichtsausdruck blieb unverändert. Einen Moment lang hoffte Archie, dass sie die Frage nicht registriert hatte. Dann ging sie vor ihm in die Hocke und schob seine Knie auseinander. Archie sah Leo Hilfe suchend an, aber der zuckte nur matt mit den Achseln. Cooper griff unter seine Jacke und machte eine Bewegung, als würde er ein Schulterhalfter öffnen. Die Tänzerin ließ ihre Hände langsam an Archies Oberschenkeln hinaufgleiten. Ihr Blick blieb weiter auf seine Augen fixiert, dieses seelenlose Starren, das sah und doch nicht sah, und Archie gestattete sich, den Blick zu erwidern. Ihr Mund war leicht geöffnet, ihr Kopf war zwischen seinen Knien. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe und drückte den Rücken ein wenig durch, sodass sich ihre Brüste hoben. Sie ließ die Finger über seinen Reißverschluss gleiten und lächelte über das, was sie vorfand.

»Also, ist er ein Eunuch, oder was?«, fragte Cooper.

»Er ist hart«, sagte sie. Sie klimperte mit ihren dichten Wimpern in Richtung Cooper. »Willst du fühlen?«

Cooper stand auf, und für einen Augenblick dachte Archie, er würde von ihrem Angebot Gebrauch machen. Aber Cooper stand nur da und sah Archie an. »Dann fick ihn«, sagte er.

Die Tänzerin sah zu Leo.

»Wartet«, sagte Archie.

»Willst du abspritzen oder nicht?«, fragte Cooper.

Archie suchte nach einem Weg, um aus der Sache herauszukommen, ohne Leo zu beschädigen. Die Tänzerin war immer noch zwischen seinen Beinen, eine Hand auf jedem seiner Oberschenkel. »Ich bin ein bisschen betrunken«, sagte er.

»Vielleicht braucht er es ein wenig ungestörter«, sagte Leo. »Schalt die Kamera aus.«

Coopers Blick ging in die Zimmerecke. Dann zurück zu Archie. Der Raum spiegelte alle Gesichter wider. Cooper. Leo. Archie. Die Tänzerin. Archie wurde schwindlig davon.

Cooper betrachtete Archie noch eine Weile und schien dann eine Entscheidung in Bezug auf ihn zu treffen. Er griff in seine Hosentasche, zog ein Geldbündel heraus und entnahm ihm dreihundert Dollar, die er auf die Bank zwischen Archie und Leo legte.

»Das geht auf mich«, sagte er. Dann deutete er auf Leo. »Komm mit. Ich muss mit dir reden.«

Leo warf Archie einen müden Blick zu. »Viel Spaß«, sagte er.

Die Tänzerin erhob sich wieder, klemmte sich mit dem Gesäß in Richtung Archie zwischen dessen gespreizte Beine und fing an, vor und zurück gegen seine Leiste zu schaukeln. Dafür würde Archie Leo umbringen. »Danke«, sagte er.

Die Tür schloss sich hinter Cooper und Leo, und Archie blieb mit dem Mädchen in dem Spiegelzimmer zurück. Aus dem Schaukeln wurde sanftes Kreisen. Archie fühlte sein Gesicht heiß werden.

»Wie heißt du?«, fragte er.

»Star.«

»Erkennen wir, wann die Kamera aus ist?«

»Man sieht das rote Licht ausgehen«, sagte Star.

»Okay«, sagte Archie. Er hielt den Blick auf die Kamera gerichtet. »Dann spielen wir einfach noch eine Weile mit.«

Sie hatte die Arme inzwischen über den Kopf genommen und hielt das dunkle Haar mit den Händen in die Höhe. Er konnte ihre Brüste von der Seite sehen, die im Rhythmus ihrer rotierenden Bewegungen schaukelten. Ihm wurde leicht schwarz vor den Augen. Er versuchte, an etwas anderes als das fast nackte Mädchen zu denken, das seinen Hintern in seinem Schoß hatte. Aber er entkam ihr nicht, er sah sie aus jedem Winkel in sämtlichen Oberflächen.

»Fass mich an«, sagte sie.

Ein Rinnsal aus Schweiß lief Archie in den Kragen. »Danke, ist schon in Ordnung so«, sagte Archie.

»Die Kerle sitzen nicht einfach so da«, sagte Star. »Leg deine Hände auf meine Hüften.«

Archie musterte die Kamera. Er zweifelte keinen Moment daran, dass sie beobachtet wurden. Wahrscheinlich von Cooper. Archie löste die Hände von der Bank, die er umklammert hatte, und legte sie auf die Rundung von Stars Hüften. Seine Handflächen waren feucht. Seine Finger streiften über den Bund ihres Tangas.

»Du hast so etwas noch nie gemacht, stimmt’s?«, fragte sie.

Ihre Schulterblätter schienen unter ihre Haut zu kriechen, ihre Wirbelsäule bewegte sich wellenförmig. Strähnen ihres losen Haars strichen sanft über sein Gesicht.

»Eigentlich nicht«, sagte Archie.

Das Kameralicht ging aus. Archie atmete erleichtert auf und nahm die Hände von Star. »Die Kamera ist aus«, sagte er.

Star kletterte von ihm herunter und setzte sich neben ihm auf die Bank. Sie hatte sich schlagartig verändert. Die halb geöffneten Lippen, die schweren Augenlider, der leere Blick – alles fort. Mit einem natürlichen Gesichtsausdruck sah sie anders aus. Sie wirkte jünger. Sie hob einen Fuß und begann, die Schnalle an einem Schuh zu lösen. »Meine Füße bringen mich um«, sagte sie.

Archies Leiste pochte.

Er schaute auf seine Armbanduhr. Sie mussten lange genug hier drin bleiben, damit es glaubhaft wirkte.

»Wie lange dauert das normalerweise?«, fragte er.

»Bei einem wie dir?«, sagte sie und lächelte. »Nicht lange.«

5

Es war Samstagmorgen. Archie hatte seine Zeitung geholt, saß in seinem Wohnzimmer und las sie bei einer Tasse Kaffee. Ginger lag ausgestreckt auf der Seite auf dem Boden, ihr fuchsartiger Kopf ruhte auf Archies nacktem Fuß. Hin und wieder sah sie auf und blickte ihn aus ihren wehmütigen braunen Corgi-Augen an, und da sie keine Einladung auf die Couch erhielt, atmete sie lautstark aus und legte ihn wieder auf seinen Fuß.

Richmonds Tod stand im Lokalteil. Er wurde als Inhaber einer Pfandleihe bezeichnet, und das Blatt spekulierte, der tödliche Schuss auf ihn könnte mit Drogen zu tun haben. Der ganze Zwischenfall war ihnen nicht mehr als einen Absatz wert. Kein Foto. Das war gut. Archie blätterte den Rest der Zeitung durch. Mit der Qualität des Herald war es bergab gegangen, seit sie Susan gefeuert hatten, aber er war noch nicht dazugekommen, sein Abo zu kündigen. Dieser Tage waren die ersten Seiten in großen Teilen der Jagd auf Gretchen Lowell gewidmet. Es war zehn Wochen her, seit sie aus der psychiatrischen Klinik geflohen war, und sie hatte es inzwischen wahrscheinlich um die halbe Welt geschafft, aber die atemlosen Artikel folgten weiter Schlag auf Schlag. Die Beauty-Killer-Industrie war wieder in vollem Gang. Es gab die Tatorte-Tour, die T-Shirts. Salons boten wieder Beauty-Killer-Maniküren an. Einige Leute zumindest machte es glücklich, dass sie wieder auf freiem Fuß war. Portlands Heimarbeitsindustrie rund um den Beauty Killer hatte erhebliche Einbußen erlitten, solange sie im Gefängnis saß. Jetzt schienen sie die verlorene Zeit wieder hereinzuholen. Und da in zwei Tagen Halloween bevorstand, würde es nur noch schlimmer werden.

Archie klappte die Zeitung zu und sah ein Foto von sich selbst auf der Rückseite des Vorderteils. Es gehörte zu einem Artikel über die Geschichte der Task Force. Auf dem Foto war er jünger, es stammte aus der Zeit, als er die Leitung der Task Force Beauty Killer übernommen hatte, als er noch verheiratet gewesen war, vor dem Grau in seinem Haar und den Narben, die Gretchen Lowell auf seiner Brust hinterlassen hatte. Er war nie hübsch gewesen. Seine Nase war krumm von einem Autounfall, den er als Teenager gehabt hatte. Seine Züge waren gerade so unsymmetrisch, dass sie aus einem nicht benennbaren Grund seltsam wirkten, und die dunklen Augen lagen so tief, dass er nie wirklich glücklich aussah, selbst wenn er es war.

Archie spürte, wie Ginger den Kopf von seinem Fuß nahm, und als er nach unten sah, hatte der Hund die Ohren gespitzt und zur Eingangstür hin ausgerichtet. Archie legte gerade die Zeitung beiseite, als er das erste Klopfen hörte.

Es war Susan. Sie klopfte immer auf dieselbe Weise: zweimal kurz, dann eine Pause, dann noch dreimal kurz.

»Ich weiß, dass du da drin bist«, rief sie durch die Tür.

Ginger stand auf und trabte zur Tür, wo sie stehen blieb und sich erwartungsvoll nach Archie umsah.

Archie zog den Gürtel seines Frotteemantels zu, stand auf und folgte Ginger zur Tür.

Er hatte nicht vorgehabt, Susan einzulassen. Er wollte entschlossen erklären, dass Samstagvormittag und niemand ausgeweidet oder geköpft worden sei und dass er nicht arbeite. Aber sie hatte so eine Art, seine besten Absichten stets zu vereiteln.

Sie drängte an ihm vorbei und marschierte schnurstracks in die Küche. Sie trug einen silbernen Rock, der aussah, als wäre er aus Alufolie, eine schwarze Strumpfhose, schwarze Converse-Turnschuhe und ein rotes, nicht geschlossenes Kapuzenshirt über einem schwarzen Tanktop. Ginger, die Susan manchmal spazieren führte, tänzelte glücklich neben ihren Füßen her. »Hast du Kaffee?«, fragte Susan.

Archie schloss die Tür hinter sich. Susan holte sich bereits eine Tasse aus dem Küchenschrank. »Bedien dich!«, sagte er.

Susans Kleidung roch nach Zigaretten. Archie hatte es in dem Augenblick bemerkt, in dem er die Tür geöffnet hatte. Es war nie ein gutes Zeichen, wenn Susan so früh am Morgen schon rauchte.

Er sah zu, wie sie sich den letzten Kaffee aus der Kanne einschenkte und dann hinunterbeugte, um Ginger den Kopf zu tätscheln.

»Alles Gute zum Geburtstag«, sagte sie in Archies Richtung. »Dein Geschenk habe ich vergessen.«

»Du musst mir sowieso nichts schenken«, sagte Archie.

Susan richtete sich auf und sah ihn an. Sie hielt die Tasse in beiden Händen und blies über den Kaffee. Ihre Augen waren rot und ihre Wimperntusche verschmiert. Sie sah aus, als hätte sie in ihrem Make-up geschlafen. »Leo geht nicht ans Telefon«, sagte sie. »Wir haben uns gestern Abend gestritten. Er ist weggegangen. Heute Morgen bin ich bei ihm vorbeigefahren. Er hat nicht aufgemacht. Und ich habe verdammt noch mal Sturm geläutet«, fügte sie an. »Wenn er daheim gewesen wäre, hätte er aufgemacht.«

Archie hätte gern gefragt, worum sich der Streit gedreht hatte, aber er tat es nicht. »Hast du einen Schlüssel?«

Sie wandte den Blick ab. »Nein.«

Archie holte tief Luft. Er wollte nicht überreagieren. Es traf zu, dass Leo möglicherweise in Gefahr war, aber es traf auch zu, dass ihm durchaus einige Dämonen im Nacken saßen. Bevor er mit Susan zusammen gewesen war, hatte er mit jeder Tänzerin und jedem Partygirl in der Stadt zu tun gehabt. Er war jede Nacht in Klubs unterwegs gewesen. Er neigte nicht zur Monogamie. Gut möglich, dass er die letzte Nacht mit Star verbracht hatte. Archie überlegte, wie er es freundlich zum Ausdruck bringen konnte. »Er bleibt schon mal weg, oder? Vielleicht hat er woanders gepennt.«

»Wir hatten Streit«, sagte Susan. »Vor dem Klub. Er hätte angerufen. Um es wiedergutzumachen.« Sie sah Archie bedeutungsvoll an. »Verlass dich drauf«, sagte sie.

Archie sah auf die Uhr. Es war noch nicht einmal zehn. So wie Leo gestern Abend getrunken hatte, war er wahrscheinlich verkatert. »Lass ihm noch Zeit«, sagte er ebenso sehr zu sich selbst wie zu Susan.

Susan drehte eine schwarze Haarsträhne in den Fingern. »Ich habe ein ungutes Gefühl«, sagte sie. Sie senkte kurz den Blick. »Hat er etwas gesagt?«, fragte sie. Sie sah wieder auf. »Über mich, meine ich?«

Archie bemühte sich, die Situation zu erfassen. Niemand hatte ihm je vorgeworfen, besonders gewitzt in puncto Beziehungen zu sein, aber langsam dämmerte ihm, dass er alles missverstanden hatte. Susan befürchtete nicht, dass Leo tot sein könnte. »Du hast Angst, dass er mit dir Schluss machen will«, sagte Archie langsam.

»Er ist immer so geistesabwesend«, sagte Susan. »Irgendetwas ist los mit ihm, oder? Ich mache mir Sorgen um ihn. Ich weiß, er arbeitet für die DE…«

»Pst!«, sagte Archie und hob die Hand. Er blickte in Richtung Schlafzimmer. Die Schlafzimmertür war offen. Er hörte keine Bewegung. Rachel schlief wahrscheinlich noch.

Susan runzelte die Stirn. »Was ist?«, sagte sie und spähte zum hinteren Teil des Lofts. »Ist Henry hier?«

»Nein.«

»Wer ist es dann?«

Archie kratzte sich am Hals. »Ich habe einen Gast.«

Sie sah ihn an und begriff es immer noch nicht.

»Einen weiblichen Gast«, sagte er.

Susan riss beunruhigt die Augen auf. »Die Stripperin?«

»Nein«, sagte Archie fassungslos.

Susan machte einen winzigen Schritt rückwärts. »Du bist mit jemandem zusammen?«, fragte sie. Er sah, wie sie sich bemühte, ihr Leid zu verbergen. »Wie lange schon?«

»Nicht lange«, sagte Archie. »Wann hast du Leo zuletzt gesehen?«

»Du hast gesagt, du willst mit niemandem zusammen sein.«

Sie wussten beide, was Susan meinte. Er hatte gesagt, er wolle nicht mit ihr zusammen sein. Bei Rachel war es etwas anderes. Er hätte nicht mit Susan schlafen und nichts empfinden können. Rachel dagegen wollte nichts von ihm. Zumindest nicht auf einer emotionalen Ebene.

Er überlegte noch, wie er das alles erklären sollte, als Rachel in den Raum geschlendert kam. Sie trug das schwarze ärmellose Kleid und die Sandalen, in denen sie spät in der Nacht noch heraufgekommen war, und selbst ungeduscht und ohne Make-up sah sie umwerfend aus. In diesem Moment wünschte Archie, sie wäre hässlich. Rachel war Susans körperliches Gegenteil. Selbst Archie fiel das jetzt erst auf, da sich beide im selben Raum befanden. Wo Susan blass und sommersprossig war, war Rachels Haut von einer soliden goldenen Bräune. Wo Susans Figur knabenhaft war, hatte Rachel Kurven. Rachel war blond. Susan war … was sie eben gerade für eine Farbe gewählt hatte. Rachels Schönheit war offensichtlich. Susans war exotisch.

Um alles noch schlimmer zu machen, war Rachel zwei Jahre jünger als Susan. Da Archie den Altersunterschied zwischen ihnen als eine der Ausreden angeführt hatte, warum er nicht mit ihr zusammen sein konnte, wirkte er jetzt umso mehr wie ein Schuft.

Archie suchte hilflos nach Worten. Susan stand reglos da und starrte Rachel an. Ihre Kaffeetasse war bedenklich nach vorn gekippt.

Rachel wirkte ebenso überrascht, Susan zu sehen, wie umgekehrt. »Hi«, sagte sie.

Ginger blickte zwischen den beiden Frauen hin und her.

Archie hob eine Hand zum Kopf.

»Ich muss gehen«, sagte Susan rasch.

»Susan, warte«, sagte Archie. Er lief ihr nach, und sie blieb an der Tür stehen und drehte sich zu ihm um.

»Schon gut«, sagte sie. »Du musst nichts erklären. Du bist ein erwachsener Mensch.«

Archie ohrfeigte sich im Geiste, weil er sie hereingelassen hatte. Aber das ließ sich nicht mehr rückgängig machen. »Ich schau mal, ob ich herausfinde, wo unser Freund steckt«, sagte er. Unser Freund. Er hatte Leos Namen vor Rachel nicht aussprechen wollen, aber es kam wie eine grässliche Plattitüde daher.

Er hätte Susan gern gesagt, dass sie nicht der Grund war, warum Leo »geistesabwesend« war. Er hätte ihr gern gesagt, dass er für Leos Sicherheit sorgen würde und dass irgendwer irgendwo auf ihn aufpasste. Archie hätte es ihr gern gesagt, aber wiederum durfte er es nicht.

Susans Augen waren grün und hart. Sie gab ihm ihre Tasse. Sie hatte einen roten Lippenstiftring auf dem Rand. »Danke für den Kaffee«, sagte sie.

Sie ging, und Archie kehrte ins Wohnzimmer zurück und setzte sich in einen Sessel. Er stellte die Tasse mit dem Lippenstift auf die Zeitung, die auf dem Kaffeetischchen lag, und betrachtete sie.

Ginger war vor der Tür niedergesunken, durch die Susan eben verschwunden war, und sah Archie vorwurfsvoll an. Archie rief sie, aber sie weigerte sich zu kommen.

»Tut mir leid«, sagte Rachel.

»Schon gut«, erwiderte Archie. »Es ist kompliziert.« Er bot keine weitere Erklärung an. Er sprach mit Rachel nicht über Susan und auch nicht über Henry oder seine Arbeit. Sie sprachen eigentlich über gar nichts. Sie war urplötzlich in sein Leben gekommen, als sie mitten in der Nacht in der Wohnung unter ihm eingezogen war. Das wenige, was er von ihr wusste, war voller Ungereimtheiten. Es faszinierte ihn. Aber erst jetzt, in diesem Augenblick, erkannte er, dass es genau das war, was ihn zu ihr hinzog: Er konnte mit ihr schlafen, weil er ihr nicht trauen konnte.

»Ich muss in einen Kurs«, sagte Rachel. »Aber wir sehen uns heute Abend.«

»Okay«, sagte Archie. Er war froh, dass sie gehen musste, aber er bemühte sich, es nicht zu zeigen. Er dachte bereits darüber nach, wie er Leo aufspüren könnte.

Rachel schien zu spüren, dass er nicht bei der Sache war, sie beugte sich vor, legte ihre Hand auf seine Brust und küsste ihn auf den Mund. Als sich ihre warmen Lippen trafen, ließ sie ihre Hand in seinen Bademantel zu dem empfindlichen Narbengewebe über seinem Herzen gleiten. Sie grub die Fingernägel in die zarte Haut, und Archie stockte der Atem.

Als sie schließlich aufstand, atmeten sie beide schwer.

Rachel wischte sich den Speichel aus den Mundwinkeln. »Hast du einen besonderen Wunsch zu deinem Geburtstag?«, fragte sie.

Die Narbe auf Archies Brust brannte, und er spürte ein erwartungsvolles Kribbeln in der Leiste. Er lächelte. »Weißt du, wie ein Lapdance geht?«, fragte er.

6

Was normale Geheimtreffen anging, war die Eastbank Esplanade so gut geeignet wie jeder andere Ort. Archie stand mit dem Gesicht zum Fluss und sah auf das Westufer hinüber, wo die Skyline von Portlands Innenstadt hübsch über dem Tom McCall Waterfront Park aufragte. Das Pflaster unter seinen Füßen war neu. Die einzigen Spuren der Flut, die das Stadtzentrum im vergangenen Winter verwüstet hatte, waren einige dürre Setzlinge und eine Plakette, auf der die Stadt den Touristen alles erklärte.

Auf der anderen Flussseite betrieben auf der grünen Westside Esplanade Massen von aktiven Portlandbewohnern jeden nur erdenklichen Sport von Rollschuhlaufen bis Einradfahren. Es war Mittagszeit, und die Bänke zum Fluss hin waren wie üblich mit Leuten besetzt, die ihre vegetarischen Quinoa-Schalen aßen, mit herumlungernden Teenagern und Geisteskranken, die Möwen fütterten. Kinder spielten in den Brunnen. Kanadagänse sonnten sich im Park. Der Oktober war alles, was Portland vom Herbst zu sehen bekam – ein Monat mit klarem, hohem Himmel, Laub, das sich soeben zu verfärben begann, eine frische Kühle in der Luft. Bis November waren dann alle Brunnen abgestellt und alle Blätter von den Bäumen gefallen, und am Himmel hingen tiefe graue Wolken bis Mitte Juli.