Tour de Mord - Yvonne Asmussen - E-Book

Tour de Mord E-Book

Yvonne Asmussen

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Beschreibung

Eine kriminelle Reise durch die Alpen Grüne Täler, imposante Gipfel, malerisch gelegene Dörfer – ist es denn möglich, dass vor einer solch herrlichen Kulisse blutrünstige Verbrechen geschehen? In diesem Kurzgeschichten-Band wird schnell klar: Die Alpenidylle trügt. 25 Krimi-Autorinnen aus Deutschland, Österreich und Südtirol laden Sie zu einer »Tour de Mord« ein. Besuchen Sie mit den Heimatkrimis der »Mörderischen Schwestern« die schönsten Orte von Bayern bis Tirol und Vorarlberg, vom Allgäu über die Schweiz bis nach Südtirol. Die Kurzkrimis von Heidi Troi, Fenna Williams, Carola Christiansen, Mareike Fröhlich, Deborah Emrath und 20 weiteren Autorinnen garantieren mörderisches Lesevergnügen! - Krimi-Anthologie zum 25-jährigen Jubiläum des Vereins »Mörderische Schwestern« - Von Tatort zu Tatort: In diesen Kriminalgeschichten trifft Spannung auf beste Unterhaltung Mit den »Mörderischen Schwestern« auf Krimi-Tour Das Netzwerk »Mörderische Schwestern e.V.« besteht aus über 600 Krimiautorinnen, Buchbranchenprofis und Leserinnen, die sich für ein gemeinsames Ziel einsetzen – die Förderung von Frauen in der deutschsprachigen Spannungsliteratur- und Kulturszene. In diesem Regionalkrimi der besonderen Art führt Sie die Fahrt quer durch die Alpenregion – nach St. Moritz, Bozen, Mittenwald und ins Salzkammergut. Doch der Reisebus hat jede Menge kriminelle Energie im Gepäck: Sei es ein tödliches Käsefondue, eine Alpenüberquerung auf alten Schmugglerwegen oder eine Hochzeit auf der Karwendelspitze – mit der Beschaulichkeit ist es schnell vorbei. Ein abgründig-schöner Lesegenuss für alle Krimi-Freundinnen und -freunde!

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Seitenzahl: 399

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Carola Christiansen,Mareike Fröhlich (Hg.)

TOUR DE MORD

25 kriminelle Kurzgeschichtenim Alpenraum

Diese Geschichten sind frei erfunden. Tatsächlich existierende Personen und Firmen wurden verändert und/oder von den Autorinnen ausgedacht, Geschehnisse anderen und/oder fiktiven Personen zugeordnet. Verbleibende Übereinstimmungen mit etwaigen realen Personen wären somit rein zufällig und sind nicht gewollt.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autorinnen bzw.

Herausgeberinnen und des Verlages ist ausgeschlossen.

Das Copyright der Geschichten, soweit nicht anders angegeben, liegt bei den jeweiligen Autorinnen.

Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung.

1. Auflage 2021

Copyright © Deutsche Erstausgabe 2021 Servus Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Palatino, Courier, Bauer Bodoni

Umschlaggestaltung: b3K design, Andrea Schneider, diceindustries

Umschlagmotiv: © KEYSTONE

ISBN 978-3-7104-0303-3eISBN 978-3-7104-5060-0

INHALT

Vorwort

Heidi Möhker

Über allen Gipfeln ist Ruh

Susanne Brügmann

Rache ist süß

Heidi Troi

Gipfelglück

Mareike Fröhlich

Vom Lieben und Leiden

Katharina Eigner

Stirb, wenn du kannst

Carola Christiansen

Ein Fall unter Freunden

Andrea Hessler

Blauer Tod

Yvonne Asmussen

Der Stammtisch

Fenna Williams

Geduld und Spucke

Andrea Z. Rhein

Tour de Tell

Ulrike Bliefert

Davos schön ist

Ashley Wood

Bündnerfleischmord

Thea Lehmann

Gletschertraum

Regina Schleheck

Blattschuss

Laura Gambrinus

Fährten und Gefährten

Ilona Schmidt

Der Mörderhirsch

Cornelia Härtl

Der letzte Grappa

Anette Schwohl

Zu doof, um aus dem Bus zu steigen

Barbara Steuten

Eine gesalzene Rechnung

Deborah Emrath

Wer schön sein will, muss leiden

Jennifer B. Wind

Die Einsamkeit der Schuldlosen

Christine Neumeyer

Jagdhaus mit schwarzem Rucksack

Petra K. Gungl

Schnitzler Jagd

Sybille Baecker

Hohe Berge, tiefe Täler

Regina Ramstetter

Kein Hühnchen ohne Federn

Die Autorinnen

Danksagung

VORWORT

Liebe Leserinnen und Leser,

diese Anthologie widmen wir den Mörderischen Schwestern zu ihrem 25-jährigen Bestehen.

Das Netzwerk Mörderische Schwestern e.V. besteht aus über 625 Krimiautorinnen, Buchbranchenprofis und Leserinnen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die sich für ein gemeinsames Ziel einsetzen – die Förderung von Frauen in der deutschsprachigen Spannungsliteratur und Kulturszene.www.moerderische-schwestern.eu

Alle Autorinnen in diesem Buch sind Mörderische Schwestern, die sich in besonderem Maße für den Verein einsetzen oder eingesetzt haben. Ob als Präsidentin, Vizepräsidentin, Schatzmeisterin, Vereinssekretärin, Pressereferentin, Jurysekretärin oder an einer anderen wichtigen Stelle.

Wir wünschen Ihnen und euch mörderisch gute Unterhaltung auf dieser kriminellen Reise durch die Alpen.

Heidi Möhker

ÜBER ALLEN GIPFELN IST RUH

Garmisch-Partenkirchen, Oberbayern

Das Wasser der Partnach donnert die Klamm hinab. Gischt stiebt auf und nebelt alles ein. Alles. Den in den Fels gehauenen Weg, die schmale Eisenbrücke, Maximiliane, die erstarrt unterhalb des Weges an den Fels geduckt hockt, und Ottokar.

Still ist es mit einem Mal. Nicht mucksmäuschenstill. Nicht geräuschlos still. Aber menschenstill. Nur die Partnach tost weiter unter Maximiliane über die Felsen. Unbeeindruckt von den Schemen, die den Weg heraufkommen.

Das Jahr strengte alle an. Jeden belastete die Corona-Pandemie. Eingesperrt in den eigenen vier Wänden. Mit Homeoffice, Kurzarbeit und Digitalunterricht.

Maximiliane mochte ihr Zuhause. Ein Buch, ein Glas Rotwein und ihren Lesesessel. Mehr brauchte sie nicht. Außer Ruhe.

Im Homeoffice beim Lektorieren von Gebrauchsanweisungen für Badewannenlifte, Ultraschall-Prothesenreiniger oder sonstigem Sanitärartikelbedarf. Sie war nicht in Kurzarbeit wie Herr Krause zwei Häuser weiter. Hatte keine Betreuungssorgen für die Kleinen wie Frau Weber von gegenüber. Kein Homeschooling von Teenagern wie bei Gladbecks im Haus rechts.

Maximiliane hatte nur das rhythmische Quietschen der Trampolinfedern aus Webers Garten. Die Bässe der Technomusik von rechts und das Bohren und Hämmern von Krauses, wo der Herr offenbar das Haus von Grund auf neu baute.

Maximiliane zog mit zu lektorierendem Manuskript und Kaffeetasse von einem Zimmer ins nächste. Hinten raus schwadronierten die Nachbarinnen über Inzidenzzahlen. Vorne raus hatte sich die verkehrsberuhigte Straße als Rollschuhbahn und Gummitwist-Zentrale etabliert.

Die Berge, Gletscher und Schluchten stört all das nicht. Im Gegenteil, gerade durch die verordneten Beschränkungen und Mindestabstandsregeln lassen sie die Menschen – und besonders Maximiliane – noch kleiner und unscheinbarer erscheinen. Stellen ihre schroffen Felsen, donnernden Wasser und glitzernden Eiskristalle noch stärker heraus. Sieh her, du Mensch, uns macht es nichts, so ein winziges Virus. Wie erbärmlich bist du, dass du es fürchtest. Maximiliane fürchtet das Virus nicht. Sie fürchtet die Stille, die es mit sich gebracht hat. Die Stille und die Menschen, die sie mit Lärm füllen, um sie nicht spüren zu müssen.

»Ich weiß gar nicht, was du hast.« Ottokar Meierbier handhabte den Kaffeelöffel, als wollte er damit das Leben des Bechers beenden. »So eine ruhige Wohnlage und sogar mit Bahnanschluss.« Er räusperte sich und schlug am Becherrand die Kaffeetropfen vom Löffel. Beim Zurechtruckeln des Stuhls knirschte der Kies der Terrasse unter seinen Schuhen. Seine Hand schrubbte über die Bartstoppeln.

Maximiliane schloss die Augen, denn die Ohren schließen konnte sie nicht. »Hier … ist … es … nicht … ruhig.« Ganz langsam sagte sie das. Ein Knall und scheppernde Mülltonnen unterstrichen ihre Worte. Ein Teenager-Kopf lugte von rechts um die Ecke, eine Hand zeigte zum Stillleben aus zerstreutem Müll. »Mein Ball!«

Dazu kreischende Fahrradbremsen von der Straße, untermalt von Frau Webers ›Wer hat hier den Roller liegen lassen?‹, das sich in der Lautstärke kaum gegen das Gebell von Krauses corona-neuem Terrier oder den ansetzenden Schuldzuweisungen ihrer Kinder durchsetzen konnte.

Ottokar ließ den Kaffee stehen, um den Ball aufzuheben. Im Vorbeigehen legte er Maximiliane die Hand auf die Schulter.

»Nun ja, vielleicht ziehst du erst einmal bei mir ein. Dann suchen wir uns etwas wirklich Ruhiges.« So weit war der Stand dessen, was Ottokar eine Beziehung nannte. Drei Treffen nach fünf Mails über dieses Datingportal.

Vor neun Monaten hatte Maximiliane noch gehofft, eine Lösung gefunden zu haben. Ihr Alleinsein hallte so laut durch das Haus. Jedes weitere Geräusch war eines zu viel.

Die Gischt bildet bereits Tropfen auf ihrem Gesicht. Die Septembersonne, die dort oben irgendwo am Himmel steht, findet keinen Zugang in die engen Felswände der Klamm. Die Feuchtigkeit keinen Weg nach draußen. Wie weißes Rauschen steht das Tosen der Wassermassen zwischen den Felsufern und macht Maximiliane ganz ruhig. So ruhig, wie sie es so lange ersehnt hat.

Die Busreise war doch eine gute Idee. Als Reiseziel ihrer Flitterwochen hatte Ottokar die Alpen präsentiert. Eine Woche, nachdem sie mit leichtem Handgepäck in sein Appartement gezogen war. Das gemeinsame Haus würde in der Zeit, in der sie zusammen auf Reisen waren, fertig werden und die Umzugsfirma sollte all ihre Möbel in das neue Domizil bringen. Es war eine solche Erleichterung für Maximiliane, sich in all dem Lärm nicht mehr um diese Dinge kümmern zu müssen. Hochzeitsplanung, Hausverkauf und Neubau, Umzug und sogar Flitterwochen, alles nahm ihr neuer Lebenspartner von Maximilianes zarten Schultern. Sie wusste schon gar nicht mehr, wie sie vorher hatte allein zurechtkommen können. Da sah sie darüber hinweg, dass sie die Berge eigentlich hasste. Bergauf, bergab, Steine und Felsen. Höhenluft und kalte Schluchten. Wenn früher einmal vage der Gedanke an ›Flitterwochen‹ in ihrem Kopf aufgetaucht war, dann hatte sie Bilder von Venedig vor Augen gehabt – wenn es denn schon Europa sein musste.

»Die Pandemie«, hatte Ottokar gesagt und sie gebeten, die Anzahlung zu übernehmen. Dazu gab er ihr den ersten Kuss, auf die Wange, ganz nah am Ohr, wo er dann noch leise rezitierte: »Über allen Gipfeln ist Ruh … ich weiß doch, was mein Liebchen am meisten ersehnt.«

So gut kannte er sie schon. So viel besser als sie sich selbst.

Der Fels sticht grob in Maximilianes Rücken. Die Berge hassen zurück. Das weiß sie inzwischen mit Gewissheit. Trotzdem presst sie sich an das Gestein, krallt ihre Finger hinein und sucht Halt für ihre Füße. Man darf den Weg nicht verlassen. Sie weiß das.

Eigentlich hatte sie im Bus bleiben wollen. Warm war es darin. Trocken und, wenn die anderen Passagiere heraus waren, auch still. Aber Ottokars Enttäuschung war so groß, Maximiliane musste ihrem Ehemann diesen Wunsch einfach erfüllen.

Dabei … gestern erst waren sie auf der Zugspitze gewesen.

»Mein Liebchen.« Wieder war Ottokars Mund ihrem Ohr ganz nahegekommen – mit warmem Atem und Spucketröpfchen. »Lass uns dem Lärm der Stadt entfliehen, dem Geschnatter der anderen Reisenden. Auf dem Schneeferner. Der Schnee auf dem Gletscher schluckt alle Geräusche. Und eine Aussicht ist dort. Vierhundert Gipfel. Der höchste Punkt der Republik. So eine Aussicht …«

… auf Nebel. Auf den Schautafeln wurde ihnen angezeigt, was sie bei schönem Wetter gesehen hätten. Die Alpspitze, den Großglockner, München … Der Nebel war so dicht, dass man gerade die Schilder lesen konnte. Dafür schluckte er aber auch die übrigen Menschen.

Fast hätte Maximiliane annehmen können, sie wäre allein. Nur Ottokar stand so dicht bei ihr. Viel zu dicht. Sie schämte sich beinahe. So schön war es, verliebt zu sein dank des Datingportals. Verlobt und gleich verheiratet war sie. So schnell war das gegangen. Das alles. Manchmal, Maximiliane hatte es sich nur ungern auf dem Autobahnrastplatz hinter Frankfurt eingestanden, manchmal ging ihr der Bräutigam schon auf die Nerven – als wären sie bereits ein Jahrhundert zusammen. Krachend konnte er neben ihr in den Apfel beißen. Rachenlaute, die Männer nun mal beim Schlafen verursachten, durchdrangen die Entspannungsmusik aus ihren Kopfhörern. Und Worte, Worte häufte Ottokar an wie die Partnachklamm Gischttropfen. Er lud sie auf Maximiliane ab. Die leise gezischelten, die euphorisch gebrüllten, die dozierend betonten Worte. Angefüllt mit cks und krks und schts und zzztzt. Die stachen und knallten, donnerten oder sägten. Sie zerrissen die Luft und zerfetzten sie, ebenso Maximilianes Nerven. Und die Sehnsucht nach Stille kam nicht mehr allein von den Geräuschen der Pandemie.

Maximiliane atmet im Tosen der Klamm die Stille dahinter wie die Wassertröpfchen. Und in dieser Stille hört sie endlich ihre eigenen Gedanken wieder. Unter Ottokars Worthülsen waren sie verschüttet.

Im Zugspitznebel gestern, als nur die Gletscherkruste unter den Wanderschuhen knirschte, da schrak sie vor ihren eigenen Gedanken zusammen.

Wenn er doch still wäre, dachte sie. Beunruhigend aber waren die Bilder hinter den Worten. Richtige Bilder, keine schraffierten Skizzen wie auf den sanitären Gebrauchsanweisungen. Bilder in Farbe und lebensecht. Wenn sie nur leicht, ganz aus Versehen quasi … ein kleiner Schubs … niemand würde das vermuten. Man las doch immer wieder, dass jemand in so einen Gletscherspalt stürzte. Und dieser Bergschrund war im Nebel ganz verborgen.

Dann war Ottokar gegen sie gestrauchelt. Viel hätte da nicht gefehlt. Was, wenn sie, statt ihm Halt zu geben, beiseitegetreten wäre? Zumindest hätte es Maximiliane die blauen Flecken erspart. Durch den Schwung, mit dem Ottokar auf sie prallte, waren sie trotz ihrer Ablenkung von der Spalte den Zugspitzgletscher auf dem Rücken hinuntergerutscht, bis sie bei den ersten Felsen zum Halten kamen. Mit dem Steiß voran. Sehr schmerzhaft. In dem Moment hatte sie tatsächlich sehr anschauliche Bilder davon gehabt, wie dieser Mann vorzeitig aus dem Leben scheiden könnte. Wo sie doch das feine Hochzeitsgeschenk von ihrem Gatten bekommen hatte. Eine Lebensversicherung auf Gegenseitigkeit. So romantisch, hatte er gemeint. Sein Leben für das ihre und andersherum, aber statistisch wäre es ja immer die Gattin, die übrigbliebe.

Der Gedanke durchdringt das Tosen. Wem nutzt die Statistik in der Not? Maximiliane hebt das Gesicht und sucht im Nebel nach dem Geländer. Über ihr ist es irgendwo eingehüllt von der Gischt. Über ihr und dahinter der Weg. Schmal und in den Fels gehauen, aber sicher. Sicher? Sie schaut wieder hinunter zu diesem Gebirgsbach.

Fast noch rutschend über das Eis des Zugspitzgletschers hatte Ottokar schon wieder doziert. Über die Schmelzwasser des Gletschers, die versickern würden in der verkarsteten Hochfläche – also dort, wo sie sich den Steiß geschrammt hatten beim abrupten Ende ihrer unfreiwilligen Schussfahrt. Im Reintal würden sie wieder austreten und dorthin würde ihr Bus morgen weiterfahren. Zur Partnach, die von diesem Gletscher gespeist wird. Ja, das war gestern gewesen.

Beinahe andächtig blieb Maximiliane in der Mitte der Klamm stehen. Nicht die hiesigen Zwiebeltürme, nicht die barocken Wandmalereien der Garmischer St. Martins Pfarrkirche, nicht die zahllosen Marterln an den Wegrändern hatten so auf sie gewirkt. Das Tosen, das alle anderen Geräusche mit sich fortnimmt. Es ist groß. Ein Geschenk. Die Erfüllung von Maximilianes innerstem Bedürfnis. Nie hätte sie erwartet, es hier zu finden. Wenn sie ehrlich war, hatte sie ob dieser Flitterwochen doch begonnen, an Ottokars Liebe zu zweifeln – trotz all des feuchten Atems an ihrem Ohr, ihres zukünftigen Heims, von dem sie bisher nur Rechnungsbelege zur Zahlungsanweisung gesehen hat. All die Worte, mit denen Ottokar so laut beteuerte, dass er sie liebe. Leere Gesten waren sie. Aber das hier, das war der Beweis. Wer Maximiliane trotz all ihres Unwillens hierherbrachte und ihr diese Offenbarung bescherte, musste sie einfach lieben. Auch wenn es Ottokar war.

Erfüllt vom Tosen und der Liebe hatte Maximiliane sich umgedreht. So sehr war sie mit ihrem inneren Aufruhr beschäftigt gewesen, dass sie Welt und Weg um sich herum nicht mehr wahrgenommen hatte. Der Nebel hatte noch dazu beigetragen. Der Rest der Reisegruppe war verschwunden, verschluckt von weißer Gischt. Auch die Eisenbrücke, die sie gerade noch gequert hatten, war nicht mehr zu sehen. Nur Ottokar, Maximiliane und die Partnach. Beinahe war der Moment vollkommen. Wenn der Moment ein Moment geblieben wäre. Getrennt von all dem Vorher und Nachher.

Nur Ottokar, seine Arme, Maximiliane. Worte, die in der Luft hingen.

»Ueber allen Gipfeln

Ist Ruh,

In allen Wipfeln

Spürest Du

Kaum einen Hauch;

Die Vögelein schweigen im Walde.

Warte nur! Balde

Ruhest du auch.«

Aber es waren nicht Ottokars Worte. Gestohlen hatte er sie. Vom großen Goethe. Maximiliane wusste es. Mit einem Mal hatten die Dinge einen neuen Sinn ergeben, einen, der nicht passte zu dieser Vollkommenheit. Vorgegaukelt hatte er die Worte. So wie er alles andere nur vorgaukelt hatte. Wie hinter einer Maske, die nicht nur Mund und Nase bedeckt. Gelüftet hatte er sie, die Maske. Mit diesen Worten. Mit der Bewegung, die ihnen folgte. Mit seinen Händen, die sie hart auf der Brust trafen. Sie über das Geländer schoben. Das war der Moment, in dem sie es verstanden hatte. Seine Absicht. Böse.

Es ging schnell. Ein Moment nur. So schnell. Ihre Gedanken versuchten, zu folgen. Mühten sich, einen Plan zu fassen. Einen eigenen. Und wenn keinen Plan, dann doch irgendetwas anderes. Seinen Arm hatte sie gepackt. Mit ihren Fingern hatte sie sich in den Stoff von Ottokars Jacke gekrallt.

Sie hatte ihn mit sich gezerrt. Fort von der sicheren Seite des Weges, hinüber auf die wilde Seite der Klamm. Seinen Mund hatte Ottokar aufgerissen. Maximiliane vermutete, dass dort wieder feuchter Atem, gefüllt mit Worten, herausgekommen war. Doch das weiße Tosen des in der verkarsteten Hochfläche versickerten Schmelzwassers vom Schneeferner-Gletscher hatte alles mitgenommen. Worte und Ottokar.

Maximiliane hatte sich am Geländer, am Fels, irgendwo halten können.

Kauert nun da, ungeliebt vom Berg, der sie in den Rücken sticht.

Über ihr der Weg. Schatten, die sich immer schneller aus dem Nebel schälen. Die Ahnung von Rufen, die weiterhin ertrinken im Rauschen des Gebirgsbachs. Drängender werden sie. Fordernd. Anklagend?

Vage hat Maximiliane eine Vorstellung, wie es weitergehen könnte, das Leben. Menschen, die durcheinander sprechen würden. Fragen stellen. Viele Fragen, ihr kaum Raum lassend für Antworten. Sirenen. Rettungshubschrauber. Wenn sie die Hand zum Geländer ausstrecken würde. Sie spürt die Felsspitzen im Rücken, sieht, wie Steinchen unter ihren Schuhen wegbröckeln. Sie müsste nur die Hand zum Geländer strecken. Ein klein wenig den Arm recken. Fort von der Ruhe hinter dem Tosen, die ihr hier geschenkt worden ist. Geschenkt von Ottokar, ihrem Gatten. Noch kann sie ihm folgen.

Susanne Brügmann

RACHE IST SÜSS

Seefeld, Tirol

Die Sonne ging gerade unter, als der Fernreisebus am Bahnhof in Seefeld seine Türen öffnete und die wenigen Fahrgäste ausstiegen. Ihre Strahlen tauchten die Spitzen der umliegenden Tiroler Berge in ein knalliges Orange. Während die anderen Reisenden sich gegenseitig auf die Schönheit dieses Naturschauspiels aufmerksam machten, hatte Sonja Heilmann keinen Blick dafür. Sie war morgens Punkt sechs Uhr bei strömendem Regen in Hamburg in den Bus gestiegen und nach fast neunhundert Kilometern Strecke war sie nur noch daran interessiert, das Ziel ihrer Reise zu erreichen.

Sie nahm ihren kleinen Koffer von der Busfahrerin in Empfang und zog ihr Smartphone aus der Tasche. Während der Fahrt hatte sie bereits die Adresse der Pension Sonnenhof in die Navi-App eingegeben und brauchte jetzt nur noch den Hinweisen zu folgen. Diese führten sie durch eine einladende Fußgängerzone mit Boutiquen, Restaurants und Wirtshäusern. Es duftete verführerisch nach Essen und die vielen Menschen, denen Sonja immer wieder ausweichen musste, strebten augenscheinlich dem Abendbrot zu.

Wenig später erreichte sie den Sonnenhof. Ein traditionell im Stil der alten Tiroler Bauernhäuser gebautes Haus, das von einem großen Garten umgeben war. Das üppige Grün färbte sich hier und da bereits gelb.

Etwas außer Atem stieß Sonja die mit Schnitzereien verzierte Eingangstür auf. Hinter dem Empfangstresen stand eine Frau im festlichen Dirndl. Ihr rot gefärbtes Haar biss sich mit dem Pink ihres Kleides. Als sie Sonja bemerkte, sagte sie: »Grüß Gott. Sind Sie ein Hochzeitsgast? Wir haben nämlich heute und morgen nur geladene Gäste hier.«

Sonja nickte. »Ja, ich habe eine Einladung.« Sie kramte den Umschlag aus ihrer Handtasche und reichte ihn über den Tresen. »Hier ist sie.«

»Ah, Sie sind die Sonja, willkommen«, sagte die Frau und streckte ihr die Hand entgegen. »Wir freuen uns, dass Sie da sind. Der Jochen hat ja sonst niemanden aus seiner alten Heimat eingeladen.«

Sonja spürte ihr Herz klopfen, als sie Jochens Namen hörte. Sie holte tief Luft, bevor sie fragte: »Sind Sie die Braut?«

Die Frau im Dirndl bekam zuerst runde Augen, dann lachte sie schallend. »Nein, ich bin die Steffi Brunner, die Schwiegermama. Meine Tochter Alina ist die Braut.«

Sie lachte immer noch, während sie einen Zimmerschlüssel vom Brett nahm und ihn Sonja in die Hand drückte. »Gehen Sie in den ersten Stock. Zimmer Nummer 3 ist gleich links.«

Bevor Sonja sich zur Treppe wenden konnte, hielt Steffi sie zurück. »Machen Sie sich ein bisserl frisch. In einer halben Stunde geht die Feierei los. Ich hole Sie dann ab, damit Sie hinfinden in unseren Partykeller.«

Im Zimmer roch es muffig. Sonja warf ihre Handtasche auf den kleinen Schreibtisch und öffnete erst mal das Fenster, bevor sie sich umsah. Das Mobiliar war abgenutzt und die ehemals weiße Raufasertapete hatte einen schmutziggrauen Farbton angenommen. Genau wie die Gardinen. Auch die winzige Nasszelle bedurfte dringend einer Renovierung, wie Sonja nach einem kurzen Blick feststellte. Das alles hob nicht gerade ihre Stimmung.

Und dafür hat er nun das schöne Leben an meiner Seite aufgegeben, dieser Mistkerl, dachte sie und ließ sich auf das Bett fallen. Doch sofort kam sie wieder hoch. Na klar, die Matratze war durchgelegen. Aber das konnte sie auch nicht mehr schocken. »Macht nichts«, sagte sie laut zu ihrem Abbild, das ihr aus dem mannshohen Spiegel entgegenblickte. »Für eine Nacht wird’s gehen.«

Erst jetzt bemerkte sie die Einladung, die sie immer noch in der Hand hielt. Als sie vor vier Wochen diesen Umschlag aus ihrem Briefkasten gefischt und die Handschrift erkannt hatte, wäre ihr Herz beinahe stehen geblieben. Stundenlang hatte sie den Brief angestarrt. Es war ein großes Glas Gin nötig gewesen, bevor sie sich mutig genug gefühlt hatte, den Umschlag zu öffnen. Was sie dann hatte lesen müssen, brachte den Schmerz und die Wut, die sie so viele Monate tief in sich vergraben hatte, wieder an die Oberfläche. Dieser Mann, der ihr so wehgetan, der ihre Zukunft zerstört hatte, hatte es tatsächlich gewagt, sie zu seiner Hochzeit einzuladen!

Lange Zeit hatte Sonja sich nicht beruhigen, nicht klar denken können. Der Kummer hatte wie ein Orkan in ihr gewütet. Doch jeder Sturm ebbt irgendwann ab oder zieht weiter. In der Ruhe, die sich danach in Sonja ausgebreitet hatte, hatte sie den Entschluss gefasst, die Einladung anzunehmen. Eine bessere Gelegenheit, es ihm heimzuzahlen, würde sie nicht bekommen. Langsam war in ihr ein Plan herangereift, und nun war sie hier, um ihn in die Tat umzusetzen.

Sonja war gerade dabei, ihre Sachen auszupacken und die mitgebrachten Kleider auf Bügel zu hängen, als es an der Tür klopfte. Missmutig sah sie auf die Uhr. War die halbe Stunde schon vorbei? Sie war noch gar nicht umgezogen. Erst als es zum zweiten Mal klopfte, öffnete sie, und plötzlich schlug ihr Herz wie wild. Vor ihr stand nicht Steffi, sondern Jochen. Er trug eine Trachtenjacke und Wildlederhosen, die kurz unter dem Knie endeten. Beides schien etwas zu klein geraten zu sein. Dieser Aufzug half Sonja, ihre Aufregung zu besänftigen. Ein tätowierter norddeutscher Seebär in einem zu engen Tiroler Trachtenanzug. Ein spöttisches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Das Wiedersehen hatte sie sich schwieriger vorgestellt.

»Du?«

»Darf ich hereinkommen?«, fragte er.

Sonja zögerte. »Ich weiß nicht. Ich wollte mich gerade für den Polterabend umziehen.«

»Ach, das kann warten.« Jochen machte eine wegwerfende Handbewegung. »Alina ist sowieso noch nicht fertig und ich muss unbedingt vorher mit dir sprechen.«

Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern schob sich an ihr vorbei in das Zimmer. Sonja schloss die Tür hinter ihm.

»Was willst du mir denn sagen?«, fragte sie und ihre Stimme zitterte ein wenig.

Jochen musterte sie. »Gut siehst du aus«, bemerkte er, statt eine Antwort zu geben.

»Hör auf damit«, zischte Sonja kurz angebunden, aber so ruhig sie konnte. »Du hast mich bestimmt nicht zu deiner Hochzeit eingeladen, um mir Komplimente zu machen.« Irgendwo tief in ihr lauerte die Wut und wartete darauf, auszubrechen. Jetzt nicht die Nerven verlieren.

»Nein, natürlich nicht.« Jochen räusperte sich. »Es ist … ich freue mich, dass du gekommen bist. Trotz allem, was ich verbockt habe.«

»Ach, das ist dir also bewusst«, bemerkte Sonja schnippisch.

»Ja, ist es, und ich möchte mich bei dir entschuldigen. Dir erklären, warum ich ohne ein Wort so plötzlich verschwinden musste.«

Sonja verdrehte die Augen, aber es gelang ihr, zu lächeln.

»Ich will nichts hören. Egal was du mir erzählen wirst, Verständnis oder Mitgefühl kannst du von mir nicht erwarten. Ich bin nur hergekommen, um mit dir abzuschließen.«

Jochen warf ihr einen Blick zu, den sie nicht deuten konnte.

»Ich möchte, dass du es verstehst. Ich erzähle keine Märchen, versprochen.«

»Ach so«, unterbrach sie ihn. Die Wut in ihr ließ sich fast nicht mehr bezähmen. »So einfach ist das. Du erklärst es mir und schon ist alles wieder gut?«

»Du bist verletzt, aber …«

»Verletzt ist gar kein Ausdruck!«, fauchte sie ihn an. »Weißt du, was ich mir für Sorgen gemacht habe? Ich dachte, du wärst tot!« Sonjas Stimme überschlug sich fast. »Erst als ich bemerkt habe, dass du mein Konto geplündert hast, habe ich begriffen, was los ist«, fügte sie hinzu.

Er hob abwehrend die Hände. »Jetzt hör mich doch erst mal an! Bitte!«

»Nein, nein, nein!« Sonja hielt sich die Ohren zu. »Ich will nichts hören.«

Jochen nickte. »Dann nimm wenigstens das.« Er zog einen dicken Umschlag aus seiner Jacke und hielt ihn ihr hin.

»Was ist das?« Sonja nahm die Hände von den Ohren.

»Das ist die Summe, die ich von deinem Konto genommen habe.« Als Sonja nicht reagierte, fügte er hinzu: »Das sind 30.000 Euro. Nimm sie, Sonja, sie gehören dir.«

Da Sonja keine Anstalten machte, den Umschlag zu nehmen, legte er ihn auf das Bett und wandte sich zur Tür.

»Ich muss gehen«, sagte er. »Wir sehen uns ja gleich.«

Doch Sonja hielt ihn zurück. »Und deine Braut?«, fragte sie. »Wie passt sie da hinein?«

»Alina?« Ein Lächeln huschte über Jochens Gesicht. »Die ist mir einfach passiert. Als ich hier ankam, war ich ziemlich fertig. Sie hat sich von Anfang an um mich gekümmert. Sie hat mich richtiggehend bemuttert, und genau das brauchte ich.«

»Du hast mich also nicht ihretwegen verlassen?«

»Nein, hab ich nicht. Da kannte ich Alina doch noch gar nicht.«

Sonja starrte die Tür an, hinter der Jochen verschwunden war. Plötzlich schlug sie sich mit der Hand an die Stirn. Verdammt! Sie stampfte mit dem Fuß auf. Das wäre die Gelegenheit gewesen, ihm ihr Geschenk zu überreichen. Vorsichtig nahm sie die hellblaue Schachtel mit den selbstgemachten Trüffeln aus dem Koffer. Pralinen herzustellen, das war Sonjas große Leidenschaft, und Jochen hatte ihre Trüffel geliebt. Gierig hatte er sich eine nach der anderen in den Mund gesteckt, wenn Sonja am Wochenende ihre Küche in ein Schlachtfeld aus den feinsten Zutaten, die sie finden konnte, verwandelt hatte. Sie musste jedes Mal aufpassen, dass sie auch welche abbekam. Es stimmte eben doch, dass Liebe durch den Magen ging. Jedenfalls bevor Jochen sie verlassen hatte.

Sonja seufzte. Statt ihren Lebensunterhalt mit einem ungeliebten Bürojob bei einer Hamburger Versicherung zu verdienen, wäre sie lieber ihrer inneren Stimme gefolgt und hätte Pralinen gemacht. Das Geld, das Jochen ihr gestohlen hatte, war eigentlich für ihre Selbstständigkeit gedacht gewesen. Aus der Traum. Unwillkürlich fiel ihr Blick auf den Umschlag. Der passte nicht zu ihrem Racheplan. Aber ihre Wut auf Jochen war viel zu groß, um sich darüber jetzt Gedanken zu machen. Er hatte ihr übel mitgespielt und als Dank für seine Niederträchtigkeit würde sie ihm seine geliebten Trüffel schenken. Der Schmerz über sein plötzliches Verschwinden hatte ein Loch in ihr Herz gefressen und dafür würde sie ihn büßen lassen. Sonja strich liebevoll über die Schachtel in ihrer Hand. Diese speziellen Überraschungskugeln waren nicht nur mit feinster Schokolade, Butter, Sahne und Whiskey gemacht, sondern es steckte auch eine ordentliche Portion von etwas ganz anderem in ihnen und davon so viel, dass es reichte, einen erwachsenen Mann ins Jenseits zu befördern.

Wie gut, dass ihr Großvater Apotheker gewesen war und ihr seine handschriftlichen Aufzeichnungen über die Wirkung von Pflanzengiften und den Holzkasten mit dem geheimnisvollen Inhalt hinterlassen hatte. Die Glasfläschchen enthielten pulvrige Substanzen und waren beschriftet mit Worten wie Rizin, Blauer Eisenhut und Digitalis. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis Sonja alles entziffert und zugeordnet hatte. Am Ende wurde es ein Cocktail aus verschiedenen Giften. Sicher ist sicher.

Eigentlich hatte sie die Sachen nur aus sentimentalen Gründen aufbewahrt, denn nie hätte sie geglaubt, das Wissen einmal brauchen zu können. Und doch war es nun so weit. »Danke, Opa«, flüsterte sie.

Ein kurzes Klopfen an der Tür und schon stand Steffi Brunner im Raum. Sonja konnte gerade noch die Pralinenschachtel unter dem Kopfkissen verschwinden lassen. Dabei fiel der Umschlag mit dem Geld vom Bett. Sonja bemerkte es nicht.

»Bist du fertig, Mädel?« Steffi benutzte ganz selbstverständlich das vertrauliche Du und lachte Sonja fröhlich an. »Unten geht's jetzt richtig los.«

»Moment, ich bin gleich so weit«, rief Sonja, schnappte sich das schwarze Kleid mit den Glitzerpunkten und verschwand im Bad.

Fünf Minuten später kam sie wieder heraus, zog sich die mitgebrachten High Heels an und sagte: »So, jetzt bin ich fertig.«

»Fesch schaust du aus«, sagte Steffi anerkennend. »Dann lass uns gehen.«

Noch bevor sie die Treppe ins Untergeschoss erreicht hatten, hörte Sonja Gelächter und Musik. Außerdem roch es nach Gebratenem und mit einem Mal spürte sie, wie hungrig sie war.

»Es gibt ein zünftiges Büfett mit Tiroler Spezialitäten«, sagte Steffi, als hätte sie es ebenfalls bemerkt. »Wir haben eine Speckknödelsuppe, Kasspatzln, Schlutzkrapfen und, und, und. Wenn du was Süßes magst, gibt’s Moosbeernocken und Buchtln, gefüllt mit Marillen.«

Bevor Sonja etwas erwidern konnte, flog die Tür am Ende des Ganges auf und eine Kellnerin mit einem vollen Tablett kam heraus. Sie gab den Blick auf eine ausgelassene Gruppe von fünf jungen Frauen frei, in deren Mitte eine weitere Frau stand und sich bewundern ließ. Sie trug ein Dirndl in Zartrosa mit einer türkisfarbenen Schürze. Das musste die Braut sein. Sonja spürte einen Stich in der Brust, der sich noch verstärkte, als die Frau sich lachend zu ihnen umdrehte. Sie war jung. Verdammt jung und eindeutig schwanger.

In diesem Moment bereute Sonja es, hierhergekommen zu sein, und sie fühlte sich, als würde ein Mühlstein auf ihrem Brustkorb liegen. Sie sah, wie die junge Frau sich an Jochen wandte und leise mit ihm sprach, während sie Sonja nicht aus den Augen ließ. Jochen führte sie zu Sonja.

»Alina, das ist Sonja, eine … ähm … alte Bekannte aus Hamburg«, sagte er. »Sonja, darf ich dir meine Braut Alina vorstellen?«

Sonja rang nach Luft. Jochens Worte trafen sie hart. ›Eine alte Bekannte aus Hamburg‹, hallte es in ihrem Kopf nach. Aber Alina umarmte sie und gab ihr einen Kuss auf beide Wangen.

»Wie schön, dass du zu unserer Hochzeit gekommen bist. Ich weiß gar nichts über Jochens Vergangenheit. Du musst mir alles erzählen.«

»Aber erst trinken wir einen Obstler zur Begrüßung«, mischte sich Steffi ein und rettete Sonja davor, etwas erwidern zu müssen. Sie hielt ihr ein Tablett mit gefüllten Schnapsgläsern hin und Sonja griff dankbar zu.

Später konnte sich Sonja nicht mehr genau erinnern, wie sie den Rest des Abends verbracht hatte. Die Feier ging bis tief in die Nacht und es gab Unmengen Alkohol, so viel wusste sie noch und auch, dass sie kaum geschlafen hatte.

Als es hell wurde, traf Sonja eine Entscheidung. Sie raffte sich auf und stieg aus dem unbequemen Bett. Unter der heißen Dusche fühlte sie sich besser und nachdem sie sich angezogen hatte, begann sie ihren Koffer zu packen.

Währenddessen ratterten die Gedanken in ihrem Kopf. Sie würde nicht bis zur Trauung bleiben, sondern jetzt gleich zum Bahnhof gehen. Innsbruck war nicht weit von hier. Mit etwas Glück wäre sie heute Abend schon wieder zu Hause, konnte die vergifteten Trüffelpralinen entsorgen und so tun, als wäre nichts geschehen. Alles in bester Ordnung.

Ihren Pralinen-Plan konnte sie nicht in die Tat umsetzen. Der Hass auf Jochen war zwar groß, aber einem ungeborenen Kind seinen Vater wegzunehmen, das brachte sie nicht übers Herz. Außerdem hatte sie ihr Geld zurückbekommen.

Sonja hielt mitten in der Bewegung inne. Das Geld! Wo war der Umschlag? Hatte er nicht auf dem Bett gelegen? Hastig durchwühlte sie das Bett, sah darunter nach. Nichts. Der Umschlag war weg. Panisch suchte sie weiter, in ihrer Handtasche, im Koffer, noch einmal unterm Bett.

Irgendwann fiel ihr Blick auf den Schreibtisch. Dort war er. Jemand hatte ihn an die Pralinenschachtel gelehnt. War sie selbst das gewesen? War sie letzte Nacht so betrunken gewesen, dass sie es nicht mehr wusste? Sonja nahm den Umschlag und zählte das Geld. Gott sei Dank, es war noch alles da. Nachdem sie das Geld in ihre Handtasche gesteckt hatte, entspannte sie sich ein wenig und packte weiter.

Als alles erledigt war, öffnete Sonja die Zimmertür und prallte mit Steffi zusammen, die mit einer Kaffeetasse in der Hand vor der Tür stand. Die Tasse fiel klirrend zu Boden und der heiße Inhalt ergoss sich über Sonjas geliebten Trenchcoat.

»Oh je! Das tut mir aber leid!«, rief Steffi, wischte mit der flachen Hand über den Fleck auf Sonjas Mantel und machte alles nur noch schlimmer. »Wieso bist du denn schon so früh auf?«

»Ich bin … ich wollte …«, stotterte Sonja und schob ihren Koffer hinter die Tür, sodass Steffi ihn nicht sehen konnte.

»Egal.« Steffi wartete Sonjas Antwort nicht ab. »Ich wollte dich fragen, ob du mit uns die Kirche mit Blumen schmücken willst. Wir könnten Hilfe gebrauchen.«

Nach kurzem Zögern nickte Sonja. Es war wohl das Beste, mitzugehen und sich später davonzustehlen, wenn alle beschäftigt waren und nicht auf sie achteten.

Aber auch ihr Plan, vorzeitig zu verschwinden, löste sich in Luft auf. Am Abend war Sonja immer noch da. Die Hochzeit war vorbei und das Brautpaar längst in die Flitterwochen gefahren. Sonja saß bei Steffi im Wohnzimmer auf dem Sofa und blätterte müde in einem Prospekt über Seefeld. Sie las ein bisschen über die vielfältigen Sportmöglichkeiten – wandern, biken, Ski fahren im Winter – als Steffi mit einem Tablett hereinkam.

»Ich habe uns ein Tiramisu gemacht. Mit ordentlich viel Zucker und ein bisserl Marillenschnaps«, sagte sie und reichte Sonja eine Dessertschale. »Ein Familienrezept. Das Geheimnis ist eine Schokoladenschicht.«

Sonja nahm sich einen Löffel vom Tablett und begann zu essen. Tiramisu, wie wunderbar. Genau das, was sie jetzt brauchte. Genüsslich schob sie sich einen Löffel der Köstlichkeit in den Mund und gleich einen zweiten und dritten.

»Ich muss dir etwas beichten«, sagte Steffi, während sie sich die zweite Dessertschale nahm. »Ich habe unter deinem Kopfkissen eine Schachtel Trüffel gefunden, als ich gestern Abend dein Bett aufgeschlagen habe. Du bist mir doch nicht böse, dass ich ein paar von denen für das Tiramisu genommen habe? Die Trüffel geben erst den richtigen Pfiff«, fügte sie hinzu. »Magst du ein bisserl Schlagobers?«

Heidi Troi

GIPFELGLÜCK

Mittenwald, Oberbayern

»Ich denke, wir wollen uns Hochzeitslocations anschauen«, maulte Tina.

Ben zwängte seinen rechten Fuß in den Bergschuh und zwinkerte ihr zu. »Tun wir doch.«

»In Bergschuhen?«

»Du kannst auch deine Stilettos anziehen.« Er angelte nach dem zweiten Schuh. »Jeder, wie er mag.«

Sie blieb auf dem Bett sitzen. »Ich hab keine Lust auf eine Bergtour.«

»Du wirst begeistert sein.«

»Das sagst du immer.« Tina schob ihre Unterlippe nach vorn. Sie waren in Mittenwald, dem romantischsten Städtchen in den Alpen überhaupt, auf der Suche nach einer Hochzeitslocation, die ihnen beiden gefiel, und Ben hatte wieder einmal nur die Berge im Kopf.

Wehmütig dachte sie an all die Locations, die sie besichtigt hatten. Wunderschöne Hotels, kleine Kapellen, sie hatten sich zu Seehochzeiten und Hochzeiten auf dem Rheindampfer informiert, aber nichts hatte Ben überzeugen können. Alles war ihm zu teuer. Er wollte kein Geld ausgeben für eine Hochzeit.

»Einfach nur wir zwei und die Trauzeugen – oder im engsten Familienkreis. Grillen im Garten. Was hältst du davon?«

Die Antwort darauf war: gar nichts. Tina träumte von einer Hochzeit in Weiß mit allen Freunden und Verwandten, mit Tanz und Kindergedichten. Aber dieser Traum rückte mit jedem Tag in weitere Ferne.

»Deine Schuhe, Prinzessin.« Ben kniete vor ihr wie der Prinz vor Aschenputtel, nur dass er statt des gläsernen Pantoffels ihre Bergschuhe präsentierte.

Tina zog ihren Fuß weg. »Ich gehe nirgends hin, wo ich nur in Bergschuhen hinkomme.« Sie stand widerwillig auf und zog ihre knallroten Stilettos an, die perfekt zu dem Sommerkleid passten.

Wenig später standen sie in der Schlange vor der Talstation der Karwendelbahn. Tinas Blick schweifte über die Wartenden. Karierte Flanellhemden, atmungsaktive Jacken, Bergschuhe, Wanderstöcke – als gäbe es eine geheime Kleiderordnung für den Berg. Als hätten alle in demselben Fachgeschäft für Bergsteigermode eingekauft. Nur sie stach aus dieser Menge heraus in ihrem geblümten Sommerkleid und ihren Stilettos.

Ein Mann betrachtete Tina amüsiert. »S’ ist fei kalt da oben. Ist nimmer Sommer«, sagte er. »S’ Fräulein wird frieren in dem Fetzen.«

Das Blut schoss Tina in die Wangen. »Fräulein«, schnaubte sie.

Ben legte ihr den Arm um die Schultern und zwinkerte dem Kerl zu. »Ich werd ihr schon einheizen.«

Die beiden Männer lachten einvernehmlich, während es in Tina brodelte.

Zusammen mit einer Gruppe Bergbegeisterter, die Tinas Aufzug mit mitleidigen Mienen taxierten, bestiegen sie eine der Gondeln. Tina studierte die Sicherheitshinweise. Maximale Personenanzahl fünfundzwanzig. Sie zählte die Fahrgäste ab. Es waren genau fünfundzwanzig Menschen, die dicht an dicht in der Kabine standen. Galt der dickbäuchige Bayer mit dem Gamsbart am Hut als eine Person? War die Bahn nicht überladen? War das Maximalgewicht nur eine Schätzung oder gab es irgendwo eine geheime Waage? Tina sah sich nach einem Mitarbeiter der Seilbahn um, doch da war niemand. Die konnten doch nicht fünfundzwanzig Menschen ohne einen Fahrleiter den Berg hochschicken! War das überhaupt ein seriöses Unternehmen? Hinter einer Blondine mit Kopftuch kämpfte sich ein etwa Vierjähriger neben Tina, um eine bessere Aussicht zu haben. Moment. Hatte sie den vorher mitgezählt? Bevor sie die Anzahl der Fahrgäste noch einmal kontrollieren konnte, gab es einen Ruck und es ging los. Beinahe lautlos. Tinas Hände krampften sich um den Handlauf, als das Ding schaukelnd auf die Baumwipfel zuflog. Ben gluckste neben ihr.

Die Gondel gewann schnell an Höhe, überflog Stromleitungen und den Wald, dann verringerte sich der Abstand zum Boden wieder, als die erste Seilbahnstütze in Sicht kam. Die abschüssige Felswand links davon ließ Tina erschaudern, noch mehr jedoch machte ihr die Schlucht zu schaffen, die sich dahinter auftat. Was, wenn das Drahtseil brach? Was, wenn eine plötzliche Windbö die Gondel aus ihrer Verankerung riss? Tina schluckte.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte eine rotblonde Frau in einem atmungsaktiven Polyester-Shirt.

Tina konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten, da ihre Augen von einer verspiegelten Sonnenbrille verdeckt waren.

Ben nahm ihr die Antwort ab. »Höhenangst. Besser nicht beachten. Spätestens beim Absturz legt sich das.« Er lachte schallend, legte seinen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich.

Die Gewichtsverlagerung verstärkte Tinas Übelkeit. Sie schüttelte seinen Arm ab und versuchte, etwas wie Stabilität zurückzugewinnen, indem sie sich breitbeinig hinstellte. Das Ende der Fahrt war nicht in Sicht, dafür zeigte sich ein zweiter Pfeiler auf einer Felsnase. Ob das Ding gesichert war? Oder bloß mit ein paar Schrauben im Stein verankert? Wie sicher war so ein Seilbahnpfeiler eigentlich?

Hör auf, dich selbst wahnsinnig zu machen, ermahnte sie sich, doch in ihrem Kopf überschlugen sich Nachrichten von Seilbahnunglücken, entstanden Bilder von Gondeln, die an Felswänden zerschellten …

Sie schloss die Augen. Denk an etwas Anderes. An etwas Schönes. Die Hochzeitskirche in Neustift in Südtirol, das Bild von dem Brautpaar aus ihrem Traum, das sich auf dem Holzsteg vor dem Ammersee das Jawort gab. In ihrem Kopf wurde das Gesicht der Braut zu ihrem eigenen, das Gesicht des Bräutigams …

Ein Ruck riss sie aus ihren Gedanken und aus dem Gleichgewicht. Die anderen Fahrgäste schrien leise auf. Dann erleichtertes Lachen. Bloß der zweite Pfeiler. Ein Schweißtröpfchen rann Tinas Schläfe hinab.

Vor ihren Augen breitete sich eine hellgraue Steinwüste aus. Zerklüftete Felsen ohne ein bisschen Grün. Felsen, auf denen diese Gondel zerschellen würde wie ein rohes Ei. Weiter oben die Bergstation, die wie ein Schwalbennest an den Felsen geklebt war, daneben das Natur-Informationszentrum in Gestalt eines Riesenfernrohrs.

Die Gondel flog auf die Felswände zu. Viel zu schnell. Tina zog den Kopf zwischen die Schultern und krampfte ihre Hände um den Handlauf. Doch da verlangsamte das Ding abrupt seine Fahrt und fuhr im Schritttempo in den Schacht ein. Hielt an. Tina atmete aus.

»Siehst du? Hast dir umsonst in die Hosen gemacht«, sagte Ben.

Die Umstehenden schmunzelten. Ein kleiner Junge neben ihr kicherte. »Du hast dir in die Hose gemacht?«

Tina schoss Ben einen zornigen Blick zu und zwängte sich an den anderen Fahrgästen vorbei zum Ausgang. Mit weichen Knien kämpfte sie sich durch den Gang nach draußen und erschauerte in dem eisigen Wind, der ihr entgegenblies.

Sie sah sich um. Eine riesige Felsenmulde lag vor ihr wie eine große Suppenschüssel. In ein paar Serpentinen schlängelte sich ein schmaler Pfad hoch, verlief dann um die Mulde wie ein Band. Menschen krabbelten darauf entlang wie Ameisen auf einer Ameisenstraße. Hier gab es nur Steine, Steine, Steine … Darüber dieser Septemberhimmel, der so blau war, dass es in den Augen schmerzte.

»Herrlich, nicht wahr?« Ben war neben sie getreten, beide Hände in den Hosentaschen seiner neuen Wanderhose vergraben und den Kopf in den Nacken gelegt.

Tina schnaubte.

»Wollen wir den Panoramaweg entlangwandern? Oder magst du zuerst was Warmes?«

Tina blieb ihm die Antwort schuldig und stapfte auf das Berggasthaus zu.

Er folgte ihr leise lachend. »Draußen oder drinnen?«

Was für eine Frage! Als ob sie sich freiwillig weiterhin dem Wind aussetzen würde. Das Innere der Hütte überraschte sie nicht. Holzgetäfelte Wände, Holzstühle mit kitschigen herzförmigen Löchern in der Rückenlehne. Alpenidylle. Sie ließ sich auf einer Bank nieder und langte nach der Speisekarte. Das Übliche. Brotzeit in allen Varianten, Rinderkraftbrühe, Schnitzel, Kaiserschmarrn.

Eine blondbezopfte Kellnerin trat an den Tisch. »Ich bin die Anni. Darf’s scho’ was zum Trinken sein?«

»Einmal Apfelschorle und ein großes Radler«, bestellte Ben, ohne Tina zu fragen und ohne die Augen aus dem Dirndlausschnitt der Kellnerin zu nehmen. »Und den Wirt bräucht ich. Sagen Sie ihm, dass Herr Fischer da ist.«

»Herr Fischer ist da?«, wiederholte Tina, als Anni weg war.

Ben lächelte vielsagend. »Du wirst schon sehen.«

Lange musste Tina nicht warten, denn kurz darauf schob ein Mann um die vierzig seinen Bierbauch aus der Küche, sah sich suchend um und kam auf Bens enthusiastisches Winken zu ihnen an den Tisch. Unter dem Arm trug er eine dicke Mappe. »Herr Fischer?«, fragte er.

»In voller Größe«, sagte Ben.

Tina sah peinlich berührt zur Seite. Sie hasste es, wenn Ben mit wildfremden Menschen auf Kumpel machte.

»Freut mich. Ich bin der Gaudenz. Und das ist dann wohl die liebe Frau Braut?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

Tinas Herzschlag beschleunigte sich. Was sollte das? Wieso wusste der Wirt von ihrer Hochzeit?

»Genau das ist sie. Wir haben gelesen, dass man sich hier oben trauen lassen kann, und wollten uns das einmal anschauen. Stimmt’s, Liebes?« Ben legte Tina den Arm um die Schulter und zog sie an sich.

Was? Trauen? Hier oben? Bei Rinderkraftbrühe und Schweineschnitzel? Und diesem furchtbaren Wind und … Und überhaupt: Wir? Tina schüttelte seinen Arm ab und richtete sich auf. Von einem Wir war überhaupt nicht die Rede. Ben stellte sie vor vollendete Tatsachen.

Eben wollte sie aufbegehren, da meinte der Wirt: »Da seid’s nicht die einzigen, denen das gefällt. Des is der Renner! Überhaupt, seit wir die Hochzeitsgondel eingerichtet haben.«

»Hast du gehört? Eine eigene Hochzeitsgondel«, sagte Ben.

In der wird mir genauso übel wie in der anderen, wollte sie erwidern, doch wieder kam sie nicht dazu.

»Habt’s schon ein Thema?«, wollte der Wirt wissen.

Ja. Hochzeit in Weiß, schrie es in Tina. Aber Ben nahm ihr die Antwort ab. »Thema egal, Hauptsache es kost nicht zu viel.«

»Wir haben hier was für alle Geldbeutel. Wie wär’s mit ›Verbundenheit‹ als Thema?«, schlug Gaudenz vor. »Ich seh schon die Bilder! Die Braut in ihrem Hochzeitskleid am Klettersteig. Du sicherst sie. Motto: Eine Seilschaft fürs Leben.«

»Das klingt gut, oder, Schatzi?«

Tina verzog verächtlich das Gesicht.

Ben beachtete sie nicht. »Mal sehen, was uns hier inspiriert«, sagte er, schlug die Mappe auf und blätterte darin. Aus dem Augenwinkel betrachtete auch Tina die Bilder. Die Hochzeiten im Dirndl überwogen. Aber es gab auch Hochzeiten in Weiß.

Das Bild eines Paares stach ihr besonders ins Auge. Die beiden standen auf einer Felsnase, eine verschwommene Gebirgskette im Hintergrund. Die Braut in einem Traum von einem Hochzeitskleid. Ihr Schleier wehte im Wind. »Das Bild ist hier geschossen worden?«, fragte sie.

Ben erkannte nur ihr plötzliches Interesse. »Es gefällt dir also«, stellte er fest. »Ich hab’s ja gewusst.« Und, als säße der Wirt nicht direkt neben ihnen, wiederholte er an ihn gerichtet: »Es gefällt ihr.«

»Eh klar«, sagte der. »Des Platzl is am Ende von dem Panoramaweg. Da drüben.« Er zeigte unbestimmt zum nördlichen Ende der Mulde.

»Das schauen wir uns gleich einmal an«, sagte Ben und stieß Tina mit dem Ellenbogen in die Seite.

»Ist halt frisch da oben.« Gaudenz ließ seinen Blick über Tinas bloße Arme wandern.

»Ich hab schon vorgesorgt«, sagte Ben. Er kramte im Rucksack herum und zog Tinas Jacke hervor. Gleich danach förderte er auch noch eine Wanderhose zutage. »Nur deine Schuhe hab ich nicht mitgenommen.«

»Wo ich mit meinen Stilettos nicht hinkomm, komm ich bei der Hochzeit auch nicht hin«, sagte Tina und sah den Wirt an. »Oder wie haben das die anderen Bräute gemacht?«

»Die ham freilich Bergschuh unterm Kleid angezogen. Sieht man eh nicht.«

Tina verdrehte die Augen.

»Ich könnt euch ein Paar Schuhe leihen«, schlug Gaudenz vor. »Was hat sie denn für eine Größe, die Braut?«

»Die Braut steigt nicht in fremde Schuhe«, antwortete Tina. Das fehlte noch, dass sie sich den Fußpilz fremder Leute holte.

»Na, dann los. Die Braut, die in High Heels ins Gipfelglück stolperte – das wäre doch ein genialer Titel für einen Film«, spöttelte Ben. Dann ließ er sich von Gaudenz beschreiben, wie man zu diesem Fotospot kam.

Tina schnappte sich ihre Bergkluft und verschwand in die Toilette. Unwillig streifte sie ihr Sommerkleid ab und schlüpfte in die Wanderkleidung. Jetzt unterschied sie sich durch nichts von den anderen Freaks, die auf über zweitausend Höhenmetern ihr Glück suchten. Durch nichts außer durch ihre Stilettos, die in brutalem Kontrast zu den atmungsaktiven Hosen standen. Sie straffte ihren Rücken und verließ die Kabine. Vor dem Gebäude stand Ben und hielt sein frisch eingecremtes Gesicht in die Sonne. An Sonnencreme hatte sie nicht gedacht.

»In der Gebirgssonne hol ich mir sicher einen Sonnenbrand«, sagte sie.

Ben ging nicht auf ihre unausgesprochene Bitte ein. »Fertig?«, fragte er und wandte seine Schritte Richtung Panoramaweg, ohne auf ihre Antwort zu warten.

Tina folgte ihm.

Der Wanderweg war nicht mehr als ein Trampelpfad, der in den Stein gestampft war und sich durch Millionen gehfauler Sonntagswanderer gebildet hatte. Festgetretener Sand, durchsetzt von vielen kleinen Steinchen und glatt geschliffenen Brocken.

Bestens geeignet für High Heels, dachte Tina verbittert und setzte vorsichtig Schritt vor Schritt – mehr um ihre schönen Schuhe besorgt als um sich. Wenn sie mit den dünnen Absätzen falsch auftrat, wäre es darum geschehen.

Ben spazierte die Serpentinen hoch. Am Anfang und am Ende jeder Haarnadelkurve sah er auf sie herab. Grinste überlegen.

Dann hatten sie die Höhe erreicht, den Rand der Suppenschüssel, an deren Boden die Bergstation lag. Auf dieser Höhe ging es nun bis zum Ende der Mulde, wo laut Gaudenz der beste Fotospot lag. Ben blieb stehen und ließ seinen Blick über die Felswände gleiten.

Als Tina ihn eingeholt hatte, musterte er sie kurz. »Geht’s?«

»Interessiert dich das wirklich oder ist das eine rhetorische Frage?«, zischte sie zurück.

Er sah sie an, als wollte er etwas erwidern, dann zuckte er mit den Schultern. »Schau mal, da oben«, sagte er. Er zeigte in den blauen Himmel. »Ein Adler.«

»Schön«, sagte Tina. Ohne hinaufzuschauen, stöckelte sie weiter. »Willst du nun zu diesem Fotospot oder nicht?«

Er folgte ihr wortlos. Tina spürte seine Blicke im Rücken, fühlte die Verachtung in seiner Miene, ohne dass sie sie sehen musste. Sie blieb stehen. »Geh du voraus«, sagte sie, ließ ihn passieren, ohne ihm ins Gesicht zu sehen.

Eine Familie kam ihnen entgegen. »Mama, schau mal! Die Frau hat Stöckis an!«

Tina fixierte das blondgelockte Mädchen, das ihren Aufzug so lustig fand, und sah zufrieden, wie die Kleine ihren Blick abwandte und schutzsuchend nach der Hand der Mutter griff. Diese betrachtete Tina kopfschüttelnd und ließ sie vorbeigehen.

Als die beiden ein paar Meter entfernt waren, hörte Tina die Mutter sagen: »Die Frau ist extrem unvernünftig. Aber, Sandy, man spricht nicht über Leute, die einen hören können.«

Wie wär’s, wenn du das selbst beachten würdest?, dachte Tina bitter und stöckelte weiter. Inzwischen zitterten ihre Knie vor Anstrengung. Sollte sie die Schuhe ausziehen und barfuß weiterlaufen? Sie schüttelte den Kopf. Der Pfad war von spitzen Steinen übersät. Nach zehn Metern hätte sie blutige Fußsohlen.

Wehmütig dachte sie an die koreanischen Serien, die sie mit Hingabe verfolgte. War die Protagonistin müde, war sofort ein junger Mann zur Stelle, der sie huckepack nahm.

Ben würde so etwas natürlich nicht einfallen. Im Gegenteil: Er war es, der sie über diesen Weg zwang. Und wozu das alles? Um einen Fotospot für ihre Hochzeit zu begutachten. Für ihre Hochzeit, die ganz sicher nicht hier stattfinden würde. Die vielleicht überhaupt nie stattfinden würde. War Ben der Richtige? War das der Mann, an dessen Seite sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte?

Tina stöckelte nachdenklich weiter. Wich den verächtlichen Blicken der Entgegenkommenden aus, überhörte deren spöttische Bemerkungen, quälte sich über den Weg hinter Ben her. Wollte sie diesen Mann wirklich heiraten? Bevor sie eine Antwort auf ihre Frage hatte, blieb er stehen.

»Hier müsste es sein«, sagte er und deutete auf die Felsnase. Es war die von dem Foto, das Tina aufgefallen war. »Sollen wir jemanden fragen, ob er ein Foto von uns beiden macht? Für die Einladungskarten?« Seine Augen suchten den Pfad ab, doch die nächsten Wanderer waren noch in weiter Ferne. »Ein Selfie?«

»Ich will ein Foto allein«, sagte Tina.

Ben zuckte mit den Schultern. »Dann los«, sagte er.