Tränen wie Bernstein - Sabine-Helena Philipp - E-Book

Tränen wie Bernstein E-Book

Sabine-Helena Philipp

4,5

Beschreibung

Das Buch schildert die Lebensgeschichte zweier starker Frauen. Aufgewachsen in der geborgenen, naturverbundenen Familienatmosphäre im damaligen Ostpreußen erleben sie den Zusammenbruch in der letzten Kriegsphase des 2. Weltkrieges. Die Stadt Elbing wird überschattet von den tragischen Kriegsereignissen. Die russische Rote Armee steht vor den Toren der Stadt und droht diese zu überrollen. Eine gnadenlose Kesselschlacht beginnt. Für Mutter und Tochter geht es um die nackte Existenz, in einer einzigen dunklen Nacht im Januar 1945 stürzt ihr bisheriges, idyllisches Leben wie ein Kartenhaus zusammen. Die dramatische Flucht aus Ostpreußen beginnt, die Vertreibung in den Westen. Im Vordergrund steht der Kampf ums Überleben der beiden mutigen Frauen. Werden sie das Tauziehen zwischen Leben und Tod gewinnen? Hat das Glück gegen das grausame Schicksal eine Chance?

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Für Oma Gertrud und mein Muttchen Ingrid

Inhalt

Vorwort

Die erste große Liebe

Familie Guthe in Bönhof

Gertrud und Johann

Weißer Winter

Schneiderlehre in Marienburg

Ingrid wird geboren

Clemens

Neuanfang in Elbing

Johanni und Plon

700-Jahr-Feier

Die neue Schule

Schulausflug zur Marienburg

Cadinen

Bernstein, das Gold der Ostsee

16 Jahre

Kriegsereignisse

Weihnachten 1944

Silvester 1944: Beginn der Offensive

12. Januar 1945

23. Januar 1945, ein Dienstag

Die »Gustloff«

Über das Frische Haff

Der Jakobstraße 3 den Rücken kehren

Der letzte Zug gen Westen

Der Sack wird zugeschnürt

Auf der Krim, die Potsdamer Konferenz, die sibirischen Arbeitslager

Endstation in Schivelbein

Mit Englisch seinem Schicksal auf die Sprünge helfen

Der russische Major

Willkür und Vergewaltigung

Dresden, Berlin, Swinemünde und Nürnberg

Hitler

Harry

Die Lage spitzt sich zu

Viele Babys im Winter

Wieder Vertreibung und Aufbruch

Frankfurt an der Oder

Durch das zerbombte Deutschland, vorbei an Berlin

Die Umsiedlungspolitik

Probleme

Über die Elbe bis zum Schlagbaum

Friedland

Letzte Wanderung zum Zielort

Glückliche Ankunft in Eschwege

Flüchtlingswelle

Einbürgerung

Vorwort

Wer die Vergangenheit nicht kennt, wird die Zukunft nicht in den Griff bekommen!«

Golo Mann,

deutscher Historiker und Schriftsteller,

1909–1994

»Reich ist man nicht durch das, was man besitzt, sondern mehr noch durch das, was man mit Würde zu entbehren weiß, und es könnte sein, dass die Menschheit reicher wird, indem sie ärmer wird, und gewinnt, indem sie verliert.«

Immanuel Kant,

deutscher Philosoph,

1724–1804

Die erste große Liebe

Gertrud-Maria-Helena Guthe wuchs glücklich und wohlbehütet im Kreise ihrer Familie auf. Viele lange, kalte Winter vergingen, bis sie im Jahre 1927 den wunderbarsten Sommer ihres Lebens in Bönhof erlebte.

Es war ein fast so heißer Sommer wie in dem Jahr, als sie geboren wurde. Die Hitze war unerträglich. Im September würde sie ihren 16. Geburtstag feiern. Gertrud war zu einem besonders hübschen jungen Mädchen herangewachsen: Ihr Haar war strahlend blond, glänzte seidig und legte sich in langen, lockigen Wellen auf ihre Schultern. Meistens flocht sie ihre lange, dicke Mähne zu zwei Zöpfen zusammen. Dies war praktischer bei der täglichen Arbeit. Wenn sie die Zöpfe abends öffnete, war ihr Haar übersät von welligen Strähnen und glich dickem Engelshaar, das sich wallend ausbreitete. Ihre Augen waren tiefblau und funkelten wie die klare Ostsee in der Abendsonne.

Ihre ebenmäßigen Gesichtszüge waren liebenswert, jung und schön. Ihre Gesichtsfarbe war nicht hell oder weiß, sondern rosig, denn die Bewegung an der frischen Luft und die Arbeit draußen taten ihrer Haut gut, sie hatte einen frischen, reinen Teint. Gertrud hatte eine aparte Figur, sie war schlank, aber nicht zu dünn. Ihre Taille war schmal, ihr Po rund und wohlgeformt, die Brüste wölbten sich schon stark. Für ihr Alter war sie recht gut entwickelt. Ihr Äußeres zog die Frauenblicke neidisch und die Jungenblicke leidenschaftlich und begehrlich auf sich.

Gertrud war zu einer wohl anzusehenden, hübschen, unberührten jungen Frau aufgeblüht. Alle heranwachsenden Männer im Dorf drehten sich nach ihr um, wenn sie unbekümmert mit ihren Geschwistern und Freundinnen die Dorfstraße zum Schwimmen hinunterrannte.

In nur zehn Minuten Fußweg waren die Mädchen zu ihrer Badestelle gelaufen. Dies war die schönste Abwechslung von der alltäglichen Arbeit im Sommer in Bönhof. An der Furt der Nogat konnten sich alle wunderbar im sauberen, hellblauen Wasser abkühlen. Die Geschwister legten im Schutze der Sträucher ihre Kleidung ab, ordneten diese sorgfältig auf der Wiese oberhalb der Badestelle, zogen ihre Badesachen an, die meist nur aus einer Hose und einem Hemdchen bestanden, und sprangen ausgelassen ins erfrischende Wasser. Alle Kinder der Familie Guthe hatten von ihren älteren Geschwistern automatisch das Schwimmen gelernt. Das war lebensnotwendig, damit die Kleineren, wenn sie ins Wasser fielen, nicht gleich ertranken.

Innerhalb der Badebucht war die Strömung gering, das Wasser flach.

Jeder Einzelne passte auf, dass keiner zu weit auf den breiten Fluss hinausschwamm, wo die Strömung stärker wurde. Alle spritzten sich gegenseitig nass, planschten fröhlich. Gertrud genoss das frische kühle Nass auf ihrer Haut und aalte sich wohlig im Wasser.

Weiter unterhalb war die Badestelle der Jungen. Dort war an dem heißen Sommertag ebenfalls Betrieb, einige junge Burschen aus dem Dorf übten sich im Weitsprung, mit Anlauf ins Wasser hüpfen. Gertrud schielte ab und zu mit einem Auge zu der Gruppe männlicher Jugend herüber, denn insbesondere ein junger Mann war ihr ins Auge gefallen, sie kannte ihn nicht aus dem Dorf. Er war schlank, groß und bereits sehr männlich gebaut. Seine dunklen, jetzt nassen Haare umrahmten sein Gesicht und seine tiefe, männliche Stimme scholl zu der Mädchengruppe hinüber.

Die Abendsonne neigte sich schon tief am Horizont, als beide Gruppen sich auf den Heimweg ins Dorf machten. Gertrud blieb, ob bewusst oder unbewusst, sie wusste es nicht, hinter ihren Geschwistern zurück.

Tatsächlich, der junge Mann hatte sie erblickt, kam hinter ihr her, wollte sie tänzelnd überholen, stolperte genau in dem Moment über einen Ast und landete genau zu ihren Füßen: wie peinlich! Aber lachend half ihm Gertrud auf, der Bann war gebrochen. Freudestrahlend machten sie sich miteinander bekannt: Er hieß Johann! Auf Anhieb waren sich die zwei jungen Menschen sympathisch, er begleitete sie auf dem Nachhauseweg. Sie unterhielten sich über das heiße Wetter und Gertrud schaute ihn immer wieder an, um einen kurzen Blick in seine dunklen Augen zu werfen, die sie verschmitzt ansahen. Bevor sie das Dorf erreichten, hatte er sie schon gefragt, ob sie morgen wieder schwimmen ginge. Kaum hatte sie sich versehen, waren sie schon für den nächsten Tag verabredet.

Nachdem sie morgens ihren Eltern auf dem Feld bei der Kartoffelernte geholfen hatte, konnte Gertrud es kaum erwarten, zum Schwimmen zu gehen. Schon auf der Mitte des Weges stießen sie an der Weggabelung mit der Jungengruppe zusammen. Von nun an traf sich das junge Pärchen fast jeden Tag und beide erwarteten sehnsüchtig ihre nächste Begegnung. Abends, wenn sie sich schlafen legte, träumte sie von seinen wunderbaren dunkelschwarzen Augen und seinem charmanten Lächeln. Jeden Nachmittag schwammen sie ausgiebig im frischen Wasser, um sich abzukühlen, denn sie waren sich unweigerlich näher gekommen. Sie lagen am Ufer der Nogat, schauten auf die immer fließende Wasserströmung hinunter. Ja, sie hatten sich ineinander verliebt, ihr Herz pochte, wenn sie sich in die Augen schauten und sich zuerst unbeholfen, dann immer leidenschaftlicher küssten.

Er erzählte von sich: Er kam mit seinen Freunden aus Stuhm, der nächsten größeren Stadt im Kreis. Zwischen Stuhm und Bönhof gab es ein großes Gut, auf dem Johann groß geworden war. Seine Familie war adliger Herkunft, er hieß von Thomarus mit Nachnamen. Er erzählte, dass es dort auf dem Gut viele Pferde gab, denn das erste Fortbewegungsmittel im Sommer wie im Winter war der Pferdewagen oder der Pferdeschlitten. Die herrschaftlichen Gutsbesitzer übten sich in den weiten Wäldern im Reiten und Jagen. Die Holzwirtschaft war die Haupteinnahmequelle der reichen Familie von Thomarus. Das ganze Jahr über waren alle Familienmitglieder und die Knechte damit beschäftigt, das Holz zu schlagen, abzutransportieren, mit Handsägen zu zerkleinern und einzulagern. Das Holz wurde an die Dorfbewohner verkauft, um einen Wintervorrat zu schaffen und um die Öfen in den Häusern anzuheizen. Alle Menschen brauchten Holz, um sich vor den eisigen, frostigen Nächten zu schützen.

Die Winter in diesem Teil Ostpreußens waren sehr kalt, oft war der Boden hart gefroren. Die sogenannte ostpreußische Taiga lag nahe der russischen Grenze und deshalb sanken die Temperaturen oft auf minus 15 bis minus 20 Grad. Die Landschaft versank in tiefem Schnee, die Seen und Flüsse waren dick zugefroren. Selbst die Tiere hatten in den Wintern Probleme, Nahrung zu finden. Füchse, Luchse, Bären und Elche durchstreiften die zeitlos eisigen Wälder auf der Suche nach Nahrungsquellen, regungslos lauschend in die tiefe, kalte Stille der Natur. Die Luft war voll Wehmut, Nostalgie, die endlose Einsamkeit umhüllte alles.

In diesen winterlichen Zeiten rückten die Familien in ihren Häusern rund um den warmen Ofen näher zusammen. Es wurde gekocht und gebacken. Die im Herbst angelegten Vorräte wurden aus den Kellern geholt. Es gab wärmende Kartoffelsuppe nach masurischer Art, mit Speck, Wurst und Steckrüben, dazu Piroggen, eine handgemachte Teigspezialität, die kreisförmig mit pikanten, scharfen oder süßen Moosbeeren belegt wurde. Am Ofenfeuer sangen die Familien alte Lieder, überlieferte musikalische Weisen wurden auf der Laute angestimmt.

Die Erwachsenen tranken ihren nach altem Rezept gebrauten Likör, das Schlehenfeuer: Die blauen, am Weißdorn wachsenden Strauchbeeren wurden nach dem ersten Frost im Herbst gesammelt und zusammen mit Alkohol und Zucker angesetzt. In den eisig kalten, tiefen Wintern trugen die Schlehenfeuer dazu bei, den Bewohnern von innen ordentlich einzuheizen. In der Folge kuschelten sich die Ehepaare in den Betten noch etwas enger zusammen, um sich ihre Füße gegenseitig zu wärmen. Später im September, Oktober des nächsten Jahres sah man das Resultat: wieder ein erfüllter Kinderwunsch, denn eine große Anzahl Kinder bedeutete Glück und Seligkeit. Zu jeder Jahreszeit wurde in Ost- und Westpreußen viel Wert gelegt auf ein gemütliches Familienleben, das familiäre Zusammensein wurde großgeschrieben, die Kinder wurden versorgt und umsorgt und wuchsen in Liebe und Harmonie auf, eingebettet in ein friedliches, einträchtiges Dorfleben.

Die weite, unendliche Landschaft, die Wälder und Felder Ost- und Westpreußens waren geprägt von kleinen Dörfern, zu jedem Dorf gehörten auch die großen angegliederten Gutshöfe, die die riesigen Wald-, Feld- und Seenflächen verwalteten. Auf dem großen Gutsbauernhof der adligen Familie von Thomarus wurde im Spätsommer neben der Holzwirtschaft die Ernte vorangetrieben. Im August fuhren die Erntehelfer, Knechte und Mägde mit großen Leiterwagen zum Dreschen aufs Feld. Weizen und Roggen wurden als Körner geerntet und in großen Säcken zu den Mühlen gefahren.

Danach wurde das Stroh zusammengebunden, in großen Halmen getrocknet und mit Pferdewagen in die Scheunen gebracht. Das Stroh benutzte man, um die Tiere zu füttern und die Ställe trocken zu halten.

Auf dem Feld wurde hart gearbeitet und auch Johann, als Gutsbesitzersohn, war voll in die Organisation und Leitung der Erntearbeiten integriert. Deshalb hatte er immer wenig Zeit, zum Schwimmtreffpunkt zu kommen. Aber die Sehnsucht trieb das Pärchen zueinander. Jeden Abend versuchten sie, sich zu treffen, als Tarnung zusammen mit den anderen einheimischen Jugendlichen, um in den spätsommerlichen Abendstunden gemeinsam in der Nogat zu baden.

Bald waren sie unzertrennlich.

Bei ihren Treffen betrachtete Johann seine Freundin insgeheim: Schön strahlte ihr dunkel gefärbter Teint, ihre weibliche Figur, ihre attraktiven Rundungen zeichneten sich gegen das Licht ab. Ihre langen dicken Haare faszinierten ihn, das leuchtende Blond glitzerte. Oftmals öffnete er ihre zusammengeflochtenen Zöpfe, ihr Haar fiel wie ein Schleier in breiten Locken auf ihre zarten Schultern. Tief schaute er in ihre blauen, türkis funkelnden Augen, die wie Sterne aufblitzten, war hin- und hergerissen von ihrem süßen Lachen. Beide waren magnetisch voneinander angezogen, der Zauber der ersten Verliebtheit hatte sie ergriffen, wie ein heißes Feuer loderte es in ihren Körpern.

Oftmals geschah es, dass sie mehr und mehr die Zweisamkeit suchten, sich von den anderen abkapselten. Im abgelegeneren Uferteil wateten sie, sich an den Händen haltend, in den seichten Fluten. Am wiesenbedeckten Ufer trocknete Johann ihr die prickelnden Wasserperlen von der sanften Haut und unweigerlich kamen die beiden sich so nah wie nie zuvor. Sie waren ineinander verliebt. Das Abenteuer der ersten großen Liebe hatte sie erfasst. Für Gertrud war es das erste Mal, dass sie diese Gefühle für einen jungen Mann erlebte. Sie wusste, dass er ihre große und einzige Liebe war.

Am Tagesende, wenn die Sonne über die Dächer des Dorfes hinwegkletterte und am Horizont im gleißenden roten Licht unterging, schlenderten sie die Felder hinunter, am reifenden Korn vorbei. Ein Lächeln überzog ihr Gesicht, wenn sie in seine tiefdunklen Augen blickte, die wie Kohlen im Abendlicht glühten. Gott musste bei der Schöpfung einen verliebten Tag gehabt haben, um das Schwarz in seinen Augen so strahlend zu schaffen und das Lächeln in seinem Gesicht so erblühen zu lassen.

Ihre Liebe hatte eingeschlagen wie ein plötzlicher Blitz und alle Versuche, den entfachten Brand zu löschen, waren vergeblich. Sie vergaßen alles um sich herum. Sie waren sich sicher, das Schicksal hatte sie hier im Glück zusammengeführt. Sie lagen im Gras nebeneinander, er küsste zärtlich ihre Halsbeuge, ihr Kopf lag in seiner Armkuhle. Sie musste fast weinen, wollte diesen Augenblick für immer festhalten, als er ihr zärtliche und melodiöse Worte ins Ohr flüsterte und sie sich ihre Liebe gestanden. Hoffentlich würden sie niemals getrennt werden!

Als sie Stimmen hörten, gesellten sie sich zu ihren Freunden und gemeinsam gingen sie noch eine Runde schwimmen. Alsbald spazierten sie zurück zum Dorf. Schon war der Zauber des Abends verflogen, als Gertrud ihr Elternhaus betrat, sich sogleich auf ihr Zimmer begab, das sie mit ihrer Schwester teilte. Sie sank in ihr Bett auf die Rosshaarmatratze und träumte sehnsüchtig von ihm, ihrem Johann.

Sie ahnte nicht, dass bereits große Schatten ihren Glücksstern verdunkeln würden, welch schweres Los sie noch ereilen würde!

Familie Guthe in Bönhof

Gertrud-Maria-Helena lebte mit ihren Geschwistern in dem kleinen Dorf Bönhof.

Die nächstgrößere Ortschaft war Stuhm. Bereits 1818 war Stuhm zur Hauptstadt des Kreises ernannt worden und erhielt 1883 einen Eisenbahnanschluss. 1890 zählte die Kreisstadt 2265 Einwohner, 1943 waren es bereits 7099. Stuhm war gekennzeichnet durch seine bevorzugte Lage in der Nähe der Marienburg, zwischen zwei Seen, dem Barlewitzer See und dem Stuhmer See. Auf einem Hügel entstand, erbaut durch den Deutschen Orden, die Burg Stuhm zwischen 1326 und 1335. Diese Burg entwickelte sich neben der Marienburg zu einem wichtigen Stützpunkt des Deutschen Ordens. Vor der Burg, durch den Hausgraben getrennt, entstand 1416 die Stadt Stuhm. Später entwickelten sich dort wichtige zentrale Kreisbehörden, Gemeinde- und Verwaltungsämter. Ebenfalls bedeutsam war Stuhm als landwirtschaftliches Zentrum. Hier wurden überschüssige Ernten an Kartoffeln, Zuckerrüben und Getreide hingefahren, um sie auf Güterwaggons zu verladen und in die größeren Städte abzutransportieren, denn Ost- und Westpreußen waren als Kornkammer Deutschlands bekannt.

Die Bauern und Landwirte lebten mit ihren Familien in den umliegenden Dörfern von Stuhm, so auch Gertrud mit ihren Geschwistern in Bönhof.

Im 14. Jahrhundert trug das Heimatdorf der Familie Guthe den Namen Bynhoff, auch Bienenhof genannt. Nach mündlich überlieferten Sagen bekam damals ein Ritterbruder namens Waldmeister alle Vorrechte für die Versorgung, Lagerung und Beförderung von Getreide, Heu und Honig in Bynhoff. Der Ritter verfügte über ein Siegel, das seine Inschrift und die Abbildung von drei Tannenzapfen trug. Deshalb trug das Wappen des Kreises Stuhm außer dem Balken und dem roten Feld des Vogtes auch die drei Tannenzapfen aus dem Siegel des Waldmeisters zu Bynhoff.

Später, als Gertrud geboren wurde, war das Dorf Bönhof ein Straßendorf, gelegen zwischen Weichsel, Nogat und Sorge sowie dem kleinen Flüsschen Liebe, auch Alte Nogat genannt. Durch seine bevorzugte Lage in der fruchtbaren Senke zwischen den Flüssen war Bönhof zu einigem Wohlstand gekommen. Die bäuerlichen Familien hatten sich kleine Laubenhäuser gebaut, deren Vorlaubenterrassen mit üppigen Blumenkästen geschmückt waren und zum gemütlichen Verweilen einluden. Entlang den zwei zentralen Dorfstraßen und dem Dorfplatz, dem Anger, hatten sich einige Handwerksbetriebe angesiedelt.

Es gab zwei Schmieden mit ihren Meistern Schwarz und Krause, denn die Pferde als wichtiges landwirtschaftliches Instrument mussten immer beschlagen werden. Der traute Klang, der durch Hammer und Amboss zu hören war, belebte das Dorf. Daneben gab es Tischler, Maurer, Schuster, eine Molkerei, Metzger und Bäcker. Sie siedelten alle mit ihren Geschäften an der Hauptstraße, wie die Bauernfamilien, in ihren schmucken, gepflegten Häusern, vorne mit kleinen belaubten Terrassen, nach hinten mit großen Gärten.

Das größte Gebäude in Bönhof war die Dampfbäckerei Schröder, ein Familienbetrieb. Dort waren die Guthe-Kinder regelmäßig unterwegs, um das leckere Brot zu kaufen. Der Dampfbäckerei kam im Dorf allergrößte Bedeutung zu. Jeden Tag, ob es kalt war oder heiß, ob im Frühjahr oder Herbst, immer versorgte sie über mehrere Generationen hinweg die Dorfbevölkerung mit allerlei Backwerk, Leckereien und Brot.

Die Dampfbäckerei war auch gleichzeitig zentraler Lebensmittelumschlagplatz im Dorf und Kolonialwarenladen, wo man alles für den täglichen Bedarf bekam.

Ebenso durften im Dorf nicht fehlen: die Gastwirtschaft Olszewski mit einem Saal für Festlichkeiten, die Feuerwehr, die, um im Ernstfall zur Stelle zu sein, mit Einsatzwagen und Motorpumpe ausgestattet wurde.

Nicht fehlen durfte natürlich das Postamt. Hier konnte man mithilfe einer passablen Telefonstation in Kontakt mit der Außenwelt treten.

Verbindungen wurden telegrafisch und telefonisch hergestellt. Das Postamt hatte einen fleißigen Postamtsvorsteher, dessen Frau gleichzeitig Hebamme und ausgebildete Krankenschwester war und sich, auf dem Fahrrad fortbewegend, um die Gesundheit und das Wohl der werdenden Mütter und kranken Dorfbewohner kümmerte.

Für die Beaufsichtigung der Kleinkinder waren – wie fortschrittlich – zwei Ordensschwestern zuständig, die sich im ansässigen Kindergarten um die vorschulische Erziehung kümmerten. Schwester Cäsaria war eine ausgebildete Krankenschwester, die sich für die Gesundheit der Dorfbewohner aufopferte. Beiden Ordensschwestern, Cäsaria und Leonarda, diente das Fahrrad als schnellstes Verkehrsmittel.

Um das seelische Heil der Bürger bemühte sich der beliebte evangelische Pfarrer Anton Tamm-Lehmbruchter, dessen Kirche wunderschön am Wald gelegen war. Die katholische Kirche stand inmitten des Dorfes, die Landsleute beider Konfessionen lebten in Eintracht. Natürlich befand sich im Dorf auch eine kleine Volksschule mit bis zu acht Klassen.

Im Umkreis des Dorfes existierten zwei Forstmeistereien, Ehrlichsruh und Karlsthal, die sich um die Bewirtschaftung des Waldes und um die Jagdpächterei kümmerten. Ebenfalls rund ums Dorf gab es große, wohlhabende Güter, so Gut Bliefernitz und Gut von Thomarus. Dies waren Bauernhöfe mit Pferden und Nutztierbestand, mit Scheunen, Ställen und Speichern, eigenen Wasserpumpen und Schmieden, großen Parks und Gärten, eleganten Herrenhäusern und Gesindeunterkünften sowie mit Privatwald, Wiesen- und Feldeigentum. Die herrschaftlichen Güter waren große Arbeitgeber für viele Dorfbewohner des Umkreises, sie sicherten den Tagelöhnern oder Pächtern das Überleben und das tägliche Brot. Gleichzeitig zentralisierten und organisierten die reichen und angesehenen Gutsbesitzer die umliegende Landwirtschaft, die Jagd und die Waldbewirtschaftung.

In der Tat, das Leben in dem Heimatdorf der Guthes war durchaus fortschrittlich und modern organisiert, für alles Notwendige war gesorgt.

Das gemeinschaftliche Leben war sehr lebhaft und intensiv. Am Wochenende trafen sich die Einwohner im Gemeinschaftsraum neben der Feuerwache. Jung und Alt sangen heimatliche Lieder und man unterhielt sich über die alltäglichen Sorgen und Nöte. In gleicher Weise wurden alle jahreszeitlichen Feste gemeinschaftlich begangen. Es wurde bei jedem Anlass, zu Ostern, Pfingsten oder Weihnachten, andächtig in der Kirche gefeiert. Zu allen Familienfeierlichkeiten wie Hochzeiten, Kindstaufen und Geburtstagen wurde geschlossen Anteil genommen und ein großes Fest veranstaltet, denn es gab sonst noch nicht sehr viele Ablenkungen und Kurzweil für die Menschen.

Die Familie Guthe lebte in Bönhof am Ende der Dorfstraße in einem schmucken Bauernhaus mit blumengeschmückter Veranda, Garten, Stallungen und einer großen Scheune. Mitglieder der Familie waren der Großvater Walter, Großmutter Lisbeth, die Eltern und Kinder. Alle lebten in einem Haushalt, mehrere Generationen unter einem Dach. Die Guthes waren im ganzen Dorf als freundliche, fleißige und, wie der Name schon sagte, als gute, hilfsbereite Familie bekannt. Immer waren sie sofort zur Stelle, wenn irgendwo Hilfe gebraucht wurde, sei es bei einer Geburt, bei Krankheiten oder auf dem Feld. Die Guthes waren sogleich bereit und machten so ihrem Namen alle Ehre. Oberhaupt der Familie war Karl-Konrad Guthe mit seiner Frau Ruth-Roswitha. Sie hatte insgesamt elf Kinder zur Welt gebracht. Für sie bedeutete eine große Kinderschar einen großen Reichtum.

Leider musste die Mutter großes Leid ertragen, als das Schicksal zuschlug und eine große Diphtherieepidemie 1899 fünf ihrer elf Kinder dahinraffte. Es waren die ersten fünf, zwei Jungs und drei Mädchen, die schwer gegen die Seuche, die fieberhafte Krankheit ankämpften und zum Schluss erlöst wurden. Es war eine schlimme Zeit, es gab keine Ärzte, keine Medizin, keine Impfungen. Im Haus herrschte tiefe Trauer. Um das Leid zu überstehen, arbeiteten die Eltern hart im Garten und auf dem Feld. Mit großem Mut ertrugen sie den Verlust ihrer Kinder, aber sie waren es gewohnt zu kämpfen, um das tägliche Brot, um Gesundheit und Wohlergehen. Sie durften nicht aufgeben!

Dann, zu ihrer Freude, wurde Ruth wieder schwanger und brachte noch sechs gesunde Kinder zur Welt: Fritz-Karl, Erich-Anton und Richard, Minna-Tatjana, Grete-Reinhild und als Nesthäkchen Gertrud-Maria-Helena.

Als Andenken an die verstorbenen Geschwister verteilten die Eltern die Vornamen auf die nachfolgenden, so hatte fast jedes Kind zwei Vornamen. Als die Mutter mit Gertrud im Jahre 1911 schwanger war, glich ihr runder dicker Bauch gefährlich einer riesigen Kugel, sodass man hätte meinen können, es seien Zwillinge an Bord.

Es war ein sehr heißer Sommer gewesen. Gertrud-Maria-Helena kam am 24. September des Jahres 1911 um 11.38 Uhr zur Welt. Die Wehen hatten bereits am frühen Morgen eingesetzt, schnell wurde nach der Hebamme gesandt, die auf dem Fahrrad klingelnd zum Haus geeilt kam.

Die Geburt war schwer, es würde Ruths letztes Baby sein. Laut schreiend erblickte Gertrud das Licht der Welt, hielt sogleich die ganze Familie auf Trab. Sie wurde gebadet und in schneeweiße Babyhandtücher gewickelt. Neugierig kamen die älteren Geschwister angelaufen, betrachteten stolz den Neuankömmling, die klitzekleinen Händchen und die süße Stupsnase. Der Wonneproppen war recht schwer, aber nicht überdurchschnittlich groß und hatte helle Haare.

Gertrud wuchs wohlbehütet und geborgen auf, eingebettet in das innige, liebevolle Familienleben der Guthes. Die älteren Geschwister brachten ihr alles bei, das Sprechen, das Laufen, das Dreiradfahren, das Schwimmen, das Glücklichsein, passten auf sie auf und spielten mit ihr.

Sie war das Nesthäkchen und wurde dementsprechend verwöhnt.

Die Erziehung der Kinder machte den Guthes Spaß. Sie freuten sich, sie wohlbehalten, gesund und schlau aufwachsen zu sehen. Alle sechs wurden zur Schule geschickt. Vater und Mutter legten viel Wert auf eine gute Schulbildung. Die Volksschule lag im Dorf, der Weg im Sommer wurde meist barfuß bewältigt. Im Winter wanderten sie oft mit dicken Stiefeln durch meterhohe Schneewehen zur Schule. Später lernten die Jungen einen bodenständigen Handwerksberuf. Der Erstgeborene, Fritz, wurde Landwirt, half den Eltern beim Bewirtschafften des Hofes. Erich ging beim Schmiedemeister in die Lehre, Richard bekam sogar eine Anstellung an einer Behörde.

Die Mädchen lernten Hauswirtschafterin oder Schneiderin. Jeder hatte in der Großfamilie, auf dem Guthschen Bauernhof, seine festgelegten Aufgaben. Nach den Schularbeiten mussten die Mädchen ihrer Mutter in der Küche zur Seite stehen. Der jüngste der Buben half, für ausreichend Holz zum Feuern zu sorgen, der zweitjüngste für Kohle und Brikett, der körperlich schon etwas stärkere sorgte auf dem Hof für Wasser durch Betätigen der Pumpen. So hatte jeder nach preußischer Manier seinen täglichen Verantwortungsbereich. Weiter ging es bei der täglichen Pflichterfüllung mit dem Füttern der Tiere, der Hühner, Schafe und Ziegen, der Schweine im Stall. Alle Tiere mussten frisches Wasser bekommen und gefüttert werden.

Gertrud war mit ihren Schwestern Grete und Minna für die Kleintiere verantwortlich. Jeden Morgen vor dem Frühstück mussten sie zuerst die Hühner füttern. Diese hatten ein eingezäuntes Grundstück am Ende des Gartens mit viel Grün zum Scharren und Auslaufen. Der Hühnerstall, bestückt mit Stangen, auf denen die Hühner sitzen konnten, sollte wöchentlich ausgemistet und mit frischem Stroh bedeckt werden.

Natürlich gab es auch einen Hahn, der morgens immer laut sein Kikeriki krähte, pflichtbewusst alle weckte. Wenn die zwei Mädels morgens mit dem Futterkorb am Stall erschienen, rannten die Hühner auf ihren zwei kleinen dünnen Beinchen auf sie zu, pickten ihnen die Körner aus der Hand. Die Mädchen hatten dem Hühnervolk Namen gegeben: Lieschen, Maike, Marie und Luise, der Hahn hieß Friedrich. Die Hühner schienen ihre Futterspenderinnen ebenfalls schon zu kennen. Jedes Mal, wenn Vater ankündigte, zum Sonntag gäbe es Hühnersuppe, ergriffen die Mädels schnell die Flucht, traurig über das Ende eines ihrer Schützlinge.

Neben dem Hühnerstall befand sich der Hasenstall, vier über- und nebeneinander gebaute Kästen, mit einer Tür zum Öffnen und mit feinem Maschendraht, damit Luft und Licht hineinkam. Die Hasen wurden von den Mädchen jeden Tag liebevoll gefüttert, mit Mohrrüben, Kartoffeln und Äpfeln, mit frisch gepflücktem Löwenzahn. Sie freuten sich tierisch, wenn die Hasen mit ihren großen Vorderzähnen den Löwenzahn wegmuffelten. Natürlich bekamen die Hasen auch Namen: Bunny, Schlappohr und Schnuffel. Täglich streichelten die Mädels das kuschelige Fell und die langen Ohren, immer sorgten sie für frisches Wasser.

Die zwei Ziegen, die vier Schweine und die sechs Schafe wurden von den drei Guthschen Brüdern versorgt. Im November oder Dezember, wenn der erste strenge Frost kam, war Schlachtezeit. Die Anzahl der Nutztiere reduzierte sich, aber man brauchte das Fleisch, um über den langen Winter zu kommen. Die Mädchen nahmen Reißaus, wenn eines der Schweine quiekend über den Hof gejagt wurde und verwurstet werden sollte. Danach fand drei Tage lang das Schlachtefest statt, mit Gehacktem, Weckewerk, frischer Bratwurst und Schmalz. Nur die Blutwurst rührten die drei Mädchen in Erinnerung an das lustig grunzende Schwein, das die Jungs immer gefüttert hatten, nicht an.

Jeder nahm seine Verpflichtungen ernst und gewissenhaft wahr, denn die Tiere wurden als Lebewesen geachtet, waren Freunde des Menschen, gleichzeitig Lebensgrundlage. Die auf dem Guthschen Hof lebenden Pferde wurden ausschließlich vom Familienoberhaupt, dem Vater, versorgt. Denn die Pferde waren lebenswichtig, für die Feldarbeit und als Fortbewegungsmittel, stellten den größten Reichtum dar. Es waren zwei Stuten, sie hießen Hermine und Ursula. Die drei Mädels wünschten sich schon lange ein Pony, das sie mit Liebe und Fürsorge überschütten würden, aber dieser Wunsch blieb unerfüllt.

Dafür spielten sie mit dem Hund, der im Kreise der Familie nicht fehlen durfte. Er hieß Bello, hatte schwarz-braunes Fell und war reinrassig, ein Schäferhund. Der Vater war sehr stolz auf seinen gut erzogenen Hund, er hatte ihn von klein auf großgezogen. Der Hund gehorchte immer aufs Wort, lief neben den Pferden her, bewachte den Hof und seine Hundehütte. Er wurde nicht an die Kette gelegt, dies wäre Tierquälerei, sagte der Vater. Laut klang sein tiefes Bellen über den Hof, er machte seinem Namen alle Ehre. Im Winter, wenn es draußen kalt war, durfte er mit in die Wohnstube, denn dort war die ganze Familie versammelt, er durfte nicht fehlen. Nur in die Schlafräume durfte er nicht, dies wäre unhygienisch gewesen. Für Mutter war er immer ein guter Fußwärmer, der auf Kommando die Wärmflasche an den Füßen mit seiner Körperwärme ersetzte.

Nachmittags mussten die Mädchen der Mutter helfen, den Gemüsegarten zu bearbeiten. Wurden sie von dieser Arbeit entlassen, spielten sie im Garten mit den zwei Katzen namens Minka und Mieze, die im tierlieben Haushalt der Guthes nicht fehlen durften. Nachts waren die Katzen auf Beutefang, tagsüber entflohen sie den Kinderhänden, die immer allerhand Unsinn mit ihnen anfangen wollten, jedoch ermahnt wurden, man solle Tiere nicht ärgern oder quälen. Aber flugs war ein Ball zur Hand oder ein Wollknäuel, dem die Katzen hinterhersprangen.

Im Garten spielten die Mädchen mit ihren Puppen oder schaukelten. Sie ärgerten die Brüder, die sich im Baumhaus verschanzt hatten, ihre Burg in den Bäumen gegen die Mädchen ehrenvoll und tapfer mit selbst geschnitzten Schwertern verteidigen mussten. In dieser Weise verging jeder Tag in Bönhof für die Kinder mit verantwortungsvoller Pflichterfüllung, aber auch mit glücklichem und ausgelassenem Spiel.

Neben der Vieh- wurde auch Felderwirtschaft betrieben. Alle Familienmitglieder waren verpflichtet, mit anzupacken. Während der Erntearbeit halfen die Jungs und Mädchen ihrem Vater beim Pflügen und Eggen der Äcker, beim Einsäen und Unkrautjäten. Noch mehr Arbeit hatten alle während der Erntezeit, wenn überall rundherum geschäftiges Treiben herrschte. Auf den Feldern wurde die Weizen-, Gersten- und Roggenernte eingefahren. Das Heu wurde auf den Wiesen mit der Sense abgemäht, zum Trocknen ausgelegt und später mit Leiterwagen abgefahren. Stroh und Heu wurden in den Scheunen eingelagert und sicherten im Winter das Futter für die Tiere. Im Herbst wurden die Kartoffeln und Zuckerrüben sowie das Obst von den Bäumen geerntet und eingekellert. Die Frauen waren mit Einwecken und Einkochen beschäftigt. In der Küche herrschte Hochbetrieb, um alles für den Winter haltbar zu machen.

Alle halfen in dieser Zeit kräftig mit, packten mit an. Alle freuten sich auf das Erntedankfest, bei dem gefeiert und gedankt wurde, dass das große fruchtbare Land alle Mitbewohner satt machen würde. Keiner musste im Winter hungern, alle hielten zusammen, die Familienbande waren stark und würden auch in schlechten Zeiten nicht reißen. Man half sich gegenseitig, denn es war genug für alle da! Innerhalb der Familie kümmerten sich die größeren um ihre jüngeren Geschwister, die Mädchen hüteten und versorgten das Baby, um ihre Mutter zu entlasten. Immer samstags war Badetag, die Zinkwanne wurde in der Küche mit Wasser befüllt und mit Kernseife und Wurzelbürste ging es ans Werk. Angefangen mit dem kleinsten Kind und dann in aufsteigender Reihenfolge kamen alle in den Genuss des Vollbades. In der Woche mussten die Kinder beim Saubermachen, Waschen, Bügeln und Kochen mithelfen. Automatisch wurden so alle Weisheiten im Haushalt, alle geheimen Rezepte und Einkochfertigkeiten von einer Generation zur anderen weitergegeben. Die Kinder wurden durch die harte Arbeit gefordert, wuchsen zu verantwortungsbewussten und fleißigen Menschen heran.

Aber die Kinder der Familie Guthe hatten auch Freizeit. Am liebsten waren ihnen die Sommerzeit und davon natürlich die Sommerferien, in denen sie viel Zeit zum Spielen und Herumtollen hatten. Oft traf sich eine ganze Kinderschar in Guthschen Garten. Es wurde Verstecken gespielt oder Fangen. Die Jungs spielten »Räuber und Gendarm«, versuchten sich in Rollenspielen als Polizisten, Indianer oder Feuerwehrmann. Die Mädchen zogen es vor, unter den Schatten spendenden Bäumen ihre Puppen zu versorgen. Mutter kam oft mit Bechern und einem Krug erfrischender Zitronenlimonade in den Garten, wurde mit Jubel empfangen und ruhte sich, die Kinder beobachtend, auf der selbst gebauten Sitzgruppe im Schatten des Gartens aus. Immer wieder agierten die Geschwister als »Vater-Mutter-Kind«, ein allseits beliebtes Rollenspiel. Dabei wurden oftmals die Rollen gewechselt, jeder wollte absolut die Figur des Vaters oder der Mutter übernehmen, weil derjenige dann Befehle geben und herumkommandieren konnte. Die unliebsame Person des Kindes blieb meist übrig, war fast immer identisch mit Babygeschrei, Gehorchen oder Weglaufen.

Es ging schon kunterbunt und lustig zu im Garten der Guthes. In dem blühenden, mit Blumenfeldern durchzogenen Garten bastelten die Kinder hunderte Male Blumenkränze, flochten dicke Zöpfe aus Butterblumen und Gänseblümchen, belegten die Puppenwagen mit einem Meer aus Blüten. Die Brüder allerdings, nicht so interessiert an jeglichen Arten von Puppenspielen, trafen sich unterdessen zum Bolzen auf dem Dorfplatz, wobei meist ein fest gewundenes Wollknäuel, stibitzt aus Mutters Handarbeitskörbchen, zum Fußballspielen herhalten musste.

Vorher wurden im Garten sämtliche Bäume durch Klettern erobert. Der Wettbewerb zwischen den Kindern, welches am höchsten in den Ästen klettern konnte, wurde oft von achtsamen Drohrufen der Mutter unterbrochen, nicht so hoch zu kraxeln, sonst würden sie Knochenbrüche ereilen. Die Mädchen wurden beim Kletterwettbewerb ebenfalls zugelassen, oftmals schaukelten sie aber lieber auf der am Apfelbaum festgemachten Schaukel. Sie führten einen Wettstreit, wer wohl am weitesten von dieser Schaukel in die bunte, grüne Sommerwiese springen würde. Bei dem Spiel »Ball über die Schnur« wurde zwischen zwei Bäumen ein Seil gespannt. Berührte der geworfene Ball den Boden, hatte man verloren. Am Anfang wurden die Mannschaften gewählt, jeder der Geschwister und Nachbarskinder war darauf erpicht, die besten Spieler in seiner Mannschaft zu vereinen, dann ging es los, mit viel Spaß wurde der Ball aufgefangen.

Rund ums Dorf und auf den Straßen wurde gleichermaßen gespielt. Dort trafen sich die Kinder, um die meist von den Opas aus Holz gebauten Fortbewegungsmittel auszuprobieren. Für die Mädels waren dies meist einfache Dreiräder oder Roller, für die Jungs Leiterwagen, auch Bollerwagen genannt, die abwechselnd von zwei Schiebenden und zwei Insassen bewegt wurden. Eine superlustige Unterhaltung war es, den nahe gelegenen Hügel mit den Fahrzeugen zu erklimmen und mit Schwung selbigen hinunterzurasen. Manchmal wurde auch ein Wettrennen veranstaltet, bei dem die Buben ausnahmslos die Sieger waren. Ab und zu konnte auch ein Kind Fahrrad fahren, aber das war meist von den Eltern ausgeborgt, kleine Rädchen zum Lernen wurden unter den Kindern ausgetauscht und waren bis 1920 eher selten.

Die Kindheit in Bönhof war reich an Spiel und Spaß. Das Spiel mit dem Kullerreifen war lustig. Dies waren dünne Holzreifen mit einem Durchmesser von 65 bis 70 Zentimetern, bunt bemalt, farbig oder weiß.

Mit einem Stöckchen wurden die Reifen angetrieben, es war ein lustiger Wettstreit, wer am schnellsten hinter dem Reifen herlaufen könne, bis dieser zu Boden fiel. Ein ebenfalls beliebtes Kinderspiel war »Eck-um-Eck«. Dabei mussten sich mehrere Mitspieler um das Eck eines Hauses oder einer Kirche etwas entfernt voneinander aufstellen. Auf Kommando schrien alle »Eck-um-Eck«, stoben rechts und links auseinander, mussten, ohne gefangen zu werden, den Platz des Gegners einnehmen.

Das war eine Rennerei, ein Krach, ein Spaß! All diese Spiele waren Spiele für draußen, wenn es warm war, die Geschwister barfuß durch die Gegend stromerten. Andere Nachbarskinder kamen hinzu, richtige Banden und Parteien wurden gegründet, um sich gegenseitig zu fangen oder Verstecken zu spielen. Kurzweilig war das Spiel mit den Murmeln, wobei Löcher in den lockeren Sandboden gebuddelt und ganze Straßenzüge entworfen wurden. Mit gebogenem Zeigefinger galt es, die schönen Glas- oder Tonmurmeln wie Minigolfbälle auf der Bahn ins Loch zu befördern, beim Wettbewerb konnte man selbst Murmeln gewinnen oder verlieren.

Durch die viele Bewegung an der frischen Luft waren alle Kinder im Dorf abgehärtet. Vereinzelt grassierten Kinderkrankheiten wie Masern und Windpocken, dann steckten sich alle gegenseitig an, wurden in die Betten verfrachtet, behandelt und gesundeten meist. Durch das Barfußlaufen waren die Sprösslinge gekräftigt, die dicke Hornhaut, die sich an den Füßen gebildet hatte, war ein wertvoller Gesundheitsschutz.

Abends, wenn im Hause Guthe alle gemeinsam am Abendbrottisch saßen und sich von den Erlebnissen des Tages erzählten, hatte die ganze Kinderschar mächtigen Hunger und Appetit. Mutter Ruth schnitt viele Scheiben Brot mit dem langen Sägemesser, um die hungrigen Mäuler zu stopfen, bestrich die Stullen mit Butter oder Schmalz. Keines der Kinder war zu dick, die körperliche Arbeit und die Bewegung verbrauchten schnell die Kalorien. Man war den ganzen Tag rege, fleißig und schaffensfreudig, abends fielen alle erschöpft auf die harte Matratze.

Das größte Vergnügen, das Gertrud und ihre Geschwister im Sommer kannten, war das Schwimmen. Gemeinsam ging es an der Alten Nogat entlang den Feldweg zu der kleinen Furt, die der Fluss günstigerweise bildete. Dort war das Wasser flach, die Strömung gering, man konnte sich leicht über den sandigen Einstieg ins Wasser gleiten lassen.

Schnell erlernte jeder das Schwimmen, angeleitet und gehalten von den Älteren, denn schwimmen zu können war lebenswichtig, wenn man doch mal unvorsichtigerweise ins Wasser fiel. Wenn in den Sommerferien die Sonne hoch und heiß am Himmel stand und das Thermometer im August dauerhaft anstieg, planschten alle ausgelassen, spritzten sich nass und erfrischten sich. Die Jungen und Mädchen versuchten, Anlauf zu nehmen und mit einem großen Sprung im kühlen Nass zu landen.

An der Uferweide war ein langes Tau festgebunden und mit Geschrei schwangen sie sich nacheinander mit Schwung und einem Platsch ins Wasser.

In Ost- und Westpreußen waren die Sommer noch richtige Sommer, die Winter noch richtige Winter! Im Winter diente die Nogat, dieser Leben spendende Fluss, als Eisfläche, zum herrlichen Schlittschuhlaufen.

Bereits im November war die Nogat zugefroren, das Thermometer zeigte bis zu 20 Grad Frost. Es war keine Seltenheit, wenn die Fensterscheiben vom Raureif zugefroren waren. In diesen Tagen war das liebste Hobby der Kinder von Bönhof, bei schönstem Sonnenschein die Metallkufen unter die Winterschuhe zu klemmen. Jung und Alt drehten bei schönem, klarem und kaltem Wetter ihre Kreise auf dem Eis, manche Mädels versuchten sogar Sprünge und Pirouetten. Auf dem Weiher und den Niederungen, wo sich das Wasser gestaut hatte, konnten die Jungs Eishockey spielen. Bewaffnet mit Holzstöcken aus dem Wald wurden Mannschaften gebildet und um die Wette gekämpft, versucht, den Puck, meist musste eine schwarz lackierte Holzscheibe herhalten, ins gegnerische Tor zu schießen.

Am Sonntag traf sich die Dorfgemeinschaft bei sonnigem Wetter zum »Eisfest«. Die Frauen brachten Kübel mit Punsch, Zwiebel- oder Apfelkuchen aus ihren Küchen. Obendrein spielte die Dorfkapelle, bestehend aus zwei Gitarren und einem Schifferklavier, volkstümliche Lieder. Das »Eisfest« war immer ein Höhepunkt in der Wintersaison und machte allen großen Spaß. Kaum hatte der Winter Einzug gehalten, bauten alle Kinder mit kindlichen Vergnügen Schneemänner, in jeglicher Form und Größe, mit passenden Utensilien: Karotten, löchrigen Eimern, einem Besen, schwarzen Steinen oder Kohlen. Die Schneemänner bekamen sogar Noten, welcher der schönste sei. Natürlich wurde im Winter auch Schlitten gefahren. Jubelnd und kreischend sausten die Kinder den Hügel am Ende des Dorfes hinab, hatten mächtigen Spaß dabei, die Schlitten aneinanderzubinden und in einer langen Schlange den Hang hinunterzurodeln.

Die Tage im Winterhalbjahr waren kurz, nach dem frühen Einbruch der Dunkelheit traf man sich im heimeligen Wohnzimmer. Das Holz im Ofen wurde angezündet und bei loderndem Kaminfeuer unterhielten sich die Familienmitglieder über die Ereignisse des Tages. Die Mädchen übten sich im Stricken mit der Strickliesel oder im Häkeln. Sie wollten es der Mutter gleichtun, die fleißig an Mützen, Schals und wärmenden Socken arbeitete. Opa Walter erzählte Märchen oder selbst erfundene Schauergeschichten, dass es den Kindern gruselte. Die ganz Kleinen waren schon früh mit einer Bilderbuchgeschichte ins Bett gebracht worden, dann spielten die Übrigen oft Brettspiele. In der Beliebtheitsskala ganz oben standen Halma, Dame und Mühle. Später spielten die Erwachsenen Karten, zum Beispiel traf man sich zum Skat oder zum Rommé. Die kalten Winterabende vergingen wie im Fluge, bis man müde war und ins Bett fiel.

Es war eine glückliche, unbeschwerte Kindheit in dem kleinen Dorf Bönhof, eine in der Familie geborgene, vertraute Gemeinschaft. Alle Familien halfen einander, egal was passierte. Denn äußere Umstände machten das Leben nicht leicht. Es gab politische Umwälzungen und Krisen, es gab Erntekatastrophen, wenn das Getreide Rostbefall hatte oder der Sommer zu heiß oder zu regnerisch war. Die Dorf- und Familiengemeinschaften mussten fest zueinanderstehen, wie Pech und Schwefel zusammenhalten, dann konnten sie alle Schwierigkeiten überwinden.

Großen Zusammenhalt gab es besonders in der Adventszeit, wenn die Vorfreude auf die bevorstehenden Feiertage groß war. Gerade in der Vorweihnachtszeit, wenn die harte Arbeit im Haus und Hof erledigt war, hatten die Erwachsenen mehr Zeit, nachdem die Kinder ins Bett gegangen waren. Zeit, um es sich unter der Bettdecke gemütlich zu machen, etwas zu kuscheln und die eiskalte Schlafstätte aufzuwärmen.

Unweigerlich kam im darauffolgenden Jahr im August oder September das nächste Baby zur Welt, das war nun einmal so, obwohl der Frau doch meistens eine kleine Ruhepause nach der Still- und Wickelzeit gegönnt wurde.

Die Geburt eines Kindes war immer wieder ein glückliches Ereignis, viele Kinder galten als Reichtum, der damals nicht mit Geld aufzuwiegen war. Jedes Neugeborene wurde mit Freude begrüßt. Jedes Mal wurde zur Kindstaufe ein großes Fest gefeiert und alles an Vorräten, Wurst und Braten aufgeboten für den neuen Erdenbürger. Alle Nachbarn brachten Geschenke, winzige Anziehsachen, kleine gehäkelte Strampler, selbst gebastelte Holzrasseln oder einen Kuchen. Bei Gertruds Geburt wurde ebenfalls ein großes Fest gefeiert, jedoch war Mutter Ruth-Roswitha traurig. Die Hebamme sagte, sie müsse das letzte zur Welt gebrachte Kind sein, da sonst Gefahr für die Gesundheit der Mutter bestehen würde.

So vergingen die glücklichen Kindheitsjahre, schnell wurden die Kinder der Guthes größer und älter.

Gertrud erinnerte sich an das Jahr 1921, damals war sie zehn Jahre alt und in Bönhof lagen zwei Meter Schnee. Bereits in der Vorweihnachtszeit gab es strengen Frost und reichlich Schneefall. Schon wurde alles für das Weihnachtfest vorbereitet. Ein Schwein wurde geschlachtet und zu Würsten, Fett und Schinken verarbeitet. Von den Jägern hatte man Wildfleisch bekommen, das ebenfalls an den Feiertagen zu kräftigen Bratenstücken verwertet wurde. Mutter und die Mädchen waren seit Tagen mit Kochen und Backen beschäftigt. Alles wurde getan, um die Feiertage so schön wie möglich zu erleben.

Am Abend vor Heiligabend zog die ganze Familie abends mit Fackeln in den angrenzenden Wald, um eine Weihnachtstanne zu schlagen. Das jüngste Kind war auserkoren zu bestimmen, welche Tanne in diesem Jahr die Lichter des heiligen Baumes tragen dürfe. Und da sie, Gertrud, das jüngste war, suchte sie stolz die schönste aller Tannen aus. Das würde sie nie vergessen in ihrem Leben! Es war eine so friedliche, heimelige Atmosphäre in dem weißen, stillen Wald. Ihr Vater und ihr ältester Bruder Fritz schlugen mit der Axt eine Kerbe, bis der Baum fiel und auf dem Schlitten gen Dorf gezogen wurde.

Am Heiligen Abend wurde die Tanne gegen Mittag von den Kindern festlich geschmückt. Die Mädchen hatten dieses Jahr extra mit Salzteig weihnachtliche Förmchen ausgestochen, gebacken und bemalt, um sie mit Schleifen am Baum zu befestigen. In der Küche machten sich alle Kinder noch schnell fein. Die Hände wurden mit Kernseife geschrubbt, um den Weihnachtsmann ja nicht mit schmutzigen Fingern zu empfangen. In den Zimmern wurden die Kinder angezogen. Saubere weiße Hemden und Blusen, die besten Hosen und Röcke wurden hervorgekramt. Die Haare wurden kräftig gebürstet und ordentlich gekämmt. Jacken und Mützen wurden übergestreift und erwartungsvoll ging es in die Kirche zur Andacht und Lesung der Weihnachtsgeschichte. Das ganze Dorf war auf den Beinen, alle hatten ihren feinsten Sonntagszwirn ausgepackt und sich feierlich herausgeputzt.

Der Pfarrer hielt eine gekürzte Predigt, um die Kinder nicht zu lange auf die Folter zu spannen. Als das »Oh du fröhliche« in der Kirche erklang, sah man in den Kinderaugen erwartungsvolles Leuchten. Die Bescherung stand kurz bevor.

Im Hause der Guthes wurde der Esstisch festlich fein eingedeckt mit rot bestickten Servietten und roten Schleifen, rote Tischkerzen wurden angezündet, verbreiteten eine festliche Stimmung. Traditionell gab es zum Essen am Heiligen Abend Kartoffelsalat mit polnischen Würstchen und zum Nachtisch mit Apfelbrei gefüllte süße Piroggen. Mutter und Vater ließen sich zur Feier des Tages einen süßen Schlehenwein schmecken. In der Wohnstube wurde vor der Bescherung noch etwas musiziert. Die Mädchen spielten auf der Flöte ein Weihnachtslied und gemeinsam sangen sie dazu. Die Kinder schielten alle schon ungeduldig auf die Geschenke, die eingepackt unter dem festlich geschmückten Baum lagen. Da erklang endlich das Glöckchen. Jedes Kind bekam, angefangen beim kleinsten, ein Geschenk. Alle schauten zu, wie es ausgepackt wurde, und die Spannung steigerte sich ins Unermessliche.

Gertrud bekam eine Puppe, die hatte sie sich schon lange gewünscht, andere Geschwister ein Bilderbuch, die Buben holzgearbeitete Autos, Zinnsoldaten oder einen neuen Schlitten. Es waren keine Reichtümer, die damals verschenkt wurden, aber alle waren zufrieden, keiner war eifersüchtig, dass der andere mehr bekommen hätte, denn schnell wurden alle Spielsachen ausgetauscht, bestaunt und unter dem Baum gemeinsam gespielt. Die Eltern wurden ebenfalls beschenkt. Die Mädchen hatten für ihre geliebte Mutti Topflappen gehäkelt. Der Vater bekam einen von den Buben selbst geschnitzten Bären, der Großvater und die Großmutter einen dicken Kuss auf die Wange. Gertrud erinnerte sich glücklich an dieses Weihnachtsfest in Bönhof im Kreise ihrer geliebten Geschwister, Eltern und Großeltern, gut behütet und wohl eingebettet in ihren vertrauten Familienkreis.

Ein unvergessliches Erlebnis ihrer Kindheit war neben Weihnachten der Jahreswechsel. Schon am Nachmittag saßen alle in freudiger Erwartung in der großen Wohnküche am eichenen Holztisch. Die Kinder bekamen heißen Kakao, die Erwachsenen ein Kaffee-Milch-Gemisch, dazu frischen Apfelkuchen, zur Feier des Tages mit Schlagrahm darauf. Gertrud hatte ihre Spielkameradinnen aus der Nachbarschaft zu Gast, die Mutter hieß mit ostpreußischer Gastfreundlichkeit alle willkommen, gemäß dem Sprichwort: »Wo viele an einem Tisch Platz nehmen, da wird auch noch der nächste Gast satt!«

Nach der Stärkung ging es los zur traditionellen Schlittenfahrt: der große Holzschlitten wurde aus der Scheune gezogen, das gestriegelte Pferd eingespannt, alle Kinder dick eingepackt mit Pudelmützen und dickem Schal, für die Mutter eine wärmende Decke. Draußen war es eisig kalt, aber die klare Sonne schien warm auf den glitzernden Schnee. Der Wind pfiff ihnen ins Gesicht, Vater trieb das vorgespannte Pferd ordentlich mit der Peitsche an, als wolle er knallend das alte Jahr vertreiben, wobei er niemals seine Stute traf. Flugs schoss der Schlitten vorbei an schneebedeckten Wiesen und Feldern durch den verschneiten Winterwald. Die Glöckchen läuteten lustig, das Bimmelim erklang hell durch den Forstwald, das Pferd schnaubte nebelartig durch die Nüstern.

Schwer lag der Schnee auf den Tannen, ein bunter Eisvogel saß darauf, ein Reh huschte vorbei, es gab Spuren von Fuchs und Elch zu sehen. Faszinierend und geheimnisvoll strahlte ihnen die Natur entgegen, die Sonne lachte vom seidenblauen Himmel, ließ den Schnee blitzen.

Man musste die Augen schließen, wenn das gleißende Sonnenlicht blendend auf den Schnee fiel. Beim Forsthaus »Zur Waldesruh« kehrten sie ein, die Erwachsenen tranken ein wärmendes Likörchen, Schlehenfeuer oder heißen Glühwein, die Kinder spielten, rutschten im Schnee und bauten Schneemänner. Auf der Rückfahrt kuschelten sie sich warm und heimelig zusammen, vertrauend auf das schnalzende Peitschengeräusch des Wagen führenden Vaters.

Zurück daheim wurde zuerst das Pferd versorgt, eingepfercht und bekam eine Extraportion Stroh für die Anstrengung. Das Silvester-Festmahl wurde eingenommen, traditionell gab es warme Schmandkartoffeln mit Dill und Speck und aufgeschnittenem Schweinebraten. Die Erwachsenen ließen sich zur Feier des Tages zum Nachtisch den Bärenfang schmecken, einen Likör aus Honig und Gewürzen, eine hochprozentige ostpreußische Spezialität. Gemeinsam wurde noch musiziert, das alte Jahr mit einem überlieferten Lied verabschiedet.

Später, als es auf Mitternacht zuging, versammelten sich auf dem Angerplatz alle Dorfbewohner. Auch die Kinder durften aufbleiben, es wurden Saft, Punsch und Glühwein gereicht, rundherum wurden brennende Fackeln aufgestellt und in der Mitte des Dorfplatzes ein Feuer entfacht. Zehn Minuten vor Mitternacht stellten sich die Männer des Dorfes im Halbkreis mit Peitschen in der Hand um den Anger auf. Der Dorfvorsteher postierte sich davor. Auf Kommando wurde nun das alte Jahr ausgepeitscht und das neue Jahr mit lauten Peitschenhieben und Rufen begrüßt. Alle fielen sich in die Arme, wünschten sich Glück und Gesundheit. Das neue Jahr wurde gemeinschaftlich willkommen geheißen, im Kreise der Dorfgemeinschaft. Durch die helle Mondnacht stampften sie nach Hause, fielen müde in die Betten.

Am Neujahrsmorgen durften die Kinder ausnahmsweise endlich einmal ausschlafen.

Gertrud und Johann

So wuchsen Gertrud und ihre Geschwister im Kreise der Familie auf und viele heiße Sommer und kalte Winter waren vergangen, als sie im Sommer 1927 ihre große erste Liebe kennenlernte.

Jetzt dachte sie nur noch an ihn, ihre Liebe führte sie wie magisch zusammen. Immer wieder erfanden sie gegenüber ihren Eltern neue Ausreden, um sich vor den abendlichen Verpflichtungen zu drücken. Sie eilten an den lauen Sommerabenden zum Treffpunkt am Nogatufer, wo sie sich auf ihrem Stammplatz niederließen. Ihre Gefühle waren jung, überschwänglich und hingebungsvoll, ihre Empfindungen tief und innig.

Sie wurden eins, körperlich und emotional. Er versprach, dass er sie immer lieben würde, der Glücksstern würde immer für sie leuchten, wie die Sterne in der heißen Sommernacht. So genossen sie gemeinsam den Sommer, der langsam zu Ende ging.

Mitte September, nachdem sie ihren Eltern tagsüber bei der Äpfel- und Birnenernte geholfen hatten, trafen sich die Mädchen und Jungs am Dorfanger, um gemeinsam am Fluss die letzten warmen Sonnenstrahlen zu genießen. Meist liefen sie barfuß, denn im Sommer und Herbst Schuhe zu tragen zählte als Luxus. Nur wenn die Landschaft in ein weißes Winterkleid gebettet war, wurden die Stiefel aus den Ecken geholt und das jeweils passende Paar aus derbem Leder anprobiert.

Jetzt wärmte die leicht untergehende Sonne noch die Füße der Mädchen, die Freundinnen von Gertrud-Maria hießen Katharina und Antonia. Alle drei trugen mittellange baumwollene Röcke und helle ellenbogenlange Pullover. Ihre Haare waren praktischerweise immer zu langen Zöpfen geflochten. Die drei Freundinnen kicherten und erzählten sich ihre geheimen Träume, jede Nacht entführte sie ihre Fantasie in unendliche Weiten. Ihre dicke Freundschaft ging so weit, dass sie sich alles erzählten, insbesondere ihre Erlebnisse mit den Jungs der Region.

Sie kamen entweder aus den Dörfern der Umgebung oder von den umliegenden großen Gütern. Die Freunde hießen Johann, der mit Gertrud befreundet war, sowie Adam. Alle zwei jungen Burschen waren hochgewachsen und dünn, ihre lederne Haut gegerbt von der Arbeit und Bewegung unter freiem Himmel. Adam hatte blaue Augen und helle Haare, die er etwas länger trug. Sein Lächeln war verschmitzt, oft hatte er Späße auf Lager, um die jungen Mädels zu unterhalten und für sich einzunehmen. Seit Neuestem hatte er sich in die enge Freundin von Gertrud, Antonia, verguckt. Ihre schlanke Figur faszinierte ihn und ihre dunklen Haare, die eng als Zöpfe um ihren Kopf geschlungen waren, gefielen ihm ebenfalls. Sie lachte hell und freundlich über seine Witze.

Schnell hatten sie sich gefunden und suchten händchenhaltend die gemeinsame Nähe.

An diesem spätsommerlichen Abend im September war die Stimmung am Ufer der Nogat ausgelassen, alle sprangen ins Wasser und genossen noch einmal die Wärme. Später saßen sie im Kreis auf der Wiese, einige Pärchen waren enger zusammengerutscht und küssten sich. Die Sonne neigte sich am Horizont und wollte rot untergehen, da spürten alle die melancholische Stimmung. Bald würde der Sommer endgültig zu Ende gehen, der Herbst würde Einzug halten. Vielleicht war es heute das letzte Mal, dass die lustige Runde sich hier zum Baden traf, dann hätten sie keinen Ort mehr, an dem sie ungestört, ohne Aufsicht der Erwachsenen, beisammen sein konnten. Draußen würde es zu kalt werden, heimlich in den Scheunen oder Ställen, bei Musikveranstaltungen, wären Orte der Zweisamkeit, aber immer würden die Eltern ein wachsames Auge haben. Deshalb rückten die jungen Leute im Kreis noch weiter zusammen und genossen die letzten Strahlen des sommerlich rot schimmernden Sonnenuntergangs. Es war ein magischer Moment.

Johann hatte den Arm um Gertruds Schultern gelegt, sie neigte den Kopf lehnend an seine Brust, oft blickten sie sich in die Augen und küssten sich. Die Mädchen waren naiv und dachten, das Leben, die Freundschaft und natürlich die erste innige Liebe würden ewig so weitergehen. Denn sie waren noch jung. Gertrud hatte letztes Jahr ihren 15. Geburtstag gefeiert und Antonia war sogar noch etwas jünger. Körperlich waren beide schon fast ausgereift, mit schlanken Hüften und kleinen, rundlich geformten Brüsten. Jedoch innerlich waren sie noch Kinder, wussten noch nichts vom Sinn und Ernst des Lebens, von Leid und Not, schauten nur von einem ereignisreichen Tag zum nächsten.

Gertrud hatte, seit sie mit Johann zusammen war, ihre Schularbeiten etwas vernachlässigt. Trotzdem hatte sie in allen Fächern sehr gute Noten, denn das Lernen fiel ihr leicht. Sie war wissbegierig auf alles, von den Sprachen über die Mathematik bis hin zur Musiklehre, die ihr besonders viel Spaß machte. Seit sie sich in seine dunklen Augen verliebt hatte, schweiften ihre Gedanken oft vom Unterricht ab, die Lehrerin ertappte sie, wie sie verträumt aus dem Fenster schaute und unaufmerksam war. Die Jungs der Region waren nicht so romantisch und weltfremd, sie waren schon eher an ein hartes Leben voll körperlicher Arbeit gewohnt. Sie wurden mit dem täglichen Kampf der Familien um Nahrung und Arbeit konfrontiert und im Überlebenstraining geschult. Von klein auf mussten sie in der Feld- und Waldwirtschaft, bei der Versorgung der Pferde, Rinder und Schafe mithelfen.

Nur die höher gestellten jungen Männer, wie Johann und Adam, die auf dem Gut lebten, brauchten nicht hart auf dem Feld zu arbeiten, ihnen war es sogar vergönnt, Privatunterricht zu bekommen. Sie lernten Mathematik, Geschichte und Fremdsprachen, im Schwerpunkt Naturwissenschaften und Wirtschaft, um später bei der Organisation und Verwaltung des Gutes mitzuhelfen. Für diese jungen Männer war es nicht schicklich, zu malen oder zu singen, obwohl das Erlernen eines Instruments, zum Beispiel Klavier, obligatorisch war, dies sollte die Jungs zu mehr Disziplin und logischem Begreifen von Notenfolgen zwingen.

Die adligen jungen Männer genossen eine vorzügliche Erziehung, fühlten sich aber auch oft eingeengt von den Zwängen der adligen Gesellschaft. Das Leben der jungen Männer vom Gut war wesentlich härter, disziplinierter und strenger als das der Jugend aus dem Dorf.

Daher nutzten sie jede Gelegenheit zum Ausbrechen, zum Treffen mit ihren Freunden aus dem Dorf, denn gerade die Freiheit, Unbekümmertheit und Leichtigkeit faszinierte sie dann.