Transformative Homiletik. Jenseits der Kanzel - Sabrina Müller - E-Book

Transformative Homiletik. Jenseits der Kanzel E-Book

Sabrina Müller

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Beschreibung

Predigen ist in zutiefst wirkungsvoller, seelenvoller und sinnvoller Weise möglich. Vielerorts geschieht dies schon, auch jenseits der Kanzel, ohne als Predigt anerkannt zu sein. Die Autorinnen prüfen die unhinterfragten Machtansprüche einer frontalen Predigt und bieten alternative, feministische und postkoloniale Ansätze. Partizipation statt Kanzelmacht unterstützt durch die göttliche Geistkraft, die RUACH, wollen sie die Predigt transformieren in einer sich transformierende Welt. Der dritte Band der Reihe 'Interdisziplinäre Studien zur Transformation" (IST)

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 Neukirchener Verlagsgesellschaft GmbH, Neukirchen-Vluyn

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.de

Lektorat: Anna Böck

Gestaltung und Satz: Magdalene Krumbeck, Wuppertal

Verwendete Schrift: Apollo MT Std, Akko Pro

Gesamtherstellung: PPP Pre Print Partner GmbH & Co. KG

ISBN 978-3-7615-6912-2 E-Book

www.neukirchener-verlage.de

Band 3: IST – »Interdisziplinäre Studien zur Transformation«

Herausgegeben von Sandra Bils, Thorsten Dietz, Tobias Faix, Tobias Künkler, Sabrina Müller, in Zusammenarbeit mit dem Studiengang Transformationsstudien für Öffentliche Theologie & Soziale Arbeit an der CVJM-Hochschule.

Für alle, die im Namen der Hoffnung und von der Ruach inspiriert ihre Unruhe bewahren:

die lauten und leisen Stimmen an den Rändern und in den bunten Zentren der Welt, die polyphon und mutig am Transformativ Predigen mitbauen

Für alle explorativ-homiletisch Tätigen, die uns gelehrt haben, wie ein gemeinsames Essen in einem Slum, ein Kaffee bei einer stillen Meditation in einer Großstadt, ein Bibel-Teilen in einer Kirchgemeinde und das getanzte Evangelium in einer Megachurch zur Predigt wird: Stephen, Ian, Marianne, Martin, Michael und viele mehr

Für alle Tänzer:innen diesseits und jenseits der Kanzel: besonders Timon, und auch viele weitere, die auf je ihre Weise Schönheit, Verbundenheit und Hoffnung in diese Welt hinein kommunizieren

und uns damit einen flüchtigen Blick schenken auf das, was wir sein könnten, auf unser atmendes Ich und auf eine zutiefst verbundene, lächelnde Welt

Geleitwort des Herausgeber:innenteams

Papa don‘t preach

»Papa don’t preach« ist eines der bekanntesten Hitsingles von Madonna. Der Inhalt dieses 1986 veröffentlichten Liedes ist schnell erzählt. Eine Jugendliche ist schwanger von ihrem Freund. Es hatte nicht an Warnungen gefehlt, nicht in ihrem Freundeskreis und ganz sicher nicht zu Hause. Nun ist es zu spät und sie weiß zweierlei: Dass sie dieses Kind bekommen möchte und dass sie dabei Hilfe benötigen wird. Nach vielen Sorgen und durchwachten Nächten spricht sie nun mit ihrem Vater und wünscht sich, dass er ihr hilft. Dass er ihre Entscheidung für das Kind und für die Beziehung mit dem jungen Mann akzeptiert und ihr zur Seite steht. Nur eines, und das zieht sich als Refrain durch das Lied, möge er bitte nicht tun: sie anpredigen. Papa don’t PREACH. Kein »Habe ich dir nicht gesagt« und kein »Das hast du nun davon«. Keine Ansprache von oben herab, vorwurfsvoll und besserwisserisch. Nichts, was irgendwie an das erinnert, was sie und ihre Hörer:innen sich unter einer Predigt vorstellen. Und das scheint eindeutig zu sein. Wer predigt, redet auf Menschen ein, ohne sie zu hören und zu sehen. Wer predigt, glaubt nicht nur, dass er etwas zu sagen hat; er glaubt, das Sagen zu haben. Wer predigt, steht auf einem hohen Podest. Wer predigt, sagt basta. Wer predigt, ist nicht Papa, sondern Patriarchat. So klang das Wort »Predigt« für viele im Jahr 1986. Und wahrscheinlich hat sich seither nicht sehr viel verändert.

Ende des Happyland

In ihrem Buch »Jenseits der Kanzel« sind Sabrina Müller und Jasmine Suhner auf diese Erfahrung eingestellt. Predigen versteht sich nicht mehr von selbst. Bis in die jüngste Gegenwart hinein konnten Kirche und Theologie die eigene Predigttätigkeit als selbstverständliches Kerngeschäft ansehen. Anders als bei Madonna wurde das »klassische Kanzelbewusstsein« nicht als Problem durchschaut. Es galt als das selbstverständliche Gefüge, dass ein gebildeter Mann in amtlicher Kleidung von erhöhter Position auf eine Versammlung einredete, die er als unterweisungsbedürftig ansah; und die offensichtlich mit größter Bereitschaft gekommen war, sich etwas sagen zu lassen. Inzwischen begegnet uns das Unbehagen mit diesem Format nicht mehr nur in den Charts. Es ist in die Kirchen eingewandert. Viele wollen nicht mehr das Sagen haben oder sich was sagen lassen. An diesem Machtgefüge ist nichts mehr selbstverständlich.

Die Fragen, die in diesem Buch gestellt werden, gehen von den Erfahrungen vieler marginalisierten Gruppen aus und betreffen alle, die sich biblisch-theologischer Machtansprüche bedienen, denn die Machtmechanismen sind oftmals gleich. Dabei geht es nicht nur um eine theologisch begründete und/oder strukturelle Unterdrückung von Menschen, sondern auch eine latente und gewohnheitsmäßige Unterdrückung, die oftmals schwer zu fassen ist und von der Gewohnheit und gewordenen Automatismen lebt. Die Autorin Tupoka Ogette1 hat dafür ein Wort geprägt: Happyland. Happyland beschreibt die Welterfahrung derjenigen, die unter keiner Unterdrückung leiden und sich sogar offen gegen Unterdrückungsmechanismen wie Sexismus, Rassismus oder Diskriminierung einsetzen. Sie merken aber nicht, wie sehr auch sie daran gewöhnt sind, eigene Privilegien für selbstverständlich zu nehmen und Ausgrenzung anderer zu übersehen. Es geht genau um diese Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten, die sich aus einer jahrhundertelangen Geschichte speisen und die manchmal sogar ungewollt fortgeführt werden. Viele Männer leben in diesem Happyland gut und bequem, denn viele Kirchen sind in ihrer Einrichtung und ihrer Führung so selbstverständlich auf Männer ausgerichtet, dass diese oft gar nicht merken, wie sie Frauen den Platz und die Stimme nehmen, gerade weil sie die eigenen Positionen als selbstverständlich nehmen. Dazu kommt, dass dann biblisch-theologische Argumentationen diese Positionen geistlich untermauern und Männer in eine Rolle zwängen, die ihnen oftmals nicht guttut und sie überfordert. In diesem Happyland haben Frauen oft das Gefühl des »Nicht-gesehen-Werdens«, des »Nicht-zu-Wort-Kommens« oder des »Nicht-gehört-Werdens«.

Kleine Wegbeschreibung

Müller und Suhner würdigen in ihrem Entwurf zunächst eine Reihe von neueren Ansätzen in der Homiletik. Dabei wenden sie sich genau den Problemen zu, die man in einem Lied wie »Papa don’t preach« ausgedrückt finden kann. Predigen ist in einer zweitausendjährigen Geschichte zu einer Art machtbasiertem Reden geworden. Und dieser implizite Geltungsanspruch ist zäh. Er verschwindet nicht einfach aus diesem Format, wenn man versucht es anders oder besser zu machen. Darum muss sich die Homiletik mit den impliziten Machtaspekten beschäftigen. Darum stellen die Autorinnen neuere Ansätze einer kritischen Machttheorie vor, unter besonderer Berücksichtigung postkolonialer und feministischer Ansätze. Dabei geht es nicht um einen banalen Gegensatz, dass man an die Stelle eines machtvollen Predigens künftig den Stil achtsamer Unterhaltung zu setzen habe. Reine Umkehrung der Vorzeichen wäre keine Lösung. Nicht der Gebrauch von Macht ist das Problem, denn dem können wir uns nie entziehen. Machtgebrauch und Achtsamkeit auf die Situation gehören zusammen. Dabei geben Müller und Suhner einen eindrücklichen Überblick in die internationale Predigtforschung: Reflexion eigener Privilegien, Perspektivübernahme eines Blicks von unten, kontextsensible Wahrnehmung der jeweiligen Situation und Förderung von Partizipation werden weltweit als notwendige Herausforderungen christlicher Kommunikation entdeckt. Schließlich entwerfen sie eine Skizze einer neuen Predigtkultur. In neutestamentlicher bzw. reformatorischer Sprache konnte man Predigen als Ausrichtung der befreienden Botschaft des Evangeliums in der Kraft des Heiligen Geistes beschreiben. Wenn es um diese befreiende Heilsmacht geht, bedarf es einer neuen Sprache, die sich vom autoritären Pathos früherer Ansprüche befreit.

Gut reformatorisch gehen Müller und Suhner auf die Bibel zurück. Im Anschluss an neue Bibelexegese in feministischer Perspektive setzen sie auf eine Neuentdeckung des Geistes Gottes als Ruach im Sinne der Hebräischen Bibel und einer umfassenden Reich-Gottes-Orientierung. Mit der Wiederentdeckung der Ruach, der göttlichen Geistkraft, kommt eine neue Dynamik in die Rede von Gott und Mensch, jenseits patriarchalischer Denk- und Redeformen. Die Hoffnung auf das Reich Gottes befreit die christliche Sprache von der Fixierung auf das Individuum und seine Innerlichkeit.

Jenseits der Kanzel?

Braucht es eine Transformation des Predigens? Genügen nicht ein paar neue Inhalte? Manchmal genügen neue Gedanken nicht, wenn sie sich in das Bestehende einfügen sollen. Ein Beispiel aus eigenem Erleben: Die internationale Kongressgemeinschaft hatte sich schon fast vollständig in der großen Stadtkirche eingefunden. Eine Referentin aus Asien wurde respektvoll vorgestellt und alle machten sich auf den harten Kirchenbänken zum Zuhören bereit. Denn da der Andrang so groß war, sprach sie nicht in einem Universitätsraum, sondern in der großen Kirche von der mächtigen Kanzel. Man sah – und alle mussten ganz genau hinschauen – ein lockiges Büschel schwarzer Haare hin und her bewegen. Mehr war nicht zu sehen. Schlagartig wurde das ganze Dilemma deutlich: Die asiatische Referentin verschwand geradezu hinter dieser mächtigen Kanzel. Auch an ein Podest hatte niemand gedacht. Die Menschen, die hier in der Regel sprachen, waren über Jahrhunderte hinweg alle männlich gewesen oder zumindest weiße Menschen mit hinreichender Körpergröße.

So ist es bis heute oft in Kirche und Gesellschaft. Auch in gutwilligen Zusammenhängen lässt sich nicht übersehen, dass die Strukturen für ganz bestimmte Menschen passend waren und für andere nicht. Mit ihrer transformativen Homiletik machen Müller und Suhner nicht nur Lust auf neue Gedanken. Ihr Blick über den Tellerrand westlich-weißer Theologie bahnt auch neue Formen einer gemeinschaftlichen Predigtkultur an.

Thorsten Dietz und Tobias Faix für die Herausgeber:innen

1 Das lesenswerte Buch von Tupoka Ogette heißt »Exit Racism« und beschäftigt sich vorwiegend mit Rassismus. Wir »leihen« uns hier ihren Begriff Happyland und deuten ihn im Kontext dieses Beitrags.

Vorwort

»Holt die Predigt von der Kanzel!« – dann hat sie die Chance, Augen zum Leuchten zu bringen und Menschen dazu zu bewegen, sich und die Welt zu verändern. So lautet das Plädoyer dieser Homiletik anderer Art. Wie andere Homiletiken auch, sieht sie die monologische Predigt von der Kanzel in der Krise, aber weder bedauert sie diese Entwicklung noch möchte sie sie durch andere Inhalte oder eine andere Sprache überwinden. Stattdessen motivieren Sabrina Müller und Jasmine Suhner dazu, die Predigt als Teil des vielfältigen religiösen Kommunikationsgeschehens innerhalb und außerhalb der Kirche zu verstehen. Denn die Kanzel und der Monolog sind, wie das Buch zeigt, Ausdruck von Machtverhältnissen, die in feministischer und postkolonialer Sicht ohnehin zu überwinden sind. Diese verlassend, kann und soll die Predigt lebendige, kreative und transformierende Begegnungen zwischen Menschen und biblischen Texten fördern. Menschen sollen in Resonanz gehen mit der »Ruach« Gottes und so ermutigt und ermächtigt werden zu transformativen Prozessen, die die Welt im Horizont des Reiches Gottes verändern.

Wie das gelingen kann, dafür liefert das Buch kein fertiges Konzept. Vielmehr werden die Leser:innen mitgenommen in die Suchbewegungen der beiden Autorinnen und dadurch motiviert zur eigenen Suche, die durch persönliche Fragen an die Leser:innen unterstützt wird. Der Weg dorthin führt zunächst über homiletische Theoriediskurse: einerseits klassische, die kritisch auf ihre Potenziale ebenso wie auf ihre Schwierigkeiten befragt werden, und andererseits eher unbekannte feministische und postkoloniale überwiegend aus anderen Kontinenten. Er leitet dann weiter zu Theorien zu Machtverhältnissen und Ansätzen zu deren Überwindung. Schließlich mündet er in praktische Beispiele, in welchen Formen Predigen jenseits der Kanzel gelingen und was dies bewirken kann, auch und gerade in digitalen Formaten.

Wie kann und will ich so predigen, dass Augen leuchten, dass Menschen zu mündigen Subjekten im Umgang mit der Bibel werden, dass sie miteinander kreativ werden und auf diesen Wegen spürbar zur Veränderung von Gesellschaft und Kirche beitragen? Diese Frage stelle ich mir nach der Lektüre des Buches und fühle mich gleichzeitig ermutigt, diese Wirkung der Predigt für möglich zu halten – jenseits der Kanzel und (m)achtsam für Menschen und für die Welt im Horizont des Reiches Gottes.

Prof. Dr. Uta Pohl-Patalong

Einleitung

Liebe:r Leser:in,

die Idee für dieses Buch ist schon vor einigen Jahren entstanden. Wir saßen in einer Konferenz im schweizerischen Fribourg. Der Regisseur Wim Wenders erzählte mit bewegenden Worten davon, was ihn in seiner Arbeit antreibe: das reisende Unterwegssein; die Stimme gegen Armut zu erheben, ein Gespür für den »Ortssinn«, also für die Bedeutung von Kontexten. Der Soziologe Hartmut Rosa sprach über den »Leuchtende-Augen-Index« und über Resonanzerlebnisse. Wir beide saßen als Zuhörerinnen dort. Gleichzeitig malten und skizzierten wir auf je unseren Notizblöcken mit: nicht nur zum Gesagten, sondern dazu, wie leuchtende Augen und Homiletik, Transformation und Predigen zu denken und zu tun sind und wie sie zusammenhängen. In dieser Konferenz entstand also bei Bleistift-Skizzen, unter Wispern und Lachen, und anhand von Emojis für Homiletik-Frust und Homiletik-Träume der Grundgedanke für dieses Buch: die Idee, den zahlreichen bestehenden Büchern über Homiletik ein anderes zur Seite zu stellen. Ein illustriertes Buch, das zwar an klassische Homiletik-Anliegen und an gelingende gelebte religiöse Kommunikationsgeschehen anknüpft, aber darüber hinaus die Frage stellt:

Was heißt transformativ predigen?

Wir begannen einen Suchprozess.

Inspiriert durch die visuelle Version des Bestsellers »Reinventing Organizations« entstand unsere Idee, das vorliegende Buch zu schreiben und zu gestalten. Dieses Buch soll eines sein, bei dem der Text herausfordert und inspiriert, das aber auch visuell ansprechend und kurzweilig ist. Es soll bereits beim Durchblättern zur eigenen Weiterentwicklung der Praxis religiöser Kommunikation anregen. Deshalb finden Sie hier sowohl Text als auch Sketchnotes (von Sabrina Müller) sowie Fragen und Übungen für sich selbst.

Bevor wir nun ins Buch einsteigen, möchten wir uns herzlich bedanken: bei Dr. Patrick Todjeras und Pastorin Birgit Mattausch für die kritische Lektüre und die wertvollen Hinweise und Rückmeldungen, bei Prof. Dr. Uta Pohl-Patalong für ihr ermutigendes Vorwort, bei Aline Knapp für das sorgfältige Korrektorat und beim Universitären Forschungsschwerpunkt (UFSP) »Digital Religion(s)« der Universität Zürich, der uns immer wieder interdisziplinäre Zusammenarbeiten mit vielen Wissenschaftler:innen ermöglicht, die inspirierend sind für unser eigenes theologisches Denken.

Tiefer graben

Grau unterlegte Kästchen bedeuten: Hier wird die Thematik nochmals vertieft in der Forschungsdebatte verortet. Hier finden Sie in Kurzform Erläuterungen zu Begrifflichkeiten, Konzepten und weitere Literaturhinweise.

Jetzt wird’s praktisch!

Kästchen mit gezackter Linie bedeuten: Hier finden Sie Fragestellungen, die sie direkt an sich selbst stellen können und Übungen, die Sie zum Weiterdenken anregen sollen.

Wieso sind uns diese Kästchen wichtig? Schreiben hat, ebenso wie Predigen, auch mit Macht und mit Rollen zu tun. Wiederholt möchten wir deshalb auch Fragen und Übungen benennen, die Sie als Lesende dazu ermuntern, den Themen selbstständig und aktiv nachzugehen. Auf diese Weise, so hoffen wir, unterbrechen wir den zwangsläufig eher monologischen Charakter eines Buchs und fordern Sie heraus, sich Ihre eigene Meinung zu bilden.

Manchmal finden Sie Sketchnotes: Diese visualisieren den Text, um ihn in Kürze und manchmal auch humorvoll verständlich zu machen.

Dies ist also ein Buch, das man in unterschiedlicher, je persönlicher Vertiefung oder nur kapitelweise und praxisnah lesen kann. Eines, das Sie leicht mit anderen teilen können und das Ihnen hilft, nicht mehr nur über das zu sprechen, was nicht funktioniert, sondern auch über die vielen Möglichkeiten, die im Feld der Homiletik offenstehen. Dieses Buch zeigt, wie einige Menschen und einige Systeme Wege gefunden haben, um wirkungsvoll, seelenvoll und sinnvoll zu predigen. Und es lädt Sie ein, sich eine neue Zukunft für Ihre eigene Art religiöser Kommunikation vorzustellen. Machen Sie sich auf Denk- und Handlungsanstöße gefasst!

Wozu noch eine Homiletik – und ist dies überhaupt eine?

Das vorliegende Buch geht davon aus, dass Predigen in zutiefst wirkungsvoller, seelenvoller und sinnvoller Weise möglich ist und dass dies vielerorts geschieht, innerhalb wie außerhalb der Kirche.

Im klassischen homiletischen Kontext, in der Kirche, läuft aber auch einiges nicht wie erwünscht. Es lässt sich so manche traurige Geschichte darüber erzählen, wie administrative Anforderungen an Pfarrpersonen die Lebendigkeit und Energie aus dem Predigtgeschehen verdrängen: wenn etwa die Bürokratie die Gestaltungs- und Sprachmacht übernimmt und die Kreativität im Keim erstickt; wenn Egoismus und Machtspiele oder Silodenken in Kirchgemeinden grassieren und der:m Prediger:in alle emotionale Kraft raubt; wenn religiöse Kommunikation weniger von transformativ-theologischer Kraft denn von theologischer (Sprach-)Leere oder Management-Müdigkeit geprägt ist. Es lässt sich ebenso manche traurige Geschichte darüber erzählen, wie das Predigtgeschehen in vielfacher Weise nach wie vor zutiefst patriarchalisch und kolonial geprägt ist; wie dann Prinzipien der Kontrolle anstelle empowernder Gemeinschaft, wie das Hierarchische anstelle des Systembewussten, wie gesetzte Aussagen anstelle von Fragen, wie Statisches und Konservatives anstelle von Transformation dominieren.

Zugleich haben in- und außerhalb der Kirche zahlreiche Menschen Sehnsucht nach etwas Anderem und spüren Resonanz mit »religiösen Kommunikationsgeschehen«, gerade auch solchen »jenseits der Kanzel« (mehr zu diesem Ausdruck erfahren Sie in den folgenden Kapiteln). Viele Menschen sind nachhaltig inspiriert, wenn sie »predigt-ähnliche« Sequenzen in Podcasts, Liedern, Filmen (z. B. Motivationsreden) hören, wenn sie Bilder und Videos von Influencer:innen sehen, auch wenn sie manche Reden in klassisch-christlichen Formaten oder auch weiteren Kontexten hören. Der Grund für diese Resonanz liegt unserer Ansicht nach an dem ungebrochenen, weit verbreiteten Bedürfnis danach, Erfahrungswissen, Hoffnungen und Lebensweisheiten von Gegenübern zu hören, zu lesen, mitgeteilt zu bekommen und aktiv mitzuteilen.

Wir gestalten dieses Buch – schreibend und illustrierend – in der Absicht, eine etwas andere Homiletik zu bauen. Wir wollen damit Anstoß dazu geben, dass bereits tätige und angehende Prediger:innen und Hörer:innen, was im Idealfall zusammenfällt, leuchtende Augen beim Lesen bekommen und inspiriert und motiviert werden für ihre weitere religiöse Kommunikationspraxis – auf der Kanzel ebenso wie jenseits davon. Wir wollen unsere Leser:innen gleichzeitig dazu herausfordern, darüber nachzudenken, was bei ihnen selbst in dieser Hinsicht eigentlich leuchtende Augen auslöst:

»Das, was wir meinen, wenn wir alltagsweltlich davon reden, dass eine Begegnung jemandes Augen zum Leuchten gebracht habe, ist eine empirische Realität und keine esoterische Phantasie. […] Die leuchtenden Augen eines Menschen können […] als sicht- und tendenziell messbares Indiz dafür gelesen werden, dass der ›Resonanzdraht‹ in beide Richtungen in Bewegung ist: Das Subjekt entwickelt ein intrinsisches, tendenziell handlungsorientierendes und öffnendes Interesse nach außen, während es zugleich von außen in Schwingung versetzt oder affiziert wird.«1

In klassischen wissenschaftlichen Disziplinen formuliert, sehen wir wesentlich zwei Anknüpfungsfelder für dieses Buch:

Es geht uns zum einen um einen Anschluss an homiletische Fragen und Anliegen. Hier wollen wir die Praktische Theologie und spezifisch die Homiletik weiterdenken.Es geht uns zum anderen aber ganz grundsätzlich um den Blick für gelingendes, gelebtes religiöses Kommunikationsgeschehen. Ein solches lässt sich nicht ohne Weiteres in das einreihen, was man gängig unter »Homiletik« fasst. Für solches wollen wir ebenfalls die Augen öffnen und davon her Grundideen, Handlungsempfehlungen und Inspirationen benennen. Hier schließen wir an interdisziplinäre Ansätze der Kommunikationswissenschaft, der Transformationsforschung, der Philosophie und weiterer Disziplinen an.

Wir schreiben dieses Buch nicht abstrakt und nicht frei von Prämissen. Inhaltlich geht es uns um den Blick auf notwendige Transformationen in unserer Gesellschaft und konkret in der Predigtpraxis. Hierzu zählen für uns wesentlich eine dedication (Einsatz/Hingabe) für die Option für die Ränder, die »voices from the margins«, sowohl äußerlich-gesellschaftlich wie auch innerlich-seelisch. Christlich-theologisch gesprochen geht es uns um die Sehnsucht nach, Hoffnung auf und Handeln für das Reich Gottes. Allgemeiner formuliert geht es uns um die Frage, wie religiöse Kommunikation transformierend wirken kann. Sie kann dies nur in Räumen, nur durch Menschen, nur durch Ideen, die sich selbst wieder in Bewegung setzen lassen.

Wir werden uns in den kommenden Kapiteln von Begriffen und Themen unserer beiden Anknüpfungsfelder leiten lassen:

Wir knüpfen an einige klassische theologische Begriffe an: Ruach als transformierende Kraft und Partizipation als ermächtigende Dynamik. Und, in kritischer Weise, an homiletische Entwicklungslinien und das damit verknüpfte »klassische Kanzelbewusstsein«.Wir knüpfen auch an Begriffe und Theoriekonzepte an, die stärker in genereller gelebter Theologie und religiöser Kommunikationspraxis, in Religionssoziologie und -psychologie, in Philosophie und Transformationsforschung zu finden sind: feministisch-postkoloniale Theologien, Empowerment, Spiritualität, unkonventionelle Wege, Fluidität zwischen Religion und Nicht-Religion.

Viele dieser Ideen unserer beiden Anknüpfungsfelder überschneiden sich letztlich dann doch. Ruach als unverfügbare und transformierende Kraft liegt dann plötzlich nahe bei imago und Imagination, Theismus und Atheismus treffen sich im Anatheismus (vgl. Teil III), Jünger:innen-Denken trifft sich mit Empowerment (vgl. Teil II).

Natürlich gibt es eine unseren gesamten Suchprozess und damit dieses Buch leitende Forschungsfrage. Auch wenn jede:r Forscher:in sich eingestehen muss, dass das Anstreben eines genau bestimmten Forschungsziels, auf das dann jegliche Forschungstätigkeit direkt ausgerichtet wird, als eigentlich paradoxes Unterfangen angesehen werden muss. Die wesentlichen Fragestellungen des vorliegenden Buchs lauten:2

Was heißt transformativ predigen und wie lassen sich entsprechende Erkenntnisse in Handlungsempfehlungen für interessierte Homiletik-Visionär:innen fassen?

Sie hören bzw. lesen: Dies ist keine »klassische« Homiletik. Dies ist auch keine neue Homiletik und kein ausführliches Handbuch über neue Homiletik-Ansätze. Sie halten vielmehr ein Buch in den Händen, welches homiletische Anliegen zugleich unterschreitet als auch überschreitet. Dieses Buch ist eine erzählerische und kritische Einführung in die Homiletik – aber keine umfassende, sondern eine stichprobenartige. Wir bevorzugen dabei nicht die Großtheorien, sondern das Kleinteilige, das Fragmentierte, Beiläufige, Erzählerische und das Partikulare.3 So werden einige wichtige Elemente neu entstehender gelebter religiöser Kommunikationsgeschehen hervorgehoben, gerade so viel, dass Sie einen guten Eindruck davon erhalten, worum es dabei geht. Das Buch zeigt Beispiele gelingenden gelebten Predigtgeschehens, auch »jenseits der Kanzel«.

Wir sprengen dabei in mancher Weise einen »klassischen« Homiletikbegriff. Dies verdeutlichen wir auch, indem wir an manchen Stellen, allgemeiner von »religiöser Kommunikation« sprechen.

Weshalb ordnen wir dieses Buch insgesamt dennoch im Feld »Homiletik« ein? Der Begriff Homiletik meint zunächst einmal, etymologisch, die Kunst des Umgangs (gr. ὁμιλητική τέχνη), und zwar mit Menschenmengen und Versammlungen (gr. ὁμιλος). Es geht um die spezifische Kunst öffentlichen Sprechens, im religiösen Bereich eben: des Predigens. Es kann sich dabei um ausgefeilte Sprechkunstwerke handeln oder um die Intention, mit wenigen Gesten einen Samen zu streuen, oder um poetische oder prosaische, laute oder leise Worte. Die Funktion des Predigens bleibt dabei stets »Verheissung und Wirklichkeit miteinander zu versprechen, so dass verständlich wird, wie Christusverheissung auch und gerade diese den Glauben bedrängende Wirklichkeit betrifft, aufbricht, in ihrer Bedeutung für den Glaubenden verändert […]«.4 Form und Inhalt werden dabei kontextuell gedeutet.

Diesem Verständnis von Homiletik gehen wir im Folgenden in spezifischer Weise, nämlich (m)achtsam (vgl. Teil II), auf die Spur. Was dies für den Homiletikbegriff bedeutet, werden wir im Teil III sehen.

Abschließend möchten wir anmerken, dass unsere Perspektiven von unseren spezifischen, je unterschiedlichen evangelisch-theologischen und kirchlichen (Praxis-)Erfahrungen geprägt sind. Wir beide sind weiß und in der Schweiz in der traditionellen Mittelschicht ohne akademischen Hintergrund aufgewachsen. Wir beide haben uns an der Universität Zürich promoviert (und habilitiert), Sabrina Müller in Praktischer Theologie, Jasmine Suhner in Religionspädagogik.

Sabrina Müller hat langjährige kirchliche, theologische und ökumenische Praxiserfahrung in der Jugendarbeit und als Pfarrerin im In- und Ausland. Sie hat längere Zeit in England geforscht, mehr als zwei Jahre in den USA gelebt und ist als Gastforscherin an der Claremont School of Theology (CST) und in ihrer Tätigkeit als Co-Chair in Praktischer Theologie bei der American Academy of Religion mit feministisch-postkolonialen Theologien in Berührung gekommen. Durch die verschiedenen Forschungserfahrungen im Ausland und das Interesse an kontextuellen Theologien fließen diese Aspekte ebenso in Sabrinas theologische Reflexionen mit ein wie ihre Prägung durch die deutschsprachige Praktische Theologie.

Jasmine Suhner hat vor ihrem Theologiestudium mehrere Jahre klassische Musik studiert, hat beruflich als Tänzerin und Tanzlehrerin gearbeitet, und betätigt sich bis heute außerhalb der universitären Arbeit als Kulturverantwortliche im Feld von Philosophie, Kunst und Gesellschaftsthemen sowie als Coachin. Diese verschiedenen Berufs- und Lebenserfahrungen, ihr damit verknüpftes Interesse an Embodiment (Verkörperung), Erfahrungsmystik, innovativen (Religions-)Sprachformen und transreligiösen Themen fließen in ihre religionspädagogische Forschung und ihr theologisches und religionsphilosophisches Denken und Handeln mit ein.

Unbestritten ist, dass unser sozialer und theologischer Standort auch diese homiletische Studie mitbestimmt hat. Aus methodischen Gründen ist das offene Benennen solcher Hintergründe notwendig, denn die Erläuterung persönlicher Prägungen und des eigenen Bias führt dazu, dass sich die Lesenden der Normativitäten der Autorinnen bewusst sind und dass gleichzeitig wir als Autorinnen unsere Normativitäten bewusster setzen und so die Glaubwürdigkeit der Ausführungen erhöht werden kann.5

Methodische Verortung: Zur »Produktion« des Phänomens »Predigen jenseits der Kanzel«

Dieses Buch ist kein Forschungsprojekt im klassisch-akademischen Sinn. Es ist vielmehr ein Suchprojekt. Sie als Leser:in begleiten uns auf dieser Suche. All jene, die sofort mit dieser Suche beginnen möchten, können an dieser Stelle vorblättern zum Kapitel 2.3, sich einen Überblick über den Aufbau dieses Buch verschaffen und dann je nach Lust und Laune von Anfang bis Ende oder auszugsweise lesen.

Für all jene, die sich im weiteren Sinn für die methodische Grundlegung dieses Buchs interessieren, fügen wir hier einige Verortungen und Reflexionen zum methodischen Vorgehen dieses Buchs an.

»Als Forscher[innen] wissen wir immer recht gut, woher wir kommen, […], aber wir wissen im Voraus nicht genau, wohin wir uns wenden, welchen Weg wir nehmen und wo wir uns zu einem bestimmten Augenblick befinden werden, denn um diese Positionen zu kennen und auf der Karte des Projekts einzutragen, müssten wir gefunden haben, wonach wir suchen, noch bevor wir es entdeckt hätten.«6

Wenn wir im Rahmen dieses Buchs von Predigen jenseits der Kanzel sprechen, so können wir nie einfach objektiv Predigtgeschehen an sich betrachten. Unsere Betrachtung ist stets von unserem Blick, unseren Interessen, unseren Begriffen und unserem Suchen geprägt. Unsere Ausführungen können dem realen Geschehen nie ganz entsprechen. Aber unsere Suche und dieses Buch als das Ergebnis dieser Suche können die Leser:innen vielleicht dazu bringen, das Phänomen des Predigens jenseits der Kanzel in bewussterer Weise wahrzunehmen.

Im Sinne einer methodischen Selbstverortung legen wir hier dar, auf welche Weise wir uns in diesem Buch mit dem Phänomen Predigen jenseits der Kanzel beschäftigen. Wir legen jene Fragen dar, die uns dazu geführt haben, uns diesem Thema aus wissenschaftlicher Perspektive und zugleich in erzählender Weise zuzuwenden. Zudem skizzieren wir die Vorannahmen, die unserem Arbeiten und Schreiben zugrunde liegen, und ziehen Verbindungslinien zwischen thematischen Aspekten des untersuchten Phänomens, die vor dem Untersuchungsprozess noch nicht absehbar waren und die sich erst allmählich ergeben haben.

Zu Beginn sei vorangestellt: Wir verstehen Theologie als kritische Geistes- und Gesellschaftswissenschaft, deren zentrale Aufgabe unter anderem darin besteht, das Geflecht von Beziehungsstrukturen zwischen verschiedenen Menschen und der Natur im Wechselspiel mit religiösen Traditionen und Erfahrungen, religiösen Themen, religiöser Praxis und gesellschaftlichen Verhältnissen zu untersuchen. Damit zusammenhängend können und sollen akademische Theologien auch vorherrschende Vorstellungen von Lebensorientierungen, Denk-, Handlungs- und Kommunikationsweisen kritisieren und Optionen für entsprechende Transformation anbieten.

Homiletik – als Reflexion auf die klassische Kanzelrede – ist nicht unabhängig vom Begriff der Kanzel und damit von dem zu untersuchen, was wir »Kanzelbewusstsein« nennen. Die Kanzel als Symbol für Kirche ist wesentlich mit Homiletik, pastoraltheologischem Selbstverständnis, Amtstheologie und Macht verbunden. Auch jüngere homiletische Ansätze implizieren zumeist, dass »normales« homiletisches Tun im kirchlichen Raum und in klassischer Manier von der Kanzel aus erfolgt – also in grundsätzlich hierarchischer, analoger, kirchlich-professionalisierter Weise. Auch wenn das aktuelle Predigtgeschehen selten noch wirklich von der Kanzel aus geschieht, bleiben die Weisen zu predigen dennoch die gleichen. Die Kanzel wird hier also zum Symbol für eine (Predigt-)Haltung (vgl. Kapitel 3).

Weitere predigt-ähnliche religiöse Kommunikationsprozesse finden zwar statt – und dies wird auch wahrgenommen –, trotzdem erhalten sie bisher wenig Eingang in die theologische Debatte und auch wenig Raum in der Aus- und Weiterbildung von Pfarrpersonen. Der Grund dafür liegt darin, dass bei kanzelfernen religiösen Kommunikationsformen die kirchliche, kanzelnahe Verortung gerade nicht gegeben ist und diese Formen deshalb weniger als homiletisches Tun wahrgenommen werden.

Mit diesem Buch versuchen wir, vermeintliche Eindeutigkeiten in Bezug auf gegenwärtig relevantes homiletisches Tun zu hinterfragen und nachzuzeichnen, welche normatisierenden Diskurse diese Thematik durchziehen. Im Fokus stehen die Fragen, wie diese Diskurse unsere Vorstellungen prägen, was dabei überhaupt als Predigt oder religiöse Rede gilt und inwiefern »kanzel-jenseitige« religiöse Rede höchstens als Spezialform von klassischer Predigt konstituiert wird.

Eine besondere Herausforderung dieses Vorhabens bestand darin, dass wir dabei selbst nicht von vornherein unseren Blick einschränkende normative Festlegungen setzen, also nicht von vornherein festlegen, wie sich etwas verhält oder wie etwas ist. Es geht darum, infrage zu stellen, weshalb etwas genauso in Erscheinung tritt bzw. treten konnte und weshalb sich genau dieses und nicht ein anderes Wissen über Homiletik konstituiert (hat).

Diese Herangehensweise entspricht einer dekonstruktivistischen Forschungshaltung im Anschluss an Derrida, bei der es darauf ankommt, keine voreiligen Bedeutungsschließungen vorzunehmen und diese gleichsam zu zementieren.7 Vielmehr geht es dabei um eine Offenheit gegenüber immer neuen Bedeutungsverschiebungen bei einer gleichzeitigen und kontinuierlichen Infragestellung dominanter Bedeutungen.8

Eine transformative Homiletik muss also offen sein, Bedeutungen hinterfragen und entsprechende Deutungsmächte und Bedeutungsverschiebungen wahrnehmen. Sie schaut systembewusst um sich, beachtet ihre eigene Entstehungsdynamik und gibt jenen Kräften, Theorien und Erfahrungen Raum, welche die homiletische Kernaufgabe in der Gegenwart von Grund auf stärken (mehr dazu in Teil III).

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der Blick zurück (vgl. Teil I) zeigt: Homiletik ist, durch verschiedene Pfadabhängigkeiten, nach wie vor geprägt durch eine die Debatte steuernde Sicht des weißen westlichen Mannes. Eine transformative Homiletik muss deshalb unseres Erachtens feministische, aber auch postkoloniale Ansätze miteinbeziehen (vgl. Teil II). Dabei schließen wir auch an Masseys Feststellung an, dass jede Arbeit einer feministischen Wissensproduktion nicht allein darin bestehen dürfe, Geschlechterverhältnisse zu erforschen, sondern dass es auch notwendig sei, »the gendered nature of our modes of theorizing and the concepts with which we work«9 selbst zum Gegenstand des kritischen Forschens zu machen. Damit meinen wir: Es ist auch zu fragen, wie das Phänomen des »Predigens jenseits der Kanzel« hervorgebracht wird und wie Wissen darüber erlangt werden kann (bzw. konnte). Dieser Frage widmen wir uns dann auch noch einmal am Ende dieses Buches.

Der Prozess unserer Recherche umfasst deutschsprachige sowie angelsächsische homiletische Konzeptionen. Auch bei den Beispielen kanzelferner Predigten bewegen wir uns in diesen beiden Sprachräumen. Dabei geben wir die von uns gewählten Beispiele in Form von Erzählungen weiter: Auf diese Weise versuchen wir den lebendigen Charakter der Praxis möglichst beizubehalten.

Wie ist dieses Buch aufgebaut?

Dieses Buch erschließt sich Schritt für Schritt. So gibt es z. B. für das, was wir unter »Embodiment« verstehen oder wie wir auf feministische Diskurse eingehen, eigene Kapitel. Manchmal klingen die Themen aber bereits vor diesen entsprechenden Kapiteln schon an. Die hier aufgeworfenen Themen, die Fragestellungen, überhaupt die Realität sind nicht linear wie ein Buch. Wir laden Sie ein, sich in Ihrem eigenen Tempo und auch mit Sprüngen durch dieses Buch zu lesen. Gemütlich und langsam Lesende sind eingeladen, dieses Buch Kapitel für Kapitel zu genießen, auch mit großen zeitlichen Abständen zwischen den Kapiteln – denn die einzelnen Kapitel sind auch je für sich gut verständlich und aussagekräftig.

Schnell Lesende sind eingeladen, im Eiltempo durch diese Seiten zu fliegen – denn die Titelüberschriften, die Kästchen und Sketchnotes vermitteln bereits einen Einblick in wesentliche Themen dieses Buchs.

Jene, die es eilig haben, dürfen direkt nach hinten zu den Handlungsempfehlungen blättern (Kap. 17 und 18). Man muss ja auch nicht immer ein ganzes Menü essen, um den Energiekick eines koffeinhaltigen Espressos genießen zu dürfen.

Kritisch Weiterdenkende schließlich dürfen, ja sollen dieses Buch gerne weiterentwickeln, denn wenn dieses Buch Inspiration und Handlungen auslöst, dann ist eines seiner wesentlichen Ziele erreicht.

Für alle diese verschiedenen Leser:innen präsentieren wir hier einen Überblick über die Kapitel dieses Buchs:

Teil I. Vom Kanzelbewusstsein: eine Kanzelkritik. Wir beginnen dieses Buch mit der Anknüpfung an homiletische Entwicklungslinien: Dies ist der klassischste Teil dieses Buchs: eine Darstellung homiletischer Entwicklungen – aber dies unter dem Gesichtspunkt der Kanzel, die uns als Metonymie und Metapher dient (Kap. 3). Wir durchschreiten hier die Geschichte der Kanzel in einigen kurzen Skizzierungen und landen auf diesem Weg beim Kanzelbewusstsein der jüngeren Zeit (3.3). Von da aus werfen wir einen Blick auf aktuelle homiletische Entwürfe und Debatten (3.4 und 3.5) und gelangen zur Frage: Was nun?

Teil II. (M)achtsame Homiletik. Wenn ein Transformationsbedarf festgestellt wird und man die entsprechende Transformation bewusst fördern möchte, dann lohnt es sich, die Ausgangslage systematisch zu betrachten. Dies machen wir in Teil II, indem wir uns zunächst mit klassischen Machttheorien und -verständnissen auseinandersetzen (4.1 und 4.2). Von hier aus zeigen wir partizipative Machtverständnisse (5.1) und feministische (5.2) sowie postkoloniale Diskurse (5.3) auf, die das klassische Kanzelbewusstsein und entsprechende Homiletikdiskurse inspirieren und transformieren (5.4 und 5.5). Am Ende dieses Teil II machen wir einen kurzen Zwischenhalt, blicken zurück, schauen in die Gegenwart und stellen die Frage: Was nun? Kap. 6)

Teil III. Eine transformativ–(m)achtsame Homiletik. Im letzten Teil dieses Buches lassen wir unseren Suchprozess in konkrete Handlungsempfehlungen und Inspirationen münden. Nach einer Einleitung (Kap. 7) stellen wir kritisch die (für eine transformative Homiletik doch wichtige) Frage, was konkret »Transformation« meint (Kap. 8). Theologisch wissen wir uns in dieser Frage getragen und verortet in der Ruach, dem Geist Gottes, in der wir Transformation und damit auch eine transformative Homiletik verankern. An dieser Stelle knüpfen wir auch wieder an den Begriff der Resonanz an und rücken transformations-systembewusst die leisen, stummen, ungehörten Stimmen, voices from the margins, in den Blick (Kap. 9). Von hier aus gelangen wir zu einem »System transformativ-(m)achtsamer Homiletik« (Kap. 10) und zu verschiedenen Dimensionen einer transformativ-(m)achtsamen Homiletik (Kap. 11). Es gibt sie bereits in vielerlei und motivierenden Weisen: innovative, inspirierende, mutige Beispiele transformativ-(m)achtsamer Homiletik. Wir beschreiben oder vielmehr erzählen einige davon ganz konkret. Und wir konkretisieren, in welcher Weise hier transformatives Predigen erfolgt und welche Handlungsempfehlungen Sie für sich daraus ableiten könnten. Wir enden mit einem Anfang (Kap. 12): Wir heißen Sie willkommen auf der homiletischen Baustelle der Zukunft!

1 Rosa, Hartmut: Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung, 5. Aufl., Berlin: Suhrkamp Verlag 2016, S. 671 und 241.

2 Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg: Experiment, Differenz, Schrift: zur Geschichte epistemischer Dinge, Marburg an der Lahn: Basilisken-Presse 1992, S. 54.

3 Vgl. dazu z. B. Slee, Nicola: Fragments for Fractured Times: What Feminist Practical Theology Brings to the Table, London: SCM Press 2020, S. 3: »I regard the occasional, contextual and fragmentary nature of this collection as a virtue rather than a problem! Like much British theology, my own work eschwes the large-scale, systematic or comprehensive approach typical of Germanic theology of the first half of the twentieth century and facours the small-scale, the incidental, the narrative and metaphorical, the particular.«

4 Lange, Ernst: Predigen als Beruf: Aufsätze, Stuttgart: Kreuz-Verlag 1976, S. 27.

5 Für eine ausführliche Reflexion zu Bias in der Forschung vgl. u. a. Harker, David: Creating Scientific Controversies: Uncertainty and Bias in Science and Society, Cambridge: Cambridge University Press 2015; und hier spezifisch noch Harker, David: Two challenges for the naïve empiricist, Creating Scientific Controversies: Uncertainty and Bias in Science and Society, Cambridge: Cambridge University Press 2015, S. 37–59.

6 Serres, Michel: Atlas, Berlin: Merve 2005, S. 258, Gender-Ergänzung: S.M./J.S.

7 Vgl. Derrida, Jacques: Auslassungspunkte: Gespräche (hg. von P. Engelmann), Wien: Passagen Verlag 1998.

8 Vgl. Sandoval, Chéla: »Re-Entering Cyberspace: Sciences of Resistance«, in: Dispositio19/46 (1994), S. 75–93, hier S. 78.

9 Massey, Doreen: Space, Place, and Gender, NED-New edition Aufl., Minnesota: University of Minnesota Press 1994, S. 12.

Teil 1/

Vom Kanzelbewusstsein: eine Kanzelkritik
Mit der Kanzel durch die Homiletik-Geschichte: Eine Skizze

»I begin with an assumption: it is not a matter of asking if the scholar­ship of homiletics embeds whiteness, but it is a matter of revealing how it does so. With that assumption, I self-critically examine how we as scholars write, how we publish, and how we select course readings.«1

Irgendwie ist es an vielen Orten in der westlichen Welt fassbar: Predigten verlieren an Leuchtkraft. Die Sonntagspredigt lässt sich – zumindest in ihrer klassischen Form – kaum mehr als Hauptgeschehen kirchgemeindlichen Lebens bezeichnen. Die Gottesdienst-Besuchszahlen nehmen unabhängig von den Konfessionen ab. Predigten scheinen ein immer kleiner werdendes Publikum anzusprechen oder nachhaltig zu prägen. Pfarrpersonen klagen über Ermüdung und Enttäuschung im Blick auf das homiletische Geschehen auf der Kanzel. Nichtsdestotrotz sehnen sich religiöse ebenso wie sich als konfessionsfrei spirituell bezeichnende Menschen nach predigt-ähnlichen Kommunikationsgeschehen: entsprechende YouTube-Videos zu Spiritualität, zu Weisheitssuche, zu verschiedensten religiösen Lebensfragen zeugen hiervon, ebenso Beiträge und Chats auf Spotify, Twitter und weiteren Social-Media-Plattformen. Auch die meterweise mit religiösen, spirituellen oder religionsphilosophischen Ratgebern gefüllten analogen Buchläden sind nur einer von vielen Indikatoren solcher Sehnsucht.

Der Gesamteindruck verweist darauf: Es gibt Grund dafür, dass religiöse Kommunikation umfassend gesucht wird, auf Resonanz stoßen kann und sie offenbar irgendetwas Konstruktives zur Bewusstseinsentwicklung des Menschen beiträgt. Es gibt Grund zur Annahme, dass wir im Umbruch zu einem völlig neuen Homiletikparadigma stehen.

Dieses neue Paradigma wird in verschiedenen Hinsichten von aktuellen Entwicklungen geprägt sein. Es ist, dies nehmen wir an dieser Stelle bereits vorweg, jenseits der Kanzel. Jenseits also jenes speziellen Predigt-Orts, der innertheologisch jahrhundertelang als Metonymie für das Predigen verwendet worden ist – deutlich bis heute etwa an Veröffentlichungen von Martin Nicol und Alexander Deeg »Im Wechselschritt zur Kanzel«2, an Isolde Karles »Kanzel-Ich«3, Rainer Preuls »die Kanzel als letzter Ort für die Pflege der Bildungssprache«4 oder an Roland Lehmanns »Reformation auf der Kanzel«5. Das neue Homiletikparadigma ist von neuen Entwicklungen in Theologie und Kirche, aber auch von politischen und gesellschaftlichen Debatten und Entwicklungen wie Digitalisierung, Embodiment-Erkenntnissen, von postkolonialen und feministischen Diskursen und mehr geprägt. Zudem gründet es in der Bedeutung, die der Kanzel, dem pastoraltheologischen Selbstverständnis und der Amtstheologie über die Jahrhunderte zugewachsen ist.

Wir nehmen sämtliche dieser Indikatoren als Anlass und gehen mit Ihnen nun in einer »Ultrakurz-Geschichte« auf die Entwicklung und die Bedeutung der Kanzel ein. Was wir hier skizzieren, ist also ein Schnelldurchlauf durch die Geschichte der Homiletik anhand der Kanzel, gewissermaßen eine kurze »narratologische Rampe«. Sie dient uns dann dazu, um anschließend von dieser Rampe aus in das heutige Feld von Homiletik zu springen.

1 Kim-Cragg, HyeRan: »Invisibility of Whiteness: A Homiletical Interrogation«, in: HMLTC 46/1 (2021), S. 28–39, hier S. 28.

2 Nicol, Martin und Alexander Deeg: Im Wechselschritt zur Kanzel. Praxisbuch Dramaturgische Homiletik, 2. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013.

3 Karle, Isolde: Praktische Theologie, Bd. 7, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020 (Lehrwerk Evangelische Theologie), S. 233.

4 Preul, Reiner: Kirchentheorie, Berlin: de Gruyter 1997, S. 293.

5 Vgl. Nicol/Deeg: Im Wechselschritt zur Kanzel. Praxisbuch Dramaturgische Homiletik; Lehmann, Roland M.: Reformation auf der Kanzel: Martin Luther als Reiseprediger, 1. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck 2021.

Die Anfänge der Kanzel als Ort öffentlicher Kommunikation

Die christliche Predigtgeschichte begann, gemäß biblischer Erzählung, mit der Pfingstpredigt des Petrus vor Pilger:innen »aus allen Völkern unter dem Himmel« (Apg 2,5)1. Jene Predigt wird Petrus auf einem Platz in Jerusalem gehalten haben. Wann und wie aber kam die Kanzel als liturgischer Ort der Predigt ins Spiel?

Die Geschichte der Kanzel als Predigtort beginnt lange vor dem ersten Aufbau einer Kanzel. Der Name »Kanzel« führt zurück in das 4. Jahrhundert, als zum ersten Mal von den sogenannten cancelli gepredigt wurde.2 Die cancelli waren kunstvoll verzierte Platten aus Holz, Stein, oder Metall, die in einer christlichen Basilika den Altarraum vom Gläubigenschiff abgrenzten. Diese Platten gaben der Kanzel aber nur den Namen. Historisch haben sie wenig mit der heutigen Kanzel zu tun. Lediglich die Funktion des Predigens verband sie.

Wie also kam der Gedanke eines Predigtstuhls, einer Kanzel, eines Predigt-Rednerpodests für das Predigtgeschehen auf? Um in diesem Buch einmal im westlichen Kontext zu bleiben, beginnen wir mit einem kurzen Blick in die griechisch-römische Antike.

Kathedra und Thron als Predigtorte