Träum dich weg: Sehnsucht bei Knaur #03 - Gabriella Engelmann - kostenlos E-Book

Träum dich weg: Sehnsucht bei Knaur #03 E-Book

Gabriella Engelmann

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Beschreibung

Liebst du große Gefühle? Entspannst du gerne bei romantischen Geschichten mit Happy End? Faszinieren dich bewegende, dramatische Lebensgeschichten? Dann ist diese Leseproben-Sammlung genau das Richtige für dich! Lass dich von Gabriella Engelmanns Wohlfühlroman »Die Liebe tanzt barfuß am Strand« in die zauberhafte Kleinstadt Lütteby an der Nordsee entführen: Hier wohnt die 35-jährige Lina Hansen in einem Giebelhäuschen am Marktplatz. Während ihre beste Freundin und Lüttebys Pastorin Sinje sie gern in schräge Abenteuer verwickelt, sieht Lina sich mit einer historischen Fehde zwischen den Kleinstädten Lütteby und Grotersum und der Legende konfrontiert, dass Liebende aus den beiden Orten niemals zueinander finden werden. Doch was bedeutet das für Lina, deren attraktiver neuer Chef ausgerechnet aus Grotersum kommt? Träum dich weg mit dem humorvollen Liebesroman »Der schönste Zufall meines Lebens« von Laura Jane Williams: Nichts wünscht sich die 30-jährige Londonerin Penny Bridge mehr, als Mutter zu werden. Doch als plötzlich gleich drei tolle Männer in Pennys Leben treten, ist das Gefühlschaos perfekt. Wie viele Herzen kann eine Frau verschenken? Und was, wenn keiner der drei der Richtige ist, um Pennys größten Wunsch zu erfüllen?  Dramatisch und anrührend wird es in Lily Olivers Liebesroman »Du und ich und das Leuchten des Sommers«. Für Ava Wild, den Star des Midsummer Ballet New York, wird ein Traum wahr: Ihr Idol, der geheimnisumwitterte Choreograf Ivan Baranow, will ein Stück nur für sie schreiben. Alles wäre perfekt, wären da nicht die starken Schmerzen, wegen denen Ava eigentlich mit dem Tanzen aufhören sollte, – und der Journalist Tom, der dafür berüchtigt ist, jedes Geheimnis in die Öffentlichkeit zu zerren … Diese und weitere gefühlvolle Geschichten von Autorinnen wie Anna Thaler, Alice Pantermüller, Stefania Bertola und vielen mehr findest du in der Leseproben-Sammlung zu den Sehnsuchts-Titeln von Droemer Knaur. Das kostenlose eBook enthält Leseproben zu: - Gabriella Engelmann, »Die Liebe tanzt barfuß am Strand« - Anna Thaler, »Der Duft von Erde nach dem Regen« - Laura Jane Williams, »Der schönste Zufall meines Lebens« - Kerstin Rubel, »Die Liebe braucht ein ganzes Dorf« - Alice Pantermüller, »Segelsommer oder Die beste Katastrophe meines Lebens« - Stefania Bertola, »Tante Giulietta tanzt« - Lily Oliver, »Du und ich und das Leuchten des Sommers« - Phoebe Fox, »Von Mut und Meer« - Heike Fröhling, »Claras Traum« - Fay Keenan, »Sommerglück im Apfelgarten«

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Gabriella Engelmann / Anna Thaler / Laura Jane Williams / Kerstin Rubel / Alice Pantermüller / Stefania Bertola / Lily Oliver / Phoebe Fox / Heike Fröhling / Fay Keenan

Träum dich weg: Sehnsucht bei Knaur

Gefühlvolle Leseproben von Gabriella Engelmann, Anna Thaler, Laura Jane Williams, Kerstin Rubel u.v.m.

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Vorwort

Gabriella Engelmann - Die Liebe tanzt barfuß am Strand

Anna Thaler - Das Land, von dem wir träumen

Laura Jane Williams - Der schönste Zufall meines Lebens

Kerstin Rubel - Die Liebe braucht ein ganzes Dorf

Alice Pantermüller - Segelsommer oder Die beste Katastrophe meines Lebens

Stefania Bertola - Tante Giulietta tanzt

Lily Oliver - Du und ich und das Leuchten des Sommers

Phoebe Fox - Von Mut und Meer

Heike Fröhling - Claras Traum

Fay Keenan - Sommerglück im Apfelgarten

Vorwort

Liebe Leser*innen,

 

der Lesesommer 2022 macht sich bereit, um euch voll und ganz in seine träumerischen und herzzerreißenden Geschichten zu entführen. Lasst euch verzaubern von unseren Lieblingen, die wir euch in diesen exklusiven Vorableseproben präsentieren – auch für uns immer ein ganz besonderes Ereignis. Hier erwarten euch wunderbare Bücher: zum Weinen, zum Dahinschmelzen, zum Wegträumen – schickt eure Gedanken auf Reisen und entflieht dem Alltag.

Wir wünschen euch viel Spaß beim Reinschnuppern.

 

Herzlich

Euer Knaur-Team

Gabriella Engelmann

Die Liebe tanzt barfuß am Strand

Zauberhaftes Lütteby

 

Idyllisch, charmant und ein bisschen aus der Zeit gefallen – das ist Lütteby an der Nordsee. Hier wohnt die 35-jährige Lina Hansen zusammen mit ihrer sagenkundigen Großmutter Henrikje in einem hyggeligen Giebelhäuschen am Marktplatz. Eine historische Fehde entzweite einst die Kleinstädte Lütteby und Grotersum, und der Legende nach können Liebende aus den beiden Orten niemals zueinanderfinden. Doch was bedeutet das für Lina, deren attraktiver neuer Chef Jonas Carstensen ausgerechnet aus Grotersum entsandt wurde?

 

Die Liebe tanzt barfuß am Strand ist der erste Band der Wohlfühlroman-Serie Zauberhaftes Lütteby.

Es war einmal eine kleine Stadt am Meer.

Ihr Kirchspiel trotzte tapfer der großen Sturmflut von 1634 und blieb wie durch ein Wunder unversehrt, genau wie die Bewohner.

Der benachbarten Stadt, größer an Fläche und Zahl der Einwohner, spielte das Schicksal jedoch übel mit. Viele Menschen fanden den Tod, die Kirche wurde bis auf die Grundmauern zerstört. So manch einer munkelte, Gott hätte diesen Ort für immer verlassen.

Nach jener Katastrophe entbrannte eine Fehde zwischen den einst befreundeten Orten und bedrohte eine große Liebe, deren zarte Bande am Marktplatz der kleinen Stadt geknüpft wurden. Die Legende besagt, dass die jahrtausendealte Feindschaft erst endet, wenn die Seelen der beiden Liebenden ewige Ruhe gefunden haben. Dann wird endlich wieder Friede sein zwischen Lütteby und Grotersum.

Prolog

Der Ausblick vom Kirchturm auf einen kleinen, magischen Ort irgendwo in der Nähe der Nordsee ist so ziemlich der schönste, den ich kenne. Dieser Turm ist allerdings nicht für jeden zugänglich. Auf seine Plattform dürfen eigentlich nur meine beste Freundin, Pastorin Sinje Meyer, der Mann, der das Glockenspiel wartet – und freche Möwen. Doch heute brauche ich dringend einen Perspektivwechsel und Ruhe zum Nachdenken, deshalb bin ich ausnahmsweise zu Gast auf diesem tollen Logenplatz. »So, ich lass dich jetzt allein«, sagt Sinje, nachdem wir beide zahllose Treppenstufen erklommen und eine ganze Weile Seite an Seite in den blitzblauen Himmel geschaut haben. Mit den Worten »Komm einfach wieder runter, wenn du so weit bist, und schließ dann hinter dir ab, ja?«, reicht sie mir den Schlüssel, drückt mich und sagt: »Alles wird wieder gut, du musst nur fest daran glauben. Und egal, was auch passiert, du bist nicht allein. Aber das weißt du ja.«

Kaum ist Sinje gegangen, verliere ich mich im Ausblick auf einen Ort, an dem sich immer wieder Wunder ereignen – sofern man offen für sie ist und auch selbst etwas dafür tut, dass solche Wunder geschehen können. Schaut man von der umlaufenden Galerie auf den Platz inmitten unseres Städtchens hinab, den wir den kleinen Marktplatz am Meer nennen, wird einem warm vor Glück und Freude. Er ist kugelrund wie die Sonne und das Herzstück von Lütteby, einer winzigen Kleinstadt mit 3365 Einwohnern. Hier begrüßen wir einander freundlich, tauschen Neuigkeiten oder Geschenke aus und schimpfen auch mal wie ein Rohrspatz, wenn es etwas zu schimpfen gibt.

Der Marktplatz wird umsäumt von hübschen, teils windschiefen Giebelhäuschen, einige von ihnen hellgelb getüncht, andere blassrosa, weiß oder hellblau. Im Winter, wenn der Schnee auf den Dächern liegt wie Schlagsahne auf der Friesentorte, ähnelt dieser Anblick einem Adventskalender. Im Sommer schützen bunte Markisen und Schirme die Auslagen der Lädchen, des französischen Cafés und des Italieners vor der prallen Sonne. Verliebte treffen sich zu einem Rendezvous auf der Bank. Menschen, die sich spinnefeind sind und einander nicht begegnen wollen, verstecken sich hinter der Tageszeitung oder einem aufgespannten Regenschirm. Wie kann ich ihm nach all dem, was geschehen ist, überhaupt noch begegnen?, frage ich mich, während ich grüblerisch in den tiefblauen Himmel schaue.

Wie soll ich mich jemandem gegenüber verhalten, der alles verraten hat, was mir lieb und teuer ist? Der mir so wehgetan hat, dass ich kaum noch atmen kann. Doch bevor ich eine Entscheidung treffe, die gut überlegt sein will und weitreichende Konsequenzen hat, lasse ich die vergangenen Wochen Revue passieren, wie einen Film, von dem ich nicht weiß, ob er ein Happy End haben wird, auch wenn ich es mir so sehr wünsche …

***

»Soll ich deinen armen kranken Chef mit einem meiner Wundertees heilen?« Die Augen meiner Großmutter Henrikje funkeln abenteuerlustig, als wir nach Geschäftsschluss gemeinsam alles ins Innere ihres Lädchens am Marktplatz räumen, was auf dem Kopfsteinpflaster steht: den Postkartenaufsteller, ein Regal voller Plüschtiere, den Ständer mit Keramikbechern sowie einen geflochtenen Korb, in dem Regenschirme, Windräder mit Flügeln aus buntem Sperrholz und Fackeln stecken.

»Nette Idee«, sage ich schmunzelnd. »Aber lass mal lieber erst die Ärzte ihren Job machen und Thorstens gebrochenes Bein behandeln. Danach kannst du den Genesungsprozess immer noch mit Räucherritualen und Aromasalben unterstützen.«

»Schade, ich hätte so gern mal wieder ein bisschen mit meinem Kräuterwissen geglänzt und mit weißer Magie experimentiert«, erwidert Henrikje enttäuscht. »Aber was soll’s, vielleicht versuche ich stattdessen lieber, Thorstens Krankheitsvertretung in der Touristeninformation wegzuzaubern. Ich bin nämlich der Ansicht, du könntest die Zeit, in der dein Chef ausfällt, auch ohne zusätzliche Hilfe bewältigen, so gut, wie du deinen Job machst, Lina Lieblingsenkelin Hansen.«

»Danke für das Kompliment, Henrikje Lieblingsoma Hansen«, erwidere ich gerührt. »Darf ich dich daran erinnern, dass du nur die eine Enkelin hast?! So, jetzt aber Schluss mit dem Jobthema. Lass uns lieber mit den anderen was Nettes trinken und ein bisschen über den heutigen Tag plaudern. Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, wie sehr ich es liebe, wenn wir uns alle treffen?«

»Nur ungefähr zweitausendeinhundertneunzig Mal, seit du wieder aus Hamburg zurück bist«, entgegnet Henrikje augenzwinkernd. »Also beinahe täglich seit sechs Jahren.«

»Wie gut, dass du so super rechnen kannst«, erwidere ich schmunzelnd und erspähe durch die Fensterscheibe die ersten Ladenbesitzer, die sich an einem der beiden hohen Bistrotische versammeln. »Eis oder Kaffee?«, fragt Amelie Bernard. Die Französin arbeitet im Café zwei Häuser neben dem Lädchen und sorgt bei den Treffen am Markt üblicherweise für unser leibliches Wohl. »Oder hättest du lieber selbst gemachte Limonade?« Ich schüttle den Kopf und bitte um Schokoeis, denn heute brauche ich es süß und cremig. »Freust du dich auf deinen neuen Chef?«, fragt der soeben eingetroffene Ahmet Coskun aus Ankara, Besitzer des Lotto-Kiosks. Dann biegt noch jemand um die Ecke, sichtlich abgehetzt und atemlos: »Wie ich hörte, bekommst du einen neuen Vorgesetzten? Was ist denn mit Thorsten? Geht er etwa endlich in Rente?«, fragt Sinje schwer atmend. »Und wieso erfahre ich das nicht direkt von dir, sondern nur, weil die Möwen es von den Dächern kreischen? Sorry übrigens, dass ich so schnaufe, aber ich muss unbedingt wieder trainieren, damit ich ins Brautkleid passe. Was für eine elende Schinderei.« Für gewöhnlich ist Sinje – neben Henrikje – eine der Ersten, der ich Neuigkeiten anvertraue, doch heute war in der Touristeninformation ungewöhnlich viel zu tun.

»Ich hatte leider noch keine Zeit, mich bei dir zu melden«, erwidere ich. »Thorsten ist für eine Weile krankgeschrieben, aber keine Sorge, es ist zum Glück nichts Schlimmes. Er kommt sicher bald zurück ins Büro.« – »Wo hat dein neuer Chef denn vorher gearbeitet?«, fragt Sinje. Sie will immer alles ganz genau wissen. Vor allem, wenn es um die Schäfchen in ihrer Gemeinde geht. »Jonas Carstensen war bis zum Wintersemester letzten Jahres an der Hochschule in Luzern als Dozent für den Fachbereich Business Administration – Tourism tätig, viel mehr weiß ich leider auch nicht«, erwidere ich. Ahmet ist offenbar genauso begierig, möglichst viel über den Neuen zu erfahren, wie Violetta Enzmann aus dem Blumenladen, Apotheker Kai Bredow und Michaela Sander aus dem »Modestübchen«. Die Luft vibriert förmlich vor Spannung, weil in Lütteby nur selten etwas wirklich Aufregendes geschieht. Einzige Ausnahme: die durchtriebenen Intrigen des Bürgermeisters, Liebschaften, Geburten und Trennungen. Und natürlich das Auftauchen von Neuankömmlingen, über die jeder hier am liebsten alles sofort und bis ins kleinste Detail wissen möchte, weshalb auch ich natürlich sofort gegoogelt habe. Laut Bewertungen von Studenten im Netz scheint mein künftiger Vorgesetzter äußerst kompetent zu sein, aber auch ein tougher, strenger Lehrer. Insbesondere jemand namens Cinderella lässt kein gutes Haar an ihm und ätzt, man könne nichts von Carstensen lernen, weil er inkompetent, selbstverliebt und arrogant sei. Doch sollte man anonymen Bewertungen wirklich Glauben schenken? Wohl besser nicht. »Was will so einer denn bei uns? Ist es hier für ihn nicht ein bisschen zu … kleinstädtisch?«, fragt Kai. Unser Apotheker hat mal wieder vergessen, den weißen Kittel auszuziehen, der über seinem wohlgerundeten Bauch spannt. Kais Gesicht ist ebenfalls rund und er hat fast immer eine rote Nase.

»Ist er womöglich arbeitslos, hat eine Familie zu ernähren und muss nun nehmen, was er kriegen kann?«, mutmaßt Michaela aus dem Modestübchen, das neben dem gängigen Sortiment auch große Größen führt. Wenn man ein Kleid oder eine Hose bei ihr kauft, kommt man nicht nur mit einer Einkaufstüte nach Hause, sondern mit einem Haufen an Informationen, die man vielleicht gar nicht haben wollte. »Sieht er gut aus?«, fragt Violetta, nestelt an der Deko herum und hat ihre Frage im selben Moment schon wieder vergessen, weil sie mit den Blumen beschäftigt ist. »Kann es sein, dass du die Stängel gestern nicht angeschnitten hast?«, fragt sie und wirft Henrikje einen vorwurfsvollen Blick zu. »An warmen Tagen verwelken die Blumen schnell, wenn du ihnen keine Aufmerksamkeit und Liebe schenkst.« Violettas Tadel steht in völligem Kontrast zum lieblichen Trällern der Vögel in den hohen Kastanien und dem sanften Plätschern des Wassers im Brunnen, umgeben von einem Rundbeet und Holzbänken. Violettas zehnjährige Tochter Mathilda macht große Kulleraugen – es passiert schließlich nicht häufig, dass Erwachsene in ihrer Gegenwart »Schimpfe« bekommen. »Tut mir leid, ich hab’s vergessen«, murmelt Henrikje schuldbewusst und trinkt das Glas Ingwerlimonade aus. Mathilda nimmt Henrikjes Hand und fragt besorgt: »Hast du Kopfweh? Das ist doof, das hab ich auch manchmal.« – »Keine Sorge, Matti, bei Henrikje ist alles in Ordnung«, entgegnet Violetta ungerührt. Zu ihr gewandt sagt sie: »Lenk nicht ab, denn ich falle nicht mehr auf deine taktischen Manöver herein. Gib den Blumen einfach jeden Morgen frisches Wasser, bevor du den Laden öffnest, und schneide die Stängel an, dann hast du das aus dem Kopf. Oder möchtest du die Deko lieber drüben in Grotersum kaufen und ein Vermögen dafür ausgeben?« – »Möchtest du die Kräuter für deine speziellen Teemischungen lieber selbst im Wald pflücken?«, pflaumt Henrikje zurück. Mathilda hält sich beide Ohren zu und verzieht gequält ihr süßes Gesichtchen. »Alles gut, wir flachsen nur«, sagt Violetta und streichelt ihrer Tochter beruhigend über die schwedenblonden Korkenzieherlocken. »Also, Lina, zurück zu deinem neuen Chef: Wie sieht er aus? Ähnelt er einem Schauspieler?« Diese Frage bringt mich ins Schleudern. Zum einen war ich leider seit Ewigkeiten nicht mehr im Kino, zum anderen ist es vollkommen egal, wem dieser Mann womöglich ähnlich sieht, denn er ist bald mein Vorgesetzter. »Eine Mischung aus Alexander Skarsgård und Gabriel Macht aus der Serie Suits«, sage ich nach einer Weile des Grübelns, weil ich weiß, dass Violetta sonst nicht lockerlässt. »Am besten googelst du ihn selbst.« – »Meghan Markle finde ich sooo toll«, schwärmt Mathilda. »Sie ist wunderschön und eine echte Prinzessin. Ich möchte auch mal eine Prinzessin werden, oder Anwältin, wie in der Serie, oder eine Meerjungfrau.« – »Der Typ klingt super, hoffentlich ist er Single«, erwidert Violetta vergnügt, nachdem sie ihr Handy mit der Blumenhülle gezückt hat. Amelie, bislang sehr still, schaut ebenfalls auf Violettas Display, Kai rollt mit den Augen, Ahmet träumt mal wieder vor sich hin. Auch Sinje wirft einen kurzen Blick aufs Handy. »Nischt schlescht«, sagt Amelie schließlich und schnalzt mit der Zunge. »Glaubst du, er ist über eins neunzig?«, fragt Violetta hoffnungsvoll. »Oder womöglich noch größer? Ich finde, er sieht aus wie ein Basketballer. Ich hätte so gern mal wieder ein Date, aber hier in Lütteby laufen ja keine anständigen Männer mehr frei herum.« – »Ach du je, wenn man euch so reden hört, könnte man meinen, ihr seid alle mannstoll«, sagt Henrikje seufzend. »Es gibt doch weitaus Wichtigeres im Leben, findet ihr nicht?« – »Das stimmt, und zwar Freundinnen-Plaudereien am Meer«, sagt Sinje und hakt sich bei mir ein. »Wollen wir nachher an den Strand, Lina? Ich habe heute keine Termine mehr und Gunnar spielt mit seinen Kumpels Fußball.« Mittlerweile ist es Zeit fürs Essen und Zeit, sich daheim mit den Liebsten darüber zu unterhalten, was einem gerade auf der Seele lastet oder am Herzen liegt. Die Markisen sind eingerollt, die Sonnenschirme zugeklappt, die Außendekoration ist in die Läden geräumt, das Geschlossen-Schild an die Tür gehängt. Nach und nach wird es still und leer auf dem kleinen Marktplatz, von dem die Straßen strahlenförmig abgehen. »Sehr gern«, stimme ich begeistert zu, denn ich liebe die Abendstimmung am Meer. Der Tag klingt allmählich aus, es ist wunderbar ruhig und es liegt eine ganz besondere Atmosphäre in der Luft. »Fein, dann packe ich uns was zum Picknicken ein«, sagt Sinje. »Wir treffen uns in zwanzig Minuten am Brunnen.«

***

Nachdem ich die Tür zu meiner Wohnung geöffnet habe, halte ich einen Moment inne. Früher waren die fünfzig Quadratmeter Räumlichkeiten der Dachboden und so, wie Dachböden meist sind: vollgerümpelt, ein bisschen muffig, im Sommer brütend heiß, doch auch geheimnisvoll und magisch. Als Kind habe ich kaum etwas mehr geliebt, als mit Sinje und anderen Freundinnen inmitten antiken Trödels, Spiegeln, Bildern und allerlei Krimskrams Verstecken zu spielen oder mich zu verkleiden. In Henrikjes alter Schiffstruhe befanden sich Kostüme und sogar ein Ballkleid, nämlich das meiner Mutter. Natürlich war damals alles viel zu groß, doch das war mir egal, es zählte allein der Spaß. Wehmütig versunken in Gedanken an frühere Zeiten sage ich »Hallo, Mama« und nehme ein Foto zur Hand, das im Flur auf der selbst gefertigten Wandleiste aus Treibholz steht. Das Bild zeigt meine Mutter Florence und mich und ist eines der wenigen, das von uns beiden existiert. Ich bin darauf etwa eine Woche alt, immer noch ein wenig zerknautscht, aber zufrieden lächelnd. Diese Freude verließ mich jedoch wenige Wochen später, nachdem meine Mutter mir nichts, dir nichts spurlos verschwand und bis heute nicht wiederaufgetaucht ist. Es gibt Zeiten, in denen ich es immer noch nicht fassen kann, und dann wiederum solche, in denen dieses Gefühl des Verlassenseins so selbstverständlich für mich ist wie meine Tasse Guten-Morgen-Tee. »Ich hatte heute einen guten, ereignisreichen Tag«, erzähle ich Florence, so, wie ich es beinahe immer mache, um in Verbindung mit ihr zu bleiben, auch wenn ich nur mit ihrem Foto spreche. Es ist schwierig, die gefühlsmäßige Bindung an jemanden lebendig zu halten, den man nicht kennt und von dem man zuweilen glaubt, er hätte niemals wirklich existiert. Da ist die Sache mit meinem Vater fast schon ein bisschen einfacher. Keiner weiß, wer er war, und ich bin mit dem Gefühl aufgewachsen, dass es ihn nie gegeben hat. Doch ich habe es schon seit Langem aufgegeben, Fragen zu stellen, denn ich bekomme ohnehin keine Antwort. Und das ist vielleicht auch ganz gut so. Wer weiß schon, was ich da erfahren würde, das ich besser gar nicht wissen sollte. »Ich bekomme übrigens wegen Thorstens Unfall vorübergehend einen neuen Chef und alle sind schon ganz aufgeregt deshalb, ich natürlich auch. Aber ich lasse mich überraschen und fahre gleich mit Sinje ans Meer, habe also leider keine Zeit, lange zu plaudern. Bis später.« Ich küsse meine Fingerspitze und drücke den Finger auf Mamas Wange. Wo auch immer sie ist, ich hoffe, sie kann diesen Tochterkuss spüren. Dann gehe ich in die winzige Küche mit den schweren Dachbalken, die ich gemeinsam mit Sinje weiß lasiert habe, trinke ein Glas Wasser und schaue aus dem Fenster auf den Marktplatz, voller Vorfreude auf die Verabredung am Meer. Dieses Meer schwappt natürlich nicht bei Flut über die Treppenstufen unseres Giebelhäuschens und man kann auch nicht von hier mit dem Kutter zum Krabbenfischen rausfahren. Aber es braucht tatsächlich nur eine zehnminütige Autofahrt bis dorthin, fünf Minuten mit dem Fahrrad quer über die Felder, zwanzig Minuten Fußweg mit einem schwer beladenen Bollerwagen oder eine Dreiviertelstunde, wenn man verliebt in Richtung Deich schlendert und sich bei der Überquerung des Koogs andauernd küsst. Doch jetzt bloß nicht über das leidige Thema Liebe nachdenken, sondern ab ins Schlafzimmer zum Umziehen. »Ich habe niemanden mehr geküsst, seit Olaf mich verlassen hat«, murmle ich, während ich in eine Jeans, ein T-Shirt und einen Hoodie schlüpfe. Das Kleid von heute Morgen landet inmitten meiner zahllosen Kissen auf dem Bett. »Und ich weiß wahrscheinlich auch gar nicht mehr, wie das geht.« Den letzten Teil des Satzes sage ich zu dem Bild, das der ovale Spiegel meines antiken Schminktisches zeigt, der meiner Mutter gehört hat und bis vor Kurzem ein Geheimnis in sich barg, wie ich neulich zu meiner großen Überraschung festgestellt habe.

***
Mai 1634

»Ihr seid zart wie eine Weidengerte«, sagte die Amme, die das junge Mädchen seit dessen Geburt betreute und über alles liebte. »Ihr solltet ein wenig mehr essen, damit der Winterwind Euch nicht umpustet und Ihr krank werdet.« Sie stemmte die Hände in ihre molligen Hüften, auf dem rundlichen Gesicht standen bekümmerte Sorgenfalten. »Ach was, mir kann nichts und niemand so schnell etwas anhaben«, erwiderte das Mädchen namens Algea und gab der Amme lachend einen Kuss auf die Wange. Dann drehte und wendete sie sich, sodass das Kleid sich aufbauschte und ihre Hände den samtigen Stoff berührten. Der Vater, Kommandeur eines stolzen Handelsschiffes, hatte ihr von der letzten Fahrt über das weite, stürmische Nordmeer neuen Stoff mitgebracht, den die Mutter, des Nähens kundig, in ein wunderschönes Kleid verwandelt hatte. Es war aus dunkelblauem Samt mit kleinen silbernen Sternen, die im Kerzenlicht so stark funkelten, dass Algea ihren neuen Schatz am liebsten jeden Abend getragen hätte. »Wollt Ihr etwa so mit mir auf den Marktplatz gehen?«, fragte die Amme und betrachtete ihren Schützling eingehend, so wie jeden Tag seit der Geburt Algeas vor beinahe sechzehn Jahren. »Wieso nicht?«, fragte Algea, mit diesem Blitzen in den hellblauen Augen, das gleichzeitig anziehend war, aber auch ihren starken und widerspenstigen Charakter widerspiegelte. »Oder hast du Angst, dass ich mich schmutzig mache, wenn du mit den Bauern um den Preis für Kartoffeln, Mehl und Eier feilschst wie eine Köchin?« – »Es wäre nicht das erste Mal, dass Ihr mir ausbüxt und ich Euch an einem Ort finde, wo Ihr Euch schmutzig macht«, erwiderte die Amme und reichte Algea ein schlichtes Baumwollkleid mit Schürze. »Das Kleid könnt Ihr beim Abendessen zu Ehren Eures Vaters tragen, der schon bald wieder in See stechen wird. Doch jetzt zieht Euch bitte um, und dann gehen wir.« Nachdem sich die Tür hinter der Amme geschlossen hatte, blickte Algea aus dem Fenster ihres Schlafgemaches und verlor sich für eine Weile im Anblick der Nordsee zu Füßen der waldigen Anhöhe, auf der die Kapitänsvilla thronte. »Du Schöne«, murmelte Algea, öffnete das Fenster und atmete die frische Seeluft ein, während ihre Augen das Spiel der Wellen und den Flug der Seeschwalben und Möwen, die dicht an ihrem Fenster vorbeizogen, verfolgten. »Ich möchte nirgends anders sein als an deinen Gestaden und hier in Lütteby.« Nachdem sie das Fenster wieder geschlossen hatte, legte sie das nachtblaue Kleid ab und schlüpfte in das einfache, das kaum einen Rückschluss darüber zuließ, dass sie aus gutem Hause stammte. Doch das war ihr nur recht, denn sie verabscheute Standesdünkel und Engstirnigkeit aller Art. Daher mangelte es ihr auch an Verständnis für die Unstimmigkeiten, die seit jeher zwischen Lütteby und dem nahe gelegenen Ort Grotersum herrschten. In ihren Augen und auch in denen Gottes waren alle Menschen gleich und würden es immer bleiben.

***

»Haben Sie ’nen Vogel?« Verwirrt schaue ich von meinem Computer auf und blicke in Augen in der Farbe von Waldmeister. Götterspeise habe ich schon als Kind geliebt und liebe sie immer noch über alles. Abraxas, der weiße Rabe, der zu meinem Chef Thorsten Näler gehört wie die Wellen zum Meer, schlägt mit den Flügeln und kräht empört »Kraraa«. Abraxas ist Thorstens Haustier und das Maskottchen von Lütteby und ist gern bei uns im Büro. Ich will gerade so etwas sagen wie »Unverschämtheit« oder »Der will doch nur spielen«, doch ich kann nicht. Wie gesagt: Es tauchen äußerst selten gut aussehende Männer meines Alters in unserem kleinen Städtchen auf, das kann einen schon mal durcheinanderbringen. »Bitte entschuldigen Sie, das war nicht so böse gemeint, wie es wahrscheinlich klang. Ich wollte nur fragen, was dieser Vogel hier macht«, erwidert der Mann im schicken Anzug. »Der gehört auf einen Baum oder aufs Feld, aber ganz bestimmt nicht in ein Büro. Ich bin übrigens Jonas Carstensen und ab heute Ihr Vorgesetzter. Sie sind Lina Hansen, nicht wahr?« Mehr als ein »Ja« kriege ich nicht zustande. Dieser Mann sieht in natura um Längen besser aus als im Internet und tatsächlich ein bisschen wie Gabriel Macht, der die Figur Harvey Specter aus Suits verkörpert, also megaattraktiv. »Ist das dort der Schreibtisch von Thorsten Näler?« – »Ja, das ist er«, antworte ich und versuche den etwas chaotischen und unaufgeräumten Tisch schräg gegenüber mit den Augen eines Mannes zu betrachten, der augenscheinlich Geld hat, denn sein Anzug stammt garantiert nicht von der Stange und die Notebooktasche unter seinem Arm war sicher auch kein Schnäppchen. Tja, Thorsten hat’s nicht so mit Aufräumen und Ablage. Trotzdem gehört er zu den Menschen, die man fragen kann: »Hast du irgendwo Informationen über das erste Kürbisfest vor zweiundzwanzig Jahren?«, und flugs liegt auch schon alles vor einem. Die Unterlagen sind zwar mit einer Staubschicht bedeckt und übersät von Kaffee- und Fettflecken, aber trotzdem lesbar. »Herr Näler ist leider nicht mehr dazu gekommen aufzuräumen, bevor er vom Baum gefallen ist«, nehme ich meinen Chef in Schutz, weil er selbst es gerade nicht kann. »Normalerweise sieht es hier ganz anders aus.« Über das markante, leicht gebräunte Gesicht von Jonas Carstensen huscht etwas, das man als Lächeln bezeichnen könnte. »So ein Baumsturz kommt ja auch meist überraschend«, erwidert er, und da kann ich ihm nur beipflichten. »Wie ist das denn überhaupt passiert? Wieso klettert ein über Siebzigjähriger auf einen Apfelbaum?«

Zum Glück weiß ich mittlerweile mehr über den Sturz, also sage ich, was Thorsten zu dieser netten, mutigen Aktion verleitet hat. »Der Lenkdrachen des Nachbarsmädchens hatte sich im Baum verheddert und Thorsten wollte ihn befreien. Sonntag war nämlich perfektes Wetter, um Drachen steigen zu lassen«, erkläre ich und ergänze im Geiste oder um in der Sonne ein gutes Buch zulesen. »Oder um zu surfen oder zu kiten«, sagt Jonas Carstensen, den ich mir gar nicht in legerer Kleidung vorstellen kann. Ob er muskulöse Arme hat, kann ich nicht beurteilen, aber dass er schlank und groß ist, schon. Seine Augen sind mit einem Mal eine kleine Spur dunkler, wie frisches Tannengrün. Jetzt weiß ich, wieso die Menschen zurzeit kaum etwas mehr lieben als Waldbaden. Jonas Carstensen öffnet die Tasche, nimmt sein Notebook und legt es direkt vor die Tastatur, die durch ein dickes Kabel mit dem noch dickeren Computer verbunden ist. Thorsten arbeitet, seit ich in der Touristeninformation ein und aus gehe, an einem PC mit dem Durchmesser eines Röhrenfernsehers. Ich selbst habe einen Laptop, der ebenfalls nicht ganz neu ist. Bei uns wird gespart, wo es nur geht, leider auch an meinem Gehalt. »Also, Frau Hansen«, sagt Carstensen. »Wie bereits gesagt vertrete ich Herrn Näler in den kommenden Wochen. Bis vor Kurzem war ich in Luzern als Dozent an der Hochschule tätig, doch jetzt möchte ich mich beruflich neu orientieren. Natürlich weiß ich die wichtigsten Dinge über diese Art … Prov… äh, Tourismus, aber natürlich nicht alles. Fürs Erste interessiert mich vor allem, wann das wöchentliche Meeting stattfindet und wer, außer uns beiden, daran teilnimmt.« Sein Tonfall weckt in mir augenblicklich den Wunsch zu rebellieren. Was für ein Schnösel! Unsere kleine Stadt ist weder Sylt noch Dubai oder Bora Bora, aber dafür ursprünglich, charmant und kein Freizeitpark für Superreiche. Wenn jemand etwas gegen meine Heimatstadt sagt, werde ich fuchsteufelswild, denn ich liebe Lütteby und das wird auch immer so bleiben. »Momentan sind wir hier die Einzigen«, erkläre ich, darum bemüht, trotz meines Ärgers professionell und selbstbewusst aufzutreten. »Wollen wir erst mal Kaffee trinken und dann alles Weitere besprechen?« – »Gern«, erwidert Carstensen. »Ich nehme ihn mit einem Schuss Milch. Hafermilch aus der Barista-Edition wäre klasse, aber Soja- oder Mandelmilch sind notfalls auch okay.« Ohne auf mein empörtes »Ich bin nicht Ihre Sekretärin« zu reagieren, konzentriert er sich auf sein Notebook. Natürlich habe ich das mit der Sekretärin nicht laut gesagt. Aber gedacht habe ich es schon. Fünf Minuten später stelle ich einen vollen Becher mit der Aufschrift »Sturm ist erst, wenn die Schafe keine Locken mehr haben« auf den Schreibtisch meines neuen Chefs. Dabei steigt mir der Duft seines Aftershaves in die Nase. Männerparfüms duften meist aufdringlich nach »Ich bin hier die Nummer eins und das soll ruhig jeder wissen!«.Doch dieses hier ist irgendwie anders. Männlich und zart zugleich, absolut umwerfend. Ich muss mich arg dagegen wehren, mich nicht von diesem verführerischen Duft in den Bann ziehen zu lassen, denn ich reagiere sehr stark auf die Anziehungskraft von Gerüchen, die ich mag, und dieser Mann duftet einfach großartig. Jonas Carstensen murmelt »Danke« und starrt dabei gebannt auf eine Excel-Tabelle mit den Gästezahlen der vergangenen fünf Jahre, wenn ich das richtig sehe. Wieso hat er eigentlich so schnell eine Zugriffsberechtigung dafür bekommen? Er ist doch nur als Aushilfe da?! Doch ich denke nicht allzu lange über diese Frage nach, dazu finde ich den Einblick in die Daten einfach zu spannend. Diese Statistik interessiert mich brennend, genau wie die touristische Zukunft Lüttebys. Ich warte schon lange darauf, dass Thorsten endlich in Rente geht, damit ich hier das Ruder übernehmen kann. Auf meiner Schreibtischunterlage klebt ein Spruch, den ich sorgfältig laminiert habe, falls ich mal wieder mit Getränken kleckere: »Ich bin keine Prinzessin. Ich muss auch nicht gerettet werden. Ich bin eine Königin und kriege den Mist schon hin.« Nicht, dass unsere Arbeit hier Mistwäre, ganz bestimmt nicht. Aber die Region braucht dringend frischen touristischen Wind unter den Flügeln, denn bei uns herrscht diesbezüglich gerade ziemliche Flaute – und zudem ein großer Konkurrenzkampf zwischen den verschiedenen Orten in Nähe der See. Oder, andersherum gesagt: Die Konkurrenz schläft nicht, Lütteby leider schon. »Die Zahlen der Übernachtungsgäste und Tagestouristen sind stark rückläufig«, sagt Jonas Carstensen nach einer Weile und blickt mich fragend an. Aus der Nähe sehen seine Augen noch schöner aus. Sie haben dunkle Einsprengsel, die das ursprüngliche Grün hervorheben. Wie Pistazieneis mit Streuseln von Vollmilchschokolade. »Haben Sie eine Erklärung für diese negative Entwicklung?« – »Das liegt zum einen an der Konkurrenz der umliegenden Seebäder, aber auch daran, dass unser Budget zu klein ist, um notwendige Investitionen zu tätigen, die wiederum neue Urlauber anlocken würden. Wir haben hier nur bei schönem Wetter volles Haus und wenn in der Umgebung keine andere Unterkunft mehr zu kriegen ist, denn Lütteby liegt nun mal nicht direkt am Meer, sondern nur in der Nähe. Das ist, wenn Sie so wollen, ein Henne-Ei-Problem.« – »Alles klar«, sagt Carstensen und wiegt den Kopf hin und her. Sonnenlicht fällt auf sein Gesicht, und nun wird ein zarter Bartschatten sichtbar, eine Spur weniger hell als seine dunkelblonden, akkurat geschnittenen Haare. »Damit ich das richtig verstehe: Das Team besteht aus Thorsten Näler, Ihnen, einer Volontärin namens Rantje Schulz und einigen freien Mitarbeitern, die bei besonderen Events aushelfen?« – »Das ist richtig«, stimme ich zu, schiebe aber ein »Im Prinzip« hinterher. »Rantje ist ein wenig … eigenwillig.« Carstensen schaut weiter auf das Notebook und runzelt die Stirn. »Meinen Sie mit eigenwillig, dass Frau Schulz enorm hohe Fehlzeiten hat?«, fragt er in strengem Tonfall. »Um nicht zu sagen, dass sie fast zwei Drittel der bisherigen Zeit abwesend war, und das meist ohne Krankschreibung. So etwas werde ich auf gar keinen Fall dulden.« Rantje möchte Eventfachfrau werden und macht deshalb ein Volo bei uns. Doch tief im Herzen träumt sie von einer Karriere als Sängerin. Deshalb tingelt sie mit ihrer Band von Dorffesten über Hochzeiten zu Festivals. Da wird’s dann meistens spät und, nun ja … Thorsten mag Rantje, außerdem ist er mit ihren Großeltern befreundet. Deshalb drückt er immer wieder mal ein Auge zu, und dann bleibt das meiste an mir hängen, doch das ist in Ordnung, denn ich liebe meinen Job. »Ich rufe Rantje an und sage ihr, dass sie gebraucht wird. Übernächsten Sonntag ist der große Trachtentanz-Wettbewerb, eines der wichtigsten Events in Lütteby. Könnten Sie in Vertretung für Thorsten die Betreuung der Musiker der Kapelle übernehmen? Die sind leider ein bisschen altmodisch und haben es lieber mit Herren zu tun.« Der Gesichtsausdruck meines neuen Chefs schwankt zwischen Bestürzung und Ungläubigkeit. »Sorry, aber das gehört ganz bestimmt nicht zu meinen Aufgaben«, sagt er in einem Ton, der selbst Eiswürfel schockfrosten würde. »Sorgen Sie einfach dafür, dass Frau Schulz ihren Job macht und das Trachtenfest ein Erfolg wird.« Oha, ich muss Rantje dringend sagen, dass im Büro ab heute eine ziemlich steife Brise weht. »Na dann ist’s ja gut«, sagt Carstensen. Dann fällt sein Blick auf Abraxas, der gerade Kurs auf seinen Schreibtisch nimmt. »Und schaffen Sie bitte diesen Vogel hier raus, der gehört nun wirklich nicht hierher!« Nun scheint’s nicht nur mir zu reichen, sondern auch Abraxas. Er fliegt durch die geöffnete Tür ins Freie. Ich würde am liebsten hinterher, denn eins ist klar: Jonas Carstensen ist zwar attraktiv, hat traumschöne Augen und duftet gut, aber das war’s auch schon. Ich bekomme prompt Kopfschmerzen, denn mir schwirrt der Schädel von Begriffen wie Tumblr, Pinterest, TikTok und Snapchat, weil Jonas Carstensen darauf pocht, dass wir uns mehr um Social Media kümmern sollten. Und wenn er in Bezug auf Aufgabenverteilung wir sagt, meint er ganz klar mich. So einen wie ihn halte ich auf Dauer nicht aus. Auf gar keinen Fall!

In der Mittagspause greife ich, wie so oft, wenn mich etwas aufwühlt, nach dem Heft mit der Überschrift »Da hinten wird’s schon wieder hell – nordische Glücksrezepte«, um mich zu beruhigen. Mit diesem Mut machenden Titel hat Florence jene Aufzeichnungen versehen, die ich vor einigen Wochen zufällig entdeckt habe, und ich bin glücklich, dieses Andenken in Händen halten zu können. Der Schnellhefter war in einem Geheimfach unter der Platte ihres Schminktisches versteckt und ist nur deshalb aufgetaucht, weil Thorsten das antike Möbelstück netterweise für mich aufgearbeitet hat. Neulich habe ich damit begonnen, diese Textsammlung um weitere norddeutsche Rezepte, Gedichte, Traditionen, Spruchweisheiten und vieles mehr zu ergänzen, das trübe Gedanken verscheucht, typisch für unsere Region ist und gute Laune macht. Was auch immer Florence dazu bewogen hat, dies alles zusammenzustellen – weder Henrikje noch ich kennen die Antwort. Doch mir gefällt die Idee einer norddeutschen Anleitung zum Glücklichsein so gut, dass ich nach dem unerwarteten Fund begonnen habe, mein Augenmerk auf alles zu richten, was passen könnte: kleine Anekdoten aus dem friesischen Alltag, Sprüche à la: »Im Norden zählt man keine Schäfchen, sondern Möwen«, oder: »Schietwetter fängt bei Windstärke zwölf an.« Wir Schleswig-Holsteiner und Nordfriesen haben das Zeug zum Glücklichsein, und wir rangieren nicht grundlos Jahr für Jahr auf den vorderen Plätzen der Liste der zufriedensten Deutschen. Das liegt sicher hauptsächlich an unserer Mentalität, aber auch an der luxuriösen Nähe zum Meer, dem weiten Himmel über dem Land und einer gewissen Bodenständigkeit. Was ich später mit diesem Sammelsurium machen möchte, weiß ich noch nicht – aber es bereitet mir große Freude, mich damit zu beschäftigen, gerade an grauen Regentagen, denn »Regen ist flüssige Sonne«, wie wir hier zu sagen pflegen. »Nervige Chefs sind Menschen mit Ecken und Kanten und damit hip, denn edgy ist das neue nett«, murmle ich und versuche mir mit dieser veränderten Sicht auf meinen neuen Vorgesetzten die Situation schönzureden, bevor ich meinen heutigen Dienst bei Henrikje antrete. »Wo hast du die Schwimmflügel versteckt?«, frage ich sie wenig später, den Auftrag von Jonas Carstensen, mich mehr um Social-Media-Posts zu kümmern, im Nacken. Damit die Einwohner unserer kleinen Stadt Regenschirme, Sonnenmilch und Flip-Flops nicht im Internet bestellen müssen oder auf der »grünen Wiese« beim Discounter shoppen, bekommen Kauflustige fast alles, was das Herz begehrt, in »Henrikjes Lädchen« im Erdgeschoss unseres Hauses. Vom Badeanzug über Gummistiefel bis hin zu Büchern, Süßigkeiten und Postkarten gibt es hier eine Vielfalt an Waren, man muss sie nur in den vielen Regalen, Vitrinen und Schränken finden. Nicht immer ganz einfach. »Schwimmflügel?«, fragt Henrikje, deren leicht schiefe Nase mal wieder in einem Buch steckt. Sie blickt erst auf, nachdem sie den Absatz zu Ende gelesen hat, so, wie sie es immer tut, seit ich sie kenne. Bücher sind unser Elixier, ein Leben ohne sie ist für uns beide unvorstellbar. »Ist es nicht noch ein bisschen früh dafür? Das Wasser hat doch nur siebzehn Grad.« – »Was sich aber zum Wochenende ändern wird, die Außentemperaturen klettern nämlich schon morgen auf fünfundzwanzig«, erwidere ich und ziehe eine Schublade des Vitrinenschranks nach der anderen heraus. Und zack, habe ich die unterste Schublade in der Hand, allerdings in drei Teilen. Dieser Tag ist wirklich nicht mein Freund. »Wieso bist du nur immer so ungeduldig? Du weißt doch, in der Ruhe liegt die Kraft, gerade wenn man etwas sucht, das man vertüdelt hat. Jetzt müssen wir die Schublade leimen.« Henrikje schiebt sich eine Haarsträhne hinters Ohr, wo sich graue Locken kringeln, die früher mal kastanienrot waren, wie ich von Fotos aus Großmutters Kindertagen weiß. »Weißt du denn, wo der Leim ist?«, frage ich, innerlich seufzend. Wetten, dass der sich genau dort versteckt, wo die Schwimmflügel sind? Henrikje nimmt die Lesebrille ab und schiebt sie sich in die immer noch vollen, glänzenden Haare. Ihre Augen blitzen in dem schönsten Grün, das die Welt je gesehen hat (außer denen von Jonas Carstensen). Die leicht gekrümmte Nase, die Augenfarbe und das enorme Kräuterwissen haben ihr in Lütteby schon früh den Namen Hexe eingebracht. Manche benutzen ihn liebevoll als Kosenamen, andere wiederum meinen das gar nicht nett. Außerdem sind nicht alle Menschen offen für den Gedanken, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als wir erfassen können. Wenn jemand einen besonderen Zugang zu diesenDingen hat, kann das im schlimmsten Fall Angst machen. Und aus Angst wird leider oft Wut, wie ich gelernt habe. »Hattest du einen schlechten Tag?«, fragt Henrikje, anstatt die Frage nach dem Leim zu beantworten. »Du hast diese hektischen roten Flecken im Gesicht, die du immer bekommst, wenn du dich ärgerst. Wie wär’s mit einem Schlückchen Scharbockskrauttee? Der hat viel Vitamin C und beruhigt die Nerven.« – »Den solltest du mal lieber meinem neuen Chef einflößen«, zische ich. »Der ist nämlich nervig, hyperaktiv und zudem der Ansicht, dass unsere Touristeninformation provinziell ist, einen Instagram-Account braucht, auf Twitter präsent sein muss und auch auf Pinterest und Tumblr. Ich brauche dringend die Schwimmflügel, weil ich in den Posts demonstrieren soll, wie kinderfreundlich Lütteby ist.« – »Und was ist so verkehrt daran?«, fragt Henrikje, was mich noch wütender macht. »Das klingt doch ganz vernünftig. Wie ist er denn überhaupt so, dein Jonas Carstensen?« Mein Jonas Carstensen?! Im Leben nicht! »Nun …« Tja, was sage ich denn jetzt? Das Verrückte ist, dass ich die Diskussion wegen der Social-Media-Präsenz dauerhaft mit Thorsten geführt und immer gegen ihn verloren habe. Sein Argument war, dass Lütteby diesen Internet-Firlefanz nicht nötig hat und ohne viel charmanter und ursprünglicher wirkt. Meines war, dass wir ohne diese Art PR schneller weg vom Fenster sind, als die Urlauber »Unzeitgemäß« sagen können. »Gib’s zu, er gefällt dir trotzdem, ich seh’s dir an der Nasenspitze an«, sagt Henrikje mit amüsiertem Lächeln. »Das ist aber auch ein schöner Mann.« – »Woher willst du das denn wissen?« – »Google-Bildersuche macht’s möglich«, lautet ihre lapidare Antwort. »Ich muss doch darüber informiert sein, wen meine Enkelin so mir nichts, dir nichts als Chef bekommt. Außerdem habt ihr euch beim gestrigen Treffen so viel über sein Aussehen unterhalten, dass ich gar nicht anders konnte, als abends einen Blick auf die Fotos im Internet zu werfen.« Darauf sage ich erst mal gar nichts, denn das Glöckchen an der Tür bimmelt sanft, wir haben Kundschaft.

***

Am Nachmittag eines weiteren nervenaufreibenden Tages mit Carstensen schnappe ich mir einen großen Korb voller Zaubermittelchen, wie Aromaöle, Beruhigungstees, Entspannungs- und Meditations-CDs, die Henrikje für die seelsorgerische Arbeit von Sinje zusammengestellt hat, und verlasse das Haus. Auf dem Marktplatz ist Stadtführerin Greta gerade dabei, Urlaubern von der Entstehung unserer kleinen Stadt zu erzählen. »Seit der Sturmflutkatastrophe sind die Bewohner von Grotersum eifersüchtig auf die Bürger Lüttebys«, höre ich Greta sagen. »Man beneidet uns um die Tatsache, dass unser Apostelkirchlein von den zerstörerischen Fluten verschont wurde und zudem keinem einzigen Einwohner auch nur ein Härchen gekrümmt wurde. Angesichts der Gewalt, mit der die zweite Grote Mandränke 1634 über die nordfriesische Küste hereingebrochen ist, auch wirklich ein Wunder. Sagen und Mythen spielen in unserer Gegend eine große Rolle, und so auch die Legende um das Liebespaar Algea und Fokke, die leider ein tragisches Ende …«

1634

»Aber ich kenne ihn doch gar nicht. Wieso sollte ich ihn dann heiraten?« Algea funkelte ihren Vater zornig an, nachdem dieser ihr eröffnet hatte, dass es an der Zeit sei, sich nach einem passenden Ehemann für sie umzuschauen. Als Kandidaten hatten sich die Eltern einen jungen Mann aus Norderende ausgesucht, der ebenfalls von guter Herkunft war und zwei Jahre älter als Algea. »Deshalb werden wir bald ein Treffen arrangieren, Liebes«, versuchte die Mutter ihre aufbrausende Tochter zu besänftigen. »Ich dachte an einen Spaziergang am Meer mit einem anschließenden Imbiss bei uns in der Villa. Keine Sorge, du wirst nicht allein sein, Ineke und ich begleiten euch beide selbstverständlich in gebührendem Abstand. Beim Essen werden auch die Eltern von Taako anwesend sein.« – »Wenn die Eltern dabei sind, ist doch alles schon entschieden«, erwiderte Algea und schob trotzig das Kinn vor. »Wieso interessiert ihr euch nicht für das, was ich will?« Tränen der Wut sammelten sich in ihren Augenwinkeln. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich dafür verfluchte, nicht als Junge in diese Welt geboren worden zu sein. Als Mädchen und Frau hatte man so gut wie keine Rechte – und vor allem keine Freiheiten. »Wir wollen doch nur das Beste für dich«, meldete sich nun der Vater zu Wort. »Ich schlage vor, wir essen jetzt weiter und beenden das Thema. Diese Zusammenkunft ist vereinbart, ob du es nun willst oder nicht. Also gewöhn dich besser an den Gedanken.« Algea schickte ihrer Mutter einen Hilfe suchenden Blick, doch diese schlug nur die Augen nieder. So gut die Ehe der Ketelsens war, so genau wusste jeder in diesem Hause, wann er sich dem Willen des stolzen Kapitäns zu fügen hatte.

»Zähle ich denn gar nicht?«, fragte Algea später, als Amme Ineke ihr das hüftlange Haar so lange und hingebungsvoll bürstete, bis es seidig glänzte. »Ich möchte aus Liebe heiraten und nicht, weil es so vorherbestimmt ist. Man könnte meinen, ich sei eine Königin, die in Ränkespiele am Hof verwickelt wird. Aber ich bin nur die Tochter von Kommandeur Aarge Ketelsen und keine Monarchin.« Ineke zog es vor, nicht zu antworten, daher ging Algea schließlich ins Bett, ohne irgendeine Form von Unterstützung erfahren zu haben. Nachdem sie sich eine Weile schlaflos hin und her geworfen hatte, stand sie auf und öffnete das Fenster, obwohl die Nachtluft sehr kühl war. Doch Algea hatte das Gefühl, ersticken zu müssen, wenn sie nicht selbst über ihr Leben entscheiden und frei atmen konnte. Der Mond schimmerte am Nachthimmel, die Nordsee brauste tosend an den Strand. Mit einem Mal kam ein großer weißer Vogel auf sie zugeflogen und setzte sich, ehe Algea das Fenster schließen konnte, auf den Sims. Algea wich erschrocken zurück, denn der Sage nach waren die Raben und schwarzen Krähen Vorboten drohenden Unheils. Doch dieser Vogel war weiß, obgleich er doch zur Familie der Rabenvögel gehörte. »Bist du gekommen, um mir zu sagen, dass ich mich gegen das vorherbestimmte Schicksal wehren und kämpfen muss?«, fragte sie. Der Rabe stieß ein »Kraraaa« aus und entschwand flügelschlagend in die Nacht.

 

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Die Liebe tanzt barfuß am Strand erscheint am 01.03.2022.

Anna Thaler

Das Land, von dem wir träumen

 

Der Erste Weltkrieg hat auch der Familie des Südtiroler Bauern Ludwig Bruggmoser tiefe Wunden geschlagen, denn zwei der vier Söhne sind gefallen. Als Ludwig den Vorgaben der neuen italienischen Regierung gemäß allzu bereitwillig den Namen der Familie in »Ponte« ändert, bringt er nicht nur seine Tochter Franziska gegen sich auf.

Ludwig ahnt nicht, dass Franziska einen gefährlichen Weg beschritten hat: Weil sie kein Italienisch spricht und deshalb nicht als Lehrerin arbeiten darf, gründet sie eine verbotene Katakombenschule, wo sie Deutschunterricht gibt. Unterstützung erhält sie dabei überraschend vom Knecht ihres Vaters, Wilhelm Leidinger. Doch auch Wilhelm verbirgt ein Geheimnis – und die Verhältnisse in Südtirol spitzen sich unaufhaltsam zu …

 

Das Schicksal der Familie Bruggmoser wird in Der Duft von Erde nach dem Regen weitererzählt.

Frühjahr 1925
Der Brief aus Rom

Manchmal genügte eine Kleinigkeit, und das Leben zerbrach in tausend Scherben.

Mutlos starrte Franziska auf den Brief in ihrer Hand. Sie konnte es immer noch nicht begreifen. Sie wollte es nicht begreifen.

»Ich hatte wirklich gehofft, dass ich da etwas missverstanden habe«, murmelte sie mehr zu sich. Unruhig rutschte sie auf der unbequemen Holzbank umher. Sie ließ die Hand mit dem Brief in den Schoß sinken und strich mit der anderen einen Saum an ihrem Kleid glatt. Ihr Blick wanderte über die sorgfältig angelegten Rabatten, wo Frühlingsblumen sich nach einigen warmen Sonnentagen einen Wettstreit um die leuchtendsten Farben lieferten. Dahinter führte der gepflasterte Uferweg an der Passer entlang. Ein gusseisernes Geländer säumte die tiefe Böschung. Der Fluss plätscherte da unten unbekümmert an der Wandelhalle und den Promenadenwegen vorbei und bahnte sich seinen Weg mitten durch die Stadt, bis er sich ganz im Westen Merans mit der Etsch vereinigte.

»So ein Fluss hat es leicht. Weiß, wo er herkommt, wo er hinmöchte und muss sich unterwegs auch nicht weiter kümmern. Wasser bahnt sich immer einen Weg.«

Neben Franziska lachte Leah laut auf. »Ist das dein Ernst? Die Passer fließt schon seit Jahrtausenden immer dieselbe Route. Wie langweilig! Und sollte der Fluss sich ein neues Bett graben wollen, dann verhindern die Menschen es und zwingen ihn auf einen anderen Weg.«

»Ja, so, wie mich die Regierung zwingt, mir einen neuen Beruf zu suchen.« Franziska konnte die Bitterkeit nicht aus ihrer Stimme heraushalten. Noch niemals in ihrem Leben war sie so enttäuscht, hatte sich so ratlos und hilflos gefühlt. Und ihr Vater fand das scheinbar alles nicht einmal schlimm.

Leah legte ihre schmale Hand auf Franziskas. »Genug von diesen Philosophien über den Fluss und den Lauf der Dinge. Was willst du jetzt tun?«

»Ich weiß es nicht, das ist es ja.« Franziska faltete den Brief sorgfältig und steckte ihn zurück in den Umschlag. So schrecklich sein Inhalt war, er war immer noch ein amtliches Dokument, und mit so etwas ging sie ordentlich um. »Was kann ich tun? Ich habe meine Ausbildung als Lehrerin mit Bravour bestanden. Als Jahrgangsbeste! Dann komme ich zurück aus Innsbruck und will endlich unterrichten und statt der Berufung an eine Schule erwartet mich ein Brief mit Berufsverbot.« Sie brach ab und unterdrückte den Impuls, den Brief wieder aus dem Umschlag zu ziehen und Leah zu bitten, ihn abermals zu überprüfen. Vielleicht war das alles doch ein Missverständnis. Es musste alles ein Versehen sein.

»Weil ich kein Italienisch spreche«, murmelte sie leise. »Ich darf nicht unterrichten, weil ich nur Deutsch spreche. Weil sie sagen, dass die Kinder Italienisch lernen sollen. Meinetwegen, das schadet sicher nicht. Aber warum dürfen sie ihre eigene Sprache nicht mehr lernen?« Franziska warf ihrer Freundin einen flehentlichen Blick zu und spürte, wie Leah zur Antwort tröstend ihre Hand drückte.

»Und wenn du selbst Italienisch lernst? Ich könnte Tata bitten, sich nach einem Lehrer umzuhören. Es ist eine schöne Sprache und jemand wie du beherrscht sie im Handumdrehen.« Leah stand von der Bank auf und zog Franziska auf die Füße. »Komm, wir gehen ein Stück.«

Franziska hakte sich bei ihrer Freundin unter. »Was soll ich Italienisch lernen?«, widersprach sie missmutig. »Dann darf ich immer noch kein Deutsch unterrichten. Außerdem spricht doch kein Kind Italienisch! Mal ehrlich, sie sprechen teilweise nicht einmal Deutsch, sondern irgendeinen Dorfdialekt oder Ladinisch. Wie sollen wir uns denn da noch verständigen? Und außerdem …«

»Außerdem was?« Leah blieb stehen.

Franziska ließ den Kopf hängen. »Wenn ich Italienisch lerne, werden sie im Dorf behaupten, ich kollaboriere mit den neuen Machthabern. So, wie sie es ohnehin schon über meine Familie sagen. Sie nennen meinen Vater hinter seinem Rücken Luigi, und das meinen sie nicht nett, glaub mir.«

»Seit wann scherst du dich darum, was andere sagen?«

»Das ist mir von Herzen egal. Aber ich möchte meine Freundschaften im Dorf nicht aufs Spiel setzen, verstehst du das?«

Leah blieb stehen und runzelte die Stirn unter der dunklen Lockenmähne. »Nicht ganz. Was ist eine Freundschaft wert, die nur auf Oberflächlichkeiten beruht? Weißt du, wie viele Meraner, gerade die, die sich für etwas Besseres halten, behaupten, sie wären Freunde meiner Familie?« Sie ballte die Hände unbewusst zu Fäusten. »Weil wir reich sind, Geld haben. Weil mein Vater ein erfolgreicher Geschäftsmann ist und dazu einer der besten Goldschmiede weit und breit. Was, glaubst du, passiert, wenn die Stimmung wieder gegen uns Juden umschlägt? Wer sich dann noch offen als unser Freund bezeichnet?«

Franziska blickte ihre Freundin trotzig an. »Ich?«

Einen Moment lang schien Leah zu verblüfft, um etwas zu antworten. Dann nickte sie langsam. »Siehst du. Und genauso wenig würde ich mich von dir abwenden, wenn du Italienisch lernst, um Lehrerin zu werden. Weil ich wüsste, wie glühend du dir wünschst, Kindern etwas beizubringen. Und das solltest du.« Sie setzte ein schelmisches Lächeln auf. »Ansonsten wirst du jede Gelegenheit nutzen, andere zu belehren, und das wäre ja kaum zu ertragen.«

»Wie bitte? Belehre ich dich etwa?«

Leah grinste. »Manchmal versuchst du es.«

Franziska knuffte sie in die Seite. »Du bist fies!«

»Ich bin deine beste Freundin. Wenn ich nicht ehrlich zu dir sein darf, wer dann?«

»Ehrlich, pah. Ich glaube, ich muss dich noch ausführlich in Bezug auf Diplomatie und Anstand belehren!«