Traum über Kopf - Lars Bendels - E-Book

Traum über Kopf E-Book

Lars Bendels

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Beschreibung

Wie reist man eigentlich zeitgemäß um die Welt? Es ist der spannendste Selbstversuch, den sie sich vorstellen können. Lars und seine Freundin Anja kündigen ihre Jobs als Werber, um als Volunteers rund um den Globus in sinnhafte Lebensentwürfe einzutauchen. Im Rucksack ein One-Way Ticket und die Idee, unentgeltlich in all den ökologischen Jobs zu arbeiten, von denen sie schon als Kinder geträumt haben. Sie probieren sich als Agroförster, Safari Ranger und Walforscher, werden Permakulturgärtner und retten Meeresschildkröten. Und sie begegnen dabei immer wieder außergewöhnlich inspirierenden Menschen. Wo kämen wir hin, würden wir unseren Träumen einfach in die Welt hinaus folgen?

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Traum über Kopf

LARS BENDELS, Jahrgang 1981, hat Marketing-Kommunikation und Journalismus studiert. 2022 tauschte er seinen Job als Markenberater in München gegen eine Ausbildung zum Safari Guide im südlichen Afrika. Anschließend bereisten er und seine Partnerin Anja zwei Jahre lang die Welt, um als »Vagabonding Volunteers« unentgeltlich in ökologischen Traumjobs zu arbeiten.

Manchmal wünschten sich Lars und seine Freundin Anja, nachsehen zu können, wie sich ihre alten Kindheitsträume in Wirklichkeit anfühlen würden: In ferne Länder reisen und als Walforscher mit den größten Lebewesen der Erdgeschichte unterwegs sein, als Artenschützer mit wilden Tieren leben oder als Paläontologen Millimeter für Millimeter neue Geheimnisse der Dinosaurier freilegen. Vor etlichen Jahren haben sie sich für andere Laufbahnen entschieden. Was aber wäre, wenn manches, woran sie als Kinder geglaubt hatten, doch noch wahr werden könnte?Um das herauszufinden, trennen sie sich von ihrem Hab und Gut, hängen ihre Festanstellungen an den Nagel und begeben sich auf die Spuren verwaschener Träume und abgelegter Wünsche. Als reisende Volunteers gelangen sie hinter verschlossen geglaubte Türen und landen an den entlegensten Orten der Welt. Sie ziehen in den Dschungel Costa Ricas und den südafrikanischen Busch, leben in einer Jurte auf Hawaii und reisen ins Tierfilm-Mekka der Azoren. Ihre Walz um die Welt ist eine Abenteuerreise in zweckbestimmte Lebensentwürfe und ein flammender Appell, für die eigenen Träume und unseren Planeten einzustehen.

Lars Bendels

Traum über Kopf

Als Volunteers um die ganze Welt

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Namen und Charakterzüge von einigen Personen wurden mit Rücksicht auf ihre Privatsphäre verändert. Der Name des südafrikanischen Reservats, das als »Nunguland« bezeichnet wird, wurde aus Artenschutzgründen ebenfalls abgewandelt. Diese Maßnahme dient der Sicherheit vor Nashorn-Wilderei.Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Juni 2024© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin, 2024Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b Umschlaggestaltung: Fabian Sixtus KörnerKarte: © www.fabsn.comUmschlagabbildung & Autorenfoto: © Lars BendelsE-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN: 978-3-8437-3134-8

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog | 45° Süd

1 | Störung auf der Stammstrecke

2 | Traum über Kopf

3 | Wiederverzauberung der Welt

4 | Die große Kleckerfreiheit

5 | Durch Dickicht und dünn

6 | One Love

7 | Vergessenes Wissen

8 | Zwei wie PS und Schwefel

9 | Schlaraffenwald

10 | Panzentralamericana

11 | Nachtschicht mit Dinosauriern

12 | Tieftaucher im Azorenhoch

13 | Reich der Federn

Epilog | Verheiratet wie die Albatrosse

Bilder

Karte

Dank

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog | 45° Süd

Widmung

Für alle, die sich weigern, ihre Träume aufzugeben

Motto

Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wo kämen wir hin, und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn man ginge.

Kurt Marti

   

Prolog | 45° Süd

Niemand atmet. Wie festgefroren verharren wir in der sengenden Hitze. Mit den Händen an den Ohrmuscheln horchen wir angestrengt, ob wir dem Spitzmaulnashorn bereits näher gekommen sind. Nashörner selbst geben ohne besonderen Grund kaum Geräusche von sich. Der verräterische Laut, den wir orten wollen, ist das Trillern der Rotschnabel-Madenhacker. Die überwiegend dunkelbraunen Vögel mit ihren typischen gelb umrandeten roten Augen ernähren sich vom Blut großer Säugetiere. Weil sie es ihnen vorwiegend in Form vollgesogener Zecken vom Körper pflücken, gehen viele Tierarten die Symbiose gerne ein. Würden wir jetzt, da die Spuren des Nashorns langsam frischer werden und der Busch immer dichter wuchert, einen Madenhacker hören, könnten wir abschätzen, wo sich das Nashorn befindet, auch ohne es zu sehen.

Im Lehrplan der Berufsschule, die uns zu Safari Guides ausbilden will, sind wir in der Phase, die sich auf sogenannte Walking Safaris konzentriert. Dazu sind wir in einem Camp tief im südafrikanischen Busch untergebracht, ohne Zäune oder Mauern um uns herum. Hier lernen wir, wie man Urlaubsgäste zu Fuß an wilde Tiere heranführt. Tagsüber in der Theorie, morgens und spätnachmittags in der Praxis. Auf den Schutz des Geländewagens zu verzichten ist die wohl sinnlichste Art, die Wildnis Afrikas zu erkunden. Mit dem ersten Schritt, den man in den Lebensraum von Löwe, Elefant und Co. setzt, sind alle Sinne angeknipst. Das Gefühl, angreifbar zu sein, schaltet alle meine Antennen auf Empfang, und alle Gedanken aus, die nichts mit dem Hier und Jetzt zu tun haben. Ich sehe, höre, fühle und rieche meine Umwelt mit einer Intensität, die ich meinen im Büroalltag verkümmert geglaubten Sinnen gar nicht zugetraut hätte. Mir entgeht kein verdächtig wackelnder Ast, kein Warnruf eines Beutetiers, kein strenger Geruch. Und in diesem Augenblick geben meine gespitzten Ohren alles, um auch den entferntesten Ruf eines Madenhackers nicht zu überhören. Irgendwo im Westen warnt ein Kudu bellend seine Artgenossen. Weit genug von uns entfernt, wir müssen uns also keine Sorgen um das Raubtier machen, das die Großantilope vermutlich gewittert hat. Das Trillern der Madenhacker bleibt jedoch aus.

Mit einem Stock schnippt Instructor Ian den roten Sand in die Höhe. Das macht er in regelmäßigen Abständen immer wieder, um sich zu vergewissern, dass wir weiterhin gegen den Wind laufen. Dreht der Wind, laufen wir Gefahr, dass sich das Nashorn von uns entfernt, noch lange bevor wir es entdeckt haben. Aber der Wind steht noch immer richtig, und da wir auch keine Madenhacker hören, gibt Ian uns per Handzeichen zu verstehen weiterzulaufen. Ihm hinterher schlängeln wir uns aufgereiht wie an einer Perlenschnur an wildem Salbei vorbei. In dieser Formation folgen wir dem Spitzmaulnashorn schon seit vier Stunden, ohne es zu Gesicht bekommen zu haben. Und ausgerechnet jetzt, da die Spuren immer frischer werden, führen sie von der offenen Ebene rein in das undurchsichtige Dickicht aus Mopanebäumen. Wäre dies kein Unterricht mit einem der erfahrensten Safari Guides der Branche, sondern eine Safari mit ungeschulten Gästen, würde die Tour hier enden. Die Bäume mit den Schmetterlingsblättern sind nicht nur unter Spitzmaulnashörnern beliebt, sie gehören auch zur Leibspeise von Elefanten. Doch selbst ein ausgewachsener Elefant kann in einem solch dichten Blätterwerk unsichtbar werden. Das Risiko, sich unbeabsichtigt in der Komfortzone von Elefant oder Nashorn wiederzufinden, wäre zu groß. Kommt man den Dickhäutern versehentlich zu nah, schalten beide Arten auf Angriff. Mit Glück würde der Elefant nur einen Scheinangriff unternehmen und uns die Chance zum Rückzug lassen. Das Spitzmaulnashorn hingegen schauspielert nicht. Wer es wagt, ihm auf die Pelle zu rücken, wird mit einem bis zu 1,3 Meter langen Horn aufgespießt. In einem solchen Fall bliebe als letztes Mittel nur noch der Griff zum Gewehr, das jeder Safari Guide für den absoluten Notfall mitführen muss. Es wäre eine wahre Tragödie, Menschen für den Artenschutz begeistern zu wollen und dabei in eine Situation zu geraten, die im Abschuss eines bedrohten Tieres endet. Solche GAUs passieren glücklicherweise nur äußerst selten. Ian sowie allen anderen Ausbildern, von denen ich bislang lernen durfte, ist in ihren langjährigen Berufslaufbahnen ein solcher Unfall nicht passiert. Mit jemandem wie ihm an unserer Seite und auch durch das Wissen, das ich in den letzten Ausbildungsmonaten anhäufen konnte, fühle ich mich sicher. Die zuversichtlichen Blicke meiner fünf MitschülerInnen bestätigen mir, dass mein Gefühl kein versteckter Leichtsinn ist.

Ich laufe an dritter Stelle, gleich hinter Ian und seinem Back-up Finley, einem zweiten Safari Guide, der ebenfalls ein Gewehr mitführt und den Lead Guide in all seinen Aufgaben unterstützt. Ein Spitzmaulnashorn in seinem natürlichen Lebensraum beobachten zu können wäre wirklich etwas ganz Besonderes. Denn die Spezies ist stark gefährdet. Wilderer haben es auf ihr Horn abgesehen, weil es noch immer Anwendung in der Traditionellen Chinesischen Medizin findet. Es besteht aus Keratin, dem Stoff, aus dem Fingernägel gemacht sind. Und doch fantasieren unzählige Menschen eine magische Heilkraft in das medizinisch komplett wirkfreie Material hinein. Das illegale Abschlachten wilder Nashörner ist traurige Realität. Auf dem asiatischen Schwarzmarkt erzielt ihr Horn mit 65 000 Dollar pro Kilogramm höhere Preise als Gold. Aus diesem Grund versehen wir keinen unserer Nashorn-Posts in den sozialen Medien mit einem exakten Geotag. Es wäre eine Einladung an jeden Wilderer.

Ich kann es kaum erwarten, das Tier zu sehen, dessen Spuren und Zeichen wir seit dem frühen Morgen folgen. Kurz bevor wir das Mopane-Dickicht erreichen, gehe ich im Kopf noch einmal die fünf goldenen Regeln durch:

Nicht sprechen. Wir kommunizieren per Handzeichen oder mit natürlichen Geräuschen wie einem Fingerschnipsen oder Pfeifen.

Alle Kommandos von Lead Guide und Back-up umgehend befolgen. Wer nicht spurt, riskiert im Zweifel das eigene Leben und das der MitschülerInnen. Diskutiert wird im Camp.

In einer Reihe laufen, damit uns Tiere nicht als acht Individuen, sondern als eine Einheit wahrnehmen.

Stets hinter Lead Guide und Back-up bleiben. Sollte Gefahr drohen, dann von vorne. Stehe ich im Fall der Fälle zwischen den Gewehrträgern und der Gefahr, wäre es Ian und Finley unmöglich, mir zu helfen.

Und die wichtigste aller goldenen Regeln: nicht rennen. Niemals! Ganz egal, was passiert. Alles, was im Busch lebt, ist schneller als ich. Und bei vielen Raubtieren weckt schnelles Laufen erst recht den Jagdtrieb.

Der Schatten der dicht stehenden Mopane-Bäume ist eine Erleichterung. Ich wische mir den Schweiß aus den Augen. Mein Blick folgt dem schmalen Tierpfad. Ein rotsandiges, in südliche Richtung laufendes Band, der einzige beschwerdefreie Weg durch das grüne Geäst. Für uns, aber auch für das Rhinozeros, das soeben erst hier gewesen sein muss. Dass es sich um ein ausgewachsenes Tier handelt, zeigt die Größe seiner Fußspuren. Als Unpaarhufer lassen sich in jedem Abdruck drei markante Zehen erkennen. Der in der Mitte ist der dickste und breiteste, die äußeren Zehen sind kleiner, wesentlich schmaler und etwas abgespreizter vom mittleren Zeh, als es in der Spur eines Breitmaulnashorns der Fall wäre. Je weniger Details der Wind in den Fußspuren verweht hat, desto jünger sind sie normalerweise. In dem dichten windstillen Mopane-Wäldchen ist auf Faustregeln wie diese allerdings kein Verlass. Doch überall zu erkennen sind frisch abgezwickte Zweigspitzen. Abgebissen in einem perfekten 45-Grad-Winkel, weshalb es sich nur um unser Spitzmaulnashorn handeln kann. Mit Handzeichen weisen wir uns mucksmäuschenstill gegenseitig auf all die frischen Spuren und Zeichen hin. Wir verlangsamen unser Tempo auf ein Mindestmaß, achten auf jeden Zweig, auf den wir treten könnten, horchen konzentriert. Mit seinem Stock deutet Ian auf eine Stelle vor uns, an der das Buschwerk links vom Pfad unterbrochen ist. Ist das eine Abzweigung? Wir sind noch zehn Meter entfernt, verringern den Abstand zu der Stelle Minischritt für Minischritt, um sie einsehen zu können. Dann hebt Ian die Hand, woraufhin die ganze Karawane hinter ihm abrupt stehen bleibt. Etwas ist seltsam. Nicht nur wir sind still, die Natur ist es auch. Kein einziges Vogelzwitschern liegt in der Luft. Kein summendes Insekt. Kein Mopane-Blatt, das es wagt, leise zu rascheln. Die Stille, die uns umfängt, ist bedrohlich. Sie ist – zu still. Ian macht einen letzten Schritt, damit er vorsichtig links um die Ecke schauen kann. Und dann passiert es.

Der Nashornbulle senkt seinen massigen Schädel, während er in kurzen Stößen wütend durch die Nüstern schnaubt und sich ohne zu zögern auf Ian stürzt. Mein Herz rast so schnell, als wollte es mir aus der Brust springen. Ich höre, wie jemand eine Patrone in den Lauf hebelt, kann aber keinen Schuss wahrnehmen. Der aufgebrachte Bulle braucht nur zwei Schritte, dann schleudert er Ian mit einer einzigen Kopfbewegung aus dem Weg. Unser Ausbilder verschwindet in hohem Bogen im dichten Blätterwerk. Nur einen Wimpernschlag später ist auch von dem Nashorn nichts mehr zu sehen. Als würde die grüne Wand aus Mopane-Bäumen nicht existieren, kracht das 1,3 Tonnen schwere Tier in vollem Lauf einfach durch die Vegetation und sucht unter dem Geräusch brechender Äste in südlicher Richtung das Weite. Nur eine Staubwolke lässt es zurück.

Bewegungsunfähig stehe ich keine zwei Meter hinter der Stelle, an der eben noch Ian stand. Kohlensäure pumpt durch meine Adern. Dann brüllt mich Finley aus der Schockstarre: »Rückzug! Rückzug!«

Während wir uns rückwärtslaufend in Sicherheit bringen, überschlagen sich meine Gedanken. Wo ist Ian? Ist Ian tot? Wie konnte das passieren? Warum hat niemand geschossen? Und was zum Geier bewegt mich bitte zu einer solchen Reise?

1 | Störung auf der Stammstrecke

München, Bayern, Deutschland

Die heillos verspätete S-Bahn ist proppenvoll. Auf der Münchner Stammstrecke fallen alle naselang Züge wegen irgendwelcher Störungen aus. Seit ich vor vier Jahren hergezogen bin, geht das schon so. Beim Einsteigen drängle ich mich an die gegenüberliegende Tür, neben der ich noch einen freien Haltegriff erspähe. So kalt mir die morgendliche Dezemberluft gerade noch in den Nacken fuhr, so froh bin ich jetzt darüber, in dieser stickigen, feuchtwarmen Luft keinen Schal um den Hals zu haben.

»Wohin fährst du?«, frage ich den Typen gegenüber. Ich stelle ihm diese Frage nicht zum ersten Mal. Im Gegenteil. Betriebsgestört wie die MVG, stelle ich ihm Tag für Tag dieselbe Frage. Nur eine Antwort habe ich bislang nicht erhalten. Auch heute nicht. Wie immer starrt er mich stattdessen an, denkt nach, mustert mich. Ich starre zurück, denke nach, mustere ihn. Dunkelblonde Haare, gewellt, lang genug, um sie sich hinters Ohr zu streifen. Unter der Lederjacke mein Lieblingshemd, das mit dem Loch an der Brusttasche. Hinter meinem spiegelverkehrten Türfenster-Ich dämmert es. Halb transparent stehe ich da, stehe ich neben mir wie ein Schatten meiner Selbst. Die Welt da draußen fliegt einfach durch mich hindurch. Viel zu schnell, um sie richtig sehen zu können.

Am Hauptbahnhof Umstieg in die U2. Der Weg zum anderen Gleis ein einziges Gedränge hektisch umhereilender Menschen. Leere Augen und zusammengepresste Kiefer. Als wären sie unterwegs Richtung Hölle, dabei aber etwas spät dran. Es riecht gleichzeitig nach Parfüm und Leberkäse. Ich ziehe mir den Hemdkragen über die Nase und denke an den klaren technischen Duft meines Geländewagens.

Rubi, ein alter Jeep Wrangler, ist mein Fluchtfahrzeug, meine Komplizin für alle Fälle. Bei glühendem, vom Hamsterrad-Dynamo heiß gekurbeltem Fernweh hält sie meiner Seele das theoretische Hintertürchen offen, der Routine entfliehen zu können, an jeden Ort der Welt. Rubi ist das Versprechen von Freiheit, sie ist gute Laune auf vier Rädern. Sie hat einen Knopf im Cockpit, der mit einer Presslufthupe verbunden ist. Wenn man den drückt, bläst Rubi so fröhlich in fünf Hörner, dass man im Umkreis von 250 Metern jeden zum Lächeln bringt, der keine Polizeiuniform trägt. Ihre Anschaffung gehört auf die Liste der Kompromisse, die ich mit mir selbst eingegangen bin. Rubi zählt sicherlich nicht zu den sparsamsten Benzinern, also zogen sich die Verhandlungen. Unter Auflagen ging mein Gewissen den Deal mit meinem Herzen aber doch noch ein. Autos wie Rubi sind nicht dafür gemacht, um geradeaus zu fahren. Sie sind gemacht, um auszuscheren. Mit ihr irgendwann der Länge nach durch Afrika, das wär’s! Fröhlich hupend Menschen zum Lachen bringen, in der Savanne campen – das Leben als Roadtrip begreifen und die Fahrt genießen.

In der U2 erhasche ich einen freien Sitz auf einem Viererplatz und lande neben einem produktiv in sein Schulheft hustenden Teenager mit fiebrigen Augen. Auf dem Handy scrolle ich durch die Nachrichten. Klimapaket, das keines ist. Trump boykottiert Impeachment. Buschbrände in Australien. Piñera gewinnt die Präsidentschaftswahl in Chile. Ich wechsele zu Instagram. Affektiver Eskapismus, aber anders halte ich den Zustand der Welt im Dezember 2019 kaum aus.

Meine Instagram-Wall, eine unsortierte Collage schöner Erlebnisse, erinnert an alles von Bedeutung. 1 233 Versuche, flüchtige Momente zu konservieren. Wildnis, Tiere, ferne Länder, #positivevibesonly. Beinahe alle Fotos sind auf Rucksackreisen und Wochenendausflügen entstanden. Sie erzählen Geschichten von Abenteuern in der Natur, von Marshmallows an Lagerfeuern und Tannentee aus Emaillebechern. Sie handeln von kleineren und größeren Fluchten, von dem Gefühl, für die Dauer einer Individualreise frei zu sein, während sich mein alltägliches Leben wie eine Pauschalreise von der Stange anfühlt. Seltsam vorgezeichnet, fremdbestimmt, als verlaufe es auf längst verlegten Schienen. Für jeden dieselbe Richtung, dieselben Zwischenstationen: Hochzeit, Kinder, Kredit, Einbauküche, Thermomix-Partys – Endpunkt Altersheim. Das Leben der Eltern leben. Kann ja nicht falsch sein. Und wenn ich mich so umsehe, die ausdruckslosen Gesichter zu lesen versuche, dann scheint die U2 voll zu sein mit Menschen wie mir. Die Bazillenschleuder links von mir und der kahlköpfige Mann schräg gegenüber, der sich mit einer Leberkässemmel bekleckert. Die Frau mit ihrem bemitleidenswert überzüchteten Chihuahua, der vergeblich versucht, sich aus seiner Chanel-Handtasche zu befreien. Wir alle sitzen im selben Zug. Ich bin umgeben von Mitreisenden, die jede Woche zwischen #mondayblues und #thankgoditsfriday fünf Tage Lebenszeit entwerten, ohne etwas von der Welt hinter der Scheibe mitzukriegen. Vollkaskoversichert, ohne eine Abzweigung zu riskieren. Als Erster im Büro, als Letzter zu Haus. Im Bett noch schnell eine E-Mail an den Chef und die Sprachnachricht vom Kunden beantworten. Am Samstag den Anzug für die Hochzeit am Sonntag aus der Reinigung holen. Geschenk kaufen nicht vergessen. Aber erst zur Reinigung – und einen Schlenker in die Agentur, bin ja eh in der Stadt. Montag Team-Lunch, abends zum Sport und Mülltonne rausstellen. Ruhelosigkeit als Routine. Durchökonomisiert leben wir über die Ressourcen des Planeten wie über unsere eigenen. Erschöpft von der Zeit, die immer zu knapp ist. Wir rasen in einem Schnellzug in dieselbe Richtung, ohne einmal stehen zu bleiben und zu hinterfragen, warum.

Als Werber fällt mir eine Antwort ein, weshalb die westliche Welt ungeachtet ihrer Bildung keinen Verdacht schöpft: Konsum überdeckt selbst leiseste Zweifel, trübt den Verstand und euphorisiert das Gemüt. Er kompensiert fast jede Art von Frust, doch weil sein Rausch lediglich von kurzer Dauer ist, hängen wir uns an seinen Tropf. Wir lechzen nach Wohlstand und Status, sehnen uns nach Anerkennung und bezahlen dafür mit Verbindlichkeiten, die unsere Abhängigkeiten weiter zementieren. Wir tauschen Dinge gegen unsere Tage – was für ein irrer Deal! Für die bizarre Suche nach geldwertem Glück und Nachbars Anerkennung. »Schaut her, ich hab’s geschafft!«, hört man meine Generation über den neuen Gartenzaun rufen, Jahrzehnte, bevor die letzte Schuld getilgt ist. Im Hintergrund das stete Summen des Mähroboters, damit auch ja kein Halm quer wächst.

Und doch lese ich ständig darüber, dass immer mehr Menschen unglücklich werden. Offenbar macht es einen Unterschied, ob man ein Leben führt, das nur gut aussieht, oder eines, das sich auch gut anfühlt. Der Mensch lebt nicht allein von finanzieller Sicherheit. Wir aber plansparen die Wege dieses einen Lebens so zukunftsverdrossen voraus, als läge es schon hinter uns. Was ist das für ein Erwachsensein, das Zuversicht und Neugier als Relikte kindlicher Einfältigkeit annulliert? Woher kommt der Irrglaube, sich ein festes Bild von einer unkontrollierbaren Zukunft machen zu können? Als wüssten wir es nicht besser. Als gäbe es keine Unfälle, keine Krankheiten. Als könnten wir unser Leben in eine Schachtel mit Watte packen. Wir aber planen hartnäckig voraus. So, wie andere uns vermittelt haben, dass es uns im Alter glücklich macht. Nichts gegen eine geschlossene Rentenlücke. Und doch ist unklar, ob man es überhaupt bis ins betagte Alter schafft. Zumal sich bei Renteneintritt unausweichlich die Frage nach der körperlichen und geistigen Verfassung stellt. Bleibt genug Energie, um mir meine jahrzehntelang verschobenen Träume doch noch zu erfüllen? Oder bleibe ich auf ihnen sitzen und warte, dass mein Leben wie eine Tasse kalt gewordener Ersatzkaffee endet? Die beste Absicherung für eine unvorhersehbare Zukunft, beschließe ich, ist ein zu jedem Zeitpunkt des Lebens gelebtes Leben.

Am Frankfurter Ring steige ich durch die zischende Doppeltür in den 178er-Bus. In zehn Minuten ist mein fast einstündiger Anfahrtsweg ins Büro mal wieder geschafft. Draußen ist es hell geworden. »Wohin fährst du?« Im Fenster verblasst die wiederkehrende Frage an mich selbst. Auch heute verabschiedet sie sich ohne Antwort, aber immerhin mit einer Tendenz: Ich bin zu kurz auf der Welt, um mein Leben wie einen eingeschlafenen Fußballkick über die zweite Halbzeit zu bringen. Als sei es ein Zustand, den man irgendwie nach Hause schaukelt. Mein Leben und ich, wir sind kein Verwaltungsapparat, kein Käfig aus Regeln. In wilder Ehe funktionieren wir noch immer am besten. Statt noch länger auf Konformitäten zu bauen, will ich gegen die Ordnung anrennen, will, dass meine Träume wieder etwas wert sind. Ich will durch jede einzelne Tür gehen, die das Leben für mich bereithält, und nachgucken, wohin ich käme. Da knall ich hinter mir auch gerne mal eine schallend zu, lass es tüchtig scheppern, damit vorne ein paar neue aufspringen. Es gibt einfach so vieles, was ich noch nicht über das Leben weiß. Und ich bin nicht bereit, all das in irgendeine Rentenzeit zu verschieben, in der ich mit schwindenden Sinnen und Kräften die Welt nur noch vorm plärrenden Fernseher betrachten kann.

Nein, schon aus Prinzip will ich mir nicht schon heute ausmalen müssen, wie meine Zukunft in drei Jahrzehnten vielleicht aussehen könnte. Vielleicht will mir deshalb auch keine eindeutige Antwort darauf einfallen, »wohin ich fahre«. Vielleicht möchte ich es ja einfach gar nicht länger so ganz genau wissen. Und vielleicht ist diese herbeigesehnte Unbestimmtheit genau das, was für mich ein selbstbestimmtes Leben ausmacht. Ich will heute niemandem versprechen müssen, wer ich morgen sein werde. Ich bin jetzt 38 und träume weder vom Ruhestand noch von einem schnurgerade vorprogrammierten Lebensweg dorthin. Ich träume davon, die beschissene Stammstrecke zu stören und meinem eigenen inneren Kompass zu folgen. »Stop«, lese ich und drücke die rote Haltewunschtaste. Ist es nicht genau so, wie Doc Brown die Zerstörung seiner Zeitmaschine in Zurück in die Zukunft III kommentiert? Erst als der DeLorean nur noch ein trister Haufen Schrott auf den Bahngleisen Hill Valleys ist, versinnbildlicht er die absolute Erlösung. Wahres Glück »bedeutet nur, dass deine Zukunft noch nicht geschrieben ist.«

Mein Magen knurrt mich aus der Konzentration. Es ist gleich halb neun, ich habe noch nichts zu Abend gegessen, dafür in den letzten zwei Stunden drei Tassen Kaffee getrunken. Trotzdem ist die Präsentation für morgen noch immer nicht fertig. Mein Bürofenster ist so schwarz wie das in der S-Bahn heute früh. Im Dunkeln zur Arbeit, im Dunkeln zurück. Winter im durchschnittsdeutschen Büroalltag.

»Mach nicht mehr so lang«, ruft mir Jacek vom Flur aus zu, bevor er doch noch mal seinen Kopf durch den Türspalt steckt. »Im Kühlschrank steht noch Bier. Halt durch!«

Halt durch. Präziser hätte er meinen allgemeinen Gemütszustand wohl kaum zusammenfassen können. Jacek arbeitet mit mir im internationalen Marketing eines großen Handelskonzerns. Während ich an der strategischen Markenausrichtung arbeite, unterstützt er die Landesvertretungen bei den daraus resultierenden Umsetzungen. Was meine Verantwortung betrifft, bin ich so ungefähr da, wo ich vor etlichen Jahren als Junior Berater einer Frankfurter Werbeagentur mal hinwollte. Ich sollte zufrieden sein. Und doch schwirren die Zweifel so unermüdlich um meinen Kopf herum wie eine Wolke lästiger Fliegen. Was tue ich hier eigentlich, mal abgesehen vom Geldverdienen? Warum wollte ich unbedingt in die Werbung? Die Tage häufen sich, an denen ich das selbst nicht mehr so ganz genau weiß.

Manchmal frage ich mich, ob ich auf mein eigenes Werbeversprechen reingefallen bin. Haben all die durchgearbeiteten Nächte, hastigen Fast-Food-Mahlzeiten, aus Stress gerauchten Zigaretten und zu viel Alkohol auf zu vielen Branchen-Events je zu irgendetwas Bedeutungsvollem geführt? Einem nichtmonetären Ergebnis, das mich womöglich gar erfüllt? Oder bezahle ich in Wahrheit einfach nur einen viel zu hohen Preis für das vermeintlich erfüllte Leben eines Werbers im hausgemachten Teufelskreis des Konsums?

Seit jeher faszinieren mich fremde Kulturen, ferne Länder, unberührte Natur und allen voran wilde Tiere. Obwohl ich schon in vielen Teilen der Welt unterwegs sein durfte, würde ich am liebsten noch viel mehr und noch viel länger reisen, Kamera und Fernglas einpacken und alle meine Lieblingstiere in freier Wildbahn aufspüren. Nur leider richten menschengemachtes Artensterben und Klimawandel den Planeten gerade schneller zugrunde, als ich ihn mir angucken könnte. Die Welt geht den Bach runter. Weil die Welt, in der wir leben, sich selbst konsumiert. Und ich bin der Typ, der alle dazu bringt, immer noch mehr von dem Kram zu kaufen, den sie eigentlich gar nicht brauchen.

In meine Karriere habe ich viel Schweiß und Tränen investiert. Ausbildung, Studium und erste Schritte in der Agenturwelt waren keine Selbstläufer. Und doch habe ich es geliebt. Es machte mir nichts aus, mir in der Agentur die Nächte um die Ohren zu schlagen. Für solche Fälle hatte ich den Flyer vom nächstgelegenen Pizzabringdienst, ein Ersatzpäckchen Zigaretten und eine Zahnbürste in der Schreibtischschublade und später auch Ibuprofen, um die Migräne flach zu halten. Ich erinnere mich noch genau an die Gänsehaut, als ich zur Tonabnahme in einem Frankfurter Kino saß und auf großer Leinwand den allerersten Marlboro-Spot sah, an dem ich mitwirken durfte. Cowboys, Freiheit, Abenteuer.

Heute stehe ich mit beiden Beinen im Leben – in einem, das einfach nicht mehr zu mir passen mag. Die Indizienkette ist lang: fünfzehn Berufsjahre, neun Umzüge und eine Scheidung. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir ein glückliches Leben als Kind irgendwie anders vorgestellt. Genau wie das Geldverdienen. »Was willst du werden, wenn du mal groß bist?« Auf die einfallslose Erwachsenenfrage fand ich die tollsten Antworten. Früher dachte ich, ich würde als Paläontologe Dinosaurierknochen ausgraben oder als feldforschender Biologe mit wilden Tieren leben oder für die Sonntagszeitung abenteuerliche Reportagen über exotische Orte schreiben. Um dahin zu kommen, klang altsprachliches Gymnasium nicht verkehrt. Aber dann, irgendwann in der Oberstufe, hatte ich es satt. Ich färbte mir die Haare, ließ mir eine Nadel durchs Ohr stechen, lackierte mir die Fingernägel, zog mir bunt karierte Hosen an und tat auch sonst alles, was ich für unumgänglich hielt, um größtmögliche Distanz zwischen mich und die Barbour-Jacken tragenden Bonzenkinder zu bringen. Das Verlangen, ihr ultimativer Gegenentwurf zu sein, war der Beginn meiner Punk-Phase. Noch wenig politisiert, dafür in unbekümmertem Hedonismus durchs Leben streifend, war ich natürlich keiner. Mir fiel schlicht keine andere Überschrift für meine Lust ein, mich gegen die versnobten Konventionen und alles, was die Gesellschaft für mich vorgesehen hatte, aufzulehnen. Das Gefühl des Widerständigen war überragend! Plötzlich stand ich für was, für Krach und Vielfalt und damit einhergehend für grenzenlosen Spaß. Ich hatte mir damit sicherlich nicht das tiefsinnigste aller Wertekostüme angelegt, aber der postpubertären Selbstfindung langte es allemal. Meine Metamorphose sollte sich als goldener Schlüssel zu all dem entpuppen, was für mein Teenager-Ich pures Glück bedeutete: Pogo, Joints und Karlsquell aus der Dose. Ich feierte das Leben, das ich mit einem Mal hatte, und nahm alles mit, was es mir vor die Füße legte. Ich gewann an Erfahrung und verlor meine guten Noten.

Meine schulischen Leistungen gingen in den Keller. Ich hatte in diesen Jahren einfach keinen Kopf fürs Lernen. Zumal es dank Dexter-Holland-Frisur plötzlich sogar mit den Mädchen klappte. Ich verlor mich in Songtexten der Toten Hosen, ließ kein wichtiges Konzert und keine noch so unwichtige Party aus. Selbst in ursprünglichen Lieblingsfächern wie Biologie und Geografie verlor ich den Anschluss, womit entsprechende Studiengänge Klausur für Klausur in unerreichbare Ferne rückten. Gute Noten fuhr ich eigentlich nur noch in Kunst und Deutsch ein. Ich wusste also, ich hatte ein Gespür für Kreation und Sprache. Und in welcher anderen Branche kann man diese beiden Fähigkeiten besser mit rauschenden Partys verbinden als in der Werbung?

Auf den Fluren ist es still geworden. Im Atrium fummelt noch jemand am Beamer rum, sonst sehe ich auf dem Weg zur Küche niemanden mehr. Jacek hat nicht zu viel versprochen. Im Kühlschrank finde ich nicht nur das in Bayern übliche Helle, sondern auch zwei Flaschen Pils. Wie immer in meinem Berufsleben hat die Karriereplanung vorgegeben, an welchen Ort ich ziehe. Jetzt ist es also München. Ausgerechnet hier ergab sich für Julia und mich die Gelegenheit, einen bedeutenden Karriereschritt hinzulegen. In meinem Fall ging es um den lange anvisierten Seitenwechsel: von der manchmal etwas unwürdig winselnden Dienstleistungswelt der Agenturen zur Auftraggeberseite eines Unternehmens. Sozialisiert in Städten mit ausgeprägten Kioskkulturen, war München der letzte Ort, der bei Julia und mir auf die Liste wünschenswerter Lebensmittelpunkte gewandert wäre. Doch den nächsten Step im makellosen Lebenslauf fest im Blick, sahen wir über unsere Vorbehalte hinweg. Drei Jahre später war unsere Ehe geschieden. Natürlich nicht wegen München. Auch wenn die überhebliche Selbstverliebtheit der Stadt keine gemeinsamen Wohlfühlmomente begünstigte, haben wir uns aus anderen Gründen getrennt. Insbesondere, weil wir unsere persönlichen Vorstellungen eines guten Lebens ständig diesem ganzen Karrierescheiß untergeordnet haben. Und weil jeder für sich viel über Grundsätzliches nachgedacht hat, es aber nie zur Sprache brachte. Bis der Überbau zersetzt war und wir uns eines traurigen Tages eingestehen mussten, dass wir uns zwar noch immer sehr mochten, aber eben nicht so, wie sich ein Liebespaar unseren Vorstellungen nach mögen sollte.

Heute bin ich stolz auf uns. Weil wir mutig genug waren, uns der Situation zu stellen. Der Weg dahin, gepflastert mit Selbstzweifeln und depressiven Schlaglöchern, war allerdings lang. Nicht ungewöhnlich, vermute ich, wenn man den Verlust einer wichtigen Bezugsperson wegzustecken hat. Wut aufeinander hätte helfen können – vielleicht –, um schneller drüber hinwegzukommen. Aber das Ding war: Wir mochten uns ja. Schon bald verschwanden Sinn und Vernunft unserer Trennung. Von jetzt auf gleich, wie hinter einem Vorhang im Theater. Nächster Akt: das einäugige Gedächtnis. Gefesselt an Verflossenes, spielte mein Hirn ausschließlich die hellen Momente unserer Beziehung aus und verdunkelte meine Situation damit ins Pechschwarze. Im Restaurant, an der Haltestelle, an der Kinokasse, hinter jeder verfluchten Ecke lauerte eine nächste, noch schönere Erinnerung. Stete, stumpfe Gewalt. Irgendwann kam ich nicht mehr gut klar damit.

Normalerweise mache ich die Dinge lieber mit mir selber aus. Da Eigenbrötlerei aber schon in der Beziehung zu Julia zu nichts Gutem geführt hatte, bin ich dann doch eine ganze Zeit lang in Therapie gegangen – und das erwies sich dann als Ausweg aus der großen Acht in meinem Kopf. Mir ist schmerzhaft klar geworden, dass ich nicht mehr dieselbe Person bin, die ich vor meiner Hochzeit war. Menschen entwickeln sich nun mal weiter. Und wenn ich so an mein Wertekostüm aus Sturm- und Punkzeiten zurückdenke, bin ich froh, dass das noch nicht das Ende der Fahnenstange war. Sofern man gern als Paar durchs Leben gehen will, ist es aber keine schlechte Idee, Veränderungen mit seinem Partner zu besprechen und das Miteinander immer wieder neu auszuloten.

Ob aufmüpfiger Oberstufler oder fernreisender Backpacker, ob karriereorientierter Werber oder zweifelnder Ehemann – wenn unterschiedliche Lebensphasen zu unterschiedlichen Updates meiner selbst führen, sollte ich dann nicht regelmäßig abgleichen, ob meine Lebensumstände auch wirklich noch immer zu meiner Persönlichkeit passen? Werte, Haltungen, Interessenfelder, der Blick auf die Welt, in Teilen auch der eigene Charakter, all das sind organische Variablen des eigenen Wesens, die sich formen und kontinuierlich weiterentwickeln. Jeden Tag machen wir neue Erfahrungen, die verändern, wer wir sind. Dennoch wird die einmal in jungen Jahren getroffene Berufswahl selten nachjustiert. Der Beruf bleibt unantastbar, meist ein ganzes Arbeitsleben lang. Wann zum Geier ist man überhaupt auf diese Schnapsidee gekommen, das Jetzt zu seinem Für immer hochzustilisieren? Und das, obwohl Umfragen immer wieder die hohe Unzufriedenheit deutscher ArbeitnehmerInnen bestätigen. Passende Studien zeigen, was dahintersteckt: Immer mehr Menschen erkennen keinen gesellschaftlichen Mehrwert in ihrem Tun. Die Einstellung zur Arbeit hat sich verändert. In einer krisengebeutelten Welt sehnen sich Mitarbeitende nach zweckorientierten Aufgaben und stellen die Sinnfrage. Sie wollen mit ihrer Arbeit einen Beitrag leisten, der gerne wirtschaftlichen, darüber hinaus aber eben auch gemeinnützigen Wert stiftet. Deshalb gewinnt die soziale und ökologische Ausrichtung von Unternehmen an Bedeutung. Für den Kampf gegen die Klimakrise ist das eine gute Entwicklung. Chefetagen, die ihre Konzernführung weiterhin an keinen anderen Kennzahlen als Profit und Shareholder Value orientieren oder sich lieber mit grüner Farbe anstreichen, als das Geschäftsmodell der Stunde anzupassen, die es für unseren Planeten in fünf Minuten zu schlagen droht, sorgen für eine Belegschaft, die sich in einen anderen Job hineinwünscht. In einem Podcast hörte ich kürzlich von dem Gallup Engagement Index, einer Studie, die der deutschen Wirtschaft 5,7 Millionen ArbeitnehmerInnen diagnostiziert, die innerlich gekündigt haben. Das Phänomen des Quiet Quitting ist nicht zu unterschätzen. Wenn alle Unzufriedenen auch nur zehn Prozent weniger arbeiten, rechneten Experten in einem Kommentar dazu vor, würden die schwarzen Unternehmerschafe ihre Läden langfristig von ganz allein gegen die Wand fahren.

Aber woran liegt es, dass so viele frustrierte ArbeitnehmerInnen ihren Gedanken noch keine Taten folgen ließen? Wieso fällt Veränderung auch dann so schwer, wenn man merkt, dass der eigene Lebensstil eigentlich gar nicht mehr so richtig zum Weltbild passen will? Fühlt sich meine Lebensweise gerade wirklich so gut und so richtig an, wie ich es mir vormache? Könnte es nicht auch eine andere Version von mir geben, in der meine Überzeugungen an erster Stelle stehen? Eine, in der ich mit mir und meiner Arbeit zufrieden bin, weil ich zumindest für ein paar der Dinge eine Wirkung erziele, die mir heute wirklich wichtig sind? Ich glaube, ich habe mir diese Fragen längst beantwortet. Ich will nicht länger Geisel uralter Entscheidungen bleiben, will mich nicht auf einen einzigen Beruf festnageln lassen. Bis hierhin ist alles super aufgegangen, hat alles Spaß gemacht, ich habe wahnsinnig viel gelernt und bin vielen Firmen und Menschen sehr dankbar dafür. Aber irgendwas muss sich jetzt ändern. Ich blicke in zu viele strahlende Gesichter mit matten Augen, begegne zu vielen Leuten, die Zukunft sagen, wenn sie Beförderung meinen.

Ich klappe das Laptop zu und greife nach meiner Bierflasche. Ich will nicht um jeden Preis reich, sondern lieber ein bisschen wertvoller werden. Auf einen Plot-Twist! Und eine dicke Störung auf der Stammstrecke.

»Was willst du werden, wenn du mal groß bist?« Auch ein paar Tage später lassen mich die Gedanken an alte Traumberufe nicht mehr los. Aus dem Supermarktregal wirft mir das Zwiebackgesicht meiner Kindheit einen spitzen Blick zu. Die Liste an erinnerten Antworten, die ich in meinen ersten zehn Lebensjahren auf die Lieblingsfrage aller Erwachsenen gegeben habe, wird länger und länger. Auffällig ist, was sie gemein haben: Alle Berufe sind zweckgerichtet, und meistens haben sie was mit Natur oder wilden Tieren zu tun. Mal abgesehen von Colt Seavers und Jody Banks, bewunderte ich als Kind nichtfiktionale HeldInnen wie Heinz Sielmann in seinen Expeditionen ins Tierreich und seit Gorillas im Nebel natürlich Dian Fossey. Heute sind es ArtenschützerInnen wie David Attenborough und Jane Goodall. Menschen, die auf ein Leben zurückblicken, das mit sinnvoller Vergangenheit gesättigt ist. Während ihre Biografien von Entschlossenheit, Mut und Abenteuern erzählen, schreibe ich PowerPoint-Charts über loyale und weniger loyale Kundschaft.

Meine Faszination für Tiere aber ist ungebrochen, was bei meiner familiären Vorbelastung keine Überraschung ist. Ohne jeden Zweifel habe ich sie meinem Vater zu verdanken, der zu jedem Zeitpunkt seines Lebens Tiere um sich herum hatte. Meine prägendsten Kindheitserinnerungen hängen alle mit unserem Schäferhund zusammen. Rex war schon da, als ich auf die Welt kam. Und erst mit steinalten siebzehn Jahren war es an der Zeit, ihn einzuschläfern. Im Garten gab es auch Kaninchenställe und einen libellenumschwirrten Gartenteich voller Fische und Frösche. Tatsächlich träumte mein Vater als Nachkriegskind davon, Tierpfleger zu werden. Doch dann kam das echte Leben dazwischen. Das einer Generation, deren limitierte Möglichkeiten nicht ansatzweise mit der Fülle an Perspektiven meiner Generation zu vergleichen sind. Für mich gibt es keine schwierige Lebensrealität, die mich daran hindern würde, etwas auszuprobieren, was in mir stecken könnte. Fast zum Greifen spürbar die Verantwortung, die Spitze der Bedürfnispyramide nicht achtlos auf der Straße liegen zu lassen. Verheißungsvoller als die Chance auf Selbstverwirklichung kann ein Privileg nicht sein. In die Freundschaftsbücher meiner frühen SchulfreundInnen habe ich die unterschiedlichsten Berufe auf die Steckbriefseiten gekritzelt. Als Walforscher wäre ich mit den größten Säugern der Erdgeschichte unterwegs, würde als Safari Guide mit wilden Tieren ein und denselben Lebensraum teilen oder als Paläontologe Millimeter für Millimeter neue Geschichten der Dinosaurier freilegen. Manchmal wünschte ich, nachsehen zu können, wie sich die Kindheitsträume angefühlt hätten, wären sie denn von mir gelebt worden. Was wäre, wenn? Was wäre aus all den Erwachsenenleben geworden, die ich mir ebenso hätte vorstellen können? Was sind die Alternativen zu dem, was ich jetzt bin?

Da leider noch niemand eine Glaskugel mit Schmetterlingseffekt erfunden hat, würden mir auch schon ein paar Sonnenstrahlen reichen, um mein Gemüt zu erhellen. Mit jedem Tag heizt das graue Dezemberwetter das ohnehin chronisch in mir schwelende Fernweh weiter an. Seit einem Roadtrip durch Neuseeland, mein erster Ausflug auf die Südhalbkugel, lässt es sich ohne neue Reisepläne einfach nicht mehr wegignorieren. Mein Freund Alex und ich waren Anfang zwanzig, hatten kaum Geld, dafür jede Menge Zeit. Besonders in Erinnerung ist mir eine Nacht am Waimakariri River geblieben. Es war später Nachmittag. Wir fuhren südlich vom Arthur’s Pass die 73 runter Richtung Christchurch. Vor uns durchzogen pinke Federwolken einen pastellblauen Himmel, vor dem sich im Rückspiegel die neuseeländischen Alpen türmten. An den Stellen, wo sie ein bisschen Horizont preisgaben, liefen die Elemente wie Aquarellfarben violett ineinander. Am vielleicht friedlichsten Abend eines ansonsten von Unvorhersehbarkeiten durchtriebenen Monats auf vier Rädern zeigte sich die ganze Schönheit des Abenteuers. Weit ausladende Lupinenfelder, die überall entlang der Flussufer in denselben Farben leuchteten wie der Abendhimmel, verstärkten das Unwirklichkeitsgefühl, das wir Realität nannten. Wenn im neuseeländischen Sommer zwischen November und Februar die Lupinen blühen, verwandelt sich der Waimakariri District manchmal in ein einziges großes Zuckerwatteland. Mitten hindurch, zwischen flachen Kiesbänken, mäandert der samtig-türkise gleichnamige Fluss dahin. Es dämmerte bereits als ich das weiße Coupé in den Feldweg steuerte und wenige Meter vorm Flussufer die Handbremse zog. Es war schon der zweite Wagen, den uns die Autovermietung widerwillig anvertraute. Dank der doch noch abgeschlossenen Zusatzversicherung konnten wir ihn gegen den ersten eintauschen – einen Totalschaden, der den Unfall vor ein paar Tagen nicht überlebt hatte. Im Gegensatz zu uns. Alex reichte mir Gaskocher, zwei Konservendosen und zwei lauwarme Flaschen Steinlager aufs Dach. Der Rest vom Sechserträger landete angeseilt im kalten Flussbett. Restlichtlos verschluckte die stockschwarze Nacht die Alpen. Und auch der Waimakariri war nur noch ein am Ufer leckendes Geräusch. Grillen zirpten, Tabak knisterte. Wir rauchten, tranken Bier, schmeckten Freiheit. Mit dem kühlen Autodach im Rücken starrten wir ehrfürchtig schwarze Löcher in die funkelnde Unendlichkeit und taten nichts anderes, als uns zu wundern. Über uns, denen das Universum seine Geheimnisse millionenfach zumorst und wir sie doch nicht zu lesen vermögen. Wir waren uns sicher, hier, am Ende der Welt, die beste Zeit unseres Lebens zu haben. Trotzdem kam keiner von uns auf die Idee, einfach hierzubleiben. Morgen, da würden wir weiterziehen. Und irgendwie war das total okay. Ich schätze, weil das Beste immer vor einem liegt.

Mit zwei Einkaufstüten in den Händen knarzen die niedrigen Holzstufen auf dem Weg in den dritten Stock doppelt so schön. Hier, in der obersten Etage eines denkmalgeschützten Backsteingebäudes im Münchner Westen, habe ich nach der Trennung von Julia meine Wohnung bezogen. Ein heller Ort mit vielen Fenstern, die den Raum zwischen den frei liegenden Balken schon bei Sonnenaufgang mit Licht fluten. Meine kleine Werkstatt steht jetzt nicht mehr im Keller, sondern im Wohnbereich. Vorm Bücherregal baumelt eine Hängematte, und der alte Chopper mit Bierdosenhalterung wurde zum Raumtrenner zwischen Küche und Couchbereich upgecycelt.

Ich räume noch schnell den Einkauf in den Kühlschrank, bevor ich mit Anja zum Telefonieren verabredet bin. Unsere Kennenlernphase muss fürchterlich für sie gewesen sein. Ich frage mich bis heute, was sie mit einem Typen wollte, der jede Woche zur Psychotherapeutin gerannt ist, um seine an die Wand gefahrene Ehe zu verarbeiten.

Anja ist im Allgäu aufgewachsen. All wie Alpen, habe ich gelernt, und gäu wie Geäu. So, wie viele Berge ein Gebirge sind, sind viele Auen ein Geäu. Das Alpen-Geäu. Zwischen bunten Hügelwiesen und sich unbekümmert dahinschlängelnden Flüssen ruhen grüne Kuppen. Hier gibt es keine aufregenden Steilgipfel. Dafür sind die Täler aber auch weniger tief, was ich schon immer als Metapher für den ausgeglichen wirkenden Menschenschlag aufgefasst habe. Heißt es nicht, die heimatlichen Gefilde prägen das Gemüt? Anjas Wesen ist jedenfalls so sanftmütig wie das ihres bayerisch-schwäbischen Ursprungsländles. Mindestens. Nach der Schule ist sie nach München gezogen, um sich dort zur Dolmetscherin und Übersetzerin ausbilden zu lassen. Aus purer Liebe zur spanischen Sprache. Münchner Mietpreise lassen sich mit reinen Übersetzungsarbeiten kaum bezahlen, also führte sie ihr Sprachtalent auch immer wieder in die Werbebranche, wo wir uns eines schönen Tages über den Weg liefen.

Anja ist der radikalste Bauchmensch, den ich kenne. Wie viel ich in dieser Hinsicht von ihr lernen kann und wie oft sie mir damit einen Schritt voraus ist, bewundere ich immer wieder aufs Neue. Anja ist zurückhaltend, fröhlich und randvoll mit Empathie. Sie fühlt sich einfach in alles rein, in Windeseile, und lässt ihren Emotionen im selben Augenblick freien Lauf. Ich bin mir sicher, dass Anja der herzwärmste Mensch auf dieser Welt ist und es auch jeder erfahren würde, wäre sie nicht so wahnsinnig schüchtern. Vielleicht steht sie sich damit manchmal ein bisschen selbst im Weg. Aber so kann ihr meine eher extrovertierte Persönlichkeit dann wenigstens auch ab und an von Nutzen sein.

Seit ich meine Absichtserklärung, die Dinge künftig ein bisschen anders zu leben, auch Anja gegenüber laut ausgesprochen hatte, passierte etwas mit uns. Ich wusste, dass auch sie ein Übermaß an Reiselust und Entdeckergeist in sich herumträgt. Der gemeinsame Wunsch, noch viele ferne Länder mit dem Rucksack entdecken zu wollen, führte zu unserem ersten gemeinsamen Urlaub quer durch Norwegens Hardangervidda. Nachdem unsere junge Beziehung die drei Wanderwochen im Zelt ohne Kontakt zur Außenwelt und regelmäßige Duschgelegenheiten unbeschadet überstanden hatte, fiel uns nichts mehr ein, was uns auseinanderbringen könnte.

Anjas Lieblingssprache ist womöglich nicht ganz unbeteiligt daran, dass neben anderen typischen Outdoor-Mekkas wie Kanada oder Neuseeland einige lateinamerikanische Länder ganz oben auf ihrer Hitliste stehen. Peru zum Beispiel oder Mexiko, wo sie irgendwann einmal zwischen Catrinas und Ofrendas vier Tage lang durch bunt geschmückte Straßen tanzen und das Leben am Tag der Toten feiern will. »Ich bin ein Sonne-, Strand- und Wassermensch«, hörte ich Anja oft sagen. Mir war also klar, dass Fernweh zu unseren Gemeinsamkeiten zählt. Wobei das mit Fernweh ja so eine Sache ist. Da ist geteiltes Leid kein halbes Leid, da multipliziert es sich aufs Doppelte.

Womit ich nicht gerechnet hatte, war ihr unmittelbares Verständnis für mein Hadern mit der spürbaren Widersinnig- und Gleichförmigkeit meines Arbeitsalltags. »Mein Leben fühlt sich so seltsam vorgezeichnet an«, erklärte ich mich ihr kürzlich auf einer Parkbank. Es war einer dieser postapokalyptisch wirkenden Wintersonntage, deren grauer Kälte nur ein paar Krähen zu trotzen vermögen. »Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht mehr so genau, ob ich das jeden Tag so weitermachen will wie bislang.«

»Du meinst deinen Job?«

»So, wie ich ihn momentan mache, passt das jedenfalls nicht mehr. Da führt er einfach zu nichts, was mir wirklich wichtig ist.«

»Zu was führt er denn dann?«

»Zu gar nichts, außer zu bezahlten Rechnungen!« Ich merkte, dass ich mich reinsteigerte, aber das musste jetzt sein. »Ich meine, die Welt geht den Bach runter, und alle sitzen da, zucken mit den Schultern und gucken zu. Und was mache ich? Den Leuten neue Fernseher andrehen, damit sie auch ja sitzen bleiben und sich das Spektakel in 8K ansehen, statt an der Welt teilzunehmen. Ich glaube, ich habe genug sinnlosen Quatsch fabriziert.«

»Also kündigen. Und was dann? Hast du schon einen neuen Job im Sinn?«

»Nein, das ist es ja. Na ja, weil … Also ich wäre gern …«, ich druckste ein bisschen herum. »Du weißt schon, ich wäre gern noch konsequenter. Und mutiger. Ich dachte immer, ich bin das alles schon, aber in Wahrheit bin ich nichts davon. Ich wünschte, ich würde eine Rolle finden, in der ich von Nutzen sein kann.«

»Hast du eine konkrete Idee dafür?«

Von irgendwo krähte ein Rabe aus den kahlen Baumkronen.

»So weit bin ich noch nicht …« Ich überlegte, wie ich es sagen sollte. Ich wollte nicht, dass es albern wirkte. Bis es mir dann doch egal war.

»Das klingt vielleicht verrückt, aber ich frage mich in letzter Zeit ständig, wie es wohl in einem dieser Berufe wäre, von denen ich als Kind geträumt habe.« Kaum ausgesprochen, hing der Satz zwischen uns. Als kleine Atemwolke in der kalten Winterluft. Dann nahm sie ihn sich vor.

»Lass mich raten.« Ich liebe es, wenn Anja komplizierte Themen zum Kinderspiel erklärt. Sie setzte sich kerzengerade hin, richtete ihren Röntgenblick auf meine Stirn und sagte: »Tierfilmer in Afrika!«

Ich nickte lachend. »Ja, so was in der Richtung. Aber damit werde ich in diesem Leben wohl kein Geld mehr verdienen.«

Anja merkte, wie ernst es mir dieses Mal war. »Woher willst du das wissen, ohne es ausprobiert zu haben? Ich würde am liebsten was mit Wildkräutern machen. Das wollte ich schon immer. Nur was genau und wo, das weiß ich bis heute noch nicht so recht.«

Für Anja sind Pflanzen und ihre Nutzbarkeit in etwa das, was Tiere für mich sind. Es begeistert sie, ihre Küche mit Zutaten zu ergänzen, die sie aus der Natur mitgebracht hat. Wildgemüse, Wildfrüchte und Wildkräuter sind ihre Vitamin- und Dopaminbomben. Selbst gepflücktes Glück statt verpackter Supermarktware. Nur regionale Wochenmärkte üben eine ähnlich starke Anziehung auf sie aus. Und so sprudelte es bald auch aus ihr heraus. »Marktfarmerin auf den Azoren, Permagärtnerin in Kanada oder eine Wildkräuter-Konditorei in Mexiko?«

Seit diesem Wintersonntag wurde das Fantasieren in andere Lebensentwürfe unser liebstes Gedankenexperiment. Wir bauten Luftschloss um Luftschloss. Früher oder später würden wir eines davon in Zement gießen. Denn jetzt war es beschlossen. Wir würden uns auf einen unserer Sehnsuchtsorte einigen, wo jeder einen seiner erträumten Lebensentwürfe ausprobieren könnte. Seither schien alles möglich. Außer, sich für eine Sache zu entscheiden.

Ich lege mich in die Hängematte vorm Bücherregal und wähle Anjas Nummer. Großspurig hatte ich ihr schon am Nachmittag angekündigt, endlich eine Antwort auf all die schwierigen Fragen gefunden zu haben, die unserem Selbstversuch bislang im Weg standen: Für welches Land und welchen Traumjob entscheiden wir uns? Wie kriegen wir einen Fuß in die Tür von jeweils einem Beruf, für den wir noch keinerlei theoretische und praktische Qualifikation vorweisen können? Und was, wenn das ganze Experiment volle Kanne nach hinten losgeht oder sich der vermeintliche Traumberuf in Wirklichkeit ganz anders darstellt als erdacht? Die Antwort sei mir soeben eingefallen, tippte ich in die E-Mail, im Büro, beim Kaffeeholen, einfach so!

»Na, dann sag endlich«, klingt es ohne Begrüßung aus der Leitung.

»Stell dir mal vor, wie es wäre, wenn wir ab morgen früh einfach nicht mehr ins Büro fahren.«

»Das stelle ich mir so ziemlich jeden Sonntag vor.«

»Stell dir vor, wir würden stattdessen morgen als, sagen wir, Walforscher in Kanada arbeiten.« Ich genieße es ein bisschen, der Sache mehr Trommelwirbel als nötig vorauszuschicken. Anja eher nicht.

»So weit waren wir schon im Park.« Ich kann ihr Augenrollen hören. »Für wie realistisch hältst du das? Ich meine Walforscher, Lars. Was willst du denen denn sagen? ›Hi, ich bin der Werbefuzzi aus München, kann ich mal an Ihren vom Aussterben bedrohten Sonstwas-Walen rumforschen?‹«

»Genau das!«, lache ich. »Und anschließend stülpen wir uns auch noch jeden anderen Lebensentwurf über, den wir uns irgendwann mal ausgemalt haben. Wir entscheiden uns nämlich gar nicht für eine bestimmte Sache – zumindest noch nicht. Erst, wenn wir alle Berufe ausprobiert haben, die wir uns vorstellen können.«

»Ja klar«, sagt sie skeptisch, »und wie soll das bitte schön möglich sein?«

»Nun ja«, impfe ich meiner Herleitung eine letzte Sekunde Spannung ein, »indem wir einfach unentgeltlich arbeiten.«

Zwei Sekunden herrscht Funkstille, dann macht Anja den ersten Aufschlag in das überschwänglichste Telefon-Pingpong, das je ausgetragen wurde. In unserem euphorischen Schlagabtausch zischen die Bälle von einer Grundlinie zur anderen, bis nach nur einem Satz die ganze Idee ausgespielt ist: Wir reisen als Freiwillige um die Welt! Als Volunteers, unbezahlt von Land zu Land, von Ehrenamt zu Ehrenamt, womit wir gleichzeitig einen positiven Beitrag leisten können. Es ist der größte Selbstversuch, den wir uns vorstellen können. In einer Welt, die sich selbst konsumiert, kündigen wir unsere Jobs als Werber, um rund um den Globus in sinnenhafte Lebensentwürfe einzutauchen. Wenn alles so klappt, wie wir es uns vorstellen, finden wir heraus, wie sich ein Leben in unseren Sehnsuchtsländern anfühlt und wie es in Wirklichkeit wäre, in den Traumberufen aus Kindheitstagen zu arbeiten. Im Nachhinein werden wir uns manchmal fragen, welcher Wunsch eigentlich zuerst da war – zeitgemäß die Welt zu bereisen oder ein Erwachsensein auszuprobieren, wie es das Kind in uns leben würde.

Im Fieber der fertig gebackenen Reiseidee ruft Anja: »Ich kann’s kaum erwarten zu kündigen!« Auch in ihr scheint eine domestizierte Rebellin zu wohnen, die gerade aus dem Dornröschenschlaf erwacht ist. »Wie oft habe ich mir gedacht, dass eine Weltreise die einzig logische Antwort auf unser Fernweh ist. Aber da fehlte immer das Substanzielle.«

»Jetzt machen wir eine Traumjob-Walz daraus. Für uns und die gute Sache.«

»Dem Sommer folgen«, träumt Anja, »so wie die Zugvögel. Und wo uns der Wind hinweht, lassen wir uns in einem Freiwilligen-Projekt nieder.«

Eine Traumstunde später legen wir schließlich auf, und ich setze mich an den Schreibtisch. Ich will alles, was mit dieser Reise zu tun hat, aufschreiben. Wir wollen herausfinden, ob wir künftig vielleicht doch ein kleines bisschen erfüllender leben und arbeiten können, wofür wir eine Open-End-Reise unternehmen. Wir tauschen sie gegen die Privilegien eines behüteten Münchner Stadtlebens. Wohnungen und Festanstellungen werden gekündigt, weil wir nicht wissen, ob und wann wir zurückkommen. Es geht um auf der Strecke gebliebene, längst verwaschene Träume, abgelegte Wünsche, nicht eingeschlagene Wege, nie geöffnete Türen. Und um das Gefühl, wieder alle Möglichkeiten im Leben zu haben. Auch, wenn eine davon ist, nach dem Abenteuer kürzertreten zu müssen als davor. Aber was, wenn es gut ausgeht? Was, wenn manches, woran wir als Kinder geglaubt hatten, doch noch wahr werden könnte? Ich klappe das Laptop auf, öffne ein neues Dokument und schreibe unsere Reiseidee hinein. Dann klicke ich auf »Speichern unter …« und tippe: Als Volunteers um die Welt.

2 | Traum über Kopf

München, Bayern, Deutschland

Schon seit Wochen liefen im Radio keine Staumeldungen mehr. Es war der Frühling, den die Menschen hinter verschlossenen Türen verbrachten. Sofern man nicht ohnehin unter demselben Dach wohnte, war man abgeschnitten von seinen Mitmenschen, isoliert von seinen Freunden, Geschwistern und Eltern. Während draußen die Krokusse durch hellgrünes Gras wuchsen, Hummelköniginnen nach Nistplätzen suchten und die Weißstörche aus Afrika zurückkamen, blieben Anja und mir nur Handy- und Laptop-Displays als Fenster zur Welt. Es verlieh der Kunde der Frühlingsboten etwas Dystopisches, das sich fürchterlich surreal anfühlte. Doch das Radio und ein Blick auf den kondensstreifenfreien Himmel bestätigten, dass es sich um keine Fiktion handelte: Die Menschen dieser Welt fuhren tatsächlich nicht mehr in andere Städte. Und sie flogen schon gar nicht mehr in andere Länder, deren Grenzen ohnehin dichtgemacht waren.

Auf den Winter, in dem wir beschlossen, unsere sieben Sachen zu packen, den restlichen Kram zu verkaufen und die Welt als wandernde Freiwillige zu bereisen, folgte ein Frühjahr, das die Menschheit eingesperrt in den eigenen vier Wänden verbrachte. Und auf dem gesamten Planeten wusste niemand, wann und wie dieser Zustand enden würde.

Kurz vor Ostern sah ich aus dem Küchenfenster. Vereinzelt hatte die Aprilsonne zarte Blätter aus den Ästen gelockt, die über geisterhaft leer gefegte Straßen ragten. Dann und wann patrouillierte ein Polizeiauto. Präsenz zeigen für die strikte Einhaltung der Ausgangssperre und ihrer Auflagen. Man ging nur einmal, höchstens zweimal am Tag vor die Tür. Nur ganz kurz und nur allein, mit Atemschutzmaske, um Lebensmittel einzukaufen oder eine kleine Runde um den Block zu joggen. Aus meinem Fenster im dritten Stock blickte ich in die Realität der unbefristeten und schon jetzt umfangreichsten internationalen Quarantäne der Geschichte. Im Frühjahr 2020 versetzte das Coronavirus die globalisierte Welt ins künstliche Koma. Und Anja und ich? Wir planten derweil eine Weltreise.

Ein paar Wochen später. Zum Geburtstag sangen die Kolleginnen und Kollegen mir ein Ständchen. Sie ahnten nicht, dass der 39-Jährige, der ihren Gesängen lächelnd per Videokonferenz aus dem Homeoffice lauschte, schon seit Wochen auch aus anderen Gründen mit der Corona-Krise haderte. Ich bemühte mich sehr, mir meine inneren Konflikte nicht anmerken zu lassen.

Wie leichtsinnig und undankbar würden sie jemanden finden, der seine Kündigung herbeisehnt, während andere mit Kurzarbeitsgehältern zu kämpfen haben, viele gar um ihre Existenz bangen? Für wie blauäugig würden sie mich halten, eine Weltreise in Zeiten zu planen, in denen nichts, aber auch gar nichts vorherzusehen war? Niemand wusste, wann und ob es einen Impfstoff gegen das neuartige Virus geben würde, wann das Reisen wieder zu verantworten wäre und sich Menschen wieder begegnen dürften.

Auf »Gesundheit und Freude sei auch mit dabei« endete das Ständchen. Man klatschte und erkundigte sich, wie mein Geburtstag unter COVID-19-Auflagen denn so aussehen werde. Dann zoomte das Bild einer Kollegin auf. »Corona wird auch Positives bewirken«, sagte sie in die Runde. Sie hatte sich bereits einen dieser virtuellen Hintergründe eingerichtet, vor denen es schien, als spreche sie nicht aus dem Homeoffice, sondern aus einem schicken Designerbüro im Industriestil zu uns. »Hundertprozentig wird die Pandemie die Digitalisierung der Republik beschleunigen.« Hinter meinem entspiegelten LCD-Bildschirm stimmten alle aus ihren kleinen Fenstern der Frau im großen Fenster zu. Und auch ich nickte und sehnte mich mehr denn je nach unverpixelter Wirklichkeit.

Es folgten die vorhersehbaren Faxgerät-Witze, dann wünschten sich alle einen schönen Tag, und meine Sorgen, undankbar oder leichtsinnig zu sein, waren wie weggewischt. Undankbar wäre es, würde ich an einem Job festhalten, mit dem ich mich nicht mehr vollumfänglich identifizieren kann. Und jetzt, da ich immerhin schon herausgefunden habe, was ich nicht will, wäre es doch hochgradig leichtsinnig, würde ich nicht auch alles unternehmen, um herauszufinden, was ich stattdessen will. Gerade in einer Zeit wie der Corona-Krise, in der uns einmal mehr vor Augen geführt wird, wie abrupt Politik, Wirtschaft und Gesundheitssysteme ins Wanken geraten können, in der wir erfahren müssen, dass offene Grenzen demokratischer Länder keine immerwährenden Selbstverständlichkeiten sind, sollte ich mich baldmöglichst auf die Reise begeben.

Knapp anderthalb Jahre später sitze ich an einem sonnigen Septembermorgen noch immer im Homeoffice. Nicht mehr bei mir, sondern bei Anja. Zweifach geimpft, sind wir nur noch einen Klick davon entfernt, unsere Kündigungsschreiben ins E-Mail-Postfach unserer Personalabteilungen zu schicken. Keiner von uns hatte je zuvor einen Arbeitsvertrag aufgehoben, ohne bereits einen neuen in der Hand zu halten. Diese Kündigung ist anders. Was auf sie folgen wird, ist nicht der nächste logische Schritt auf der Karriereleiter. Dieses Mal ist der nächste Schritt der Sprung in die Ungewissheit eines Selbstexperiments. Wir springen ins kalte Wasser und bezahlen sogar noch dafür mit einem großen Teil unserer Ersparnisse. Kein geskripteter Ablaufplan, kein fest einkalkuliertes Happy End. Nichts als die Idee für eine Expedition ins Glück, geleitet von fast verflüchtigten Witterungen aus Kindheitstagen, ohne die geringste Ahnung, wohin sie uns letztlich führen werden. Woher so viel Vertrauen ins eigene Vorgefühl kommt, können wir uns nicht erklären. Doch würden wir unsere Reise nicht ernst genug nehmen, unseren Träumen nicht mit einer satten Ladung Pathos und Zweckoptimismus ihr Gewicht zurückgeben, würden wir es wahrscheinlich nicht schaffen, unsere Herzen für dieses Abenteuer in die Hand zu nehmen.

Schon kurz nach dem virtuellen Geburtstagsständchen meiner Kollegen verschickte ich eine erste Kündigung, nämlich die an meinen Vermieter. Anja und ich hatten beschlossen, die Pandemie gemeinsam in ihrer Wohnung auszusitzen und die dadurch eingesparten Mietkosten ins Reisebudget zu stecken. Also begann ich schon damals, all mein Hab und Gut zu verkaufen und zu verschenken. Bis auf ein paar wenige Gegenstände, an denen unbezahlbare Erinnerungen hängen, sollte alles weg. Tabula rasa für das Gefühl absoluter Freiheit. Eine Einlagerung unserer Habseligkeiten kam deshalb nicht für uns infrage. In einem Mietcontainer verkämen sie zu Abhängigkeiten. Lagerkosten könnten wir uns ohne Einkommen nur für einen limitierten Zeitraum leisten. Und wozu? Um dann mit den Hinterlassenschaften eines alten Lebensabschnitts in einen neuen zu starten? Nein, eine Einlagerung widerspräche einfach allem, für was unsere nach vorn gerichtete Reise stehen soll. Aus demselben Grund waren auch Untervermietung und Sabbatical nie ernst zu nehmende Optionen für uns. Dieses eine Mal werden wir uns niemandem versprechen. Wir wollen uns ausprobieren, so lange wie nötig oder so lange wie möglich.

Der Anfang des eigenen Ausverkaufs tat weh. Denn den machte mein Ausreißermobil Rubi. Voll beladen mit unbezahlbaren Erinnerungen, hätte ich sie am liebsten behalten. Und doch würde sie in keinen Umzugskarton passen, um auf dem Dachboden meiner Eltern einen Platz neben den anderen Ausnahmegegenständen zu finden. Immerhin ging danach alles leichter von der Hand. Kaum war der Abschied von Rubi verdaut, war es mir sogar eine Lust, mal richtig klar Schiff zu machen. Fazit: In meiner Vorstellung hatte ich immer viel mehr unter dem Trennungsschmerz gelitten, als es dann in Wirklichkeit der Fall war. Unfassbar, wie viel Zeug sich über die Jahre ansammelt! Drei Monate später zog ich mit zwei Reisetaschen und einem Rucksack zu Anja. Seither lebe ich also aus dem Koffer, was sich bislang aber wunderbar aushalten ließ, denn ich sehe die neuen Umstände bereits als Teil unserer Vagateers-Reise. Vaga … was?! @vagateers, kurz für Vagabonding Volunteers, so haben wir unser digitales Reisetagebuch genannt. Die Konten auf Instagram und YouTube waren rasch erstellt, doch den Starttag unserer Reise mussten wir in anderthalb Pandemiejahren noch dreimal verschieben.

Mit guten Chancen auf eine rechtzeitige dritte Booster-Impfung scheint der Tag unserer Abreise jetzt aber wirklich vor der Tür zu stehen. Zwischen Klimakrise, Artensterben, Pandemie und Populismus wurde es allerhöchste Zeit, eine passende Antwort auf die Gretchenfrage zu finden: Wie zum Geier wollen wir einen krisengebeutelten Planeten bereisen? Der Zustand der Erde ist, gelinde gesagt, desolat. Wie wir heute reisen, entscheidet darüber, wie er morgen aussieht. Also wie geht man sie an, die zeitgemäße Weltreise?

Nachhaltig. Das ist das Erste, was einem dazu einfällt. Und eine ganze Weile lang auch das Einzige. Weil ein Begriff wie Nachhaltigkeit so abstrakt vielschichtig und dabei so lähmend präzise ist. Sobald ich einen Fuß in den Flieger setze, kann ich mir das mit der uneingeschränkten Nachhaltigkeit ja schon abschminken. Andererseits gibt es bewundernswerte Beispiele von Menschen, die Fernreisen komplett ohne Flugzeug geschafft haben. Andere verzichten aufs Auto, viele nehmen das Segelboot, und wieder andere reisen ausschließlich aus eigener Kraft, fahren mit dem Fahrrad oder laufen gar zu Fuß die Kontinente ab. Zurzeit befindet sich zum Beispiel die Australierin Lucy Barnard mit ihrem Hund Wombat auf einer 30 000 km langen Wanderung, die sie vom südlichsten Punkt Chiles bis zum nördlichsten Punkt Alaskas führen soll. Wenn sie das geschafft hat, wäre sie die erste Frau, die diese Strecke jemals zu Fuß zurückgelegt hat. So inspirierend diese Projekte sind, mit unserer Reiseidee ließen sich vergleichbare Leistungen wohl nicht unter einen Hut bringen. Was also tun, wenn der vollumfängliche Verzicht auf fossil betriebene Verkehrsmittel nicht mit den persönlichen Reisegründen zu vereinbaren ist?

Ich glaube nicht, dass es in unserer Zeit darum geht, niemals wieder zu fliegen, nie wieder Auto zu fahren, nie wieder dieses und niemals wieder jenes zu tun. Trotzdem braucht diese Welt nichts dringender als Mut machende Geschichten von WegbereiterInnen wie Lucy, die von möglich gemachten Unmöglichkeiten handeln. Sie helfen, sich eine Sensibilität dafür zu bewahren, welche Auswirkungen die Wahl des Verkehrsmittels hat. Wer dafür empfänglich bleibt, zieht ganz automatisch angemessene Schlüsse. Zum Beispiel Zwischenlandungen zu vermeiden, wenn sich schon der Flieger nicht vermeiden lässt. Weniger Orte besuchen, dafür länger bleiben. Unterkünfte von Locals buchen oder welche mit zertifizierten Nachhaltigkeitskonzepten. Auch die Vermeidung von Einwegplastik und ein achtsamer Energie- und Wasserverbrauch sind wichtige Stellschrauben. Das Netz ist voll mit empfehlenswerten Blog-Beiträgen, die sich ausführlich damit beschäftigen, wie man angemessen herumkommt. Indem wir bewusste Entscheidungen über das Wie einer Reise treffen, können wir sie umweltverträglicher gestalten.

Zusätzlich haben wir uns in das große Thema »Voluntourimus« eingelesen. Wir konnten aber niemanden ausfindig machen, von dem wir lernen könnten, wie man als Volunteers die ganze Welt am Stück bereist und nebenher auch noch eine nicht enden wollende Liste an Traumberufen abarbeitet. Also haben wir uns im Vorfeld selbst ein paar Auflagen erteilt und sie als kleines Vademecum unseren Tagebüchern beigelegt, damit wir den Widerspruch zwischen dem Bereisen und Erhalten unseres Planeten unterwegs möglichst gering halten. Es sind unsere sieben goldenen Walz-Regeln.

Ökologische Projekte: