Träume aus Gold und Stroh - Maya Shepherd - E-Book

Träume aus Gold und Stroh E-Book

Maya Shepherd

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Beschreibung

In Träumen ist nichts unmöglich: Tote können wieder ein Teil unseres Lebens sein, wir erreichen die Ziele, von denen wir nicht einmal zu hoffen wagen, und wir sind mit den Menschen zusammen, nach denen wir uns sonst nur aus der Ferne sehnen. Ich bin in der Lage, Träume zu schenken. Meine Begabung hat sich herumgesprochen und dadurch wurde die böse Königin auf meine Familie aufmerksam. Sie nennt mich Rapunzel. Manchmal frage ich mich, ob es nicht eher ein Fluch ist, anders zu sein.

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Inhaltsverzeichnis

Was zuvor geschah

Der Tag der offenen Tür

Ein unerwartetes Wiedersehen

Der dunkle Turm

Träume aus Gold und Stroh

Knusper, Knusper, Knäuschen

Ein Prinz der modernen Welt

Zukunft und Vergangenheit

Liebe Eva-Sarah,

Schlussworte der Autorin

Danksagung

Maya Shepherd

Die Grimm Chroniken 11

„Träume aus Gold und Stroh“

Copyright © 2019 Maya Shepherd

Coverdesign: Jaqueline Kropmanns

Lektorat: Sternensand Verlag /Martina König

Korrektorat: Jennifer Papendick

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Facebook: www.facebook.de/MayaShepherdAutor

E-Mail: [email protected]

Für Eva-Sarah.

Meine ewige Träumerin.

*10.07.1984

†22.02.2018

Was zuvor geschah

1812

Margery

Nachdem Margery Wilhelms Medaillon aus dem Schlafzimmer ihrer Mutter gestohlen und bei der Flucht einen von Embers unsichtbar machenden gläsernen Schuhen auf der Treppe verloren hat, versteckt sie sich im Keller in einem Schrank. Von dort muss sie mit ansehen, wie die Königin ein Mädchen umbringt und in dessen Blut badet. Sie hält das Medaillon umschlossen und wünscht sich, dass Wilhelm ihr zu Hilfe kommt. Als dieser tatsächlich unter einem Vorwand den Raum betritt, wirft die Königin ihm vor, sie verraten zu haben. Sie legt ihre Hände um seinen Hals, um ihn zu erwürgen. Daraufhin verlässt Margery ihr Versteck in der Hoffnung, das Interesse ihrer Mutter von Wilhelm auf sich zu lenken.

Diese will Wilhelm dennoch töten. Bevor es jedoch dazu kommt, taucht eine vierte Person auf, die den Raum in grünen Nebel hüllt. Es ist Jacob, der Margery mit sich zieht. Als der Dunst sich lichtet, befinden sie sich zusammen mit Wilhelm bei den königlichen Ställen. Dieser ist verwirrt und behauptet, dass er all das schon einmal erlebt und es sich damals anders abgespielt habe. Jacob versucht ihm zu erklären, dass sie nicht mehr zwischen Traum und Erinnerung unterscheiden können, da die Vergangenheit durch sie verändert wird.

Reitend fliehen sie in den Finsterwald. Die Königin ist ihnen mit ihren Wölfen und den seelenlosen Jägern dicht auf den Fersen. Die drei gelangen an einen Abgrund, sodass sie ihren Verfolgern nicht entkommen können.

Margery zeigt Wilhelm sein Medaillon, welches sie von ihrer Mutter zurückgeholt hat. Er glaubt, dass er sie damit alle retten könnte, weil es bedeuten würde, dass die Königin nun keine Macht mehr über ihn hat. Als er das Schmuckstück berührt, hofft er, aus einem Traum zu erwachen, doch es geschieht nichts. Stattdessen hat die Königin sie eingeholt und kreist sie mit ihren Anhängern ein.

Jacob fordert sie zu einem Zweikampf heraus. Weil die Königin sich darauf aber nicht einlässt, sieht er keinen anderen Ausweg, als erneut in seine Pfeife zu blasen und grünen Nebel zu erzeugen.

Wilhelm wird im Kampf von einem Messer in die Brust getroffen, während Jacob als Einzigem die Flucht gelingt. Margery findet Wilhelm und fleht ihre Mutter an, ihm mithilfe von Magie das Leben zu retten. Diese verweigert ihr den Wunsch und lässt sie von den Jägern gefangen nehmen, um sie bis zu ihrem Geburtstag in einem Turm im Wald gefangen zu halten.

Will/Wilhelm

Die Königin lässt den schwer verletzten Wilhelm in den Keller ihres Schlosses bringen, um ihn dort zu töten. Als sie versucht, ihm das Herz aus der Brust zu reißen, verspürt sie große Schmerzen, die es ihr unmöglich machen, Wilhelm etwas zuleide zu tun. Rumpelstilzchen erkennt, dass dafür der Zauber der geteilten Herzen verantwortlich sein muss. Wilhelm trägt eine Hälfte des Herzens der Königin in seiner Brust, auch wenn diese sich nicht mehr daran erinnern kann, es je mit ihm geteilt zu haben. Das macht es für sie unmöglich, ihn zu töten. Um zumindest die Macht über ihn zurückzuerlangen, setzt die Königin ihm erneut Spiegelscherben in die Augen ein, die sie alles sehen lassen, was er sieht. Außerdem machen sie ihn emotionslos.

Wilhelms letzter Gedanke gilt Margery. Dabei erinnert er sich daran, dass sie noch sein Medaillon bei sich hat.

Maggy/Gretel

Maggy erwacht auf einer ihr unbekannten Lichtung mitten im Wald. Sie erinnert sich daran, in den goldenen Apfel gebissen zu haben, um in die Traumwelt von Engelland zu gelangen und dort nach Will und den Vergessenen Sieben zu suchen. Plötzlich spricht ein Frosch sie an, der sie für jemand anderen zu halten scheint. Um nicht sein Misstrauen zu erregen, tut Maggy, was er sagt.

Er rät ihr, ins Lebkuchenhaus zurückzukehren, um Baba Zima nicht länger warten zu lassen. Die Hexe erwartet sie bereits zornig und trägt ihr auf, die Rüben mithilfe ihrer Magie zu schälen. Maggy ist sich nicht bewusst darüber, magische Kräfte zu besitzen, und noch weniger, wie man Gebrauch von ihnen macht. Durch die Anweisungen des Frosches gelingt es ihr, den Befehl von Baba Zima auszuführen.

Als sich jedoch herausstellt, dass die Hexe die Rüben nur als Beilage für einen Braten möchte, der aus einem gefangenen Knaben bestehen soll, kann Maggy nicht länger tatenlos zusehen und stürzt sich auf die Kinderfresserin.

Während sie miteinander kämpfen, betritt eine weitere Person den Raum. Es ist ein Mädchen in Maggys Alter, welches einen roten Umhang und eine Sense bei sich trägt. Sie nennt Maggy Gretel und stellt sich selbst als Simonja vor. Sie ist nicht nur die Enkelin der Hexe, sondern auch der Tod. Der Baum des Lebens hat ihr aufgetragen, ihre Großmutter umzubringen. Diese verwandelt sich in einen Raben und flieht aus dem Lebkuchenhaus.

Sie kommt jedoch nicht weit, da sie von einem Wolf gefangen wird, der sie als Vogel zurück zu Simonja trägt. Die Hexe kehrt in ihre menschliche Gestalt zurück und fleht ihre Enkeltochter um Erbarmen an. Als diese sich ungnädig zeigt und ihre Sense hebt, um Baba Zima den Kopf vom Hals zu schlagen, lässt diese den Schokoladenboden rund um das Haus schmelzen, sodass Simonja und der Wolf darin feststecken und versinken wie in einem Moor.

Die Hexe wendet sich nun wieder Maggy zu und befiehlt ihr durch ihre Magie, in das Haus zurückzukehren und in den Ofen zu klettern, um sich darin braten zu lassen. Maggy kann sich nicht dagegen wehren. Doch der Frosch springt aus ihrer Tasche in das Gesicht von Baba Zima, sodass diese für einen Moment die Kontrolle über Maggy verliert. Diese nutzt die unerwartete Chance und schnappt sich den Frosch, bevor sie die Hexe in den Ofen stößt und die Tür verschließt. Baba Zima stirbt in den Flammen.

Simonja und ein junger Mann eilen in das Lebkuchenhaus, da der Zauber, der sie an den Boden band, mit dem Tod der Hexe erlosch. Der junge Mann stellt sich als ein Gestaltwandler heraus, der zwischen Mensch und Wolf wechseln kann. Sein Name ist Arian und er ist ein Freund von Simonja.

Bevor die beiden die Hütte verlassen, erkundigt sich Simonja bei Maggy nach Hänsel und fragt sie, ob es etwas Neues von ihm gibt. Maggy ist erstaunt über diese Frage, da sie angenommen hatte, dass ihr Bruder von der Hexe getötet wurde.

Später spricht der Frosch sie auf ihre Unwissenheit an. Ihm ist nicht entgangen, dass sie weder zu wissen scheint, wer sie selbst ist, noch, wer er ist. Maggy gibt zu, dass sie sich nicht daran erinnern kann, was geschehen ist. Durch ein paar gezielte Hinweise lässt der Frosch sie seine wahre Identität erraten. Er ist Hänsel und somit ihr Bruder, auch bekannt als Joe.

Maggy hat ihn in einen Frosch verwandelt, um ihn vor der Hexe zu beschützen. Sie ist die Einzige, die den Fluch rückgängig machen kann. Nur hat sie nie herausgefunden, wie es funktioniert, sodass Hänsel seit fast einem Jahr als Frosch leben muss.

2012

Joe kauft sich am Berliner Hauptbahnhof eine Fahrkarte nach Königswinter. Da noch etwas Zeit bis zur Abfahrt bleibt, beschließt er, sich in einem Café zu stärken. Er hat gerade seine Bestellung aufgegeben, als er von einem Mädchen angesprochen wird, welches ebenso hübsch wie unverschämt ist. Sie macht sich grundlos über ihn lustig und beleidigt ihn. Zum Abschluss klaut sie auch noch seinen Kaffee. Er ärgert sich zwar über sie, aber denkt sich nichts weiter bei der Begegnung.

Ausgerechnet ihr begegnet er jedoch im Zug. Sie hat eine Platzreservierung für den Sitz neben ihm. Beide sind davon wenig begeistert, das hindert sie aber nicht daran, sich zu unterhalten. Dabei kommt heraus, dass sie ebenfalls nach Königswinter unterwegs ist.

Aus der anfänglichen Ablehnung entwickelt sich zwischen den beiden eine Unterhaltung, an der sie beide Gefallen finden. Das Mädchen stellt sich Joe als Julia vor. Als sie ihn nach dem Grund für seine Reise fragt, behauptet er, dass er auf einer geheimen Mission sei, von der das Schicksal der Welt abhängt. Sie lacht darüber, da sie ihm natürlich nicht glaubt.

Der Tag der offenen Tür

Königswinter, Bahnhof, Oktober 2012

»Also dann«, meinte Joe unsicher. »Wir sind da.«

Julia und er standen sich vor dem Ausgang des Bahnhofs von Königswinter gegenüber. Die Fahrt hatte keine siebzehn Stunden gedauert und sie waren auch nicht an einem verlassenen, in Nebel gehüllten Bahnsteig angekommen. Es fiel kein blutiger Schnee vom Himmel. Alles war vollkommen normal. Für einen Sonntagvormittag waren sogar relativ viele Leute unterwegs, die sich an ihnen vorbeischoben, da sie den Weg blockierten.

»In welche Richtung musst du denn? Oder darfst du mir das auch nicht verraten?«, scherzte Julia. Vielleicht hoffte sie insgeheim, dass sie doch noch ein Stück zusammen gehen könnten.

Joe hätte nichts dagegen gehabt. Absolut nicht. Die Zeit mit ihr war wie im Flug vergangen, aber er wusste nicht, wie er ihr erklären sollte, dass er nach einem Mädchen suchte, das er überhaupt nicht kannte, ohne dabei komisch zu klingen. Je mehr er ihr erzählte, für umso bekloppter würde sie ihn halten. Eigentlich wäre es sogar egal, immerhin würden sie sich nie wiedersehen. Aber er wollte sie dennoch nicht tiefer in die Sache hineinziehen.

»Ich werde hier abgeholt«, erwiderte er deshalb ausweichend und schloss dadurch aus, dass sie denselben Weg hatten. »Und du?«

»Ich auch«, grinste sie. »Mal sehen, wer schneller ist.«

Joe zwang sich, ebenfalls zu lächeln, auch wenn ihm jede andere Antwort gelegener gekommen wäre. Jetzt musste er warten, bis sie weg war, dabei hatte er es eilig, zur Handwerkskammer zu kommen.

Er hatte sich vor seinem Aufbruch aus der WG einen Plan von Google Maps ausgedruckt, immerhin konnte er sein Handy nicht benutzen. Demnach müsste er etwa zwanzig Minuten zu Fuß gehen, aber oft stimmten die Angaben nicht und man brauchte tatsächlich viel länger. Der Tag der offenen Tür würde nur bis zum frühen Nachmittag gehen und er konnte sich nicht einmal sicher sein, dass die Ember Harms, die er dort zu treffen hoffte, auch wirklich jene war, für die er sie hielt.

Julia musterte ihn interessiert von der Seite. Das Schweigen zwischen ihnen war seltsam, nachdem sie die ganze Zugfahrt über ohne Unterlass miteinander geredet hatten. Spürte sie seine Nervosität?

»Fährt hier gleich ein Batmobil vor oder schießt eine TARDIS aus dem Boden?«, feixte sie, um die Stille zu überbrücken.

Joe schnaubte. »Ich finde es sehr schmeichelhaft, dass du mich für einen Superhelden hältst, aber ich muss dich leider enttäuschen, denn ich bin nur ein gewöhnlicher Mensch und nicht einmal ein Zeitreisender.« Er blickte die Straße demonstrativ rauf und runter, als würde wirklich jeden Moment ein Auto um die Ecke biegen, auf das er wartete. »Mein Chauffeur müsste aber gleich mit dem Aston Martin kommen.«

Sie kicherte belustigt. »James Bond also.«

»James?«, wiederholte Joe mit gerunzelter Stirn. »Wer ist schon James? Das ist höchstens ein Name für einen Butler.« Er streckte ihr seine Hand hin, wobei er seinen verruchtesten Blick aufsetzte. »Mein Name ist Bond. Joe Bond.«

Sie legte ihre Hand in seine. Die schlichte Berührung sorgte für ein ordentliches Kribbeln in seinem Bauch. »Ich wollte schon immer ein Bond-Girl sein«, sagte sie und imitierte seine Miene, nur dass sie dabei wirklich verführerisch und nicht albern aussah.

In der kurzen Zeit, die sie einander kannten, hatte es immer wieder Augenblicke gegeben, in denen die Luft zu brennen schien und alles um sie herum in den Hintergrund trat. Joe hatte so etwas zuvor noch nie erlebt. Es machte ihn an, aber noch mehr bereitete es ihm Angst. Bevor er noch errötete, ließ er sie lieber los und trat einen Schritt zurück, um etwas Distanz zwischen sie zu bringen. Auch wenn Julia keine ganz so unausstehliche Zicke war, wie er zu Anfang gedacht hatte, traute er ihr nicht. Sie spielte nur mit ihm, und selbst wenn nicht, er hatte keine Zeit, um es herauszufinden. Ihre Begegnung würde sich auf eine unvergessliche Zugfahrt beschränken.

»Dein Chauffeur ist ziemlich unzuverlässig«, stellte sie fest, da bereits gut zehn Minuten seit ihrer Ankunft verstrichen waren.

»Deine Verwandten aber auch«, konterte Joe und bemühte sich, sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Wenn sie nicht bald abgeholt wurde, müsste er sich eine Ausrede einfallen lassen, um sich von ihr zu verabschieden.

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist nichts Neues.«

Dabei bemerkte er einen Ausdruck an ihr, der ihm zuvor noch nicht aufgefallen war. Obwohl sie behauptete, dass es anders war, wirkte sie enttäuscht. Es war wie ein Funken ihres Inneren, der durch ihre sonst so unbekümmerte Fassade brach. Auch ein scheinbar perfektes Mädchen hatte seine Sorgen.

Er hätte sie gern danach gefragt, verbot es sich aber. Sie war eine Fremde und dabei musste es auch bleiben.

»Ruf sie doch mal an«, schlug er ihr vor.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich fahre mit dem Taxi und lasse sie die Rechnung bezahlen«, entgegnete sie mit einem schadenfrohen Grinsen. Was immer er zu sehen geglaubt hatte, war verschwunden. »Soll ich dich ein Stück mitnehmen?«

»Das ist wirklich nett von dir, aber ich werde einfach noch etwas warten«, lehnte er höflich ab. »Es regnet ja nicht.«

Für einen Tag Mitte Oktober war es sogar ziemlich mild.

»Okay.«

Sie stand vor ihm und schaute mit ihren großen blauen Augen zu ihm auf, als suche sie nur nach einem Grund, zu bleiben.

»Wie lange bleibst du eigentlich in Königswinter?«, hörte Joe sich plötzlich fragen.

Er hätte ihr eine schöne Zeit mit ihrer Familie wünschen sollen und vielleicht die Hand zum Gruß heben können, aber stattdessen zog er das Gespräch in die Länge. Warum hatte er Julia auch ausgerechnet jetzt treffen müssen? Warum nicht in zwei Wochen, wenn das alles vorbei wäre? Oder bereits vor einem Jahr?

Schlechter Einfall, dachte er direkt. Vor einem Jahr hätte sie mich keines Blickes gewürdigt. Kein Mädchen steht auf dicke Jungs. Schon gar keins wie Julia.

»Ich weiß noch nicht genau, vielleicht eine Woche. Und du?«

Hoffnung schwang in ihrer Stimme mit.

»Vermutlich bis zum ersten November«, antwortete er ihr und verriet damit mehr, als er wollte.

Rumpelstein hatte gesagt, dass sich am einunddreißigsten Oktober das Schicksal der Welt entscheiden würde. Entweder würde Schneewittchen sterben oder ihre Mutter. Ganz gleich, wie es auch ausgehen mochte, Joe hoffte, dass er nicht allein nach Berlin zurückreisen musste, sondern Maggy und Will bei sich haben würde. Ihretwegen war er nach Königswinter gekommen und ohne sie konnte er nicht heimkehren. Sie waren seine Familie. Sie zu verlieren würde ihn zerbrechen, sodass er diese Möglichkeit nicht einmal in seinen Gedanken zuließ.

»Hey, wäre es nicht verrückt, wenn wir uns dann zufällig wiedersehen würden?«, sagte sie mit einem zaghaften Lächeln. »Ich meine, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir ausgerechnet am selben Tag und zur selben Zeit mit demselben Zug zurückfahren?«

»Vermutlich gleich null«, gab er zu, hoffte aber dennoch, dass es so kommen würde. Wäre das nicht sogar ein Zeichen, wenn nicht gar Schicksal?

Verdammt, jetzt höre ich mich schon an wie Maggy.

»Wäre aber cool«, setzte er möglichst lässig hinterher.

Sie nickte. »Ja, fände ich auch.«

Vielleicht hoffte sie, dass er nach ihrer Handynummer fragen würde, aber er tat es ganz bewusst nicht. Zum einen, weil er ihr dann hätte erklären müssen, warum er im einundzwanzigsten Jahrhundert ohne Smartphone unterwegs war, und zum anderen, weil er gar nicht in Versuchung geführt werden wollte, sich eventuell doch früher bei ihr zu melden.

Er nickte ihr mit einem schiefen Grinsen zu. »Komm gut bei deiner Familie an.«

»Du auch, bei wem auch immer«, erwiderte sie und winkte ihm zum Abschied, ehe sie auf das nächste Taxi zulief, welches nicht weit entfernt stand.

Erst jetzt bemerkte Joe, dass sie gar kein Gepäck hatte. Sie trug nur eine weiße Lederhandtasche über ihrer Schulter, vermutlich von irgendeinem teuren Designer. Da passte nicht einmal genug für eine Übernachtung rein.

Wer fuhr Verwandte besuchen, ohne irgendetwas mitzunehmen? Bei dem Begriff hatte er an Tanten, Onkel oder Großeltern gedacht, aber eventuell war auch ein Elternteil gemeint. Vielleicht war Julia ein Scheidungskind, das sowohl in Berlin als auch in Königswinter ein Zuhause hatte. Das würde den traurigen Ausdruck von zuvor erklären.

Er sollte sich wirklich keine Gedanken darüber machen, denn die Wahrscheinlichkeit, sie wiederzusehen, war tatsächlich gleich null. Aber es hatte etwas angenehm Normales, sich über ein Mädchen den Kopf zu zerbrechen, anstatt über Flüche, Vampire, Hexen und Phönixe nachdenken zu müssen.

Er hätte erleichtert sein müssen, als das Taxi an ihm vorbeifuhr, aber stattdessen fühlte es sich wie eine verlorene Chance an.

Schnell öffnete er seine Sporttasche und holte die Wegbeschreibung hervor. Er hatte genug Zeit vertrödelt.

Die Handwerkskammer war in einer ehemaligen Schule untergebracht. Es war ein altes Gebäude mit Ziegeldach, weißer Fassade und grünen Fensterläden. Eine Mauer umschloss den Hinterhof. Von dort waren Musik und Stimmengewirr zu hören. Außerdem stieg Joe der Duft von süßen Crêpes und Bratwürstchen in die Nase. Sein Magen reagierte darauf mit einem Knurren, immerhin lag sein Frühstück schon einige Stunden zurück. Dazu kam der Stress.

Früher hatte er sich bei Sorgen immer mit Essen getröstet. Entweder Fast Food oder unüberschaubare Mengen von Süßigkeiten. Manchmal auch beides durcheinander. Es hatte ihn viel Überwindung gekostet, sich das abzugewöhnen und seinen Kummer stattdessen mit Ablenkung zu bekämpfen. Allerdings musste er sich jetzt auf den Grund für seine Reise konzentrieren: Ember Harms finden!

Die Eingangstür stand offen und war mit bunten Luftballons geschmückt. Dahinter wurde er direkt von einem Jungen seines Alters begrüßt, der ihm einen Flyer mit den Programmpunkten in die Hand drückte. Joe überflog sie schnell, bis er die Vorführung zur Glasbläserei mit einer Raumangabe fand.

Ein Blick auf die Uhr im Foyer verriet ihm allerdings, dass er diese um fünfzehn Minuten verpasst hatte. Es waren die fünfzehn Minuten, die er mit Julia vor dem Bahnhof gewartet hatte, anstatt sich auf den Weg zu machen.

Zähneknirschend folgte er dennoch den Hinweisschildern, die ihn in den Hinterhof führten. Sicher blieben die Auszubildenden länger, als ihre eigentlichen Vorführungen dauerten, um Fragen zu dem Beruf zu beantworten.

Trotz des Getümmels und der einzelnen Stände entdeckte er schnell eine große Plane, unter der sich ein Ofen befand. Davor stand ein Mann mittleren Alters, der in ein erhitztes Glasröhrchen blies, sodass daraus eine Kugel entstand. Er formte sie unter den Augen der Zuschauer.

Joe hielt derweil Ausschau nach einem Mädchen mit roten Haaren. Vielleicht kümmerte sie sich um den Verkauf der Glasfiguren und Vasen. Oder sie machte gerade Pause, denn er entdeckte niemanden, auf den Embers Beschreibung gepasst hätte. War es möglich, dass sie in dieser Welt anders aussah?

Er schlenderte um den Stand und tat so, als hätte er großes Interesse an den gläsernen Kerzenständern. Möglichst unauffällig hob er einen nach dem anderen an, hielt ihn gegen das Licht und überflog den Preis. Eigentlich hoffte er nur darauf, von einer Auszubildenden angesprochen zu werden. Er hätte auch selbst das Wort ergriffen, allerdings war der Meister umringt von Leuten und jemand anderes war an dem Stand nicht zu entdecken.

Zwischen den kleinen Figuren entdeckte er plötzlich einen winzigen Schuh. Er war filigran gearbeitet und sein Glas schimmerte in allen Regenbogenfarben wie ein Swarovski-Stein, sobald das Licht darauf fiel. Maggy hätte er gefallen. Es war eindeutig eine Anspielung auf Cinderella. Das war nicht unbedingt verwunderlich. Aber bestimmt hatte sich nie jemand der anwesenden Leute gefragt, warum Aschenputtel in dem Märchen ausgerechnet einen Schuh aus Glas trug. Joe kannte nun die Antwort.

»Das ist wirklich ein tolles Stück«, sprach ihn plötzlich der Meister an, dem nicht entgangen war, wie Joe die Miniatur bewunderte.

Die Zuschauer hatten sich aufgelöst und schlenderten nun an ihnen vorüber.

»Haben Sie das hergestellt?«, fragte Joe höflich.

»Nein, das war meine Auszubildende im ersten Lehrjahr. Sie ist sehr talentiert.«

Der Mann sprach voller Anerkennung über seine Schülerin. Vermutlich hatte er nie zuvor eine solche Begabung erlebt.

»Ist sie heute auch hier?«, erkundigte Joe sich möglichst beiläufig. »Ich interessiere mich auch für eine Ausbildung im Kunsthandwerk und würde ihr gern ein paar Fragen stellen.«

»Ember ist schon weg, aber du kannst gern mit Julian sprechen. Er ist bereits im dritten Lehrjahr und macht nächstes Jahr seine Abschlussprüfung«, schlug der Meister ihm vor und winkte einen Jungen von einem der Getränkestände herbei.

Joe musste sich zwingen, seine Enttäuschung zu verbergen. Warum war Ember schon weg? Die Veranstaltung sollte doch noch einige Stunden gehen. Wie konnte er jetzt an Informationen über sie kommen, ohne sich verdächtig zu benehmen? Womöglich war das alles eine Sackgasse und er verschwendete nur seine Zeit, wenn er weiter nach diesem Mädchen suchte.

Julian war ein schlaksiger Junge, der seine braunen Haare in einem Pferdeschwanz trug. Er wirkte schüchtern, als er mit gesenktem Blick zu ihnen trat.

»Julian, dieser junge Mann würde sich gern über die Ausbildung informieren. Kümmerst du dich bitte darum?«

Es war keine Frage des Meisters, sondern eine Aufforderung. Er klopfte seinem Lehrling auf die Schulter, ehe er wieder an den Ofen zurückkehrte.

Joe reichte ihm seine Hand. »Hallo, ich bin Joe«, stellte er sich freundlich vor.

Der andere erwiderte zwar die Geste, aber er hatte einen schlaffen Händedruck. Es war mehr ein Tätscheln. »Hallo. Wie kann ich dir helfen?«

»Ist es schwierig, einen Ausbildungsplatz als Glasbläser zu bekommen?«, begann Joe, weil er nicht wusste, was er fragen sollte, um auf Ember zu sprechen zu kommen.

Julian zuckte mit den Schultern. »Es gibt nur wenige Stellen und verhältnismäßig viele Bewerber.«

Joe tat so, als würde er verstehen, wovon der andere sprach. »Sicher werden Mädchen bei der Einstellung bevorzugt, oder?«, meinte er und stieß Julian vertraulich mit der Schulter an, als wären sie Verbündete.

Der lächelte zwar unsicher, ging aber ansonsten nicht darauf ein. »Ich glaube nicht.«

»Ich habe im Programmheft gelesen, dass eine Ember Harms die Vorführung gemacht hat. Leider habe ich sie verpasst. Aber gerade habe ich erfahren, dass sie erst im ersten Lehrjahr ist. Warum hast du denn nicht dein Können gezeigt? Du bist doch sicher viel besser als sie, oder?«

Julian sah ihn an, als würde er die Frage nicht verstehen. »Niemand ist besser als Ember. Herr Borowski hat sie schon für Wettbewerbe angemeldet. Sie wird vermutlich ein Lehrjahr überspringen.«

Joe verspürte ein aufgeregtes Kribbeln. Das konnte kein Zufall sein. Diese Ember musste genau jene sein, nach der er suchte. Er musste sie kennenlernen, und das so bald wie möglich.

»Wow, das ist beeindruckend. Meinst du, ich könnte mich auch mal mit ihr unterhalten?«

»Sie ist leider schon weg«, entgegnete Julian. »Direkt nach ihrer Vorführung musste sie gehen.«

»Wie schade«, seufzte Joe. »Warum das denn?«

Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, es ging ihr nicht gut.«

»Könntest du mir vielleicht ihre Telefonnummer geben, damit ich sie anrufen kann?«

Julian, der zuvor sowohl in seiner Mimik als auch Tonlage ziemlich ausdruckslos gewesen war, reagierte plötzlich misstrauisch. »Das ist gegen den Datenschutz.«

»Ich verrate es keinem«, meinte Joe und zwinkerte ihm zu. »Ich will ihr nur ein paar Fragen stellen und ich habe dich doch auch nicht nach ihrer Adresse gefragt. Was ist schon dabei?«

Julian schüttelte bestimmt den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn du unbedingt mit ihr reden möchtest, musst du in die Werkstatt kommen und dort nach ihr fragen.«

Joes Hoffnung, an die Nummer zu kommen, war nur gering gewesen, sodass Julians Reaktion ihn nicht überraschte. »Ist sie morgen denn da?«

»Wenn sie nicht zum Arzt geht und sich krankschreiben lässt, dann ja«, entgegnete der Auszubildende leicht genervt.

»Kannst du mir bitte die Adresse geben?«

Wortlos reichte Julian ihm eine Visitenkarte. »Hast du sonst noch irgendwelche Fragen?«

»Nein, das war es schon. Vielen Dank«, verabschiedete sich Joe und sah zu, dass er von dem Gelände kam. Sicher würde Julian seinem Meister von dem seltsamen Gespräch erzählen und dann wäre es besser, wenn er nicht mehr in der Nähe war.

---ENDE DER LESEPROBE---