Träume vergangener Tage - Zaher Habib - E-Book

Träume vergangener Tage E-Book

Zaher Habib

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Beschreibung

Träume überwinden Grenzen Ahmed kann es nicht glauben: Als er seinen verloren geglaubten Freund im Krankenhaus wiedersieht, ist es ein Schock für ihn. Ali liegt im Sterben, seine Zeit ist fast abgelaufen. Alles, was ihm jetzt noch bleibt, ist der Traum, seine Geschichte aufzuschreiben und damit anderen Flüchtlingen Mut zu machen. Zaher Habib erfüllt den letzten Wunsch des jungen Mannes und erzählt die Geschichte Alis wahrheitsgetreu und gnadenlos ehrlich nach. Ali erzählt von seiner Familie, neuen Freundschaften, Verlust und Entscheidungen, die den Weg seines Lebens verändert haben. Dabei erzählt er auch von der kurzen Begegnung mit Ahmad, einem afghanischen Flüchtling, den er in der Türkei kennengelernt hat. Sein Weg führt ihn aus seinem Heimatdorf über den Iran in die Türkei, bis er es zuletzt nach Bremen schafft. Das Leben eines Fremden, der mit jeder neuen Seite zu einem Vertrauten wird. Zahir Habib gibt die Erzählung Alis einfühlsam wieder und bringt dem Leser die Erfahrungen näher, die ein Flüchtling auf der Spur seiner Träume erlebt hat. Sein Traum von einer besseren Zukunft, einem besseren Leben und Sicherheit sind in Deutschland zwar für einen Moment greifbar nah geworden, aber vor dem Tod kann man nicht fliehen. Nach einer wahren Begebenheit.

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Traume

vergangener

Tage

Alis wahres, trauriges Schicksal

Zaher Habib

Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden:

http://dnb.d-nb.de

Dieses Buch ist allen Menschen gewidmet, die Fluchterfahrungen sammeln mussten und müssen. Ihnen soll dieses Buch, das auf wahren Begebenheiten beruht, ein Trost sein.

Dank

An dieser Stelle möchte ich mich sehr herzlich bei allen Freunden und Bekannten bedanken, die mich moralisch unterstützt und motiviert und beim ersten Lektorat geholfen haben, mein Buch zu veröffentlichen.

Mein besonderer Dank gilt dem Bremer Rat für Integration, der mich auf großzügige Weise unterstützt und die Veröffentlichung des Buches ermöglicht hat.

Zaher Habib, November 2020

Die wichtigen Personen:

Sheer Ali Rustamzadah, genannt Ali

Herr Meyer, deutscher Rechtsanwalt

Ahmad Mir, afghanischer Flüchtling

Ewas Ali, Alis Vater

Rahela, Alis Mutter

Zainab, Alis Schwester

Masturah, Alis jüngste Schwester

Hadji Salim, Vetter von Alis Vater

Rasul Dad, Sohn Hadji Salims

Hadji Hassan, Alis Onkel (Bruder von Alis Mutter)

Abdul Ali, Sohn Mohammad Hassans und Alis Cousin

Said Jafar, Cousin von Alis Tante

Rajab Ali, Said Jafars Sohn

Hussain, Said Jafars Sohn

Hawa, Said Jafars Tochter

Sakina, Said Jafars Tochter

Payenda Gul, Nachbar Alis in Teheran

Herr Mira, Pensionsbesitzer in Ankara

Esma, Herrn Miras Ehefrau

Aylin, Herrn Miras Tochter

Elin, Herrn Miras Tochter

Tarik, Koch in Herrn Miras Pension

Khalil Amani, afghanischer Freund der Familie Mira

Kerim Aydin, mysteriöser Mann in Istanbul

Senam Aydin, Ehefrau Kerim Aydins

Nazan Aydin, Tochter Kerim Aydins

Gülşen Aydin, Tochter Kerim Aydins

Aziz Nuri, Geschäftspartner Kerim Aydins und Alis Chef

Nergis, mit Einfluss ausgestattete Liebhaberin Alis

Elef, Nazans Freundin

Nesrin, Nazans Freundin

Nebat, Nesrins Stiefmutter

»Ich glaube nicht, dass meine Geschichte etwas Besonderes ist.«Ali

Manchmal kann eine falsche Bewegung einen dauerhaften Schmerz verursachen, und der betroffene Mensch kann dabei seine Beweglichkeit einbüßen.

Manchmal verliebt man sich auf den ersten Blick in jemanden, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie diese Liebe enden könnte.

Manchmal kann auch ein unerwarteter Anruf einen bestimmten Abschnitt des Lebens durcheinanderrütteln.

Die Liste der Zufälle kann nicht lang genug sein.

In meinem Fall war es nur ein Anruf am Abend. Ich saß vor dem Fernseher und schaute mir einen Bericht über Flüchtlinge an, die in unzähligen Gruppen über die Balkanroute zu den Ländern ihrer Träume nach Europa unterwegs waren. Gegen 22 Uhr vibrierte mein Handy, und ich warf einen Blick darauf. Ein unbekannter Anrufer, und dazu noch zu dieser Stunde. Sollte ich das Gespräch annehmen oder so tun, als ob ich nicht erreichbar wäre? Vielleicht rief mich jemand in einer wichtigen Angelegenheit an, oder etwas war geschehen, und jemand wollte mir dies mitteilen? In der Kürze der Zeit gingen mir viele Sachen durch den Kopf. Letztendlich siegte meine Neugier, und ich meldete mich. »Ja?«

»Hier Rechtsanwalt Meyer. Entschuldigen Sie den späten Anruf. Ich wusste nicht, an wen ich mich sonst hätte wenden können. Nach langer Überlegung bin ich zu der Ansicht gekommen, dass Sie bestimmt in der Lage sind, mir zu helfen.«

So spät am Abend hatte ich nicht mehr mit einem Anruf gerechnet. Ich versuchte, mir meine Überraschung und Neugier nicht anmerken zu lassen.

»Es ehrt mich sehr. Aber wie kann ich behilflich sein?«

»Es ist leider keine frohe Botschaft, weshalb ich Sie um Hilfe bitte. Vor einer Stunde bekam ich einen Anruf aus dem Hospiz Oldenburg. Dort liegt ein junger afghanischer Mann, dem es leider sehr schlecht geht. Vielleicht hat er nur noch ein paar Tage – oder sogar weniger – zu leben.«

Zwischen uns entstand eine kleine Pause, dann sprach er weiter.

»Er hat Leberzirrhose im Endstadium. Seine einzige Chance wäre es, einen Spender zu finden. Aber in der jetzigen Situation und in Anbetracht der Wartelisten ist es wohl eine Illusion, mit einer Spende zu rechnen.

Er wünscht sich, dass ihn andere aus seiner Heimat an seinem Sterbebett besuchen, um mit ihnen die letzten Tage und Stunden seines Lebens zu verbringen. Ich verstehe ihn, und es ist auch sein gutes Recht. Ich kenne ihn und habe ihn schon mehrere Male im Krankenhaus besucht. Ich möchte ihm unbedingt bei der Erfüllung seines letzten Wunsches helfen, und dafür brauche ich Ihre Hilfe.

Ach ja, um es nicht zu vergessen …«, sagte er, »kennen Sie vielleicht noch ein paar afghanische Jugendliche, die bereit wären, mitzukommen? Es würde dem erkrankten jungen Mann viel bedeuten. Wie Sie wissen, betreue ich zwar viele Jugendliche, unter ihnen auch viele aus Afghanistan, dennoch weiß ich nicht genug über die Sitten und Bräuche Ihres Landes. Ich möchte keine Fehler machen, die unverzeihlich wären, und schlage vor, dass wir uns morgen Nachmittag im Hospiz treffen. Wäre Ihnen das recht?«

Ohne lange zu überlegen, antwortete ich: »Ja, natürlich, das schaffe ich.«

Ich überlegte mir, wen ich noch so spät erreichen könnte. Natürlich ist es für keinen Menschen leicht, mit solch einer Nachricht konfrontiert zu werden. Noch dazu, wenn es um die unheilbare Krankheit eines jungen Menschen geht, der einsam und weit entfernt von seiner Familie im Sterben liegt.

Nach reiflicher Überlegung beschloss ich, Ahmad anzurufen, einen mir bekannten afghanischen Jugendlichen. Ich erzählte ihm nur von einem ebenfalls aus seiner Heimat stammenden jungen Mann, der krank war und sich gern mit anderen Afghanen unterhalten wollte. Eigentlich hatte ich ein schlechtes Gewissen, nicht die ganze Wahrheit über sein hoffnungsloses Schicksal gesagt zu haben, aber mir fehlte der Mut dazu. Ahmad war einverstanden und wollte seinen Freund Akbar mitbringen.

Am nächsten Tag erreichten Ahmad, Akbar und ich gegen 14 Uhr das Hospiz. Herr Meyer wartete bereits vor dem Hauseingang.

Wir betraten das Hospiz, gingen an der Rezeption vorbei und kamen in einen schmalen Flur, wo sich die Räume der Bewohnerinnen und Bewohner befanden.

Es ist ganz natürlich, dass man sich an solch einem Ort sehr betroffen fühlt – in jedem der Bewohner sieht man einen Sterbenden.

Es war nicht mein erster Besuch in einem Hospiz. Ich hatte vor ein paar Jahren einen mir sehr nahestehenden Verwandten in einem Sterbehaus in Holland und später eine sehr gute Freundin in einem Hospiz in Bremen besucht. Und jetzt war ich hier in Oldenburg zu Besuch bei einem mir unbekannten jungen Afghanen. Aber die Gefühle bleiben dieselben. Man weiß, dass diese Menschen nicht mehr viel Zeit zum Leben haben.

Herr Meyer erzählte uns, dass die Bewohner Besuch empfangen und auch mit anderen Bewohnern gemeinsam etwas unternehmen könnten. Im Rahmen der Möglichkeiten des Hauses sei den Bewohnern fast alles gestattet: zum Markt zu gehen, frisches Obst zu kaufen, oder sogar ein Kino zu besuchen.

Herr Meyer sprach sehr leise, und wir gingen langsam weiter. Das Zimmer des afghanischen Jugendlichen befand sich in der Mitte des Flurs. Es war ein mittelgroßer Raum mit hoher Decke. Zwei lange bunte Gardinen, die spielende Kinder auf einer Wiese zeigten, hingen vor dem Fenster. Sie waren zugezogen und ließen kein Licht hindurch. In einer Ecke des Raumes stand ein kleiner viereckiger Tisch, auf dem eine Kerze stand, die zur Hälfte abgebrannt war. Ihr schwaches Licht erhellte den Raum. An einer der Wände hing ein relativ großes Gemälde und zeigte eine blühende Landschaft, an der gegenüberliegenden Wand hing eine kleine, hilflos schauende Jesusfigur aus braunem Holz.

In dem weißen Metallbett vor dem Fenster lag der junge Patient. Seine Augen waren geschlossen, die Decke bis zum Hals hochgezogen. Das Gesicht war sehr abgemagert, schwarze Ringe standen unter seinen Augen. Er bemerkte uns nicht und zeigte keinerlei Reaktion, als wir uns seinem Bett näherten.

Ahmad stand zunächst hinter mir, bis ich ihm ein Zeichen gab. Hierauf stellte er sich neben mich und betrachtete konzentriert das Gesicht des Jungen.

Herr Meyer öffnete das Fenster und ließ Licht und frische Luft herein.

Nun näherte sich Ahmad weiter dem Bett des Jungen, blieb aber stehen, ohne irgendetwas zu sagen. Wir sahen ihm an, dass er verunsichert und nachdenklich geworden war. Er trat noch näher an das Bett, erstarrte in der Bewegung und intensivierte seine Bemühungen, den Jugendlichen zu erkennen. Dann schaute er mich an. Durch seine Ungeduld und seine Haltung merkte ich, dass er uns etwas sagen wollte.

Plötzlich schrie er ganz laut und rannte auf mich zu. »Nein, nein. Es ist unmöglich. O Gott, das darf nicht wahr sein.«

Herr Meyer und ich standen regungslos da und wussten nicht, was gerade passierte. Ahmad ging erneut auf das Bett zu, beugte sich nach vorne, schaute sich das Gesicht noch einmal genauer an und ertastete am Hals des Jugendlichen einen Anhänger. Dann drehte er sich zu mir und fragte in Dari, unserer Muttersprache: »Onkel, wissen Sie, wer dieser Junge ist?«

Ich schaute Ahmad einen Augenblick an und wartete meinerseits darauf, was er mir noch sagen wollte. Als er keine Antwort von mir bekam, bedeckte er mit den Händen sein Gesicht und sprach ganz leise und aufgelöst.

»Onkel! Ich kenne ihn. Er heißt Sheer Ali Rustamzadah und ist genauso lange in Deutschland wie ich. Wir sind damals gemeinsam nach Deutschland gekommen. Wissen Sie, seit wann er hier im Hospiz liegt?«

Er konnte nicht mehr sprechen, versuchte aber, Haltung zu bewahren und fragte ganz leise: »Ist er sehr krank?«

An meiner Stelle antwortete Herr Meyer. »Ja, du hast recht, er heißt Sheer Ali Rustamzadah, und wie du siehst, ist er leider sehr krank.«

Ich versuchte nun meinerseits, eine beruhigend wirkende Antwort zu finden, aber es gelang mir nicht. Ahmad musste die Wahrheit erfahren. Wir hatten ihn in diese schwierige Situation gebracht, weil es Alis Wunsch gewesen war.

»Die Ärzte meinen, dass es für ihn keine Überlebenschancen mehr gibt. Ali bat uns, ihn zu besuchen. Ich wollte am Telefon nicht erzählen, dass er so krank ist, aber jetzt weißt du es. Woher genau kennst du ihn, Ahmad?«

»Er ist mein verloren geglaubter Freund, mein Lebensretter. Wir haben uns in der Türkei kennengelernt. Wie könnte ich das je vergessen? Sie können sich nicht vorstellen, wie glücklich und froh ich darüber bin, ihn zu sehen.«

Aus Freude umarmte Ahmad mich und beugte sich dann nach vorn, um als Zeichen seiner Dankbarkeit, wie es der Brauch in Afghanistan ist, meine Hände zu küssen. Ich entzog sie ihm und versuchte, ihn zu beruhigen.

»Ich freue mich so sehr, dass du deinen Freund wiedergefunden hast. Du kannst dich ihm nähern und versuchen, mit ihm zu sprechen.«

Ahmad wartete nicht lange, sondern ging mit langsamen Schritten auf Ali zu. Er setzte sich auf die Kante des Bettes, streichelte mit der einen Hand die Stirn und mit der anderen Hand die Wangen von Ali. Behutsam rief er seinen Namen und sprach ihn in Dari an.

»Ali! Öffne deine Augen und schau, wer hier ist. Ich bin es, Ahmad. Kannst du mich hören? Weißt du noch, wer ich bin?«

Aber Ali antwortete nicht. Ahmad drehte sich zu uns, in der Hoffnung, von uns einen Rat zu bekommen, was er noch tun solle. Als er keine Antwort von uns bekam, fing er erneut an, mit Ali zu reden.

»Ali! Ich bin es, Ahmad. Antworte mir bitte.«

Als auch diesmal keine Reaktion erfolgte, wurde Ahmad ungeduldig und noch angespannter.

»O Gott, was soll ich nur machen?«

Die Augen von Ahmad hatten sich gerötet, und mit jedem Ein- und Ausatmen weiteten sich seine Nasenflügel. Er wollte auf jeden Fall eine Reaktion von Ali haben.

Im gleichen Moment fiel mir ein, dass dieses Wiedersehen nur von kurzer Dauer sein würde. Ich schämte mich dafür, gleich beim ersten Besuch solche Gedanken zu haben.

Herr Meyer und ich standen immer noch mit hilflos versteinerten Mienen nahe bei den beiden. Da wir wussten, in welchen Stadium seiner Krankheit Ali sich befand, konnten wir Ahmad keine Hoffnung machen und schwiegen stattdessen. In dem Raum herrschte im wahrsten Sinne des Wortes Totenstille.

Akbar stand die gesamte Zeit über still in einer Ecke des Raums und redete nicht. Er kannte Ali nicht, und als er die Reaktion vom beinahe in Tränen ausbrechenden Ahmad sah, verließ er den Raum. Er sagte, dass er nach Hause gehen wolle.

Ahmad beugte sich erneut herunter zu Ali und ergriff dessen kalte Hand, mit der anderen streichelte er sein Gesicht.

»Ali, mein lieber Ali. Ich habe dich überall gesucht. Du bist doch mein Bruder. Wieso konnte ich dich nicht finden, dabei warst du so nah bei mir? Du hättest nur laut rufen sollen, dann wäre ich kriechend zu dir gekommen.«

Ahmad fing an, heftig zu weinen, sein Gesicht war von Tränen ganz nass geworden. Ich reichte ihm ein Taschentuch.

Ali reagierte immer noch nicht. Er sah sehr blass aus, und die schwarzen Ringe unter seinen Augen waren jetzt sehr markant. Ahmad weinte immer noch, Tränen überströmten sein Gesicht. Er blickte zu mir, und wollte ein weiteres Taschentuch. Ich reichte es ihm. Dieses Mal aber wischte er damit den Schweiß aus Alis Gesicht.

Langsam, ganz langsam öffnete Ali seine Augen. Als ob er alles mitbekommen hatte, fing er an, ganz leise zu sprechen.

»O Ahmad, ich bin so froh, dich doch noch gefunden zu haben. Ich habe dich überall gesucht. Keiner hat mir gesagt, dass du in meiner Nähe bist.

Als wir damals unterwegs waren, habe ich mir gesagt, wie schön wir es hier haben würden: zusammen in einer Stadt leben und unter einem Dach wohnen. Ich habe mir immer gewünscht, hier zur Schule zu gehen und die deutsche Sprache zu lernen. Ich wollte den Menschen von unseren Fluchterlebnissen und von unserer verloren gegangenen Kindheit erzählen.«

Er schwieg und schloss für einen kurzen Augenblick die Augen, dann versuchte er mit großer Mühe, weiterzusprechen.

»O Bruder, lass dich umarmen. Wie oft habe ich mir diesen Moment vorgestellt. Es tut mir leid, dass ich nicht aufstehen kann. Aber komm doch näher heran.«

Trotz seiner Schmerzen wollte Ali sich in seinem Bett etwas aufsetzen, Herr Meyer und ich halfen ihm dabei. Ali und Ahmad umarmten sich und hielten sich eine Weile fest. Dann begannen sie, sich in afghanischer Sprache zu unterhalten. Ich versuchte, das Wesentliche des Gesprächs für Herrn Meyer zu übersetzen.

»Weißt du, Ahmad, als wir nach Deutschland unterwegs waren, hatte ich so viele Ideen im Kopf, was wir beide würden unternehmen können. Ich sah, in welcher Freiheit die Jugendlichen hier leben.

In den ersten Wochen, nachdem wir getrennt wurden, habe ich nie die Hoffnung aufgegeben, dich wiederzutreffen. Ich habe mich überall nach dir erkundigt, habe sogar eine Anzeige beim Roten Kreuz aufgegeben. Einmal habe ich eine Nachricht mit einem Foto bekommen, aber das warst nicht du. Dennoch habe ich nie daran gezweifelt, dass wir uns erneut begegnen würden. Und wie du siehst, haben wir uns nun endlich wiedergefunden – nur leider zu spät. Es geht mit mir zu Ende.«

Weiter kam er nicht. Er fing an zu husten, und das Reden fiel ihm sichtlich schwer. Er machte eine Pause. Mit zusammengekniffenen Augen hielt er die Hand von Ahmad fest.

Ahmad beugte sich noch dichter zu ihm und küsste seine Hand.

»Sag nicht so etwas! Du wirst wieder gesund werden! Ab heute werde ich hierbleiben und dich pflegen. Wenn es nötig ist, werde ich dich auf meinen Armen tragen. Aber sag so etwas nicht.

Weißt du noch, wie wir in Istanbul in den Bus eingestiegen sind und uns vor der Polizei versteckt haben? Und diese edle Frau, die uns als ihre Verwandten bezeichnet und uns geholfen hat? Und die lange Reise, immer mit einem Ziel vor Augen: so weit wie möglich aus der Hölle in der Türkei zu entkommen.

Was haben wir alles erlebt? Wir waren hungrig und durstig, wir waren müde und wollten uns schlafen legen, aber wir durften nicht den Anschluss verlieren, liefen weiter und immer weiter.«

Ali bewegte seinen Kopf, um zu zeigen, dass er sich an all diese Sachen erinnerte. Er war bemüht, sich seine Schmerzen nicht anmerken zu lassen, seine Stirn und sein Gesicht waren mit Schweißperlen bedeckt.

Herr Meyer verließ das Zimmer und kam kurz darauf in Begleitung einer Krankenschwester zurück. Die Krankenschwester beugte sich zu Ali, desinfizierte eine Stelle an seinem Oberarm und gab ihm eine Spritze. Ali wurde still.

»Auch du hast das Recht, nicht so zu leiden. Von dem, was wir so mitbekommen haben, hast du in deinem Leben genug gelitten. Auch wenn du nichts sagst, wissen wir, welche Schmerzen du ertragen musst. Du bist so tapfer! Ich habe selten einen Menschen wie dich erlebt«, sagte die Krankenschwester und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

Es verging eine Weile, bis Ali wieder zu sich kam und ganz langsam seine Augen öffnete. Anscheinend half ihm die Spritze. Er ergriff nun seinerseits Ahmads Hand und hielt sie fest.

Mit zittriger Stimme antwortete er: »Ja, Bruder, wie kann ich das vergessen. Aber vielleicht ist es ist der Wille Gottes, dass wir uns genau hier an diesem Ort wiedergefunden haben.«

Ali machte erneut eine Pause. Vielleicht spürte er jetzt keine Schmerzen mehr und dachte nicht mehr an das Sterben. Er versuchte, seine Augen offen zu halten und Ahmad anzuschauen.

»Manchmal sage ich mir, ich müsste meinem Gott böse sein, weil er mir in den schweren Stunden meines Lebens nicht geholfen hat oder nicht helfen wollte, konnte oder durfte. Ich weiß es nicht. Vielleicht möchte Gott mich für all meine Sünden bestrafen, auch wenn beim Begehen dieser Sünden die Schuld nicht bei mir lag.«

Er wischte sich die Schweißperlen aus dem Gesicht. Ahmad schaute ihn an und wollte ihn nicht unterbrechen. Nach einer kurzen Pause drehte Ali sich ganz vorsichtig zu Ahmad und fragte: »Was denkst du, Ahmad?«

Ahmad hielt seinen Blick fest und war nicht in der Lage, ihm eine Antwort zu geben. Er senkte seinen Kopf und war verlegen. Er schwieg.

Ali bat um ein Glas Wasser. Herr Meyer verließ noch einmal das Zimmer und kam mit einer Flasche und einem Glas zurück.

Ali trank in kleinen Schlucken und versuchte, dieses Mal ganz langsam zu reden.

»Aber ich habe keine Antwort darauf gefunden. Dennoch bin ich meinem Gott sehr dankbar, dass er es ermöglicht hat, dich noch einmal zu treffen, auch wenn dies nur für eine kurze Dauer sein wird. Ich weiß zwar nicht, was du machst … Aber was du auch tust, wähle immer den richtigen Weg, um dein Ziel zu erreichen. Versuche, mein kleiner und tapferer Bruder, etwas Gutes aus deinem Leben zu machen. Wenn du eine Schule besuchst, lerne die Sprache, mache deinen Abschluss und werde ein guter Mensch. Erzähle von deinem Leben, lasse die Menschen wissen, warum man Flüchtling wird und wie ungerecht diese Welt ist.«

Ali machte wieder eine Pause. Nach ein paar Minuten sagte er noch: »Ich möchte jetzt ein bisschen schlafen. Wir werden nachher miteinander reden«, dann schloss er die Augen.

Ahmad hielt immer noch seine Hand fest. Ich glaubte, dass Ahmad nie in seinem Leben damit gerechnet hatte, seinen Freund noch einmal wiederzusehen. Herr Meyer und ich freuten uns umso mehr, dass die beiden sich abermals begegnet waren. Aber wir waren auch ratlos und wussten nicht, wie es weitergehen könnte.

Nach einer Weile zog mich Herr Meyer zur Seite und sagte ganz leise: »Ich habe einen Vorschlag. Für Verwandte oder Freunde besteht die Möglichkeit, hier zu übernachten. Auch Ahmad kann hierbleiben. Er bekommt ein Bett und kann den Rest der Zeit mit Ali verbringen. Was sagen Sie dazu?«

»Das ist eine gute Idee, aber vielleicht sollte ich zuerst einmal mit Ahmad darüber sprechen. Es ist eine schwierige Situation für ihn. Ich kann mir gut vorstellen, dass Ahmad das möchte, aber das Problem ist seine Schule. Soweit ich es mitbekommen habe, geht er sehr gern dorthin und wird sie sicherlich nicht schwänzen wollen. Wir werden ihn fragen, ob er es möchte und es sich zutraut, hier zu übernachten und ein paar Tage mit Ali zu verbringen.«

Herr Meyer nickte zustimmend, und ich ging zu Ahmad und zog ihn am Arm.

»Ahmad! Möchtest du hier bei Ali in seinem Zimmer bleiben? Du bekommst ein Bett, und ihr könnt euch so viel unterhalten, wie ihr wollt.«

Ahmads Augen füllten sich aufs Neue mit Tränen. Er schaute zu Ali. Dann antwortete er mit einer vom Weinen mitgenommenen Stimme: »Das wäre sehr schön. Vielleicht geschehen noch Wunder, unser gütiger Gott hört meine Gebete, macht ihn wieder gesund, … und wir können weiter Freunde bleiben.«

Ich stellte mir vor, dass Ahmad eine Bestätigung für seine Wünsche haben wollte. Die konnte ich ihm aber nicht geben.

Ich sagte nichts, drehte mich zu Herrn Meyer und sagte: »Sie haben es aus der Reaktion von Ahmad mitbekommen, er freut sich sehr.«

Ich konnte mir gut vorstellen, was in Ahmad vorging. Einerseits war er glücklich, Ali wiedergefunden zu haben, andererseits war er traurig, dass Ali todkrank war und sie dieses Mal für immer voneinander getrennt werden würden. Ich glaubte, dass Ahmad am liebsten laut losheulen und auf sein Schicksal schimpfen würde. Aber er schien sich nicht als Schwächling präsentieren zu wollen.

Nach ein paar Minuten, die mir sehr lange vorkamen, öffnete sich die Tür, und Herr Meyer erschien in Begleitung eines jungen Mannes.

»Das ist Herr Schäfer. Er ist im Bilde und wird nachher ein weiteres Bett für Ahmad bringen. Ahmad kann auch in der kleinen Kantine essen. Es ist alles geregelt.«

Zu Ahmad gewandt fügte er hinzu: »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Du kannst hier übernachten und dich mit deinem Freund unterhalten. Hast du noch Fragen?«

Als Ahmad seine Frage verneinte, wandte sich Herr Meyer an Ali: »Ali, ich muss dich leider jetzt verlassen, aber ich komme bald wieder.«

Aber Ali gab keine Antwort. Wie es aussah, war er bereits eingeschlafen.

Ich hatte zwar nicht die Absicht, Ali auch am Wochenende zu besuchen, aber irgendetwas zog mich zu ihm. Neugierig geworden, wollte ich noch mehr über diesen Jungen und seine Geschichte erfahren. So besuchte ich ihn am darauffolgenden Samstag.

Als ich Alis Zimmer betrat, saß Ahmad auf einem Stuhl und schlief. Er bemerkte mich nicht. Ich klopfte ihm sanft auf die Schulter. Erst reagierte er nicht. Beim zweiten Mal öffnete er die Augen, auch wenn er zunächst anscheinend nicht wusste, wo er sich befand.

Ich half ihm beim Aufstehen und brachte ihn in sein Bett, deckte ihn zu und ließ ihn weiterschlafen. Dann ging ich zu Ali, setzte mich auf den Stuhl dicht neben seinem Bett und betrachtete ihn. Er atmete regelmäßig. Ich wartete. Als fast eine Viertelstunde lang nichts geschah, rief ich seinen Namen und hoffte, dass er mich hören konnte. Er zeigte aber keine Reaktion.

Ich nahm seine rechte Hand und streichelte sie. Nach ein paar Minuten öffnete er ganz langsam seine Augen, schaute mich nur an und sagte nichts. Wahrscheinlich stand er unter der Wirkung von Medikamenten. Ich ließ ihm Zeit. Es dauerte einige Sekunden, dann sah er mich intensiv an und schien nachzudenken. Auf seiner Stirn bildeten sich Falten. Er fing an, in gebrochenen Sätzen zu sprechen. Seine Stimme war noch sehr schwach, und ich musste mich anstrengen, ihn zu verstehen.

»Onkel, sind Sie das?« Es entstand wieder eine kleine Pause. »Es tut mir leid! Ich habe gar nicht bemerkt, dass Sie hier sind. Ahmad hat mir viel von Ihnen erzählt. Jetzt weiß ich, wer Sie sind. Aber wo ist Ahmad?«

»Mach dir keine Sorgen, Ali. Ahmad schläft ein bisschen, und ich bin auch erst seit kurzer Zeit hier.«

Normalerweise erkundigt man sich bei einem Patienten nach dessen Befinden, aber mir fiel dies sehr schwer. Es kam mir sogar albern vor, dennoch fragte ich Ali: »Habt ihr euch gut unterhalten, und hast du auch gut geschlafen? Wenn du Schmerzen hast, werde ich die Schwester rufen. Es ist keine Schande, wenn man seine Schmerzen zeigt. Wir wissen beide, dass dies in Afghanistan als Schwäche verstanden wird, aber wir befinden uns in Deutschland. Hier bekommen die Kranken zur Linderung ihrer Schmerzen Medikamente.«

Ali schaute mich lange an und bemühte sich zu einem Lächeln, was ihm offensichtlich sehr schwerfiel.

»Ja, Onkel. Die Ärzte und Schwestern sind wirklich sehr nett. Ich bekomme genug Medikamente. Manchmal helfen mir die Medikamente auch nicht mehr, und ich muss meine Schmerzen aushalten. Seit ich hier bin, habe ich mich daran gewöhnt, nicht so oft an die Schmerzen zu denken.«

Ich schaute mich im Raum um. Auf dem Tisch stand eine volle Flasche Wasser, daneben ein Teller, auf dem sich ein angebissener, mit Marmelade bestrichener Zwieback befand. Ali bat mich, ihm zu helfen, sich in seinem Bett etwas bequemer hinzusetzen.

»Onkel, ich weiß zwar nicht, welchen Tag wir heute haben, aber ich danke Ihnen, dass Sie zu mir gekommen sind. Und bevor ich von dieser Welt gehe, möchte ich noch mit jemandem sprechen – sonst werde ich all das, was ich zu erzählen habe, ins Grab mitnehmen müssen.

Auch wenn ich Sie erst zum zweiten Mal sehe, bin ich mir ganz sicher, dass Sie ein ehrenwerter Mensch sind. Ahmad hat mir in der Kürze der Zeit viel Gutes von Ihnen erzählt.«

Nach einer kurzen Pause musterte er mich Nachdruck und sagte: »Mein Entschluss steht fest. Da ich nicht in der Verfassung bin zu schreiben, möchte ich Ihnen meine Geschichte erzählen. Von dem, was ich Ihnen erzählen werde, weiß nicht einmal Ahmad. Was Sie dann mit meiner Geschichte machen, überlasse ich Ihnen. Vielleicht schreiben Sie es nieder und machen ein Buch daraus.«

Alis Stimme wurde leise. Er bemühte sich sehr, nicht mein Mitleid zu erwecken. Er blieb eine Weile still. Dann fragte er mich nach etwas Wasser, das er mit kleinen Schlucken trank. Anschließend bat er mich, auch das Fenster zu öffnen und die Gardine beiseite zu schieben. Es war ein schöner sonniger Tag.

»Onkel, wenn ich anfange, Ihnen meine Lebensgeschichte zu erzählen, werden wir dafür Tage brauchen. Aber so viel Zeit werde ich wohl nicht mehr haben.«

Ich fragte ihn: »Bist du dir ganz sicher, dass du es mir erzählen möchtest?«

Er trank noch einen Schluck Wasser, und ohne auf meine Frage einzugehen, begann er zu erzählen.

»Ich glaube nicht, dass meine Geschichte etwas Besonderes ist.

Hunderttausende Jugendliche, die mit uns zusammen Deutschland erreichten, haben höchstwahrscheinlich das gleiche Schicksal erlebt wie ich. Und wie Ahmad.

Aber ich mache den anderen keinen Vorwurf, warum sie nicht reden wollen. Jeder von uns hat die Freiheit, sich so zu entscheiden, wie er es für richtig hält. Ich möchte mit meiner Geschichte die Menschen darüber informieren, wie schwer es ist, Flüchtling zu werden. Ich denke, es wird mir guttun, dies zu erzählen. Aber was sagen Sie dazu, Onkel? Ich möchte Sie bitten, diese Aufgabe zu übernehmen.«

Ich schaute ihm direkt in die Augen und überlegte mir genau, was ich antworten sollte.

»Du hast recht. Es sind bestimmt tausende und noch mehr Jugendliche – nicht nur aus Afghanistan, sondern aus vielen anderen Ländern –, die etwas Ähnliches wie du und Ahmad erlebt haben … und jeden Tag aufs Neue erleben. Aber man muss Mut haben und darf sich nicht schämen, darüber zu sprechen. Ich bewundere deine Courage und deine Entschlossenheit. Ich danke dir, dass du mir vertraust. Ich gebe dir mein Wort, dass ich deine Erzählung wahrheitsgemäß weitergeben werde. Nun liegt es bei dir.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, schob ich noch hinterher: »Aber wann möchtest du überhaupt anfangen?«

»Onkel, wir wissen beide, dass ich nicht mehr viel Zeit habe. Vielleicht hilft mir Gott ein letztes Mal und gibt mir noch ein paar Tage Zeit, um bis zum Ende zu erzählen. Deswegen möchte ich schon heute anfangen. Aber nur dann, wenn auch Sie es wollen und Zeit haben.

Als wir damals Deutschland erreicht hatten, war ich ja nicht krank, und ich habe mir die ganze Zeit Gedanken gemacht, wie ich meine Erlebnisse aufschreiben könnte. Ich hatte mir auch einige Notizen gemacht. Die liegen alle in einer Mappe bei einem Bewohner in meiner Wohngemeinschaft. Auch diese Sachen könnte ich Ihnen geben. Aber wie gesagt, es liegt bei Ihnen.«

Ich drückte fest seine Hände und stelle dabei eine Besserung seines Zustandes fest. Vielleicht half ihm diese Unterhaltung, vor allem aber seine Entschlossenheit.

Ich war unsicher, ob es auch richtig sei, seine Geschichte zu hören und eventuell niederzuschreiben. Ich sagte mir, dass er vielleicht unter der Einwirkung der Medikamente stünde und nicht richtig und klar denken könne. Andererseits wollte ich mich nicht meiner Verantwortung entziehen und damit sein Herz brechen. Es war eine schwere Entscheidung, die ich in diesem Moment zu treffen hatte.

»Natürlich habe ich heute Zeit, aber auch über den heutigen Tag hinaus. Deine Geschichte kann bestimmt nicht an einem Tag erzählt werden. Aber lasse mir ein bisschen Zeit, darüber nachzudenken. Es ist keine leichte Entscheidung für mich. Natürlich habe ich selbst viel erlebt und auch von anderen Menschen viel mitbekommen, aber ich bin noch nie auf die Idee gekommen, all dies zu Papier zu bringen. Ich bin kein Schriftsteller und habe keine Erfahrung, was das angeht, andererseits möchte ich deine Bitte nicht abschlagen. Warten wir noch zwei, drei Tage und entscheiden uns dann. Ist das für dich in Ordnung?«

Ali schaute mich einige Zeit an und versank in Gedanken. Ich ließ ihm Zeit, über meinen Vorschlag nachzudenken.

»Ich weiß, dass ich viel von Ihnen verlange. Mein Herz sagt mir, dass Sie der richtige Mensch dafür sind, diese Aufgabe zu übernehmen. Wir denken beide darüber nach, und wenn Sie das nächste Mal hier sind, werden wir uns entscheiden.«

Gerade in diesem Moment hörte ich das Quietschen des anderen Bettes. Ahmad hatte sich aufgesetzt, war aber anscheinend noch nicht ganz wach.

»Hast du gut geschlafen?«, fragte ich ihn.

»Es tut mir so leid, Onkel, aber ich war ein bisschen müde. Wenn Ali damit einverstanden ist, würde ich gerne nach Hause gehen und schon bald wieder hier sein.«

Ali antwortete sofort: »Natürlich, mein Freund. Geh jetzt nach Haus und kümmere dich um deine Schule. Du kannst dann wiederkommen, wenn du Zeit hast.«

»Dann werde ich mich auch verabschieden und Ahmad nach Hause fahren«, fügte ich hinzu.

»Ja Onkel, das ist eine gute Idee. Ich hoffe euch beide bald wiedersehen zu können. Komm her, Ahmad, ich möchte dich umarmen.«

Ahmad stand auf, ging zu Ali, beugte sich zu ihm hinunter und umarmte ihn zum Abschied. Auch ich ging zu Ali und fasste seine Hände, die sich warm anfühlten. Ob die Wärme ein Zeichen der Freude war oder ob er Fieber hatte, wusste ich nicht zu sagen.

Ich fuhr Ahmad nach Hause. Beim Aussteigen fragte er mich, ob es mit Ali wirklich zu Ende ginge. Ich schaute ihn an und sagte nichts.

Zwei Tage nach unserem letzten Treffen besuchte ich Ali nach meiner Arbeit. Seine Freude war groß, dies konnte ich in seinen Augen sehen.

»Es freut mich sehr, Onkel, dass Sie da sind. Ahmad war gestern hier, wir haben uns lange unterhalten und uns an die gemeinsamen Ereignisse und Erlebnisse erinnert. Aber er darf nicht meinetwegen seine Schule vernachlässigen. Er versprach mir sogar, sich noch mehr anzustrengen.

Und wie sieht es bei Ihnen aus, Onkel? Ich habe mir die ganze Zeit Gedanken gemacht, wie ich anfangen könnte. Jetzt, wo wir beide allein sind, können wir vielleicht beginnen. Wenn Sie es auch wollen …«

Während er sprach, beobachtete er mich intensiv. Seine Augen waren tränenfeucht, sein Atem war unregelmäßig. Er konnte seine innere Aufregung nicht verbergen.

In den letzten zwei Tagen hatte ich mir meine Gedanken darüber gemacht, ob ich seiner Geschichte erst einmal zuhören sollte, um dann zu entscheiden, ob ich überhaupt in der Lage sein würde, sie niederzuschreiben.

»Ali, ich bin bereit und möchte gerne deine Geschichte hören. Natürlich können wir nicht jeden Tag zusammen sein. Wie lange du jedes Mal erzählen möchtest und wo du anfängst, entscheidest du.«

»O Onkel! Ich bin ja so froh, dass Sie diese Aufgabe übernehmen. Wenn Sie möchten, fangen wir gleich an.«

»Ich bin bereit«, sagte ich und holte mein Notizheft hervor.

»Ich wurde vor 23 Jahren in der Provinz Bamiyan im Distrikt Saighan geboren. Ich gehöre dem Volk der Hazara an. Bis vor ein paar Monaten wusste ich nicht, dass die Provinz Bamiyan, oder auch Hazaradschat genannt, als kulturelles Zentrum der Hazara in Afghanistan bezeichnet wird. Mein Dorf war, wie die meisten Dörfer in dieser Region, von Gott, von der Regierung und von der Zivilisation vergessen. Die Menschen in unserem Dorf waren auf sich gestellt und bekamen meistens keine Hilfe von der Außenwelt.

Weder in meinem Dorf noch in unserer benachbarten Region gab es eine Bibliothek oder eine andere Möglichkeit, mehr über meine Heimat zu erfahren. Erst als meine Familie und ich im Iran waren und etwas Ruhe gefunden hatten, versuchte ich, mehr über meine Heimat zu erfahren.

In einem Buch las ich, dass die heutige Provinz Bamiyan aufgrund ihrer strategisch günstigen Lage bereits zu antiken Zeiten ein wichtiger Abschnitt an der Route der Seidenstraße war. An dieser Route haben sich Händler zwischen den griechischen, römischen und persischen Reichen nach China und Indien bewegt, verschiedene Religionen der damaligen Zeit trafen dort aufeinander. Im Laufe der Jahre entwickelte sich Bamiyan zu einem großen Zentrum der buddhistischen Religion. Die berühmten Buddha-Statuen, die 2001 von den Taliban gesprengt wurden, erzählen davon.

Ebenfalls berühmt sind die Wasserfälle der Band-e-Amir-Seenkette mit der blauen Farbe, die im Winter gefrieren.

Mein Vater erzählte mir früher, dass in der Königszeit viele Touristen aus der ganzen Welt Bamiyan besucht hätten. Rund um die Band-e-Amir-Seen und die Buddha-Statuen waren Zelte aufgeschlagen, die den Touristen als Schlafmöglichkeit dienten.«

Ali unterbrach kurz und begann dann erneut.

»Onkel, ich schäme mich, hier über Dinge zu reden, über die Sie viel mehr wissen als ich, und ich hoffe, dass Sie mir verzeihen.«

Ich war erstaunt darüber, dass Ali so gut informiert war. Damit hatte ich nicht gerechnet.

»Ali, ich bin stolz auf dich, dass du so viel über unsere Heimat weißt. Es zeugt von deiner tiefen Liebe zu deinem Geburtsort, ich bewundere dich dafür.«

Ali tat diese kurze Pause gut. Ich sah ihm an, dass er immer noch sehr müde war, und vielleicht quälte ihn die Erinnerung an unser Geburtsland noch zusätzlich.

Er hatte Tränen in den Augen, als er beinah flüsternd sagte: »Onkel, bitte lachen Sie mich nicht aus. Ich habe als Kind nicht viel von diesen Schönheiten meiner Heimat gekannt. Es sind nur die Erzählungen meines Vaters, die ich wiedergebe. Auch wenn ich es nicht gesehen und erlebt habe, schlägt mein Herz immer noch heftig, wenn ich an mein schönes Dorf und an die alten Zeiten denke. Muss ich mich dafür schämen?

Wir haben kein einfaches Leben gehabt, aber wir waren glücklich. Die meisten Menschen in dieser Provinz sind noch immer sehr arm und leben von der Landwirtschaft. Unser kleines Dorf Talwar liegt zwischen zwei Bergtälern. Ab nachmittags kommt dort keine Sonne mehr durch.

Besonders im Winter war es für uns Dorfbewohner unheimlich schwer. Weil es auch in den umliegenden Dörfern nicht genügend Möglichkeiten gab, sich gegen die Kälte zu schützen, lebten viele Menschen in den Wintermonaten in den Berghöhlen.