Mit gesenktem Kopf sitzt
Eliah in der Schule und lässt die letzten Minuten seiner Schulzeit
über sich ergehen. Nur noch ein paar Minuten und er wird dieser
Hölle endlich entkommen. Danach kann er sich in Vollzeit dem
kleinen Buchladen widmen, indem er schon seit Jahren neben der
Schule für ein paar Stunden arbeitet. Krügers Bücher. Der Besitzer
des Buchladens ist schon sehr alt und kann jede Hilfe wirklich gut
gebrauchen. Herr Krüger selbst kann kaum noch arbeiten, er sitzt
meistens in seiner Ecke, trinkt einen Tee und ist in eines der
Bücher vertieft. Zur Zeit arbeitet seine Enkelin, Annabell,
komplett alleine dort, nur mit Eliahs Hilfe am Nachmittag.
Doch schon bald wird er ihr in Vollzeit zur Seite stehen
können. Er wird dieses schreckliche Gebäude hier und sämtliche
Schüler darin hoffentlich nie wieder sehen müssen. Der Buchladen
liegt etwas versteckt in einem eher heruntergekommenen Gebiet der
Stadt, sie haben ihre treuen Stammkunden, ab und zu verirrt sich
auch ein neuer Kunde hinein, doch von der Schule hat er
glücklicherweise dort noch nie jemanden gesehen.
Die schwarzen, geschwungenen Linien auf seinen Armen, leuchten
ihm leicht entgegen in der Mittagssonne, die durch das große
Fenster auf seinen Platz hinabscheint. Diese Tattoos hatten ihm
bisher nichts als Ärger und Kummer bereitet. Jeder Mensch auf
dieser Welt wird mit so einem Tattoo geboren. Jeder hat einen Namen
und einen Satz. Einen Namen der zu dessen Seelenverwandten gehört
und der Satz den diese Person als erstes zu einem sagt. Jeder
Schüler, jeder Lehrer, jeder den er kennt in dieser Kleinstadt,
Avalon in Kalifornien, jeder hat einen Namen und einen Satz. Nur er
nicht. Er hat zwei.
Aus irgendeinem, für Eliah unerfindlichen Grund, scheint das
die Menschen um ihm herum zu stören. Seine Mitschüler verbreiteten
widerliche Gerüchte über ihn, beschimpften ihn als männliche
Schlampe, alles nur weil er zwei Seelenverwandte hat. Für Eliah
bedeuten seine Tattoos nur, dass er eben zwei Personen hat, die er
lieben kann. Er mag den Gedanken zwei zu haben. Zwei die für ihn
bestimmt sind. Was soll daran so falsch sein? In Eliahs Augen
kommen viele Menschen einfach nicht damit zurecht, wenn jemand
nicht den durchschnittlichen Normen entspricht, wenn jemand in
gewisser weise anders ist. Inwiefern ist das seine Schuld? Es ist
nicht seine Schuld. Er hat nichts falsches getan. Er hat nie etwas
falsches getan. Nein, stattdessen hat er sich immer wieder Mühe
gegeben, hat versucht es allen Recht zu machen, um vielleicht doch
noch akzeptiert zu werden. Doch irgendwann kommt der Moment im
Leben, in dem man realisiert, dass man es nun mal nicht allen Recht
machen kann und das irgendwer immer etwas zu bemängeln haben wird,
egal was man tut.
Damian - Hey Kleiner, du solltest nicht hier sein!
Rei - Komm Kleiner, du musst von hier weg!
Noch etwas worüber sich viele von Eliahs Klassenkameraden
gerne lustig machen. Sie zerreißen sich ihre Mäuler darüber, dass
seine Soulmates ihn gar nicht wollen. Eliah hat sich auch schon oft
Gedanken über diese Sätze gemacht. Weshalb würden sie ihn
wegschicken wollen? Wo sollte er nicht sein? Wollen sie ihn
wirklich nicht, so wie seine Mitschüler es ihm gern unter die Nase
reiben? Das Allerwichtigste allerdings ist doch: Wieso verdammt
nennen sie ihn Kleiner? Mit seinen 1,75 m ist er immerhin schon
ungefähr bei der Durchschnittsgröße.
Das schrille Klingeln der Schulglocke bringt ihn zurück in die
Realität. So schnell wie noch nie zuvor packt er seine Sachen
zusammen und stürmt in die Freiheit. Zwar wäre in einer Woche noch
der Abschlussball, doch dort wird er unter keinen Umständen
erscheinen.
Am Schultor wartet Annabell auf ihn, an der Mauer angelehnt
und gelangweilt mit einer ihrer schulterlangen, lockigen Strähnen
spielend. Gestern noch waren sie Lila gefärbt, doch nun erstrahlen
sie in einem hellen Rot. Herr Krüger und Annabell sind die einzigen
in dieser Stadt die ihn akzeptieren. Eltern hat er nicht. Seine
Eltern haben ihn sofort ins Waisenhaus gebracht, den Grund konnte
ihm keiner nennen. Vermutlich wollten sie einfach kein seltsames
Kind mit zwei Tattoos, doch das kann Eliah nur mutmaßen.
"Annabell was ist mit dem Buchladen?" Verwirrte hellbraune
Augen blicken in seine dunkelbraunen, dann lacht sie. Annabell ist
wirklich eine hübsche junge Frau. Eliah ist vielleicht schwul, aber
das bedeutet ja noch lange nicht, das er Frauen nicht hübsch finden
kann. Lange, dunkle Wimpern, eine kleine Stupsnase die von vielen
Sommersprossen umspielt wird, schmale Lippen und Grübchen, wenn sie
lächelt.
"Keine Sorge für die paar Minuten, in denen ich dich abhole,
kann mein Opa schonmal auf den Laden aufpassen. Nun sag schon, wie
geht es meinem Schulabsolventen? Ich hoffe doch du hast ein gute
Zeugnis junger Mann, immerhin möchten Sie bei uns arbeiten!"
Grinsend stämmt sie ihre Hände auf die Hüfte. "Keine Sorge Frau
Krüger, in Geschichte und Chemie versage ich zwar wie immer mit
voller Leistung, doch meine anderen Noten strahlen so sehr, dass
Sie mit Sicherheit beim ansehen erblinden werden!"
"Na das will ich doch hoffen! Los zeig es mir gleich wenn wir
im Buchladen sind!" Da joggt sie auch schon los und Eliah hat Mühe
hinterherzukommen. Kein Wunder mit dem großen, schweren Ordner, den
er herumschleppen muss. Zum Glück das letzte Mal heute. Es gab
schon einige Tage, an denen er das Ding einfach in den Fluss werfen
wollte. Doch das wäre Umwelt-Verschmutzung, also ließ er es
bleiben.